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Geschichte als aktuelle Orientierungshilfe Zum Fehlen einer dauerhaften internationalen Friedensordnung im 20. Jahrhundert | APuZ 7/1984 | bpb.de

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APuZ 7/1984 Artikel 1 Die Versuchung des Absoluten Zur deutschen politischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert Geschichte als aktuelle Orientierungshilfe Zum Fehlen einer dauerhaften internationalen Friedensordnung im 20. Jahrhundert Verführung durch Normalität — Verfolgung durch Terror Gedanken zur Vielfalt nationalsozialistischer Herrschaftsmittel Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik im Dritten Reich

Geschichte als aktuelle Orientierungshilfe Zum Fehlen einer dauerhaften internationalen Friedensordnung im 20. Jahrhundert

Karl-Heinz Ruffmann

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die bisherige Geschichte des 20. Jahrhunderts weist als wesentliches Kennzeichen das Fehlen oder Scheitern einer tragfähigen internationalen Friedensordnung auf. Verantwortlich dafür sind in erster Linie drei Faktoren, Prozesse und Verhaltensweisen: nationalstaatliche Egozentrik, politisch-ideologische Spaltung der Welt und wechselseitige Fehleinschätzungen von Hauptakteuren der Weltpolitik. Der eine friedliche Zukunft der Menschheit langfristig vie leicht am stärksten gefährdende Nord-Süd-Konflikt bleibt deshalb unberücksichtigt, wei er im Unterschied zu den drei genannten, im 20. Jahrhundert durchgängig wirksamen Faktoren erst in den sechziger Jahren voll in Erscheinung getreten ist. In dem Bemühen, Geschichte als aktuelle Orientierungshilfe für das Friedensthema nutzbar zu machen, werden aus der Kurzanalyse der drei genannten Faktoren diese gegenwartsbezogenen Folgerungen abgeleitet: radikale Absage an nationalstaatliche Egozentrik, aber engagiertes Festhalten am nationalen Prinzip auch und gerade aus gesamtdeutscher Friedensverantwortung mit übernationaler Wert-und Zielsetzung; Verstärkung der Anstrengungen, den nach wie vor unaufhebbaren macht-und ordnungspolitischen Fundamentalkonflikt zwischen Ost und West durch Verhandlungen unter Kontrolle zu halten, auch Teilkonflikte, sofern möglich, einvernehmlich zu lösen und auf möglichst niedriger militärischer, insbesondere atomarer Paritätsebene einen freilich weiterhin labilen Weltfrieden zu gewährleisten; Schärfung unseres kritischen Bewußtseins dafür, daß die friedensbedrohende Gefahr wechselseitiger Fehleinschätzungen von Hauptakteuren der Weltpolitik fortbesteht.

I. Ausgangspunkt

Wer das Jahrhundert, in dem wir leben, unter dem Stichwort „Frieden" betrachtet, gelangt i rasch und ohne große Nachhilfe zu der Erkenntnis:

es wird, in Europa wie weltweit, vorrangig geprägt vom Fehlen oder Scheitern einer einigermaßen stabilen internationalen Friedensordnung. Seine erste Hälfte hat man die „Epoche der Weltkriege" genannt — mit Recht: denn diese Jahrzehnte erhalten ihre prägende Signatur durch die beiden großen Kriege (1914— 1918 und 1939— 1945), die im Abstand von 25 Jahren weite Teile Europas ! und der übrigen Welt verwüsteten und unermeßliches Leid über viele Völker brachten.

Beide Kriege begannen als europäische Kriege und endeten als Weltkriege, an denen schließlich fast alle Nationen direkt oder indirekt beteiligt waren. An den Zweiten Weltkrieg schloß sich fast unmittelbar der „Kalte : Krieg" an, der sich bis in die sechziger Jahre erstreckte. Ihm folgte eine zeitlich wie inhaltlich eng begrenzte „Entspannung" bei bis heute unverminderter Fortdauer von weltweiten Konfrontationen und Fundamental-konflikten.

Schließlich haben seit 1945 mehr als 100 Kriege in der Dritten Welt stattgefunden, die mindestens 30 Millionen Tote geko-stet haben dürften.

Die bisherige Geschichte des 20. Jahrhunderts weist mithin als wesentliches Kennzeichen eine offene oder eingefrorene Kriegs-struktur auf. Eine gesamteuropäische Friedensordnung oder gar ein Weltfriedenssystem sind entweder — das gilt unter dem Stichwort „Versailles" für die Zwischenweltkriegszeit — binnen kurzer Frist wieder zerbrochen oder aber — das gilt für die bis zur Gegenwart reichende Epoche seit 1945 — überhaupt (noch) nicht zustande gekommen.

Ein solcher ebenso eindeutiger wie beunruhigender Sachverhalt wirft natürlich fast zwangsläufig die Frage nach dem Warum, nach den Ursachen und Triebkräften einer derart friedensarmen und friedenszerstörenden Entwicklung auf. Wir wollen versuchen, darauf eine einigermaßen schlüssige, wissenschaftlich begründete, aber nicht zu komplizierte Antwort zu geben. Sie wiederum legt Schlußfolgerungen nahe, die in Gestalt einiger gegenwartsbezogener Orientierungshilfen für das Bemühen um Friedensherstellung und Friedenssicherung formuliert werden sollen.

II. Hauptsächliche Gründe

Die gerade angekündigte Antwort sei thesen-haft so vorweggenommen: In erster Linie sind drei Faktoren, Prozesse wie Verhaltensweisen, verantwortlich für die Abwesenheit einer tragfähigen gemeineuropäischen oder gar globalen Friedensordnung im bisherigen Ablauf unseres Jahrhunderts:

— nationalstaatliche Egozentrik;

— politisch-ideologische Spaltung der Welt; — wechselseitige Fehleinschätzungen von Hauptakteuren der Weltpolitik

Obwohl sie im Geschehen selbst eng miteinander verzahnt, ja zusammengeballt in Erscheinung treten, werden die genannten Faktoren, allein schon aus pädagogisch-didakti-, sehen Gründen, hier — soweit überhaupt möglich — nacheinander (in der angegebenen Reihenfolge) skizziert und anhand weniger Fallbeispiele’ erläutert, ohne dabei die Dyna-mik, die sich aus ihrem Ineinanderverschränktsein ergibt, außer acht zu lassen.

Was 'nationalstaatliche Egozentrik heißt und beinhaltet, sei zunächst an einem Einzelvorgang verdeutlicht. Im März 1910 verabschiedete der Deutsche Reichstag einstimmig eine Resolution, die eine Unterstützung der Bestrebungen für die internationale Schiedsgerichtsbewegung forderte; ein Jahr später ersuchte er die Regierung, auf Vorschläge zur gleichzeitigen und gleichmäßigen Begrenzung der Rüstungsausgaben einzugehen und — entsprechend einem Schiedsgerichtsvertrag mit Großbritannien von 1904 — auch mit anderen Regierungen ähnliche Regelungen zu treffen. Vorhergehende und nachträgliche Erklärungen von Reichsregierung und parlamentarischer Mehrheit relativierten jedoch das Ergebnis entscheidend. Auch nur Vorschläge zur Abrüstung und Einrichtung von Schiedsgerichten zu machen, lehnte der Reichskanzler mit der Begründung ab: „Will oder kann ein Volk für seine Rüstung nicht mehr soviel ausgeben, daß es sich in der Welt durchsetzen kann, dann rückt es eben in das zweite Glied ... Man kann aus dem Leben der Nationen die ultima ratio nicht ganz wegstreichen." Und die parlamentarische Mehrheit assistierte ihm mit womöglich noch schärferen Argumenten, die in der Feststellung gipfelten, in vitalen Fragen müßten die Nationen selbst entscheiden, Abkommen deshalb — wie der Vertrag mit Großbritannien von 1904 — eine „Ehrenklausel" enthalten, die alle Streitfragen, die „Lebensinteressen" oder „nationale Ehre" der streitenden Parteien berührten, ausdrücklich ausklammerte. Was „Lebensinteressen" und „nationale Ehre" berührte, war aber völkerrechtlich nicht zu definieren, unterlag vielmehr der jeweiligen politischen Entscheidung, die (immer noch nach Auffassung der damaligen Reichstagsmehrheit) nur der Maxime folgen konnte: In Lebensfragen konsultiert man andere nicht. Als Lebensfrage galt dabei nicht nur die Sicherung der blanken Existenz, der territorialen Integrität, sondern auch die Vertretung des Reiches als Großmacht, die Wahrung und Absicherung der ökonomischen und politischen Stellung des Reiches in der Welt und seiner ihm eigenen weltpolitischen Entscheidungsfreiheit. Die Wahrung dieser Position war primär; auch eine internationale Friedensregelung sollte davon ausgehen und mußte an der Verabsolutierung des ständig ins Feld geführten „nationalen Gesamtinteresses" (was in diesem Fall nur ein anderer Ausdruck für nationalstaatliche Egozentrik ist) scheitern. Zugleich wurde Rüstung gegenüber Außenpolitik vorrangig; diplomatische Verhandlungen erschienen dagegen — in Umkehrung des alten Satzes — nur als Fortsetzung des Daseinskampfes mit anderen Mitteln.

Um hier mögliche Mißverständnisse oder gar bewußte Fehlinterpretationen von vornherein auszuschalten: Eine solche Einstellung, eine derartige nationalstaatliche Egozentrik war im Vorfeld und am Vorabend des Ersten Weltkrieges keineswegs bloß bzw. typisch deutsch. In gleicher Weise dachten und argumentierten damals alle europäischen Groß-und Weltmächte. Dabei gingen, je näher das Jahr 1914 heranrückte, Deutschland und Österreich-Ungarn genauso wie Frankreich, Rußland und Großbritannien in ihren Militär-theorien von einem immer ausgeprägteren Offensivdenken aus, nahmen nicht zuletzt dadurch ihre politischen Entscheidungsträger eine selbst bewirkte gefährliche Einengung ihres Spielraums zur Erhaltung des Friedens in Kauf.

Nach der aus alledem resultierenden Katastrophe des Ersten Weltkrieges hat national-staatliche Egozentrik erneut maßgeblich dazu beigetragen, daß es mißlang, im und mit dem „Versailler-Vertrag" von 1919 eine Friedensordnung zu errichten, die die Gewähr wenigstens relativer Dauer zu bieten vermochte. In der Konsequenz des Kriegsausganges und der Pariser Vorortverträge erfolgte statt dessen die Spaltung Europas in ein Lager der Sieger und ein Lager der Besiegten. Wohl wurde in Gestalt des Völkerbundes eine übernationale Organisation ins Leben gerufen, deren Aufgabe die dauernde Sicherung einer weltweiten Friedensordnung sein sollte. Wohl bedeutete der Völkerbundsgedanke inmitten der von herkömmlichem Machtdenken, traditionellen Mächteinteressen und Mächtekonflikten erfüllten politischen Atmosphäre der Pariser Friedenskonferenz von 1919 die zukunftsorientierte Konzeption einer auf friedlichem Ausgleich und Verzicht auf Gewaltanwendung aufgebauten Weltfriedensordnung, die den Völkern hinfort ein Leben ohne Krieg garantieren sollte. Aber die Weltorganisation, die dies durch eine „Revolutionierung der Au-B Benpolitik" (so der amerikanische Präsident Wilson als Hauptverfechter des Völkerbundskonzepts) bewerkstelligen sollte, war von Anfang an ein Torso. Gerade die USA traten ihr nicht bei, weil sich im amerikanischen Kongreß nicht die für diesen Schritt erforderliche Mehrheit fand. Ferner wurden die besiegten Staaten nicht sofort in den Völkerbund aufgenommen (Deutschland erst 1926), und auch die Sowjetunion blieb lange (bis 1934) außerhalb der Weltorganisation. Als tragender Pfeiler eines kollektiven Sicherheitssystems konnte der Völkerbund daher kaum fungieren. Die Außenpolitik der großen Staaten verlief ganz überwiegend weiterhin in den Bahnen nationalistischer Machtpolitik.

Als hemmungslose und total inhumane nationalstaatliche Egozentrik gewann diese Machtpolitik im Nationalsozialismus insofern eine neuartige, so noch nicht dagewesene Qualität, als Ideologie und Politik des Dritten Reiches von überhaupt keinem Friedenskonzept, sondern vom ständigen erbarmungslosen Existenzkampf der Völker ausgingen und schon deshalb folgerichtig die „Entfesselung" des Zweiten Weltkrieges bewirkten. Im 2. Band von Hitlers Buch „Mein Kampf" (1927) steht gesperrt gedruckt der Satz: „Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein." Dieser Satz spricht, wie nach den Ergebnissen der neueren Forschung heute allgemein anerkannt wird, in einem ganz wörtlich zu nehmenden Sinne Hitlers Programm aus, den rassenideoldgisch motivierten Anspruch der germanisch-deutschen Nation auf die Weltherrschaft. Mit unbeirrbarer Konsequenz hat Hitler von der NS-Machtübernahme am 30. Januar 1933 bis zu seinem Selbstmord in der Reichskanzlei am 30. April 1945 an diesem Programm festgehalten, für das einerseits die Rassendoktrin konstitutiv war, aus der die antisemitische Vernichtungszielsetzung erwuchs, andererseits die Raum-doktrin, aus der sich eine bodenpolitische Zielsetzung ergab. Sowohl die Rassen-wie die Raumdoktrin entstammten einem vulgarisierten Sozialdarwinismus, wie er in dieser extremen Radikalität in jener Zeit wohl sonst nirgends auf der Welt vertreten wurde. „Im Geschichtsbild eines permanenten, gnadenlosen Kampfes der Völker um einen ihrer wachsenden Größe angemessenen, aber nur bei . Rassenreinheit'zu behauptenden . Lebensraum'fanden diese beiden Grundelemente ihre Synthese."

Mit diesem Geschichtsbild und dem unmittelbar daraus hergeleiteten, nur mit dem Mittel des Krieges realisierbaren politischen Handlungskonzept, das bekanntlich in ebenfalls so noch nicht dagewesener Weise auch tatsächlich zu verwirklichen versucht wurde, gewann zugleich eine weitere (die zweite eingangs genannte) friedensgefährdende und friedenszerstörende Haupttriebkraft unseres Jahrhunderts an Gewicht: die politisch-ideologische Spaltung der Welt. In eben ihrer nationalsozialistischen Spielart ist sie durch die Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkrieges unter schwersten Blutopfern für alle Beteiligten gewaltsam beseitigt und von weiteren Millionen von Menschen mit dem Verlust ihrer angestammten Heimat bezahlt worden. Dank einer anderen, der nicht minder totalitären marxistisch-leninistischen Spielart, die bereits 1917 mit der bolschewistischen Oktoberrevolution in Erscheinung trat, besteht jedoch die Spaltung, wenngleich mit gewandeltem Inhalt und in gewandelter Form, nach 1945 fort und macht — wie wohl kaum näher erläutert und begründet zu werden braucht — als ordnungs-wie machtpolitischer Fundamentalkonflikt zwischen Ost und West den bis heute bestimmenden Grundzug der Weltpolitik aus. Anders formuliert: Diese Spaltung war und ist ein friedensgefährdender Faktor durch den Antagonismus sowohl von zwei gesellschaftlichen Ordnungs-und Wertsystemen als auch von zwei Machtblöcken. Die Machtblöcke wiederum entstanden, nachdem das alte Europa 1945 seine einstmals führende Rolle in der Weltpolitik endgültig eingebüßt hatte, als statt dessen die USA und die UdSSR als nukleare Supermächte ins Zentrum weltpolitischer Entscheidungen rückten und sich die Weltpolitik, jedenfalls in militärischer Hinsicht, von bisheriger Multipolarität (Mehrpoligkeit) zu einer Bipolarität (Zweipoligkeit) wandelte. Dabei gestaltete sich die Bipolarität nicht kooperativ im Rahmen einer allgemein anerkannten Friedensordnung, sondern in harter Konfrontation, für die sich ein eigener Epochenbegriff eingebürgert hat: auf den heißen Krieg der Weltkriegszeit folgte der „Kalte Krieg" der Nachkriegszeit. Er führte zur (bis heute andauernden) Zweiteilung der Welt, Europas und Deutschlands sowie zur Bildung feindlicher Blöcke.

Jede Analyse der Weltpolitik nach 1945 hat deshalb von der Frage auszugehen, welche Friedensvorstellungen die Hauptsiegermächte USA und UdSSR ihren Nachkriegs-planungen zugrunde gelegt haben. Hierbei sind die Gegensätze unübersehbar. Die USA als bei weitem stärkste Wirtschaftsmacht wollten ein auf einer liberal-kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung fußendes, auch die Sowjetunion einbeziehendes Modell der Friedenssicherung verwirklichen und dadurch ihre eigene Führungsrolle in der Weltpolitik festschreiben. Die Sowjetunion dagegen wollte die internationale Ordnung der Nachkriegszeit dadurch bestimmt sehen, daß sich die Großmächte über klar definierte Interessensphären verständigten. Das amerikanische Konzept der liberalen „Einen Welt" stieß also mit dem sowjetischen Prinzip der Friedenssicherung durch Hegemoniebildung zusammen, mit jenem Prinzip, das Stalin im April 1945 auf die griffige Formel gebracht hatte: „Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein."

Die Analyse der Weltpolitik nach 1945 hat ferner (wie schon angedeutet) davon auszugehen, daß sich die Anti-Hitler-Koalition seit Kriegsende auflöste und einem feindlichen Verhältnis der Alliierten zueinander Platz machte. Verschiedene Ansätze zur Kooperation, die sich auf den Konferenzen von Teheran (Dezember 1943) und Jalta (Februar 1945)

ergeben hatten, wurden angesichts der sowjetischen Hegemonialpolitik in Osteuropa hinfällig. Diese Hegemonialpolitik führte rasch zur Schaffung sowjetfreundlicher und bald danach kommunistisch regierter Staaten im näheren und weiteren Vorfeld der sowjetischen Westgrenze. Der Kreml verfolgte dabei in Verbindung mit ideologisch begründeten expansiven Zielen eine traditionelle Sicherheitspolitik, gespeist nicht zuletzt auch aus einem seit 1941 traumatisch gesteigerten Sicherheitsbedürfnis. Die Frage der nationalen Sicherheit wurde nicht im Rahmen der 1945 gegründeten Vereinten Nationen, die dem „One-World" -Konzept dienen sollten, gelöst, sondern auf der Grundlage nationalstaatlicher Rüstung und Strategie. Die Vereinten Nationen waren und sind mit derselben Grundproblematik konfrontiert, die schon die Arbeit des Völkerbun-5 des in der Zwischenkriegszeit gekennzeichnet hatte. Da die Mitgliedstaaten nicht auf Souveränitätsrechte verzichten woll(t) en, bleibt die angestrebte kollektive Sicherung des Friedens weiterhin vom individuellen Willen der Mitgliedstaaten abhängig: Beschlüsse im Sicherheitsrat werden entweder einstimmig gefaßt oder gar nicht — die Weltpolitik wird also nach wie vor von den Machtverhältnissen zwischen den Staaten bestimmt, die aufgrund ihrer Potentiale zu weltpolitischem Engagement fähig und entschlossen sind. Hier steckt weiterhin der wichtigste Schlüssel zur Lösung bzw. Nichtlösung der Friedensfrage auf globaler Ebene, spielt zugleich einmal mehr nationalstaatliche Egozentrik in Gestalt eines nationalimperialen Sendungsbewußtseins eine hervorragende Rolle. Nicht von ungefähr sind orthodoxer Kommunismus und altrussischer, auf der Achse Moskau-Kiew ruhender, ethnischer wie imperialer Nationalismus die geistig-ideologischen Haupttriebkräfte der sowjetischen Außenpolitik von 1945 bis heute, ergibt sich aus der unauflöslichen Verbindung beider Elemente eine Dynamik, der ein grundsätzlich aggressiv-expansiver Grundzug eigen ist. Unter den Leitworten des „American way of life" und „To make the world safe for democracy" gilt Ähnliches — mit den nötigen Differenzierungen — gewiß auch für die US-Außenpolitik. Derart vorgeprägt, mit einem solchen Einstellungs-und Handlungsmuster ausgestattet und belastet, stand die Weltpolitik seit 1947 — kaum zufällig — im Zeichen des Kalten Krieges. Der sowjetischen Politik der Ab-schließung und Sicherung eines eigenen Herrschaftsbereiches wurde die westliche Politik des „Containment", der Eindämmung, gegenübergestellt. Was sich dabei mit dem schon mehrfach angesprochenen Ergebnis — Spaltung der Welt, Europas und Deutschlands, Formierung politisch-militärischer Blöcke unter Führung der beiden Supermächte — klar durchsetzte, war das sowjetische Konzept der Friedenssicherung durch Hegemoniebildung, zumal man in Moskau wie in Washington die jeweiligen Herrschafts-und Einflußsphären der anderen Seite im wesentlichen respektierte. Auch die sogenannte „Roll-back-Konzeption" der USA Mitte der fünfziger Jahre und das Engagement der UdSSR auf Kuba zu Beginn der sechziger Jahre änderten daran im Prinzip nichts. Für beide Supermächte hörte der große heiße Krieg auf, ein vernünftiges Mittel der Politik zu sein, da beide Seiten einander vernichten konnten und niemand hoffen konnte, einen solchen Krieg zu gewinnen. Die 1960 vom damaligen österreichischen Außenminister Bruno Kreisky in einem Vortrag in Warschau geprägte und seither vielzitierte Formel von der „Koexistenz als Alternative zur Nichtexistenz" bringt die — bis heute andauernde — Labilität der internationalen Großwetterlage und das weite Entferntsein von einer kollektiven Friedens-und Sicherheitsordnung treffend zum Ausdruck.

Nach Beendigung der Kuba-Krise Ende 1962 waren die USA wie die UdSSR bestrebt, die auf begrenzte Kooperation gerichteten Ziele und Interessen ihrer Politik durch eine Serie von Verträgen zu verstärken und mit friedlichen Mitteln abzusichern. Konfrontation und Konkurrenz des „Kalten Krieges" wurden langsam abgelöst durch Konfrontation, Konkurrenz und (begrenzte) Kooperation der „Dtente bzw. Entspannung", ehe seit der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren aus mancherlei Gründen, darunter langjähriger Führungsschwäche der USA und massiver Aufrüstung der UdSSR, das konfrontative Konfliktelement wieder bedrohlich gewachsen ist.

Auf gerade unter dem Aspekt , friedensfördernd oder friedensgefährdend'bemerkenswerte Unterschiede zwischen der Epoche des Kalten Krieges einerseits, dem sogenannten Entspannungsjahrzehnt und der bis heute währenden Folgezeit andererseits wird im letzten Abschnitt unseres Beitrags eingegangen, weil sie unmittelbar zu gegenwartsbezogenen Schlußfolgerungen hinführen. Unerläßlich erscheint hier jedoch dieser Hinweis: Erst nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelten sich mit Westeuropa, Japan und der Volksrepublik China neue weltpolitische Zentren, die zwar an der Bipolarität der internationalen Politik in militärischer Hinsicht nichts geändert, aber auf politischer und wirtschaftlicher Ebene multipolare Tendenzen hervorgebracht haben. Sofern derartige Tendenzen mit einem supranationalen Ordnungskonzept verbunden sind, das auf die Integration gleichberechtigter Partner hinzielt, konnten sie, bei freilich regional begrenzter Reichweite, durchaus friedensfördernd wirken. Den wohl besten Beleg dafür liefert die gelungene Befriedung Westeuropas (unter Einschluß der Bundesrepublik Deutschland) im Rahmen des nordatlantischen Bündnissystems und der Europäischen Gemeinschaft.

In vielen anderen Teilen der Welt ist es dagegen im Windschatten der Supermacht-Rivalität zu immer kühneren und gefährlicheren Manifestationen nationalistischer Eigenwilligkeit und Machtpolitik gekommen, bei denen es einmal mehr um „nationale Ehre" und „Lebensinteressen", wo man andere nicht konsultiert, geht, die mithin erneut wesentliche Attribute nationalstaatlicher Egozentrik (im eingangs umrissenen Sinne) aufweisen. Davon zeugen insbesondere die seit langem höchst explosiven, den Weltfrieden unmittelbar bedrohenden arabisch-israelischen und innerarabischen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten, aber auch, zumindest partiell, kaum minder gefährliche Vorgänge im mittleren und südlichen Afrika, auf dem indischen Subkontinent und in jüngster Zeit ebenfalls in Mittel-und Südamerika.

Die in alledem manifeste politische Multipolarität garantiert offenkundig keineswegs mehr Stabilität, weil dahinter kein übergreifendes, wirklich integrierendes Ordnungskonzept steht. Darüber hinaus fehlen viele der Merkmale, die das internationale System des vorigen und vielleicht noch eines Teils dieses Jahrhunderts kennzeichneten: eine stabile Technologie, Vielheit der großen Mächte, begrenzte innere Ansprüche, Verschiebbarkeit von Grenzen und eine einheitliche Weltwirtschaftsordnung.

Unzweifelhaft haben die asymmetrische Entwicklung der Weltwirtschaft und der daraus resultierende Nord-Süd-Konflikt, nicht zuletzt aufgrund ihrer unheilvollen Verflechtung mit der politisch-ideologischen Ost-West-Spaltung und der nationalistischen Egozentrik, im letzten Vierteljahrhundert ebenfalls das Entstehen einer tragfähigen internationalen Friedensordnung verhindert; und ebenso unzweifelhaft haben dazu auch Handlungen, Drohgebärden und Fehleinschätzungen aller Beteiligten nicht unerheblich beigetragen.

Daß und in welch folgenreichem Ausmaß in unserem Jahrhundert wechselseitige Fehleinschätzungen von Hauptakteuren der internationalen Politik für die Nichteindämmung oder Ingangsetzung friedensfeindlicher Prozesse mitverantwortlich waren, läßt sich an zwei markanten Vorgängen besonders gut dingfest machen, die als wesentliche Etappen und Weichenstellungen auf dem Weg einmal in den Zweiten Weltkrieg, zum anderen in den Kalten Krieg anzusehen sind.

Beim ersten Vorgang handelt es sich darum, daß 1938/39 zunächst die Westmächte, genauer: Großbritannien mit Frankreich im Schlepptau, Hitlers Politik und danach Hitler die Politik der Westmächte, insbesondere Großbritanniens, völlig falsch einschätzten und bewerteten — mit den bekannten zerstörerischen Konsequenzen für den Weltfrieden. Als die Westmächte am 29. September 1938 mit dem nationalsozialistischen Deutschland (und dem faschistischen Italien) das Münchener Abkommen abschlossen, gingen sie davon aus, daß Hitler nur — wie schon die Regierungen der Weimarer Republik — eine möglichst weitgehende Revision des Versailler Vertrages anstrebte und die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich seine letzte territoriale Forderung sei. Durch Bewilligung dieser Forderung nebst ultimativem Druck auf Prag, sie ebenfalls zu akzeptieren, glaubte die britische Regierung dem Ziel ihrer schon seit den zwanziger Jahren vertretenen Appeasement-Politik einen, wenn nicht den entscheidenden Schritt näher gekommen zu sein, nämlich ein dergestalt „befriedetes" Deutschland in ein Vier-Großmächte-Kollegium mit Großbritannien, Frankreich und Italien einzubeziehen und dadurch eine stabile und dauerhafte kontinentaleuropäische Friedensordnung herzustellen (bei gleichzeitiger Isolierung der Sowjetunion!). Und genau deshalb meinte Premierminister Neville Chamberlain, konsequentester Verfechter dieser Appeasement-Politik, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus München öffentlich erklären zu können, nun sei „der Friede in unserer Zeit sicher" Er und seine Regierung hatten nicht erkannt, daß Hitler (wie schon an anderer Stelle dargelegt) mit seinem Programm und seinen Zielsetzungen den Rahmen herkömmlicher revisionistischer, bis 1933 gültiger deutscher Außenpolitik völlig sprengte; daß er im Sommer und Herbst 1938 die feste Absicht hatte, die von ihm forcierte „Sudetenkrise" zu benutzen, um die Tschechoslowakei durch einen kurzen und lokalisierten Krieg niederzuwerfen; daß ihn das Münchener Abkommen bitter enttäuschte, weil es ihm dieses Konzept verdarb und den Kriegsgrund nahm; und daß der Gewinn der Sudetengebiete für ihn nichts als ein halberledigtes machtpolitisches und strategisches Problem war. . Folgerichtig'liquidierte er im März 1939 die Rest-Tschechoslowakei, entzog damit aber auch jeder weiteren westlichen bzw. britischen Appeasement-Politik die politische wie moralische Basis.

Weil genau dies Hitler bei der unmittelbar nachfolgenden Vorbereitung seines, wie er erneut beabsichtigte, lokalisierten Krieges gegen Polen nicht erkannte, erwiesen sich nunmehr seine politischen Schachzüge vom August 1939 — den Abschluß des Paktes mit Stalin zu kombinieren mit der Vorankündigung eines großzügigen Angebots an England — schnell als grandiose Fehlspekulation. England und — in dessen Kielwasser — Frankreich nahmen nicht, wie Hitler bis zuletzt unterstellte, den deutschen Angriff auf Polen passiv hin, und so befand sich das Dritte Reich seit dem 3. September 1939 in einem europäischen Krieg, den Hitler zu diesem Zeitpunkt und in dieser Konstellation nicht gewollt hatte. Diesen Krieg empfand er als einen „aufgezwungenen" Krieg, war er doch nunmehr genötigt, in einer ihm unerwünschten Frontstellung zu kämpfen. Daher setzte er alles daran, möglichst schnell jene politisch-strategische Ausgangsposition in Europa zu gewinnen, die er bisher immer für seinen Eroberungszug nach Osten als Voraussetzung angesehen hatte. Als diese Bemühungen an der britischen Zähigkeit und Entschlossenheit gescheitert waren, ließ er sich dennoch nicht davon abhalten, mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 „seinen" Krieg zu eröffnen, mit dem der „Weltkrieg" im eigentlichen Sinne erst begonnen hat. (Übrigens trugen auch hierzu wechselseitige Fehleinschätzungen nicht unwesentlich bei: Während Hitler sich gerade auch deshalb zum Losschlagen entschloß, weil er Widerstands-willen und -kraft des Sowjetsystems nicht nur in militärischer Hinsicht unterschätzte, war Stalin, der 1939 durch sein Bündnis mit Hitler dessen Angriff auf Polen überhaupt erst ermöglicht und bewußt mitherbeigeführt hatte, fest davon überzeugt, daß Hitler von sich aus nicht das Risiko eines Zweifrontenkrieges eingehen werde).

Anhand des zweiten, von uns bereits kurz apostrophierten Vorganges soll noch einmal die für unser Thema erst recht wichtige Frage behandelt werden, warum eigentlich 1945 die USA und die UdSSR als Hauptsiegermächte in dem von Hitler angezettelten Zweiten Weltkrieg nicht zu einer wenigstens begrenzt friedensstiftenden Kooperation gelangten. Die neuere internationale Fachforschung verB tritt überwiegend und mit überzeugenden Argumenten die Auffassung, daß der Kalte Krieg als erste und sogleich ausgesprochen friedensfeindliche, dabei in mancherlei Hinsicht bis heute nachwirkende Hauptphase des Ost-West-Konflikts aus einem vermeidbaren Eskalationsmechanismus wechselseitiger Fehleinschätzungen und Kurzschlußreaktionen entstanden ist. Obwohl wegen der Unzugänglichkeit einschlägiger sowjetischer Akten und Archive die Aufgabe bislang nicht gelöst werden konnte, die Geschichte der Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR als einen komplexen Prozeß weltpolitischer Interaktion auf wirklich befriedigender Quellenbasis zu erforschen, gilt schon jetzt als wissenschaftlich hinreichend gesichert: Zu den Hauptursachen des Ost-West-Konflikts bzw.seiner Ausweitung zum Kalten Krieg gehört, neben den schon skizzierten fundamentalen Interessengegensätzen und unterschiedlichen Friedensordnungskonzepten, auch die wechselseitige Fehleinschätzung der USA und der UdSSR über ihre eigene Lage bzw. die angebliche Zwangslage des Kontrahenten. Oder anders formuliert: Es gab auf beiden Seiten eine erstaunliche Fehleinschätzung der Wirksamkeit von Druckmitteln zur Durchsetzung der jeweils eigenen Zielsetzungen. Dies wurde zunächst weder in Moskau noch in Washington erkannt. Hier wie dort meinte man vielmehr, eine bessere Ausgangsposition zu besitzen.

So glaubte 1945 die amerikanische Regierung, in Gestalt ökonomischer Pression (u. a. Sperrung der Leih-und Pachtlieferungen an die UdSSR) ein wirksames Mittel in der Hand zu haben, um Stalin in seiner Ost-und Südosteuropapolitik zu einem gemäßigteren, Washington genehmeren Kurs veranlassen zu können. Dagegen herrschte in der Kreml-Führung die Ansicht vor, daß die USA aufgrund einer ebenso gewaltigen wie unvermeidlichen Überproduktionskrise den Übergang von der Kriegs-zur Friedenswirtschaft nicht meistern würden und deshalb großzügige amerikanische Wirtschaftslieferungen nicht für die UdSSR, sondern für die USA eine Frage auf Tod und Leben seien. Das sowjetische Kalkül basierte mithin auf der Annahme, die USA seien, um auch nur vorübergehend dem wirtschaftlichen Zusammenbruch zu entgehen, zum Export ihrer Güter in die Sowjetunion gezwungen. Man war dabei offenkundig Gefangener des ideologischen Dogmas von der unvermeidlichen allgemeinen Krise des Kapitalismus und rechnete nicht mit dem riesigen

Nachholbedarf der übrigen vom Krieg zerstörten Welt. Umgekehrt vernachlässigte, ja übersah das amerikanische Kalkül die rigide Befehlsstruktur der sowjetischen Wirtschaft, durch die der Sowjetbevölkerung ein hoher Konsumverzicht auferlegt werden konnte.

Besonders verhängnisvoll war diese wechselseitige Fehleinschätzung, weil sie in die erste Phase atomarer Politik fiel. Spätestens im April 1945, nach dem Tod des amerikanischen Präsidenten Roosevelt und dem Amtsantritt seines Nachfolgers Truman, setzte sich im amtlichen Washington die Auffassung von tiefgreifenden Veränderungen der internationalen Politik als Folge der Existenz der Atombombe durch. Zwei verschiedene Erwartungen ließen sich daran knüpfen. Entweder gelang es, die Kreml-Führung durch das amerikanische Atombombenmonopol zu beeindrucken und zu einer maßvolleren Politik zu bewegen oder den gleichen Effekt durch das Angebot zu erreichen, die Sowjetunion in das technologische Geheimnis und damit in die gemeinsame Verantwortung für eine künftige atomare Weltordnung einzubeziehen. Die Demonstration der Bombe war in beiden Fällen erforderlich. Man kalkulierte daher in den USA (zusätzlich zu dem vermuteten ökonomischen Druckmittel), bei Bedarf auch noch über ein militärisches Druck-und Lockmittel zu verfügen.

Während der Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) unterrichtete Truman Stalin über die gerade gelungene Erprobung der Atombombe, deren tatsächlicher Einsatz in Hiroshima und Nagasaki wenig später (am 6. und 8. August) folgte. Die Sowjetführung reagierte jedoch ganz anders, als auf amerikanischer Seite unterstellt und erhofft worden war. Einerseits spielte sie, solange sie selbst über keine Atombomben verfügte, deren Bedeutung zu einer Waffe ohne kriegsentscheidende Bedeutung herunter. Zum anderen entschied sie sich für eine Strategie der Abschirmung, die neben dem Wiederaufbau im eigenen Land der Errichtung und dem Ausbau der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa absoluten Vorrang gab. Dahinter stand die Auffassung, die allmählich in Moskau die Oberhand gewann, daß das im Krieg bewährte Bündnis mit den Westmächten keine tragfähige Grundlage der sowjetischen Sicherheit mehr darstelle. Nicht zuletzt deshalb konnte übrigens auch ein alliiertes Einvernehmen über Deutschland nicht hergestellt werden, kam es statt dessen zur Teilung unseres Landes. Fazit: Auch durch Fehleinschätzungen und deren Folgen verbauten sich beide Seiten Zug um Zug den von ihnen ursprünglich durchaus angestrebten, zumindest für begehbar gehaltenen Weg, bestehende Konflikte und Gegensätze zu begrenzen und dauerhafte Formen eines friedlichen modus vivendi zu finden.

Der Frieden zerbrach, ehe er überhaupt hergestellt werden konnte. Es kam zu Weichen-stellungen, die für die gesamte Nachkriegs-epoche in vieler Hinsicht richtungweisend wurden. So drängt sich wohl spätestens hier die Frage nach gegenwartsbezogenen Schlußfolgerungen auf.

III. Gegenwartsbezogene Schlußfolgerungen

„Die Funktion des Historikers besteht weder darin, die Vergangenheit zu lieben, noch sich von ihr zu emanzipieren, sondern darin, sie als Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart (Hervorhebungen von K. -H. R.) zu bewältigen und zu verstehen." Diese Worte des Briten Edward Hallett Carr sind die erste allgemeine Leitlinie der bisherigen Darlegungen wie auch der Folgerungen, die jetzt daraus gezogen werden sollen. Daß die Frage nach den Ursachen für Kriege wesentlicher, ja unverzichtbarer Bestandteil des Friedensthemas ist, macht die zweite Leitlinie aus. Darin steckt auch die Einsicht, daß Frieden — im internationalen wie im nationalen Bereich — Verzicht auf gewaltsame Konfliktlösung heißt. Insoweit ist der Austrag von Konflikten ohne Anwendung oder Androhung von Gewalt nicht friedensstörend oder gar friedensfeindlich, ist Kriegsverhütungspolitik bereits aktive Friedenspolitik.

Mit diesen Prämissen werden einige gegenwartsbezogene Schlußfolgerungen aus der gerade durchgeführten, auf das Friedensthema ausgerichteten Analyse der bisherigen weltpolitischen Entwicklung im 20. Jahrhundert angeboten. Dabei handelt es sich nicht um sogenannte „Lehren aus der Geschichte", sondern lediglich um mögliche Orientierungshilfen für gegenwärtiges und künftiges Nachdenken über/und Bemühen um Kriegsverhütung, Friedensherstellung und Friedenssicherung. , 1. Zur nationalstaatlichen Egozentrik Unsere klare Absage an sie in all ihren, keineswegs bloß deutschen, wenngleich in Ideologie und Politik des NS-Staates gipfelnden, nur zu häufig kriegsstiftenden und frieden-verhindernden Erscheinungsformen bedarf keiner weiteren Erläuterung und Begründung. Eine solche Absage darf jedoch nicht mißverstanden werden als Plädoyer für eine im Interesse des Friedens wünschbare oder gar notwendige Preisgabe des Nationalen, der Nation, speziell unserer Nation als gesamtdeutscher Einheit. Angesichts einer gerade unter jüngeren und ganz jungen Mitbürgern verbreiteten Neigung, dennoch so zu denken, zu argumentieren oder aber sich mehr oder weniger indifferent zu verhalten, sei dies zusammen mit dem Sachverhalt nachdrücklich betont, daß das Nationale seit langem erstrangiges politisches Gestaltungsprinzip in Europa und die Nation inzwischen weltweit vorherrschende, alle anderen an Bedeutung übertreffende soziokulturelle und politische Großgruppenform ist. Daran wird sich auch in absehbarer Zukunft ebensowenig ändern wie am Anspruch jeder Nation auf politische Selbstbestimmung, auf Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts. Das auf diesem Recht fußende, in unserem Grundgesetz verankerte Prinzip der „Einheit der Nation" hat deshalb nichts mit nationalstaatlicher Egozentrik zu tun, sondern ist Friedenspolitik, weil es Herstellung und Sicherung der deutschen nationalen Einheit unter ausdrücklichem, auch in internationalen Verträgen rechtsverbindlich festgelegtem Verzicht auf Anwendung oder Androhung von Gewalt im Rahmen einer — wegen des Ost-West-Konflikts allerdings noch weit entfernten — gesamteuropäischen Friedensordnung anstrebt. Die Devise heißt also: Radikale Abkehr von jeder nationalstaatlichen Egozentrik, aber engagierter, absolut gewaltfreier Einsatz für die Einheit der Nation. Ohne gesamteuropäische Friedensordnung keine gesamtnationale Einheit der Deutschen, aber ohne diese Einheit gewiß auch keine tragfähige gesamteuropäische Friedensordnung. Unser Nationsbegriff erfüllt dabei eine friedenstiftende Doppel-funktion: er dient als Instrument zur Verwirklichung von allgemein anerkannten und garantierten Menschen-und Bürgerrechten für die Bewohner beider deutschen Staaten; und er ist Grundlage und Ferment supranationaler Zusammenschlüsse. In diesem Sinne heißt nationale Verantwortung gesamtdeutsche Friedensverantwortung auch und gerade mit übernationaler Wert-und Zielsetzung.

Derartige übernationale Wert-und Zielsetzungen haben ihre erste regionale Teilrealisierung in der Befriedung Westeuropas durch einen auch institutionalisierten Integrationsprozeß gefunden. Er läßt zwar noch viele Wünsche offen, stagniert immer wieder und weist erhebliche Lücken auf — nicht zuletzt aufgrund ständiger einzelstaatlicher Egoismen. Aber die daraus resultierenden Konflikte werden nicht gewaltsam ausgetragen und gelöst. Allein dies ist ein Tatbestand von kaum zu überschätzender positiver Bedeutung: Heute können sich Franzosen und Deutsche einen Krieg oder Kriegsanlässe zwischen ihren beiden Ländern nicht mehr vorstellen. Welch ein Wandel im Vergleich zum noch gar nicht so lange zurückliegenden Zeitalter nationalstaatlicher Egozentrik gerade auch in diesem Teil Europas — eben in der „Epoche der Weltkriege". 2. Zur politisch-ideologischen Spaltung der Welt Gerade bei einer gegenwartsnahen und zukunftsorientierten Beurteilung dieses, wie wir alle wissen und miterleben, den Weltfrieden weiterhin besonders gefährdenden Faktors erscheint es angebracht, sich zunächst daran zu erinnern: Nicht innere Anziehungskraft und qualitative Überlegenheit des Sozialismus marxistisch-leninistischen Zuschnitts, sondern Hitlers politisch-ideologische Spaltung der Welt und der von ihm entfesselte Zweite Weltkrieg haben den noch dazu gewaltsamen Siegeszug der Sowjetunion als Vormacht dieses bis dahin weitgehend isolierten Sozialismus bis nach Berlin und an Elbe und Werra überhaupt erst ermöglicht, der seit 1917 virulenten politisch-idologischen Ost-West-Spaltung nicht nur zu einer räumlich gewaltig erweiterten Ausdehnung verholfen, sondern sie in eine ganz neue Dimension überführt. Eine solche Einsicht verändert zwar nicht, qualifiziert jedoch den hier erneut betonten, weil für unser Thema zentralen Sachverhalt, daß der Ost-West-Konflikt als ordnungs-und machtpolitischer Fundamentalkonflikt hauptsächlicher Dreh-und Angelpunkt der Weltpolitik seit 1945 war, ist und in absehbarer Frist bleiben wird. Was sich in den letzten fast vier Jahrzehnten wiederholt verändert hat und in Zukunft erneut wandeln könnte bzw. sollte, sind Formen und Methoden des Konfliktaustrags. Sie führen (wie schon angekündigt) unmittelbar hin zu gerade unter dem Aspekt .friedensfördernd oder friedensgefährdend'bemerkenswerten Unterschieden zwischen der Epoche des Kalten Krieges und der nachfolgenden, in manchem wohl doch noch bis heute nachwirkenden sogenannten Entspannungsära.

Der Kalte Krieg war dadurch geprägt, daß beide Seiten keine Möglichkeiten sahen und fanden, Verhandlungsbeziehungen oder gar -lösungen zu suchen. Er bedeutete Konfrontation ohne Verhandlungslösungen, aber zugleich, da er nicht in den heißen Krieg um-schlug, Koexistenz als Alternative zur Nicht-existenz; er bedeutete ferner das Auf und Ab von Konfrontation und Koexistenz, ohne daß es zu einer Vertragspolitik zwischen den Supermächten und den von ihnen geführten Blöcken kam. Genau dies, nämlich Vertrags-politik beider Seiten auf bi-und multilateraler Ebene, kennzeichnet die nach dem Ende der Kuba-Krise (Ende 1962) anlaufende und zwischen 1969/70 und 1975 dank einer Reihe von Vertragsabschlüssen (u. a. Viermächte-Abkommen über Berlin, SALT-Abkommen, KSZE-Schlußakte von Helsinki) wohl ertrag-reichste Phase im Ost-West-Verhältnis, für die sich der Ausdruck . Entspannung'eingebürgert hat. Entspannung in seinem so auch in Zukunft allein tragfähigen, von illusionärem Beiwerk befreiten Kern heißt dabei Begrenzung eines unvermindert fortdauernden Fundamentalkonflikts, beinhaltet das Bemühen, die Formen dieses Konfliktes zu begrenzen und, soweit möglich, auch Teilkonflikte einvernehmlich zu lösen. Was offensichtlich überhaupt nicht . entspannt'werden kann und soll, ist der ordnungspolitische Grundkonflikt. Die sowjetische Seite bringt das übrigens schon dadurch unmißverständlich zum Ausdruck, daß sie den ideologischen Konflikt als Klassenkampf deklariert und ausdrücklich von jeder Entspannung ausnimmt. Womöglich noch gewichtiger ist eine weitere Perspektive, die der Blick in die Geschichte eröffnet: Der Kalte Krieg war, in seiner Entstehungsphase wie darüber hinaus, insofern ein „asymmetrischer Konflikt" als sich die USA und die UdSSR wegen der eindeutigen strukturellen Dominanz der westlichen Führungsmacht auf ungleichen Ebenen gegenüberstanden. Daß die USA sich für die Beibehaltung und den Ausbau ihres atomaren Monopols entschieden und bewußt oder unbewußt auf die Herstellung einer kooperativen Suprematie abzielten, während die Sowjetunion, nicht zuletzt wegen der bestehenden Asymmetrien, isoliert ein eigenes nukleares Potential entwickelte und zugleich vorrangig den Auf-und Ausbau ihres Hegemonialverbandes in Ost-und Mitteleuropa einschließlich der einen Hälfte Deutschlands betrieb, bedeutete das Ende des Friedenstraumes von der . Einen Weit', die Ablösung der noch relativ flexiblen weltpolitischen Konstellation von 1945/46 durch eine . eingefrorene Kriegs-struktur'. Dabei bewirkte der Rüstungswettlauf eine Eskalation der Konfrontation zwischen Ost und West Erst als die atomare Symmetrie, das atomare Gleichgewicht, in Gestalt eines Patt zwischen Ost und West tatsächlich erreicht war, wurde Entspannungspolitik im gerade umrissenen Sinne möglich und notwendig, in dem Augenblick — wie sofort hinzugefügt werden muß — jedoch erneut gefährdet, als im weiteren Verlauf der siebziger Jahre eine massive sowjetische Aufrüstung in Erscheinung trat und eine nicht minder massive amerikanische . Nachrüstung'nach sich zog. Da mithin Geschichte und Analyse des Ost-West-Konflikts seit dem Zweiten Weltkrieg klar zu entnehmen ist, daß es immer dann zu besonders gefährlichen Konflikt-verschärfungen kommt, wenn ein atomares Ungleichgewicht zwischen beiden Supermächten besteht oder zu entstehen droht, erscheint eine letztendliche Einigung beider auf Paritätsebene sowie auf Kontrolle des Fundamentalkonflikts durch Verhandlungen nicht ausgeschlossen. Selbst das dürfte freilich kaum ausreichen, um mehr als einen weiterhin labilen und zerbrechlichen Weltfrieden zu gewährleisten. 3. Zu den wechselseitigen Fehleinschätzungen Geschichte liefert keine Handlungsanweisungen für unsere eigene politisch-gesellschaftliche Praxis. Die bewußt etwas detaillierter geschilderten Vorgänge von 1938/39 und 1945 enthalten jedoch recht bedenkenswerte Fingerzeige darauf, was alles in der älteren wie jüngeren Zeitgeschichte besonders dazu angetan erscheint, in der internationalen Politik Fehleinschätzungen mit friedensfeindlichen Wirkungen hervorzurufen oder zu fördern. Dazu gehören, wie die genannten Vorgänge im einzelnen belegen:

— grundsätzliche Fehldeutungen der Ziele des Gegners;

— ideologische Scheuklappen;

— Unfähigkeit zum Erkennen oder zur richtigen Gewichtung des moralischen Elements in der Politik;

— Einsatz des ökonomischen Druckmittels; — unausgewogene Mischung von Überlegenheitsgefühl, Kooperationsbereitschaft, Mißtrauen und Sicherheitsbedürfnis.

Gewiß dürfen daraus, was unsere Gegenwart anbelangt, keine voreiligen Analogieschlüsse gezogen werden. Nicht zu bestreiten ist jedoch, daß die gerade angeführten, den Angehörigen älterer Generationen überdies aus eigenem Miterleben bekannten Verhaltensweisen in der internationalen Politik wesentlich zur Herbeiführung unserer heutigen Lage, die durch fortdauernde Abwesenheit einer globalen, gesamteuropäischen und gesamtdeutschen Friedensordnung gekennzeichnet ist, beigetragen haben. Diese eben nicht nur aus Bildungswissen gewonnene, sondern durch vielfältige persönliche Erfahrung gestützte Einsicht kann bzw. sollte unser kritisches Bewußtsein dafür schärfen, daß die friedensbedrohende Gefahr neuer ähnlicher Fehleinschätzungen fortbesteht. Und ist nicht — wie im persönlichen Leben — das Erkennen einer Gefahr eine brauchbare, vielleicht sogar unerläßliche Orientierungshilfe für künftiges Verhalten, das diese Gefahr zu bannen oder wenigstens einzuschränken sucht? Um noch einmal konkret zu werden: Der Kalte Krieg als besonders friedensbedrohende Erscheinungsform des Ost-West-Konflikts ist nach heute vorherrschender fachwissenschaftlicher Erkenntnis vorrangig aus einem vermeidbaren Eskalationsmechanismus wechselseitiger Fehleinschätzungen und Kurzschlußreaktionen entstanden. Daraus kann doch wohl nur gefolgert werden, daß alles getan werden muß, um die Wiederholung eines solchen Vorganges zu verhindern.

Ende September 1983 hat Richard von Weizsäcker, der Regierende Bürgermeister von Berlin, in der Stadtkirche von Wittenberg erklärt: „Frieden in der Welt zwischen Menschen und Völkern darf nicht nur Sehnsucht und Gefühl sein. Es erfordert von uns mehr als das christliche überspielen von Gegensätzen und Konflikten. Es verlangt zunächst Aufrichtigkeit in der nüchternen Analyse." Mit der einem Historiker angemessenen Arbeitsdevise „Blick zurück in die Zukunft" ging es uns darum, zu einer solchen Analyse beizutragen und Geschichte als aktuelle Orientierungshilfe für das Friedensthema nutzbar zu machen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bewußt ausgeklammert wird der Nord-Süd-Konflikt, weil er im Unterschied zu den gerade angeführten, im 20. Jahrhundert durchgängig wirksamen Faktoren erst in den sechziger Jahren voll in Erscheinung getreten ist und weil er als langfristig vielleicht gefährlichste „Zeitbombe für eine friedliche Zukunft der Menschheit" (Informationen zur Politischen Bildung 196/1982: Der Nord-Süd-Konflikt, S. 1) einer eingehenderen, hier nicht leistbaren Analyse bedarf.

  2. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags; Bd. 266, S. 6001; s. hierzu und zum folgenden auch H. Altrichter, Konstitutionalismus und Imperialismus. Der Reichstag und die deutsch-russischen Beziehungen 1890 bis 1914 (Erlanger Historische Studien, Bd. 1), Frankfurt a. M. /Bern/Las Vegas 1977, S. 97— 99.

  3. 866. — 870. Auflage, München 1943, S. 742.

  4. A. Hillgruber, Deutsche Großmacht-und Welt-

  5. Authentisch überliefert von Milovan Djilas, Gespräche mit Stalin, Frankfurt a. M. 1962, S. 146.

  6. B. Kreisky, Voraussetzungen der Koexistenz, Freiburg i. Br. 1960, S. 9.

  7. Zitiert nach H. K. G. Rönnefarth, Die Sudetenkrise in der internationalen Politik, Wiesbaden 1961, Teil 1, S. 674.

  8. E. H. Carr, Was ist Geschichte? Stuttgart 1963, S. 25 f.

  9. W. Link, Das Konzept der friedlichen Kooperation und der Beginn des Kalten Krieges, Düsseldorf 1971, S. 27.

  10. Süddeutsche Zeitung vom 26. 9. 1983.

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Karl-Heinz Ruffmann, Dr. phil., geb. 1922; o. Professor für Osteuropäische und Zeitgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg; 1957— 1962 wiss. Mitarbeiter und (seit 1959) Studienleiter des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung in Köln; 1962— 1982 Mitglied in dessen wiss. Direktorium und 1972— 1981 auch Mitglied des wiss. Direktoriums des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien; seit 1983 Mitglied des wiss. Beirats des Instituts für Zeitgeschichte in München. Neuere Veröffentlichungen: Sowjetrußland 1917— 1977. Struktur und Entfaltung einer Weltmacht, München 19819; Sport und Körperkultur in der Sowjetunion, München 1980; (zus. mit H. Altrichter) „Modernisierung" versus „Sozialismus". Formen und Strategien sozialen Wandels im 20. Jahrhundert, Erlangen 1983.