Was ist los mit den Deutschen? Wer sich im Ausland umtut, wird immer wieder auf diese Frage stoßen, bei New Yorker Leitartiklern ebenso wie bei englischen Berufskollegen oder bei Pariser Taxichauffeuren. Irgend etwas Seltsames scheint dieses Land an sich zu haben, das den auswärtigen Betrachter erstaunt und ratlos macht. Eine internationale Konferenz, die im Frühjahr dieses Jahres im Berliner Aspen-Institut der Frage nachging:
„Where is Germany Heading?" (Wohin steuert Deutschland?), kam zu dem Ergebnis, der Patient sei durchaus gesund und überlebensfähig, zeige aber doch unübersehbare Schwächesymptome: Entfremdung von den Spielregeln der westlichen Demokratie greife um sich; populistische Tendenzen und moralischer Rigorismus machten sich verstärkt bemerkbar; die Jugend zeige ein Maß an Manipulierbarkeit, das zur Sorge Anlaß gebe; das Gefühl des einzelnen, isoliert zu leben, nehme bemerkenswert zu; die Hilflosigkeit und der Argwohn kommenden technologischen Herausforderungen gegenüber gehe weit über . vergleichbare Einstellungen im übrigen Westen hinaus; Kriegsangst schließlich und das Fehlen einer mitreißenden politischen Vision werde in Deutschland signifikant stärker als anderswo empfunden. Alles das seien gewiß Symptome, die in sämtlichen westlichen Demokratien gefunden werden könnten, aber sie unterschieden sich in Form wie Intensität doch spürbar von den vergleichbaren Problemen anderer Staaten
Für den Politiker ist dieser Befund besorgniserregend; dem Historiker ist er vertraut. Daß die Deutschen anders seien als die übrigen westlichen Nationen, ist seit bald zweihundert Jahren Allgemeingut westlicher Öffentlichkeit. Die Deutschen seien ein metaphysisches Volk, meinte 1810 die französische Schriftstellerin Madame de Stal; während französische wie englische Bürger sich neben ihrem Broterwerb um die Wohlfahrt ihres Gemeinwesens kümmerten, lebten die Deutschen in der Welt der Ideen. Hier sei ihr eigentliches Reich, doch es beruhe auf einer Art des Denkens, das nicht nüchtern auf den praktischen Zweck gerichtet sei, sondern das sich „ins Unbestimmte verliere und in der Tiefe verschwinde". Die Liebe zur Freiheit sei den Deutschen fremd; was sie liebten, das seien die großen Gefühle, die formlosen Gedanken, und die Wirklichkeit suchten sie hinter den Ideen, nicht umgekehrt Nicht pragmatisch Handelnde seien die Deutschen, sondern heimisch im Reich des Absoluten, nach dem sie ihre Wirklichkeit zu formen suchten: Das wurde der große Topos westlicher Deutschlandbilder der folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte, und Generationen von Diplomaten, Schriftstellern und Politikern blickten mit fasziniertem Schauder nach Deutschland, wo alles so anders war. Das Wort vom „deutschen Sonderweg" kam auf, promovierte im Verlauf des Ersten Weltkriegs vor allem aufgrund der Bemühungen von Historikern der Universität Oxford, der alliierten Kriegs-führung eine handliche Propagandaformel zu verschaffen, und wurde dann seit den deutschen Ereignissen von 1933 und danach mit überwältigender Anschauung gefüllt, um bis heute zu den festen Stereotypen der Geschichtswissenschaft zu gehören.
Die These vom deutschen Sonderweg unterliegt freilich seit einigen Jahren zunehmender Kritik; gerade auf jenen Gebieten, die einer auf den Primat der sozialökonomischen Verhältnisse gestimmten Betrachtungsweise besonders wichtig scheinen, auf denen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung, stellte sich eine weit überwiegende Ähnlichkeit zwischen der deutschen und der westeuropäischen Entwicklung heraus, und selbst die vielgeschmähte klassische deutsche Verfassungsordnung des 19. Jahrhunderts, der „monarchische Konstitutionalismus", der vergangenen Verfassungstheoretikern so unheilvoll vom westlichen Normalweg zu Demokratie und Freiheit abzuweichen schien, erweist sich bei näherer vergleichender Betrachtung als so andersartig nicht; parlamentarische Demokratie in unserem heutigen* Verständnis war in ganz Europa vor dem Ersten Weltkrieg eine Seltenheit Manchem gerade angelsächsischen Betrachter scheint deshalb neuerdings die Sonderwegstheorie obsolet und auf den genannten Gebieten ist sie es wohl auch.
Einen Aspekt freilich übersehen die eifrigen Revisionisten unseres traditionellen Geschichtsbildes leicht, weil er aus ihrem materialistischen Kategorienrahmen herausfällt: es ist die Welt des Denkens, der Einstellungen, der Haltungen, der kollektiven Mentalitäten, kurz: der politischen Kultur. Hier gibt es unbezweifelbar langfristig angelegte Tendenzen und Traditionen, die für deutsche Verhältnisse typisch erscheinen und namentlich in Krisenzeiten in anscheinend ewiger Wiederkehr des Gleichen, nur oberflächlich verändert, ihre Kontinuität beweisen. Ich meine die massenhafte Abkehr vom Politischen, von Max Weber klassisch definiert als „starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich" statt dessen die Hinwendung zur Idee des Absoluten und seiner Verwirklichung im irdischen Alltag, die chiliastische Sehnsucht nach dem Gottesreich auf Erden, in dem das Lamm sich zum Löwen schmiegt, in dem die Gegensätze sich vereinigen und das Prinzip des Guten ein für allemal den Sieg davonträgt, in dem das zweifelnde Denken verstummt und das einsame Ich endgültig in einem emphatischen Wir verschmilzt. Verachtung der Politik, des grauen, alltäglichen Geschäfts des Interessenausgleichs, Angst vor der pragmatischen Verschmutzung von Idealen durch den politischen Kompromiß, Abscheu vor der kühlen Vernunft, die den heißen Drang des Herzens zu korrumpieren droht, die Prämiierung von Prinzipienfestigkeit, Grundsatztreue und rücksichtsloser Konsequenz gegenüber dem Ausgleich, dem Kompromiß, der stets und von vornherein als „faul" gedacht wird und in die Nähe von „Kuhhandel", wenn nicht „Verrat" rückt: dieses Syndrom hat bei uns Geschichte. Nicht über einen „Sonderweg" gilt es zu reden, wohl aber über ein „Sonderbewußtsein"
Ein Bündel von Gründen bietet sich dafür an.
Deutschland: das ist nicht, wie im Fall der westlichen Nachbarstaaten, ein historisch gewachsenes einheitliches Staatsgebilde, in dem Sprachgrenzen, Staatsgrenzen und Nationalgrenzen weitgehend übereinstimmen.
Deutschland ist über die Jahrhunderte hinweg bis in das 19. Jahrhundert hinein nicht mehr als ein vager geographischer und staatsrechtlicher Begriff, tatsächlich eine Fülle von „Deutschländern" — „les Allemagnes", wie die Franzosen sagen —, eine Menge größerer und kleinerer Territorialstaaten zwischen Maas und Memel, Etsch und Belt, in denen man zwar in aller Regel deutsch spricht, im übrigen aber dem jeweiligen Landesherrn und dessen Konfession anhängt und Kaiser und Reich allenfalls wie eine bunte Fata Morgana wahrnimmt, anrührend, aber weit entfernt und wesenlos.
Es bedarf erst der Erschütterung durch die Französische Revolution, durch den Zusammenbruch des tönernen Giganten Preußen auf den Schlachtfeldern von Jena und Auerstädt und durch die napoleonische Okkupation, um den Deutschen das Gefühl der Identität und der nationalen Zusammengehörigkeit zu geben. Aber das ist vorerst ein ganz im Negativen wurzelndes Bewußtsein, geboren in der Abwehr des „korsischen Ungeheuers". Deutsche Identität, das ist eine der entscheidenden Erfahrungen dieser Epoche, hat mit Abgrenzung und Feindschaft zu tun. Sie definiert sich gegen Frankreich, und zwar nicht nur gegen das napoleonische Staatswesen, sondern gegen alles Französische überhaupt, vor allem gegen die französische Zivilisation, die jahrhundertelang die führende Europas gewesen ist, die höfische Kultur der hundertfachen deutschen Residenzen bestimmt hatte und nun, zusammen mit der territorialen Zersplitterung und dem antinationalen Duodez-Fürstentum, dem haßerfüllten Verdikt der deutschen Patrioten anheimfällt. Die glänzende Kultur der deutschen Romantik ist in wesentlichen Zügen antifranzösisch und das heißt, cum grano salis: anti-rationalistisch, anti-aufklärerisch, anti-demokratisch und, da sich in der verhaßten Ideen der französischen Revolution ein wesentlicher Teil westeuropäischer Philosophie und politischer Entwicklung akkumuliert hat, überhaupt anti-westlich. Dieser direkte und enge Zusammenhang der Entstehung des deutschen Nationalbewußt-seins mit anti-westlichen Affekten hat erhebliche Folgen, denn immer wieder, wenn die nationale oder kulturelle Identität der Deutschen in eine Krise gerät, erwacht auch das. anti-westliche Ressentiment, das sich je nach den aktuellen Feindbildern richtet: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ist es der Erbfeind Frankreich, dessen „Civilisation" kalt und rationalistisch im Gegensatz zu der ursprünglichen, naturnahen und vor allem gemütvollen deutschen „Kultur" gedacht wird, wie man auch die französische Ränkesucht und Sittenverderbnis gerne deutscher Treue und Biederkeit entgegenstellt.
Seit dem Beginn des verspäteten deutschen Drangs nach Kolonien und wirtschaftlichen Einflußsphären, seit der deutsch-englischen Flottenrivalität kommt der Soupcon gegen das „perfide Albion" hinzu; der Neid auf die britische Weltmacht, der man selbst so gerne in allem gleichen wollte, macht sich in tiefer Verachtung Luft — der britische Parlamentarismus, noch ein halbes Jahrhundert zuvor von den deutschen Liberalen als einzigartiges Vorbild gepriesen, wird nun in den Schriften eines Treitschke eines Bernhardi zu einem verachtenswerten Bündnis von Pöbel und Pfeffersäcken herabgewürdigt, und den Gipfel in dieser Hinsicht erreicht kein Geringerer als der große Nationalökonom Werner Sombart mit seiner illusionären Formel: „Händler und Helden" wenn den Deutschen schon nicht der Welthandel zu Gebote steht, dann wenigstens Heldentum und höhere Moral. Und seit Anfang des 20. Jahrhunderts gesellt sich ein weiterer Hauptgegner hinzu: Amerika. Auch hier steht der Neidkomplex des Zu-kurz-Gekommenen Pate: So rasant der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch ist, so schnell im Export und in den Schlüsselindustrien auch Frankreich und England überholt werden, mit den USA ist es wie im Märchen vom Hasen und Igel: Wo deutsche Firmen auch erscheinen, die amerikanische Flagge ist schon da. Und seit dem Ersten Weltkrieg kommt der Komplex der Kriegsniederlage hinzu, die durch den amerikanischen Kriegseintritt 1917 besiegelt worden war. Gegen Amerika, das ist die große deutsche Erfahrung des 20. Jahrhunderts, ist keine Politik zu machen, nur mit den Vereinigten Staaten gemeinsam Das wird kompensiert durch ein tiefwirkendes, oft genug höhnisch ausgespieltes kulturelles Überlegenheitsbewußtsein: Amerika — das ist das Land der seelenlosen Arbeitsmaschinen, der Rationalisierung aller Lebensbereiche, des hemmungslosen Pragmatismus, der Entwertung aller Ideale, das Land der Wolkenkratzer, von Coca-Cola und Hamburgers, aber ohne Geist, ohne Kultur, ohne Moral: mit einem Wort, der französische Erbfeind des 19. Jahrhunderts in zeitgemäßer Maskierung. Aus solchen Verdikten folgt, daß auch die politische Kultur des Westens mitsamt ihren Ordnungsformen, die Idee der auf vernunftgemäße Einsicht in die Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnis und in die Verschiedenheit menschlicher Bestrebungen und Interessen gegründeten repräsentativen Demokratie, der tief empfundenen Ablehnung verfällt. Das fängt mit dem Argument der „bloß formalen" parlamentarischen Demokratie an, mit dem in der Weimarer Zeit Rechts-wie Linksradikale das verhaßte „System" bekämpfen, und endet in dem Diffamierungskürzel „FdGO", in dem die antiwestlichen mit den antidemokratischen Ressentiments zusammenfließen. Die gelegentlich ins Pathologische spielende Identitätsschwäche, die manifesten kollektiven Minderwertigkeitskomplexe der Deutschen werden dadurch verstärkt, daß die Entstehung des deutschen Nationalstaats zwei Generationen lang die Geschichte der immer wieder erweckten Hoffnungen, der pünktlich eintretenden Enttäuschungen und der daraus entstehenden, sich im Laufe der Zeit potenzierenden Frustrationserlebnisse ist. 1815 nach den Freiheitskriegen, 1830 nach der Juli-Revolution in Frankreich, 1840 im Zusammenhang mit der Rhein-Krise, 1848/49 in der großen, ebenso nationalen wie demokratischen Revolution, 1859 im Verlauf der Italienkrise: immer wieder steigt die Welle der deutschen Nationalbewegung mächtig an, macht sich in einer Flut von publizistischen und organisatorischen Manifestationen Luft, und jedesmal scheitert sie an den Umständen — an der Un-beweglichkeit des Deutschen Bundes, am Egoismus der Territorialstaaten, vor allem der Führungsmächte Preußen und Österreich, an der Scheu der deutschen Liberalen, revolutionär aufs Ganze zu gehen, nicht zuletzt auch an der außenpolitischen Situation, denn die europäischen Mächte fürchten die Einigung der europäischen Mitte und suchen eine derartige Machtballung, oft genug durch nackte Interventionsdrohung, zu verhindern. So kommt es, daß die Erfüllung der nationalen Wünsche ganz und gar in der Idee liegt: eine utopische Projektion aus einer idealisierten, einer griechischen, einer germanischen Vergangenheit, ohne wesentlichen Wirklichkeitsbezug. Und als dann 1871 schließlich der deutsche Nationalstaat entsteht, da ist es lediglich ein auf den preußischen Waffen gegründeter kleindeutscher Staat, der ein Drittel der deutschen Kulturnation ausschließt. Dem deutschen Bürgertum, dessen Bewußtsein sich über Generationen hinweg an den Bildern und Mythen einer romantischen, rückwärtsgewandten Utopie vom deutschen Vaterland gebildet hat, ist die neue Wirklichkeit Mitteleuropas nur ein schwacher Abklatsch des großen Traums, eine Abschlagszahlung auf das eigentliche Ziel, das Reich aller Deutschen. Jene „gesättigte Gegenwart", die Ernest Renan bei seinen französischen Landsleuten findet ist Sache der Deutschen nicht; bis heute sind politische Sehnsucht und politische Wirklichkeit des deutschen Nationalstaats nie zur Deckung gekommen, mit einer Ausnahme: erst im „Dritten Reich" werden die nationalen Wunschträume der Deutschen für kurze Zeit, dann aber alp-traumhafte Wirklichkeit Historische Erfahrung der Deutschen ist also nicht, wie bei unseren westlichen Nachbarn, das Bestehen einer unumstrittenen Staatsnation, in deren identitäts-und sicherheitsstiftenden Grenzen man dem politischen Gegenwartsgeschäft folgen kann, sondern eine dauernde Suche nach der Verwirklichung von Idealen, die stets ans Utopische streifen und oft genug die Daseinsfähigkeit Deutschlands in der europäischen Mitte übersteigen. Schon Goethe, der für das „Dämonische" dieses Drangs nach dem Absoluten ein feines Gespür besitzt, schreibt über das Maßlose der Nationalbewegung: „Alles, was uns begrenzt, scheint für dasselbe durchdringbar; es scheint mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten; es zieht die Zeit zusammen und dehnt den Raum aus. Nur im Unmöglichen scheint es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen."
Zur Identitätsschwäche und Feindbildfixierung tritt ein Weiteres, das mit beidem zu tun hat: Durch Romantik und idealistische Philosophie scheidet sich die deutsche Geisteswelt seit Beginn des 19. Jahrhunderts von jener Strömung westlicher Ideenentwicklung, die in französischer Aufklärung und englischem Rationalismus fußt, und die über die wichtigen Stationen von Empirismus und Positivismus zum Pragmatismus eines Peirce und Dewey, zum kritischen Rationalismus und zur analytischen Theorie eines Karl Raimund Popper führt Man könnte eine repräsentative Detailgeschichte der Desintegration des deutschen politischen Denkens am Faden der Verwendung des Wortes „Positivismus" als einer Schimpf-und Abgrenzungskategorie schreiben; das findet sich bei Marx wie Nietzsche, zieht sich von links nach rechts kontinuierlich bis hin zur gegenwärtigen intellektuellen Wissenschafts-, Technik-und Politikkritik und mündet stets in den Vorwurf, die Befassung mit den Erscheinungsformen der Wirklichkeit hindere an der Erkenntnis des hinter dem Wirklichen stehenden Geistes, der Theorie, der Idee, des Absoluten, das allein Sinn und Zusammenhang stifte.
Das hat ehrwüdige Vordenker: Da ist Kant, der in einer kopernikanischen Wende gegen die herkömmliche Erkenntnistheorie die Erkennbarkeit der Wirklichkeit „an sich" bestreitet und fordert, man müsse daher das Sittengesetz in sich selbst finden, da es außer uns nicht nachweisbar existiere: damit wird dem gesamten Naturrecht der Boden seiner Begründbarkeit entzogen. Schärfer faßt es dann Fichte: „Aller Realität Quelle ist das Ich", sagt er, „denn dieses ist das Unmittelbare und schlechthin Gesetzte. Erst durch und mit dem Ich ist der Begriff der Realität gegeben" Das absolute Ich schafft die Welt — eine Welt, die so wird, wie sie werden soll. über Hegel und Schelling wird diese Idee ausgeweitet, und da es länger als ein Jahrhundert im deutschen Sprachraum keinen wirklich konkurrierenden philosophischen Begründungszusammenhang gibt, wuchern die Popularisierungen und Simplifizierungen des idealistischen Denkens und müssen in immer neuer Form zur ideologischen Unterfütterung herhalten, wenn es darum geht, den Vorrang der Welt des Sollens vor der Welt des Seins, der guten Absicht vor der pragmatischen Einsicht zu begründen. Auch auf diesem Weg gerät das Feld des Politischen, das bislang in aufklärerischer Manier das Feld des praktischen Zusammenlebens der Staaten und Menschen auf der Basis des Interessenausgleichs unter rechtsförmigen, allgemein verbindlichen Regeln galt, nunmehr zum Kampfplatz der absoluten Idee von Gut und Böse. Daß hier auch mächtige religiöse Kräfte wirken, daß insbesondere die eruptiven Kräfte des Pietismus mit ihrer Suche nach einer Transzendenz im Diesseits wie auch das Lutherische Postulat der Rechtfertigung aus dem Glauben die Verabsolutierung des Politischen befördern, sei nur am Rande angemerkt; auch die besondere Rolle protestantischer Pastoren wäre in diesem Zusammenhang zu erörtern.
Die Politik als Feld der letzten Fragen und Antworten, in dem eschatologische Endziele, die Einebnung aller menschlichen Konflikte und die Herstellung des ewigen Friedens machbar erscheinen; die Ableitung der politischen Mittel und Ziele aus der Idee eines absolut Guten, die denn auch die klare Trennung von Gläubigen und Nichtgläubigen, Guten und Bösen, Freunden und Feinden ohne weiteres erlaubt, ja sogar gebietet: das alles wird schließlich durch ein weiteres Element der deutschen Geschichte befördert: durch die Überlagerung der schwierigen Selbstfindungsphase der „verspäteten Nation" Deutschland durch den Prozeß der industriellen Revolution, der in Deutschland zwar relativ spät einsetzt, dann aber einen Schub entwickelt, der in Geschwindigkeit wie Reichweite den take-off der anderen westlichen Industrienationen hinter sich läßt.
Die Geschichte der deutschen Industrialisierung ist nicht nur eine Geschichte abstrakter Zuwachsraten von Exportquoten, Produktionsziffern und Bruttosozialprodukt-Indizes, sondern vor allem einer revolutionären Um-wälzung der deutschen Gesellschaft. Die Nachricht von vergleichsweise hohen Löhnen und sicheren Arbeitsplätzen in den Industrie-städten setzt die „größte Massenbewegung der deutschen Geschichte" (Wolfgang Köllmann) in Gang; im Verlauf von nur einer Generation kehrt sich das Verhältnis von Land-und Stadtbewohnern in Deutschland um; um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lebt jeder zweite Deutsche an einem anderen Ort als dem seiner Geburt. Eine derartige Massenwanderung hat es in der Geschichte bis dahin nie gegeben. Das vorherrschende Gefühl der Epoche ist das der Entwurzelung, der Heimatlosigkeit — Familienbande sind zerrissen, religiöse Bindungen gelockert, herkömmliche Treue-und Abhängigkeitsverhältnisse aufgegeben. Das Industriemilieu, die Fabrik, die Verwaltung bieten da keinen Ersatz: die Beziehungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind auf ein nach ökonomischen Gesichtspunkten abgeschlossenes marktwirtschaftliches Tauschverhältnis reduziert; es überwiegt das Gefühl des Ausgeliefertseins an anonyme Kräfte, der Auswechselbarkeit, der sozialen Atomisierung, weithin auch der menschlichen Entwürdigung und Hoffnungslosigkeit. Kurz: es herrschen tiefe gesellschaftliche Orientierungsungewißheit und Normenverlust.
Der Ruf des Jahrhunderts nach Umwertung aller Werte wird aus vielen Richtungen beantwortet. Wo Religion und feste gesellschaftliche Normen nicht mehr tragen, dort treten die Mythen und Sinngebungen der neuen Epoche ein, miteinander konkurrierend, sich auf das heftigste befehdend und einander kategorisch ausschließend: Da ist nicht nur die Utopie der harmonischen Einheit von Volk und Nation, da ist der liberale Anspruch auf Freiheit und Glückseligkeit des einzelnen, da ist die Klasse als identitätsstiftendes Prinzip. Die alte Welt mobilisiert Abwehrkräfte, die ihrerseits massenwirksame Ideologien ausbilden — der alte Konservativismus verliert seinen elitären Charakter als Abwehrfront traditioneller Führungsschichten gegen den Aufstand des „Pöbels" und erhält gelegentlich selber in Verbindung mit antisemitischem Bodensatz einen entschiedenen Zug ins Pöbelhafte. Der politische Katholizismus stellt die Reaktion einer von gesellschaftlichem Normverlust in geringerem Maße erfaßten Bevölkerungsminderheit auf den Herrschaftsanspruch von Liberalismus und aggressiv protestantischem Junkertum dar. Aus diesen ganz unterschiedlichen Antworten auf die Orientierungskrise des Jahrhunderts erwachsen politische Parteien, die einen ans Religiöse streifenden Alleingültigkeitsanspruch erheben und ihren Anhängern eher Kirchen denn Interessenvertretungen zu sein versprechen. Das deutsche Parteiensystem, das sich im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfe ausformt, jenes Hexagon von Konservativismus, völkisch-nationalistischem Antisemitismus, Nationalliberalismus, Linksliberalismus, politischem Katholizismus und Sozialdemokratie, ist tatsächlich nur in der ordnenden Phantasie des nachträglichen Betrachters ein System: Tatsächlich sind es unversöhnliche Antagonismen, ein Gewirr von Schützengräben und Igelstellungen, seinerseits wiederum überformt und durchkreuzt von organisierten wirtschaftlichen und sozialen Interessen. Zwischen ihnen allen herrscht, um eine moderne Wortbildung zu bemühen, „Sprachlosigkeit", also eine tiefverwurzelte, habituelle Unfähigkeit zum sozialen, zum wirtschaftlichen, zum politischen Ausgleich; wo common sense oder der Bezug auf gemeinsame Interessen gefordert sind, dort herrscht der ideologisch aufgeladene Kampf aller gegen alle im gesellschaftlichen System. Das hat einstweilen keine Folgen. Die preußische und deutsche Verfassungsform der konstitutionellen Monarchie verhindert, daß die Parlamente und damit die Parteien bestimmenden Einfluß auf die politischen Verhältnisse bekommen. Auch aus diesem Grund besteht aber für die Parteien kein Anlaß, sich in der schmerzhaften Kunst des politischen Kompromisses und Interessenausgleichs zu üben, und selbst der leiseste Versuch der Parteien bleibt aus, auf dem Weg über parlamentarische Mehrheitsbildungen und den Druck durch Budgetverweigerung den Sprung in die parlamentarische Verfassungsform zu tun, obwohl dies seit dem Ende der Ära Bismarck immer stärker in den Bereich des Möglichen rückt und von den herrschenden Beamtenkabinetten furchtzitternd erwartet wird: Man müßte pragmatische Kompromisse schließen, und das widerstrebt der Neigung der Parteien, programmatisch über letzte Werte zu befinden und das kommune Tagesgeschäft der Politik der Bürokratie zu überlassen. Dieser Krebsschaden des deutschen Parlamentarismus ist noch bis heute in der politischen Kultur dieses Landes spürbar: die in Krisenzeiten zunehmende selbstzerstörerische Neigung der politischen Parteien und sonstigen Gruppierungen, ihren eigentlichen Daseinszweck nicht in der parlamentarischen Mehrheitsund Regierungsbildung, sondern in Sinnstiftung und Wahrheitsverkündung zu sehen, so daß jede Politik, die sich mit der eigenen nicht genau deckt, ohne weiteres als feindlich erscheint; jeder Griff nach der Macht läuft auf pragmatische Verschmutzung hoher Ideale hinaus, und da mit den Worten des „Rembrandt'-Deutschen Wilhelm Julius Langbehn Deutschsein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, gehört es sich nicht, nach der Macht zu schielen, denn die korrumpiert, sondern man befaßt sich mit den ewigen Wahrheiten. Politik als Religionsersatz, als Kampfplatz zwischen Gut und Böse und damit im Ergebnis nichts anderes als der Ausstieg aus der Politik, wenn darin nicht Bürgerkrieg, sondern eben die Verhinderung des Bürgerkriegs gesehen werden soll: das ist eine Konstante deutscher politischer Kultur, der schwerste Mühlstein am Hals einer demokratischen Ordnung. Gerade am Beispiel sozialer und jugendlicher Protestwellen läßt sich die Kontinuität dieser Erscheinung in der deutschen Geschichte präzise belegen: Man denke an die nationale Bewegung nach 1815, getragen von den Freiwilligen der Freiheitskriege, vorwiegend von Studenten, Professoren und Publizisten, die bereits auf dem Wartburgfest von 1817 jene Nachtseiten des deutschen bürgerlichen Geistes offenbarte, die heute, im Rückblick, uns nur zu vertraut erscheinen: „Ein großer Korb ward jetzt ans Feuer gebracht", so berichtet ein Augenzeuge, „voll Bücher, die hier öffentlich, im Angesicht des deutschen Landes der Flamme übergeben wurden, im Namen der Gerechtigkeit, des Vaterlandes und des Gemeingeistes. Ein gerechtes Urteil sollte hier gehalten werden über die schlechten, das Vaterland entehrenden, unseren Volksgeist verderbenden Schriften; zum Schrecken der Schlechtgesinnten und aller derjenigen, die mit ihrem seichten Wesen, leider! nur zu sehr die alte keusche Volkssitte entstellt und entkräftet haben. Der Titel jedes Buches war von einem Herold laut ausgerufen; dann erscholl jedesmal ein lautes Geschrei der Anwesenden, ein Ausspruch ihres Unwillens: Ins Feuer! Ins Feuer! Zum Teufel mit demselben! Somit ward das corpus delictum den Flammen überantwortet." Wo bereits Politik im Namen letzter Werte und Ideale betrieben wird, das zeigt sich bereits hier, dort sind die Flammen nicht weit, in denen der unreine Geist geläutert und zu seiner eigentlichen Bestimmung gewaltsam befördert wird, und auch die Tat bleibt nicht aus: Zwei Jahre darauf ersticht der Student Karl Ludwig Sand den Schriftsteller August von Kotzebue, denn der hat sich in seinen Schriften über die Ideale der Burschenschafts-und Nationalbewegung lustig gemacht und ist also ein Schlechtgesinnter. Trotz periodischer Gewaltausbrüche im Namen des großen nationalen Prinzips bleibt jedoch die deutsche Nationalbewegung auf die Dauer seltsam unfruchtbar; ihre Kompromißlosigkeit verhindert jahrzehntelang, daß die herrschenden politischen Gewalten sie anders als nur unter dem Aspekt der öffentlichen Gefahr betrachten, so daß die konservativen, antinationalen Partikulargewalten in der Reaktion sogar erstarken und das bekämpfte System des Deutschen Bundes stabilisiert wird.
Insofern war also die Politik aus der reinen Idee, die von der Nationalbewegung betrieben wurde, geradezu gegenproduktiv, und es ist kennzeichnend, daß der große politische Kompromiß, den die Mehrheit des deutschen Liberalismus 1866 mit Bismarck schließt, um so die Entstehung des deutschen Nationalstaats zu ermöglichen, bis heute in der Literatur überwiegend als säkularer Verrat an den Idealen des Liberalismus erscheint
Das Phänomen wiederholt sich gegen Ende des Jahrhunderts. Mit der Erfüllung der Träume vom Nationalstaat kommt die Enttäuschung; das neue Reich erweist sich als halbe Lösung der alten nationalen Utopie, als Staat ohne Transzendenz, ohne Aufgabe, die über die Gegenwart hinausreicht; es bleibt kaum mehr als die Verwaltung des Erreichten, und die Zukunft liegt mit einem Mal nicht mehr in der Utopie, sondern in der Ökonomie. Für die Jugend, die nach der Reichseinigung auf-wuchs, ergibt das keinen Sinn. Sie erlebt die „belle poque", die Zeit des größten wirtschaftlichen Aufschwungs und einer nie da-gewesenen Verbreiterung des Volkswohlstands als Zeitalter der spießigen Übersätti-* gung, der geistlosen Großmannssucht. Sie ist von nichts so überzeugt wie von der Hohlheit und Verlogenheit des wilhelminischen Deutschland. Die Jugendbewegung setzt sich mit aller Macht von den Werten des bürgerlichen Liberalismus ab — Mäßigung, gesellschaftliche Formen, der Glaube an die Vernunft, die Maßstäbe bürgerlicher Zivilisation verfallen restloser Ablehnung. Die Eltern sind konservativ, nationalliberal oder freisinnig; die Töchter und Söhne werden Völkische, Sozialisten, Syndikalisten, Nihilisten oder begeben sich jugendbewegt auf den Weg zu einem Nirwana der Innerlichkeit.
Das ist das Vorspiel zum vielbeklagten Abfall der Jugend von dem ersten deutschen Experiment in Demokratie, der Weimarer Republik.
Tatsächlich wurzelt der verbreitete Abscheu des Großteils der deutschen Jugend vor den Werten und der Wirklichkeit dieses demokratischen Staatswesens bereits im Zivilisationsekel der Vorkriegszeit, verschärft und radikalisiert durch das Erlebnis des Weltkriegs, in dessen Materialschlachten die Normen des bürgerlich-liberalen Individualismus kurz und klein geschlagen werden. Die klassischen bürgerlichen Parteien besitzen praktisch keinen jugendlichen Anhang, sie bleiben Sache würdevoller Honoratioren, die ihnen nahestehenden Jugendverbände leiden an chronischer Auszehrung. Das gilt übrigens auch für die Sozialdemokratie, die einst eine sehr junge Partei gewesen war, deren durchschnittliches Mitglieder-und Wähleralter jedoch im Laufe der Weimarer Zeit dramatisch ansteigt. Wo die Jugendlichen bleiben, ist nicht schwer zu ermitteln: Die Väter deutsch-national oder liberal, die Kinder nationalsozialistisch — die Väter Sozialdemokraten, die Kinder Kommunisten: das ist der statistische Normalfall. Auf beiden Seiten des politischen Spektrums wirkt dasselbe Syndrom: die Republik ist grau, kompromißlerisch, unfertig, rational verfaßt, wo das Ganze, das Überschwengliche, das Begeisternde gesucht sind;
sie ist unheroisch und kleinkariert, wo das Große, das Ekstatische gefordert wird; sie ist mit tausend Strängen der Vergangenheit verbunden, wo das ganz Neue, das überwältigend Andere, das rein Zukünftige erwartet wird.
Wo aber im geistigen Klima der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre „Vernunft"
und „Glaube“ aufeinanderstoßen, dort gewinnt stets der Glaube die Partie. Die Exaltation gibt den Ton an: „Den stärksten Widerwillen", meint der Verfasser einer zeitgenössischen Jugend-Enquöte, „empfindet die Jugend ge9 gen die Reaktion von heute, gegen die westlerische, liberale Weltreaktion, der der Präsident Wilson die Fahne vorangetragen hat, die uns niedergeworfen und vergewaltigt hat, und deren Henkersknechte die Erzberger und Scheidemänner, die Formaldemokraten aus allen Lagern sind". Der amerikanische Präsident als satanische Symbolfigur des antiwestlichen Affekts, die deutschen Parteipolitiker als verächtliche Agenten eines undeutschen Geistes, die „Formaldemokratie" als teuflischrationalistische Knebelung eines aus dem Utopischen antizipierten Freiheitsverlangens — das alles hat Tradition, und auch die Schlußfolgerung unseres Autors: „Die jungen Menschen unserer Zeit haben nur unsagbare Verachtung für die . liberale Weit', die geistige Unbedingtheit geringschätzig Weltfremdheit nennt; sie wissen, daß Kompromisse im Geistigen aller Laster und Lügen Anfang sind." Erfolg muß hier schließlich diejenige politische Kraft haben, die die Verachtung der liberalen Welt zum Kern ihrer Agitation macht und mit dem Aufbruch in die Utopie des „Dritten Reichs", nicht umsonst ein Begriff aus mittelalterlichen chiliastischen Visionen, die Befreiung aus allem Elend der Gegenwart verheißt, dem materiellen, vor allem aber dem geistigen, und die dafür nicht mehr fordert als Glauben und Hingabe.
Ich schließe an dieser Stelle. Manches des Geschilderten kommt dem heutigen Beobachter gespenstisch vertraut vor; die Kontinuität verschwommen gläubiger „Bewegungen" in der deutschen Geschichte scheint bei aller Unterschiedlichkeit konkreter Anläße und Absichten im Entscheidenden, in der Art des Denkens, der Form der Weltbilder, in der Struktur ihrer Gegenwartserlebnisse und Zukunftserwartungen evident. Die Versuchung des Absoluten, die Verachtung der Politik, die Ablehnung der Vernunft, der Haß gegen die Realität — das alles sind keine akademischen Themen. Es handelt sich um tief in unserer Geschichte angelegte Gefährdungen unserer politischen Kultur, die die Sorge und Wachsamkeit aller Demokraten fordern, in welchem parteipolitischen Lager auch immer.