Belgien — der schwierige Weg zur politischen und wirtschaftlichen Stabilität
Norbert Lepszy/Wichard Woyke
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Zusammenfassung
Das politische System Belgiens ist seit der Gründung des Staates einerseits durch eine tiefgehende Fragmentierung der politischen Kultur und andererseits durch politische Stabilität gekennzeichnet. Drei Konfliktlinien markieren die politische Entwicklung Belgiens: 1. die religiöse bzw. katholisch-klerikal/antiklerikale Spaltung in der Gesellschaft, 2.der sozio-ökonomische Gegensatz und 3.der ethnisch-kulturelle Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen. Während die systemgefährdenden zentrifugalen Tendenzen der beiden ersten Konflikte durch bereits im 19. Jahrhundert entwickelte konkordanzdemokratische Regelmechanismen weitgehend gemildert werden konnten, ist dies im Falle des ethnisch-kulturellen Konfliktes noch ungewiß. Mit einer in zwei Stufen 1971 und 1980 vollzogenen Staats-und Verfassungsreform hat Belgien den Weg vom zentralistischen Einheitsstaat zu einer föderativen Ordnung auf der Grundlage eines ethnisch-kulturellen Regionalismus beschritten. Wichtige Probleme wie das der institutionellen Ausgestaltung der Region Brüssel sind jedoch ungelöst. Vor diesem Hintergrund der Regionalisierungs-und Autonomiebestrebungen hat sich die Struktur des belgischen Parteiensystems, das bis Mitte der sechziger Jahre von den drei traditionellen Parteien der Katholiken, Liberalen und Sozialisten dominiert wurde, in wesentlichen Punkten gewandelt; dem Rückgang des Stimmenanteils der drei traditionellen Parteien entsprechen die Erfolge der sog. regionalen Sprachenparteien; in der Reaktion auf diese Entwicklungen haben sich auch traditionelle Parteien in regionale Teilparteien gespalten. Das zweite, eng mit der Regionalisierungspolitik verbundene Hauptthema der belgischen Republik in den letzten Jahren ist die ökonomische Dauerkrise. Während Belgien im 19. Jahrhundert aufgrund der frühen Industrialisierung das wirtschaftlich am weitesten fortgeschrittene Land Kontinentaleuropas war, sind heute die traditionellen Industriegebiete der Wallonie von einer tiefgreifenden Strukturkrise betroffen. Auf der anderen Seite hat Flandern aufgrund der günstigeren Standordbedingungen einen wirtschaftlichen Aufschwung vollzogen, der das Gleichgewicht zwischen den Regionen zugunsten des flämischen Teils verschoben hat. Dieser Aufschwung ist nicht zuletzt möglich geworden durch die aktiveTeilnahme Belgiens am europäischen Integrationsprozeß. Die von allen Parteien getragene Außenpolitik Belgiens orientiert sich an supranationalen Integrationszielen und -methoden, da hierin eine optimale Wahrung der Interessen von Kleinstaaten gesehen wird.
I. Die belgische Konkordanzdemokratie in der Krise
Das politische System Belgiens ist seit der Gründung des Staates einerseits durch eine iefgreifende Fragmentierung der politischen Kultur und andererseits durch politische Stabilität gekennzeichnet. Drei Konfliktlinien bestimmen die politische Entwicklung des Landes: die religiöse bzw. katholisch-klerikal/antiklerikale Spaltung in der Gesellschaft, der sozio-ökonomische Gegensatz und der ethnisch-kulturelle Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen
Der religiöse Konflikt manifestierte sich vor allem in der Auseinandersetzung in der Kultur-und insbesondere in der Schulpolitik. Aus dieser Auseinandersetzung entstand der Konflikt zwischen Katholiken und Liberalen; auch der sozio-ökonomische Konflikt wurde durch das Parteiensystem — Gründung einer antiklerikal geprägten sozialistischen Partei — institutionalisiert, wohingegen die ethnisch-kulturellen Konflikte bis zum Beginn der sechziger Jahre entweder zunächst keine massenmobilisierende Bedeutung in der belgischen Politik hatten bzw. innerhalb des traditionellen, von Katholiken, Liberalen und Sozialisten geprägten Parteiensystems die hierfür konstitutiven Konfliktlinien überlagerten. Die gesellschaftliche Segmentierung in subkulturelle Großgruppen ging wie in den Niederlanden auch einher mit der Herausbildung eines Netzes von Organisationen und Institutionen in nahezu allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen innerhalb der subkulturellen Gemeinschaften; so verfügt jede über eine eigene Partei, Gewerkschaft, Presse, ein gesondertes kulturelles Vereinswesen und zahlreiche soziale und ökonomische Organisationen. Auch in bezug auf die belgische Gesellschaft wird zur Kennzeichnung dieses soziologischen Phänomens von der „Versäulung" gesprochen.
Die religiös-weltanschaulichen und die im früh-industrialisierten Belgien besonders stark ausgeprägten sozio-ökonomischen Konflikte konnten bis in die Mitte der sechziger Jahre erfolgreich im Sinne der Systemstabilisierung bewältigt werden Die bewußte Entscheidung der politischen Eliten für konkordanzdemokratische Strategien der Konfliktaustragung und ein hoher Grad der Institutionalisierung politischer und sozio-ökonomischer Konflikte waren hierfür die Voraussetzung
Auch der Ausbau des belgischen Wohlfahrt-staates mit einem umfassenden System der sozialen Sicherung erfolgte auf dieser Grundlage; das hiervon abgeleitete Harmoniemodell der Arbeits-und Sozialbeziehungen, das den gütlichen Interessenausgleich zwischen den Sozialpartnern vermittels eines auf Elitenebene ausgehandelten Kompromisses in den Mittelpunkt stellt, wurde erst in der Phase wirtschaftlicher Rezession und der verschärften strukturellen Probleme in der Wallonie zunehmend in Frage gestellt Im politischen Entscheidungsprozeß blieb die Herrschaft der Führungseliten der drei traditionellen Parteien bis zum Auftreten der den ethnisch-kulturellen Konflikt thematisierenden Sprachenparteien unangefochten und dominierte nicht nur die Politik der Parlamentsfraktionen, sondern auch die Entscheidungen in der Regierungspolitik.
Das politische System Belgiens wurde durch die Verschärfung des Sprachen-und Kulturkonfliktes seit Anfang der sechziger Jahre mit völlig anders strukturierten Herausforderungen konfrontiert Aufgrund ihrer nationalen Organisationsstrukturen konnten die traditionellen Parteien diese Aufgabe der ethnisch-kulturellen Interessenartikulation nicht wahrnehmen. Mit der Umwandlung ihrer inneren Strukturen konnten Parteien wie Gewerkschaften nur auf die für die belgische Politik beherrschend gewordenen Regionalisierungstendenzen reagieren. Da die regiona-len Bewegungen im zentralistischen Natio nalstaat mit entsprechenden Entscheidungs Strukturen nur geringe Möglichkeiten zu Durchsetzung einer ihren speziellen kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Interessei gerecht werdenden Politik sahen, wandte siel das Interesse von inhaltlichen, abgrenzbarer einzelnen Policy-Feldern ab und konzentrierte sich auf die staatliche Institutionen und Verfassungsordnung insgesamt, womit die Entwicklung vom Einheits-zum Föderal-staat eingeleitet wurde
II. Die Staats-und Verfassungsreformen von 1971 und 1980
Abbildung 2
Tabelle 2 Quelle: K. von Beyme, Parteien in westlichen Demokratien, München 1982, S. 469. Partei Christlich-Demokratische Partei (CVP/PSC) Sozialistische Partei (BSP/PSB)
Liberale Partei (PW/PLP, seit 1977: PW/PRLW) Kommunistisch Partei (CPB/PCB) Flämische Volksunion (VU)
Tabelle 2 Quelle: K. von Beyme, Parteien in westlichen Demokratien, München 1982, S. 469. Partei Christlich-Demokratische Partei (CVP/PSC) Sozialistische Partei (BSP/PSB)
Liberale Partei (PW/PLP, seit 1977: PW/PRLW) Kommunistisch Partei (CPB/PCB) Flämische Volksunion (VU)
1. Der mühsame Weg zur Staats-und Verfassungsreform Die ausgeprägt liberale Verfassung von 1831 ermöglichte und sicherte die kontinuierliche Entwicklung des „Kunststaates" Belgien zu einer parlamentarischen Demokratie, ohne daß hierzu die institutioneilen Regelungen betreffende Verfassungsänderungen notwendig geworden wären.
Die schwierige prozedurale Vorgehensweise der Verfassungsänderung führte dazu, daß sich der Prozeß der Staats-und Verfassungsreform über 15 Jahre hinzog. Der erste Schritt der Staats-und Verfassungsrevision wurde 1970/71 vollzogen mit der Einführung von Regionen und sogenannten Kulturgemeinschaften Der entscheidende neue Verfassungsartikel 107 lautet: „Belgien umfaßt drei Regionen: die wallonische Region, die flämische Region und die Region von Brüssel. Ein Gesetz überträgt regionalen Organisationen, die sich aus gewählten Mitgliedern zusammensetzen, Zuständigkeiten. Dieses Gesetz muß mit Zwei-Drittel-Mehrheit von jeder Sprach-gruppe in beiden Kammern angenommen werden."
Der Grundsatz der Kulturautonomie wurde im Artikel 59 der Verfassung verankert. Damit war die zentralstaatliche Struktur Belgiens aufgegeben worden und der Prozeß der Regionalisierung und Föderalisierung eingeleitet. Die Kulturautonomie wurde auf der neugeschaffenen verfassungsrechtlichen Grundlage durch die Kompetenzübertragung des größten Teils der kulturpolitischen Angelegenheiten — allerdings mit der wichtigen Ausnahme des Schul-und Unterrichtswesens — auf den flämischen und wallonischen Kultur-rat 1971 sowie auf den zunächst nur mit beratenden Kompetenzen ausgestatteten Rat der deutschen Kulturgemeinschaft 1973 relativ schnell ohne größere Auseinandersetzungen verwirklicht
Im Gegensatz dazu löste die aufgrund des Artikels 107 erforderliche Regionalisierung des Staates heftige Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen und zwischen den Parteien aus. So standen die siebziger Jahre in der belgischen Politik ganz im Zeichen der Ausgestaltung, Organisation und Kompetenz-zuweisung der drei vorgesehenen Regionen, die die Kulturräte im wirtschaftlichen und sozialen Bereich ergänzen sollten. Ein vorläufiges, nur mit einfacher Mehrheit 1974 verabschiedetes Regionalisierungsgesetz etablierte zwar sogenannte Regionalräte, diese blieben aber mangels Kompetenz-und Finanzausstattung ohne größere politische Bedeutung. Die für das in der Verfassung vorgesehene Sondergesetz erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit in jeder Sprachgruppe in beiden Kammern des Parlaments kam hingegen aus zwei Gründen zunächst nicht zustande: Einmal blieb die Frage umstritten, welches Maß an Föderalismus, Dezentralisierung und Regionalisierung einem kleinen Lande wie Belgien, zumal mit zentralistischer Tradition, zuzumuten sei. Hier setzte sich schließlich die Erkenntnis durch, daß man auf dem 1970/71 eingeschlagenen Wege in Richtung einer bundesstaatlichen Ordnung vorsichtig fortschreiten müsse, wollte man nicht einen staats-und verfassungsrechtlichen Torso bestehen lassen. Größere Bedeutung als diese Frage der verfassungsrechtlichen Stringenz kam jedoch in der öffentlichen und parteipolitischen Diskussion der Ausgestaltung einer eigenständigen Region Brüssel zu Das schon lange durch eine französische Oberschicht geprägte Brüssel liegt zwar auf flämischem Gebiet, ist aber heute zu 80 Prozent frankophon. Im Falle einer eigenständigen Region Brüssel fürchten die Flamen, im belgischen Staatsverband plötzlich zwei frankophonen Regionen gegenüberzustehen und damit trotz ihres größeren Bevölkerungsanteils und ihrer größeren Wirtschaftskraft in eine nachteilige Position zu geraten. Sie fordern daher entweder sehr weitgehende Schutzgarantien für die flämische Minderheit oder sogar den völligen Verzicht auf die Schaffung einer eigenständigen Region Brüssel. Auf der anderen Seite beansprucht ein ständig wachsender frankophoner Bevölkerungsanteil im flämischen Umland der Hauptstadt entsprechende Minderheitsrechte in der flämischen Region.
Nach den Parlamentswahlen 1977 gelang es schließlich einer breiten Parteienkoalition der zwei christlich-demokratischen Parteien, der Sozialistischen Partei, der Flämischen Volksunion und der Demokratischen Front der Frankophonen, sich im sogenannten „Egmont-Pakt" auf die Grundsätze der weiteren Regionalisierung zu einigen.
Die zweite Staatsreform von 1980 vollzog sich — unter Ausklammerung des Problems Brüssel — auf drei miteinander verbundenen Ebenen: Zum ersten wurden insgesamt zehn Verfassungsartikel in ihrem Gehalt, weitere in einzelnen Formulierungen geändert; den Kern der Staatsreform bildete das 85 Artikel umfassende, gleichzeitig verabschiedete „Sondergesetz zur Reform der Institutionen" vom 8. August 1980, für das die im Artikel 107 vorgesehene qualifizierte Mehrheit in den Sprachengruppen erforderlich war; auf der dritten Ebene enthält das mit einfacher Mehrheit verabschiedete „Ordentliche Gesetz zur Reform der Institutionen" vom 9. August 1980 (50 Artikel) detaillierte Regelungen und Ausführungsbestimmungen. Auch wenn hier offensichtlich eine Drei-Ebenen-Hierarchie in der Verfassungsordnung vorliegt, so sind diese doch als eine Einheit zu sehen 2. Die neuen Institutionen und ihre Kompetenzen Eine Übersicht über die durch die Staatsreform von 1980 neugeschaffenen Institutionen und die ihnen zugewiesenen Kompetenzen wird erschwert durch den Umstand, daß in den beiden Regionen Flandern und der Wallonie von den verfassungsrechtlich eingeräumten Möglichkeiten der institutionellen Ausgestaltung jeweils unterschiedlich Gebrauch gemacht wurde, woraus sich eine auch im staatsrechtlichen Vergleich mit anderen bundesstaatlichen Ordnungen ungewöhnliche institutionelle Asymmetrie ergibt.
Für die flämische Regierung sind die Aufgaben des 1971 geschaffenen Kulturrates und des auf der Grundlage der Staatsreform von 1980 neu zu institutionalisierenden Regional-rates in einem Organ, dem Flämischen Rat, zusammengefaßt. Nach einer Übergangszeit, die mit den ersten Parlamentswahlen nach der Staatsreform 1981 endete, wird der Rat nunmehr von den Kammerabgeordneten und den direkt gewählten Senatoren der niederländischen Sprachgruppe gebildet In den kulturellen Angelegenheiten hat der Flämische Rat die Kompetenzen des ehemaligen Kulturrates übernommen, die um die soge-nannten personenbezogenen Angelegenheiten erweitert wurden. Hierunter sind die im Sondergesetz genau spezifizierten Aufgabenbereiche aus einzelnen Politikfeldern wie Gesundheitspolitik, Behinderten-und Sozialhilfe und Erwachsenenbildung zu verstehen. In diesen und in kulturellen Fragen ist der Flämische Rat wie der bisherige Flämische Kulturrat grundsätzlich auch für die niederländischsprachige Bevölkerung Brüssels zuständig; dies gilt jedoch nicht in bezug auf die neu der Region zugewiesenen Kompetenzen.
In der Wallonie besteht der ehemalige Kulturrat mit um die personenbezogenen Ange-legenheiten erweiterten Kompetenzen als Rat der französischen Gemeinschaft fort, der neben der wallonischen Region auch den französischsprachigen Teil der Brüsseler Bevölkerung umfaßt. Der Rat der französischen Gemeinschaft wird seit den Parlamentswahlen 1981 ebenfalls von den direkt gewählten Senatoren und den Kammerabgeordneten der französischen Sprachgruppe gebildet. Die den Regionen in der Staatsreform 1980 zugewiesenen Kompetenzen werden vom Wallonischen Regionalrat wahrgenommen, dem die in der wallonischen Region gewählten Mitglieder der Abgeordnetenkammer und des Senats angehören. Neben dieser legislativen Komponente verfügen die Regionen bzw. Gemeinschaften auch über eigene Exekutiven, die sich zur Zeit allerdings noch im Aufbau befinden. In einer Übergangsphase bis zu den ersten Parlamentswahlen nach der Staatsreform 1981 wurden die Exekutiven von der Zentralgewalt gestellt. Nunmehr werden eigene Verwaltungen und Einrichtungen mit eigenem Personal geschaffen. Entsprechend der Konstruktion auf der parlamentarisch-legislativen Ebene ist die flämische Exekutive sowohl für die gemeinschafts-als auch für die regional-bezogenen Aufgaben zuständig. Sie besteht aus neun Mitgliedern, einschließlich des von ihr selbst zu wählenden „Präsidenten der Exekutive"; wenigstens ein Mitglied muß aus dem zweisprachigen Gebiet Brüssel kommen; dieses kann allerdings in regionalbezogenen Angelegenheiten nur mit beratender Stimme mitwirken. In der noch andauernden, auf vier Jahre festgelegten Anfangsphase werden die Sitze in der Exekutive proportional der Stärke der politischen Fraktionen im Rat aufgeteilt, anschließend sollen die Mitglieder der Exekutive als Listenvorschlag mit der absoluten Mehrheit des Rates direkt gewählt werden, so daß auch auf dieser gliedstaatlichen Ebene Koalitionsbildungen erforderlich werden
Auf wallonischer Seite sind analog zu den beiden Räten zwei getrennte Exekutiven gebildet worden, die aber — in eigener Entscheidung — eng zusammen arbeiten können. Die dem Rat der französischsprachigen Gemeinschaft zugeordnete Exekutive besteht aus drei Mitgliedern, von denen eines in Brüssel wohnhaft sein muß; die Exekutive der wallonischen Region umfaßt sechs Mitglieder.
Ihre Wahl bzw. Ernennung erfolgt nach den selben Bestimmungen wie im Falle der flämischen Exekutive.
Die Zuständigkeitsbereiche der Gemeinschaften und Regionen sind als exklusive Kompetenzen in den Artikeln 4-7 des Sondergesetzes detailliert geregelt, was bedeutet, daß alle übrigen, nicht ausdrücklich abgetretenen Kompetenzen grundsätzlich beim Nationalstaat verbleiben; konkurrierende Befugnisse sollen somit ausgeschlossen werden. Betrachtet man jedoch insbesondere die Bereiche, die als regionale Befugnisse definiert sind, so erscheinen zumindest Kompetenzüberschneidungen und damit verbundene Konflikte zwischen Nationalstaat, Regionen und eventuell den noch weiterbestehenden Provinzen nicht ausgeschlossen. Das Sondergesetz (Artikel 6)
weist den Regionen zehn Kompetenzbereiche zu, die wiederum aufgegliedert und zum Teil mit wichtigen Einschränkungen und Ausnahmen versehen sind. Die wichtigsten dieser Bereiche sind die Raumordnung, der Umweltschutz, der Wohnungs-und Städtebau (mit Einschränkungen), die regionale Wirtschaftspolitik (mit wichtigen Ausnahmen großer Wirtschaftssektoren wie Kohlebergbau, Schiffbau, Stahlindustrie), die regionale Energiepolitik (mit Ausnahmen, z. B. keine Befugnisse in der Kernenergie), die Beschäftigungspolitik sowie Fragen der angewandten wissenschaftlichen Forschung.
Zur Erfüllung dieser Aufgaben sowie für die den Gemeinschaften zugewiesenen Kompetenzbereiche ist ein kompliziertes System der Finanzausstattung vorgesehen, in dem sich jedoch der nationale Gesetzgeber die wesentlichen Kompetenzen vorbehalten hat. Trotz der Übertragung der Finanzhoheit sind die Regionen, ebenso wie vordem die Provinzen, weitgehend von den nationalen Zuweisungen (Dotationen) abhängig; darüber hinaus sind allerdings geringe feste Eigenmittel in Form von Steueranteilen vorgesehen. Die Möglichkeiten eigener Steuererhebungen sowie die Aufnahme eigener Anleihen und Kredite sind zwar grundsätzlich gegeben, jedoch durch die nationalstaatlichen Vorgaben sehr eng begrenzt. Für die gemeinschaftsbezogenen Aufgaben stehen zur Zeit etwa 50 Mrd. BF (etwa 3 Mrd. DM) zur Verfügung, von denen 55% auf die niederländischsprachige und 45% auf die französischsprachige Gemeinschaft entfallen. Die Regionen verfügen bis jetzt über jährlich etwa 40 Mrd. BF (etwa 2, 5 Mrd. DM), die nach einem Verteilerschlüssel, der Bevölkerungszahl, Fläche und Steueraufkommen beB rücksichtigt, zu 52% nach Flandern, zu knapp 40% in die Wallonie und zu gut 8% nach Brüssel, hier unter nationaler Verwaltung, fließen. Damit betragen die den Regionen und Kulturgemeinschaften überlassenen Mittel rund 15% des Nationalbudgets. Dies ist erheblich weniger als in den traditionellen Bundesstaaten, in denen dieser Anteil bei etwa 40% liegt 3. Der Fortgang der Staatsreform nach 1980 und ungelöste Probleme Die Staatsreform hatte im Sondergesetz zunächst zwei in der Verfassung vorgesehene Regelungskomplexe nicht erfaßt; es sind dies einmal die Übertragung der Regionalkompetenzen auf entsprechende Institutionen der Region Brüssel und zum anderen die Ausgestaltung der Kulturautonomie für den deutschsprachigen Bevölkerungsteil in Ost-Belgien. In bezug auf die deutschsprachige Gemeinschaft ist die Staatsreform in der Ausgestaltung der föderativen Strukturen inzwischen konsequent fortgeführt worden. Nach einer entsprechenden Verfassungsänderung und der Verabschiedung der notwendigen (Sonder-) Gesetze traten am 1. Januar 1984 die neuen Autonomieregelungen für die deutsche Gemeinschaft in Kraft. Der neue Rat der deutschsprachigen Gemeinschaft besteht wie bisher aus 25 direkt gewählten Mitgliedern ihm wurden jedoch wesentlich erweiterte Kompetenzen zugewiesen. Hatte der vormalige Rat der deutschen Kulturgemeinschaft in erster Linie beratende Funktionen, so werden dem Rat jetzt die vollen gemeinschaftsbezogenen Kompetenzen (einschließlich der personenbezogenen) und Regelungsbefugnisse in Form von Dekreten übertragen wie der niederländischsprachigen und der französischsprachigen Gemeinschaft auch. Die dem Gemeinschaftsrat zugeordnete Exekutive wird von drei Mitgliedern gebildet. Obwohl die deutschsprachige Gemeinschaft auch weiterhin formal und verfassungsrechtlich zur wallonischen Region gehört, können von ihr in Abstimmung und auf geregelter vertraglicher Grundlage in Zukunft auch Aufgaben über-nommen werden, die sich bisher im Zuständigkeitsbereich der wallonischen Region befinden. Da dies jedoch neben der Kompetenzübertragung auch entsprechende Mittelzuweisungen der wallonischen Regionalregierung auf den deutschen Gemeinschaftsrat erfordert, ist das Ausmaß der Autonomie der deutschsprachigen Minderheit in den regionenbezogenen Komplexen und Aufgabenbereichen noch nicht genau abzusehen. Eine enge Kooperation und Abstimmung mit den wallonischen Instanzen ist nach wie vor erforderlich. Berücksichtigt man die geringe Zahl der Betroffenen, so ist das erreichte verfassungsrechtlich abgesicherte Maß an Autonomie jedoch ganz außerordentlich. Zur Erfüllung der neuen Aufgaben stehen im Jahr 1984 immerhin 654 Mio. BF (32, 7 Mio. DM) zur Verfügung. Während die Autonomieregelungen für die deutschsprachige Minderheit damit zunächst abgeschlossen werden konnten, zeichnet sich in bezug auf das Problem Brüssel noch keine dem Verfassungsartikel 107 Rechnung tragende Lösung ab. Derzeit ist zwar für Brüssel eine eigene Exekutive, bestehend aus einem Minister und zwei Staatssekretären (jeweils aus einer Sprachgruppe), zuständig, die die regionalen Befugnisse jedoch nur innerhalb der nationalen Regierung wahrnehmen Dieser Exekutive steht bis jetzt jedoch kein entsprechender Regionalrat gegenüber, da in der Frage der Ausgestaltung der Minderheiten-rechte für die niederländisch-sprachige Bevölkerung in Brüssel einerseits sowie für die französischsprachige Bevölkerung in den Brüsseler Randgebieten, die zur flämischen Region gehören, andererseits keine Einigung in Parlament und Regierung erzielt werden konnte.
Doch auch mit der Institutionalisierung der Region Brüssel wäre der mit den Staatsreformen 1971 und 1980 einmal beschrittene Weg der Regionalisierung und Föderalisierung noch nicht abgeschlossen. So ist z. B. auch die Schlichtung möglicher Kompetenzkonflikte zwischen den staatlichen Ebenen noch nicht befriedigend geregelt.
III. Das belgische Parteiensystem
Abbildung 3
Tabelle 3: 1950 1964 1965 1971 1981 35, 5 41, 1 28, 3 27, 3 25, 1 Stimmanteile von Sozialisten, Christlich-Sozialen und Liberalen in % 47, 7 38, 5 34, 5 30, 0 26, 4 12, 1 13, 1 21, 6 16, 7 21, 8 95, 3 92, 7 84, 4 74, 0 73, 3 S. 469. Jahr Sozialisten Christlich-Soziale Liberale Gesamtanteil der drei Zahlen zusammengestellt nach K. von Beyme, Parteien in westlichen Demokratien, München 1982,
Tabelle 3: 1950 1964 1965 1971 1981 35, 5 41, 1 28, 3 27, 3 25, 1 Stimmanteile von Sozialisten, Christlich-Sozialen und Liberalen in % 47, 7 38, 5 34, 5 30, 0 26, 4 12, 1 13, 1 21, 6 16, 7 21, 8 95, 3 92, 7 84, 4 74, 0 73, 3 S. 469. Jahr Sozialisten Christlich-Soziale Liberale Gesamtanteil der drei Zahlen zusammengestellt nach K. von Beyme, Parteien in westlichen Demokratien, München 1982,
Drei Konfliktbereiche führten im Verlauf von mehr als einhundert Jahren zur Ausformung des belgischen Parteiensystems, das sich heute als ein Vielparteiensystem darstellt. Der erste Konfliktbereich, der zum Entstehen einer liberalen und später auch einer katholischen Partei führte, entzündete sich am Gegensatz zwischen liberalem belgischen Bürgertum einerseits und der Katholischen Kirche andererseits. Als nach 1831 die Katholiken das in der Verfassung verankerte Prinzip der Trennung von Kirche und Staat in Frage stellten, ja sogar den Katholizismus zur offiziellen Staatsreligion erheben wollten, kam es 1846 zur Gründung einer liberalen Partei, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Regierungspartei neben dem konfessionellen Schulsystem ein staatliches Schulsystem errichten wollte. Dieser Plan der Liberalen führte 1884 zur Gründung einer katholischen Partei, die sich solch liberalen Bestrebungen vehement entgegenstellte.
Der zweite Konfliktbereich betrifft die sozioökonomischen Strukturen. Im Zuge der Industrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die sich vor allem in der französischsprachigen Wallonie vollzog, bildete sich 1886 die Belgische Arbeiterpartei, die schwerpunktmäßig die Interessen der Arbeiter vertrat. Die Gründung der Belgischen Arbeiterpartei führte zwar zu stärkerer Beachtung von Arbeiterinteressen in der Katholischen Partei; dennoch wuchs die Arbeiterpartei kontinuierlich, da sie im wesentlichen die konfessionell ungebundene Arbeiterschaft hinter sich wußte und eine Entfremdung der Arbeiterschaft vom Glauben eingesetzt hatte.
Das gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Dreiparteiensystem, in dem die Liberalen nun auch in der Arbeiterpartei einen großen Konkurrenten besaßen, blieb aber — nach der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts nach dem Ersten Weltkrieg — im wesentlichen bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts erhalten.
Nun sollte der dritte, das belgische Parteien-system prägende, Konflikt besonders ausbrechen. Der Sprachen-und Kulturstreit wurde zum dominierenden Konfliktbereich des belgischen Parteiensystems, d. h., nun entstanden durch Abspaltung von den alten Parteien und Neugründungen regionale Parteien, auch Sprachenparteien genannt, die bestimmte politische Ziele für ihre jeweilige Region verfolgten. Der Sprachen-und Kulturkonflikt sollte auch auf die „etablierten Parteien" Auswirkungen haben, nämlich dergestalt, daß die ursprünglich zentralen Parteien heute auch jeweils in selbständige regionale Organisationen aufgespalten sind.
Der Sprachen-und Kulturstreit ist das zwar nach wie vor dominierende Konfliktmoment des belgischen Parteiensystems; jedoch besteht auch der Konflikt zwischen Klerikalismus und Laizismus, ausgedrückt durch die Parteien (CVP/PSC einerseits und PSB, PW andererseits) fort, wenn auch in abgeschwächter Form. 1. Christliche Partei, Christliche Volkspartei (Parti Social-Chretien = PSC/Christelijke Volkspartij = CVP)
Die Christlich-Soziale Partei/Christliche Volkspartei ist Belgiens größte Partei. Als Nachfolgerin der Katholischen Partei wurde sie unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet, um auch nicht konfessionell gebundene Wähler an sich zu ziehen; dies ist ihr allerdings bis heute nur in geringem Maß gelungen. Innerhalb des Wählerpotentials hat die CVP/PSC nach dem Zweiten Weltkrieg einen stetigen Abstieg hinnehmen müssen. Sie fiel von 47, 7% (1950) auf 28, 8% (1981) der Stimmen zurück. Die CVP/PSC entwickelte sich in ihrem Selbstverständnis zur Staatspartei, da sie mit Ausnahme der Zeit von 1954 bis 1958 in allen Koalitionsregierungen vertreten war bzw. allein regierte (vgl. Tabelle 1).
Organisatorisch sind PSC und CVP seit 1969 getrennt. „Innerhalb der Gesamtpartei ist der niederländischsprachige Flügel gegenüber dem französischsprachigen und dem zweisprachigen Brüsselflügel der bei weitem stärkste und bezüglich aller politischen Probleme, die mit den verschiedenen Sprachen-Gemeinden im Zusammenhang stehen, sind die beiden großen Partei-Gruppierungen in ihren politischen Vorstellungen weit voneinander entfernt." Seit Beginn der siebziger Jahre halten beide Parteien getrennte Parteitage ab? sie haben jeweils eigene Parteivorsitzende in Flandern und in der Wallonie. In der Abgeordnetenkammer und im Senat verfolgen beiden eine gemeinsame Politik, mit Ausnahme der die jeweilige Region betreffenden Probleme, die jedoch zunehmend größere Politikfelder berühren.
Die CVP ist im flanderischen Norden angesiedelt und hier unangefochten die erste politische Kraft. In der Wallonie dagegen ist die PSC bei den Wahlen von 1981 noch hinter die Liberalen — stärkste politische Kraft ist die Sozialistische Partei — zurückgefallen (vgl. Tabelle 2). Die CVP/PSC findet besonders Un-terstützung bei den praktizierenden Katholiken und der sogenannten Mittelschicht (kleine Geschäftsleute/Handwerker) sowie bei der in Flandern stärker vertretenen, in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung. Die PSC wird in der Wallonie durch die katholische Arbeiterschaft sowie durch Unternehmer und den Mittelstand unterstützt, PSC und CVP vertreten im wesentlichen das gleiche Programm, Die beiden Parteien unterstützen die Konzeption der sozialen Marktwirtschaft und leiten ihre Gesellschaftspolitik aus dem Subsidiaritätsprinzip ab. In der Außenpolitik sind sie — wie auch Sozialisten und Liberale — entschiedene Ver-* fechter des (west) europäischen Integrationsprozesses und befürworten die Mitgliedschaft in der Atlantischen Allianz.
2, Sozialistische Partei (Parti Socialiste Belge/PSB;
Belgische Socialistische Partij/BSP)
Die Sozialistische Partei ist nach der CVP/PSC die zweitstärkste Partei Belgiens. Sie wurde 1945 als Nachfolgerin der Belgischen Arbeiterpartei gegründet. Mit der Namensänderung wurde auch eine Programm-und Richtungsänderung verbunden, denn über die Arbeiter hinaus wandte sich die neue sozialistische Partei an die bisher schwer erreichbaren mittelständischen und intellektuellen Wählerschichten. Im Jahr 1954 konnte sie mit 41, 1% ihren größten Wahlerfolg erzielen (vgl. Tabelle 2) und verdrängte die Christliche Partei aus der Regierung. Sie ist eindeutig eine das politische System Belgiens akzeptierende Partei, die nichts mehr mit dem z. T. revolutionären Charakter der Arbeiterpartei zu Beginn dieses Jahrhunderts gemeinsam hat.
Auch die Sozialisten mußten als letzte der drei großen nationalen (zentralen) Parteien dem Sprachen-und Kulturstreit Rechnung tragen und eine organisatorische Trennung in wallonische und flämische Sozialisten akzeptieren. Während der Regierungskrise von 1978 konstituierten sich die wallonischen Sozialisten als Parti Socialiste Beige (PSB) und legten ein klares Bekenntnis zur Regionalisierung Belgiens ab.
Die belgischen Sozialisten haben sich zu einer Volkspartei entwickelt; dies tritt in ihren Handlungen — nicht zuletzt als Folge ihrer oftmaligen Regierungsbeteiligung — immer wieder hervor. In ihrer Programmatik vertreten die Sozialisten allerdings Ziele, die auf die Überwindung des jetzigen Wirtschaftssystems gerichtet sind. Da die augenblicklichen Probleme der Wirtschaft (z. B. Unternehmens-konzentration, Vermögensverteilung, Struktur-und Konjunkturpolitik) mit herkömmliB chen Mitteln nicht gelöst werden können, fordern die Sozialisten die Sozialisierung des Energiesektors (Erdöl, Kohle, Gas, Strom und Atomkraft) und eine stärkere Kontrolle der Banken. Sie plädieren ebenfalls für eine Ausweitung der staatlichen Planung. In einem 1974 verabschiedeten Grundsatzprogramm haben sich die Sozialisten jedoch dafür ausgesprochen, diese Ziele innerhalb des parlamentarischen Systems zu erreichen. Außenpolitisch befürworten die Sozialisten die Mitgliedschaft in der NATO und der Europäischen Gemeinschaft sowie eine stärkere Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. „Die Sozialistische Partei ist zugleich Träger einer dynamischen Ideologie, politisches Instrument als auch Dreh-und Angelpunkt ihres vielfältigen organisatorischen Unterbaus von Gewerkschaften, Kooperativen und Versicherungen, Jugendbewegungen. Da ihre Wählerschaft sich ganz überwiegend aus der Masse der Arbeiter, zum geringen Teil auch der Angestellten rekrutiert, stellt sie in den Augen der Wähler die . Partei des Arbeiters'dar." 3. Die Partei für Freiheit und Fortschritt (Parti voor Vrijheid en Vooruitgang/PW; Parti pour la Liberte et Progres/seit 1976 Parti des reformes et de la Liberte de Wallonie/Partei für Reformen und Freiheit (PRLW)
Die liberale Komponente des belgischen Parteiensystems präsentiert die PVV/PLP, die 1961 ihren doktrinären Antiklerikalismus aufgab, ihren Namen änderte und eine organisatorische und programmatische Reform vornahm. Die Partei für Freiheit und Fortschritt ist ebenfalls wie die beiden anderen nationalen Parteien in zwei Teile gespalten, wenngleich sie am längsten von allen Parteien sich gegen Pläne zur Regionalisierung Belgiens wandte. Die wallonische PLP ging 1976 mit dem rechten Flügel der gespaltenen wallonischen Sammlungsbewegung eine Verbindung ein, was sich auch in der Umbenennung in Partei der Reformen und der Freiheit Walloniens (PRLW) niederschlug.
Die Liberalen haben besonders aufgrund der Wahlergebnisse (d. h., daß Koalitionen gebildet werden müssen) in Koalitionsverhandlungen eine wichtige Funktion. Hier können sie meistens größere Bedeutung erlangen, als ihnen von der Zahl der Wählerstimmen her zukommt.
Ihre Programmtik ist am Liberalismus klassischer wie auch moderner Prägung ausgerichtet. Die Partei setzt sich für die Soziale Marktwirtschaft ein und will den Einfluß des Staates zurückdrängen Ihr Gesellschaftsverständnis weist dem Staat lediglich die klassischen Ordnungsfunktionen zu. Sozialpolitisch trägt sie korrigierende Eingriffe des Staates mit, wendet sich aber grundsätzlich gegen den dominierenden Einfluß von Verbänden und Organisationen auf den politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozeß. Außenpolitisch unterstützen die Liberalen ebenfalls die NATO und die Europäische Gemeinschaft.
Im Jahre 1965 konnten sie mit 21, 6% der Wählerstimmen ihren bis dahin größten Erfolg in der Nachkriegszeit erzielen, der bei den Wahlen von 1981 noch um zwei Zehntel Prozent verbessert werden konnte (vgl. Tabelle 2). In diesen Wahlen waren die Liberalen die eigentlichen Wahlsieger. Ihre Wähler rekrutieren die Liberalen vor allem aus der Geschäftswelt bzw. aus den Mittelschichten. 4. Die Kommunistische Partei Belgiens (Parti Communiste Belge/PCB/KPB) Die PCB, 1921 durch Abspaltung von der Belgischen Arbeiterpartei entstanden, spielt im politischen Leben Belgiens heute eine unbedeutende Rolle. Mit einem Anteil von nur 2, 3% der Wählerstimmen (1981) verfügt die PCB nur über zwei Sitze in der Abgeordnetenkammer. In den vierziger Jahren verfolgte sie eine „Strategie der Identifizierung mit den nationalen Interessen“ (Widerstand/Wiederaufbau); dies führte auch zu ihrer Regierungsbeteiligung zwischen 1945 und 1947 (vgl. Tabelle 1). Bedingt durch die zunehmende Verschärfung des Ost-West-Konflikts verloren die Kommunisten jedoch kontinuierlich ihre Anhänger, da sich ihre Programmatik und auch ihre politischen Handlungen an der sowjetischen Politik ausrichteten. Als orthodox-kommunistische Partei entwickelte sie auch später keine eurokommunistischen Ansätze wie z. B. die KPI oder auch (für eine gewisse Zeit) die KPF. Auch die belgischen Kommunisten mußten dem Sprachen-und Kulturstreit Rechnung tragen, als 1971 zwei organisatorisch selbständige Einheiten (KPB/PCB) gebildet wurden Ihre kleine Wählerschaft ist vor allem bei den Arbeitern zu Hause. Regional erhalten die Kommunisten in der Wallonie stärkere Unterstützung als in Flandern. 5. Die Sprachenparteien Der Sprachen-und Kulturstreit führte in den sechziger Jahren zur Ausbildung eigener, die jeweiligen regionalen Interessen besonders betonender Parteien. Während sich der flämische Nationalismus bereits nach dem Ersten Weltkrieg ausgeprägt hatte, konnte er jedoch erst 1975, nachdem sich die Flämische Volks-union (VU) von einer radikalen „pressure group" zu einer programmtisch voll entwikkelten Partei gewandelt hatte, politische Erfolge erzielen. Bei den Wahlen von 1981 erreichte die Flämische Volksunion zwanzig Mandate in der Abgeordnetenkammer und wurde damit stärkste „Sprachenpartei" (vgl. Tabelle 2). Im Sprachenkonflikt vertritt die Flämische Volksunion das Konzept des „Föderalismus zu Zwei", d. h. jede Sprachengruppe soll echte legislative, exekutive und judikative Funktionen auf allen Gebieten (außer der Außen-und Verteidigungspolitik) erhalten. Der Großraum Brüssel wird von der Flämischen Volksunion als nicht eigenständige Region angesehen. Ihre Wählerschaft rekrutiert die Flämische Volksunion aus allen Schichten. Den Gegenpol zur Flämischen Volksunion stellt die 1969 gegründete Wallonische Sammlungsbewegung (Rassemblement Wal-Ion) dar. Sie hat sich inzwischen ebenfalls zu einer Regionalpartei entwickelt. Für die Wallonie fordert die Wallonische Sammlungsbewegung eine Strukturreform der Gemeinden, eine Modernisierung der Infrastruktur und generell mehr Rechte für die Wallonie. Sie zielt hauptsächlich auf die katholische Wählerschaft in der Wallonie und entwickelte sich damit zu einer Konkurrentin der PCB. Ihren größten Wahlerfolg konnte sie 1974 erzielen, als sie 5, 1% der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte (vgl. Tabelle 2).
Die (Brüsseler) Demokratische Front der Frankophonen (Front Democratique des Francophones [Bruxellois]" = FDF) entstand im Anschluß an die gesetzliche Aufteilung Belgiens in Sprachgebiete in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, als die FDF als einzigen Programmpunkt die Abschaffung dieser Gesetze forderte. Wenngleich Brüssel auch offiziell zum zweisprachigen Gebiet erklärt wurde, so überwiegt aber eindeutig der französisch-sprechende Teil. Auch die FDF entwickelte sich von einer „pressure group" zu einer Partei, die — anders als die beiden anderen Sprachenparteien — sich auch auf kommunaler Ebene eine Basis verschaffen konnte. Bei den Kommunalwahlen von 1976 gewann die FDF in sechs der 19 Gemeinden der Region Brüssel die absolute Mehrheit. Die FDF ist eine antiflämische Partei, die ihre Wähler aus allen sozialen Schichten rekrutiert, wobei Angestellte nahezu doppelt so stark vertreten sind wie Arbeiter. Die FDF fordert die Aufteilung Belgiens in drei Regionen (Brüssel, Flandern und die Wallonie), die jeweils eigene Kompetenzen in wirtschaftlichen und sozialen Fragen erhalten sollen.
IV. Parteiensystem in den achtziger Jahren
Auffällig in der Entwicklung des belgischen Parteiensystems ist die Abnahme der Wähler-unterstützung für die traditionellen, nationalen Parteien und die Zunahme der Unterstützung für die Sprachenparteien. Konnten bei den Wahlen von 1950 Sozialisten, Christlich-Soziale und Liberale noch 95, 21% aller Stimmen auf sich vereinigen, so waren es 1981 nur noch 73, 1 %. Als besonderes Merkmal muß dabei einmal der Verlust der CSV/PCS betont werden, die von 46, 5% (1958) bis auf 26, 4% (1981) zurückfiel (vgl. Tabelle 2). Auch die Sozialisten mußten einen Rückgang von 41, 1% (1954) auf 25, 1 % (1981) hinnehmen. Die Liberalen dagegen konnten ihren Anteil aus den fünfziger Jahren verdoppeln und erzielten mit 21, 8% (1981) ihren größten Erfolg. Die Sprachenparteien konnten zwischen 1961 und 1981 ihren Anteil mehr als vervierfachen, als sie von 3, 56% auf 15, 64% stiegen (vgl. Tabelle 2).
Bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer und zum Senat im Jahr 1971 konnten sie sogar 22, 34%, also mehr als ein Fünftel aller Wählerstimmen, auf sich vereinigen. Erstmals konnten auch die „Okologisten" bei den Wahlen von 1981 mit 4, 8% einen Erfolg erzielen, der ihnen vier Abgeordnetensitze in der Abgeordnetenkammer und fünf Sitze im Senat einbrachte (vgl. Tabelle 2). [n der Nachkriegszeit hat das belgische Parteiensystem einen fundamentalen Wandel durchgemacht. Die drei traditionellen Parteien mußten eine Spaltung entsprechend den regionalen Konflikten des Landes auch in ihrer jeweiligen Parteiorganisation vollziehen und darüber hinaus Wählerstimmen an die Sprachenparteien abgeben. Das bedeutet, daß Koalitionsregierungen heute nicht mehr wie früher nur aus zwei, sondern de facto aus vier, fünf und z. T. aus noch mehr Parteien gebildet werden müssen — ein Vorgang, der u. a. auch die Kurzlebigkeit belgischer Kabinette erklärt. Belgische Regierungen werden heute meistens nicht durch Konflikte im Parlament, d. h. durch ein Mißtrauensvotum des Parlaments, sondern vor allem aus innerparteilichen und zwischenparteilichen Streitigkeiten zum Scheitern gebracht.
V. Die ökonomische Dauerkrise
Seit Mitte der siebziger Jahre befindet sich Belgien in einer ökonomischen Dauerkrise, deren Bewältigung nicht zuletzt die Regierungen Martens I bis IV und die Regierung Eyskens scheitern ließen (vgl. Tabelle 1). Ursprünglich war Belgien aufgrund seiner frühen Industrialisierung im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Ländern das am weitesten fortgeschrittene Land. Die Industrie-struktur war jedoch sehr stark auf die Montansektoren — Kohle-Eisen-und Stahlindustrie — ausgerichtet, die sich darüber hinaus noch im wesentlichen auf den Süden des Landes, die Wallonie, konzentrierten. Jedoch mußte Belgien — wie auch andere Staaten in der Europäischen Gemeinschaft — einen strukturellen Wandel in der Industrie vollziehen, der sich für das Land aber besonders folgenreich auswirkte, da neben dem ökonomischen Strukturwandel noch die Verschärfung des Sprachen-und Kulturstreits zwischen Flamen und Wallonen eine Lösung der Krise erschwerte. Allein zwischen 1952 und 1974 ging die Kohleförderung in Belgien um 90 % zurück und hat somit zu einem erheblichen Verlust von Arbeitsplätzen in der Wallonie beigetragen. Parallel zum Bedeutungsrückgang der Kohle führte auch die die gesamte EG erfassende Stahlkrise dazu, daß sich die Wallonie nun zum Armenhaus Belgiens entwickelte, da in dieser Region die an sich schon hohe Arbeitslosigkeit überproportional stärker gegenüber den anderen Regionen wuchs.
Während in der Wallonie ein außerordentlicher ökonomischer Abstiegsprozeß einsetzte, vollzog sich gleichzeitig im flandrischen Norden ein nicht unbeträchtlicher Aufschwung. Aufgrund der günstigen Standortbedingungen — insbesondere durch die Seehäfen Ant-werpen und Brügge — siedelten sich dort nach dem Zweiten Weltkrieg neue Industrien, besonders die Petrochemie, an. Auch die reicheren Bauern im Norden des Landes trugen dazu bei, daß die ökonomische Entwicklung in Flandern erfolgreicher als in der Wallonie verlief. Nicht zuletzt aufgrund dieser gegensätzlichen ökonomischen Entwicklung wenden sich die flandrischen Vertreter in den politischen Beratungsgremien gegen den zentral gesteuerten Finanzausgleich. Da heute 70 % der belgischen Exporte „flämischen Ursprungs" sind und die Produktivität des flämischen Arbeitnehmers um b % höher ist als die eines wallonischen Arbeitnehmers, aber der Lohn des Flamen um 8 % niedriger ist als der des Wallonen und in der Wallonie noch doppelt so viel gestreikt wird wie in Flandern sind die Flamen nicht länger bereit, „wirtschaftspolitische Opfer" für ihre wallonischen Mitbürger zu erbringen.
Das Königreich Belgien ist seit Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre außerordentlich hoch verschuldet; das Land trägt die höchste Pro-Kopf-Verschuldung innerhalb der EG. Allein die Auslandsschulden stiegen zwischen 1974 und 1979 von 42 auf 122 Mrd. BF Daneben kennzeichneten ein schwacher Franc, verbunden mit rapide abnehmenden Währungsreserven, hohe Arbeitslosigkeit (die 1983 im Landesdurchschnitt bis zu 15% erreichte), große Streikbereitschaft in der Bevölkerung und Abzugsandrohungen ausländischer Investoren sowie Strukturprobleme in der Stahl-und Textilindustrie die ökonomische Situation Belgiens. Die große Koalition, bestehend aus Christlich-Sozialen und Sozialisten, konnte sich gegen Ende der siebziger Jahre aufgrund unter-schiedlicher wirtschaftspolitischer Ordnungsvorstellungen nicht auf eine Bekämpfung der dringenden ökonomischen Probleme einigen, so daß das Land vor dem Bankrott stand Erst die Bildung einer Regierung aus Christlich-Sozialen und Liberalen, die in der Wirtschaftsordnungspolitik aufgrund der Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft eher zu Gemeinsamkeit finden konnte als die große Koalition, ermöglichte tiefgreifende Sanierungsmaßnahmen, die die belgische Bevölkerung in den achtziger Jahren drastisch zu spüren bekommt. Mit Hilfe eines umfangreichen Austeritätsprogramms, das auf dem Notverordnungswege eingeleitet wurde — und dem Kammer und Senat nur widerstrebend ihre Zustimmung erteilten —, soll die Sanierung der belgischen Wirtschaft erreicht werden. Schon 1980 erklärte der damalige sozialistische Wirtschaftsminister Claes, daß Belgien ein Staatsbankrott drohe. Eine neue Prioritätensetzung sei erforderlich; die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft müsse über die Sozialpolitik hergestellt werden, da sonst über kurz oder lang das System der sozialen Sicherheit zusammenbrechen werde; alle Bevölkerungskreise müßten den Gürtel enger schnallen und sich mit weniger als bisher zufriedengeben
Mit Hilfe von Notverordnungsmaßnahmen erhöhte die Regierung Martens die Soziallasten der Arbeitnehmer beträchtlich und schränkte Dienstleistungen erheblich ein. So wurde für 1982 ein Lohnstopp vereinbart, d. h.
für die Dauer von zwei Jahren durften Lohn-angleichungen nur im Rahmen der Preiserhöhungen erfolgen Auch wurde gegen Ende 1981 von der Regierung ein Plan vorgelegt, der auf dem Verordnungswege Maßnahmen zur Kürzung der Staatsausgaben, zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen durch Steuererleichterungen und den Abbau von „übertriebenen" Sozialleistungen vorsah „Innerhalb von knapp einem Jahr hat Martens durch Lohnstopp, Änderungen am Sozialsystem und Steuererleichterungen die individuelle Kaufkraft um rund 140 Milliarden Francs beschnitten und diesen Betrag in die Unternehmen gepumpt."
Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Regierung Martens wurden unter — demokratietheoretisch gesehen — bedenklichen Vorzeichen getroffen, denn das Parlament mußte die Regierung im voraus ermächtigen, Maßnahmen in der Wirtschaftspolitik treffen zu können, die es dann nicht mehr beeinflussen konnte. Die Regierung suspendierte die Gewaltenteilung, d. h. das Kabinett beschließt Gesetzesvorlagen, die der König unterzeichnet und im Amtsblatt der Öffentlichkeit, aber auch dem Parlament!, bekannt gemacht werden
Die Notverordnungspolitik der Regierung Martens hat jedoch unzweifelhaft zu wirtschaftspolitischen Erfolgen geführt. Nicht nur, daß die Regierung Martens V die Halbzeit der Legislaturperiode erreicht hat, wird als bemerkenswerter Beitrag zur Stabilität gewertet, sondern die Verbesserung der ökonomischen Situation zeigt sich anhand einiger ausgewählter Daten. So konnte erstmals seit längerer Zeit der Anstieg der öffentlichen Verschuldung angehalten, die Wettbewerbsfähigkeit verbessert und das Außenhandels-defizit verringert werden. Dennoch wird die belgische Volkswirtschaft auch Mitte der achtziger Jahre nach wie vor von großen Problemen belastet. Neben der extrem hohen Arbeitslosigkeit, bei deren Bekämpfung auch die Regierung Martens noch keine Erfolge aufzuweisen hat, werden die Strukturprobleme in der Stahl-und Textilindustrie im Zusammenhang mit den Sprach-und Regionalproblemen die wirtschaftliche Erholung Belgiens weiterhin belasten.
VI. Zur Außenpolitik Belgiens
1. Die Suche nach Sicherheit Nachdem Belgien mit seiner Neutralitätspolitik in diesem Jahrhundert nicht erfolgreich war, vollzog das Land 1947 einen radikalen außenpolitischen Kurswechsel, der bereits theoretisch vom langjährigen sozialistischen Außenminister Spaak zu Beginn der vierziger Jahre im Londoner Exil konzipiert wurde Belgien sah nun seine Sicherheit nur noch in der Beteiligung in politischen und militärischen Bündnissen gewährleistet. Auf dieser Suche nach Sicherheit bot sich für das Königreich — ähnlich wie einige Jahre später für die Bundesrepublik Deutschland — die Westintegration an. Bereits 1948 wurde zusammen mit den beiden anderen BENELUX-Staaten sowie mit Frankreich und Großbritannien der Brüsseler Pakt, ein auf fünfzig Jahre mit automatischen militärischer Beistandspflicht konzipiertes Bündnis, gegründet. Aus ihm entstand 1955 unter Einbeziehung Italiens und der Bundesrepublik Deutschland die Westeuropäische Union (WEU). Es war jedoch absehbar, daß Belgien — ebenso wie die anderen westeuropäischen Bündnispartner — langfristig ohne den Schutz der USA keine erfolgreiche Sicherheitspolitik betreiben konnte, so daß es 1949 Gründungsmitglied der NATO wurde. Innerhalb der Atlantischen Allianz entwickelte sich Belgien zu einem treuen Verbündeten, der seit 1966/67, als de Gaulle das NATO-Hauptquartier aus Frankreich verbannte, sowohl das politische als auch das militärische Hauptquartier der Allianz auf seinem Territorium beherbergt.
Mit Belgiens Außenminister Harmel ist die 1967 der NATO zugewiesene politische Aufgabe nach der Suche einer gerechten Friedensordnung in Europa verbunden. Auf den belgischen Außenminister ging im wesentlichen der „Harmel-Bericht" der NATO von 1967 zurück, der neben der Verteidigung auch die Entspannung zur Aufgabe der Atlantischen Allianz macht. Dieses Konzept wurde auf der NATO-Gipfelkonferenz von Bonn 1982 — wenn auch in modifizierter Form — bestätigt.
Erstmals 1979 meldete Belgien Vorbehalte gegen eine NATO-Entscheidung an, als es neben den Niederlanden den NATO-Doppelbe-Schluß nur mit Einschränkungen unterstützte und die endgültige Stationierung von 48 Cruise Missiles auf seinem Territorium erst vom Verlauf der internationalen Ost-West-Beziehungen abhängig machte. Im Dezember 1983 stimmte die belgische Regierung jedoch endgültig der Stationierung der 48 Cruise Missiles zu, nachdem sich die Ost-West-Be-Ziehungen auch im belgischen Verständnis nicht positiv entwickelt hatten.
Belgien ist zwar nach wie vor ein verläßlicher Allianzpartner, jedoch haben die Wirtschaftsund Finanzkrise erheblich dazu beigetragen, daß das Land faktisch seinen militärischen NATO-Beitrag heute nicht mehr erfüllen kann 2. Der zweite Pfeiler der Außenpolitik — Europa Neben der Ausrichtung auf das Atlantische System sollte das regionale westeuropäische Kooperationssystem den zweiten Schwerpunkt belgischer Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg bilden. Bereits während des Krieges wurde von der Exilregierung in London mit den Exilregierungen Luxemburgs und der Niederlande 1944 die Vorunion BENELUX geschlossen, die 1958 durch Staatsvertrag in die BENELUX-Wirtschaftsunion erweitert wurde. Im Jahr 1948 schloß sich das Königreich Belgien der neugegründeten OEEC (heute OECD) an, um amerikanische Marshall-Plan-. Hilfe zu erhalten. Die weitere Beteiligung Belgiens an der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS 1951), der schließlich 1954 gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) wie auch der 1957 errichteten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM/EAG) waren logische Konsequenzen des Ende der vierziger Jahre eingeschlagenen Weges belgischer Europapolitik.
Belgien beharrte in den fünfziger und in der ersten Hälfte der sechziger Jahre in seiner Europapolitik immer auf der Teilnahme Großbritanniens am westeuropäischen Integrationsprozeß, da es sich davon erstens eine Verhinderung einer deutsch-französischen Vorherrschaft und zweitens eine größere Rolle Westeuropas in der Weltpolitik versprach. Belgien betrieb in seiner Europapolitik oft eine aktive Integrationsstrategie, d. h. Initiativen zur Forsetzung der Integration gingen oft von belgischen Regierungen wie auch von belgischen (Europa-) Parlamentariern aus. So war Belgien neben den Niederlanden ein wesentlicher Initiator zur Fortsetzung der europäischen Integration nach dem Scheitern der EVG, als im Sommer 1955 das BENELUX-Memorandum zur weiteren ökonomischen Integration vorgelegt wurde und den Grundstein für EWG und EURATOM bildete. Auch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre versuchte Belgien anhand verschiedener Vor-Schläge den europäischen Integrationsprozeß zu beschleunigen.
In den sechziger Jahren profilierte sich der damalige belgische Außenminister Spaak neben dem niederländischen Außenminister Luns zum härtesten Widersacher des französischen Staatspräsidenten de Gaulle. Während der französische Präsident die Kompetenzen der EWG abzubauen suchte und Europa auf intergouvernementalem Wege bauen wollte, hielten Luns und Spaak strikt an der supranationalen Integrationsmethode fest, da sie in der supranationalen Integration die optimale Realisierung der politischen Ziele von Kleinstaaten erkannten. Jedoch scheiterten sowohl de Gaulle als auch Spaak und Luns mit ihren Vorstellungen. Allerdings konnten Belgier und Niederländer in den Auseinandersetzungen um die Finalität der Europäischen Gemeinschaft ungewünschte Entwicklungen verhindern, d. h„ daß der EWG Kompetenzen genommen wurden.
Belgische Europapolitik war aber nicht nur der Versuch, innerhalb Westeuropas die Position der Kleinstaaten zu verbessern, sondern belgische Europapolitik sollte bis in die siebziger Jahre auch immer dazu dienen, mit Hilfe erfolgreicher Integration einen zweiten (europäischen) Pfeiler im Atlantischen System zu errichten. Europapolitik und Allianzpolitik wurden als komplementäre Politiken perzipiert und praktiziert.
Auch in den siebziger Jahren zeichneten sich belgische Politiker durch europapolitische Vorschläge aus, deren bekanntester der Tina demans-Bericht ist. Der ehemalige Minh» sterpräsident und heutige Außenminister schlug an der Jahreswende 1975/76 weitere vorsichtige Schritte im westeuropäischen Integrationsprozeß hinsichtlich der Entwicklung zu einer Europäischen Union vor, die zwar von seinen Kollegen in den europäischen Hauptstädten wohlwollend aufgenommen, jedoch bis heute kaum verwirklicht wurden. Ihre Anerkennung fand die belgische Europapolitik in der Ausgestaltung der „heimlichen europäischen Hauptstadt" Brüssel; hier erhielten die Kommissionen von EWG und EURATOM und später dann die gemeinsame Exekutive von EGKS, EWG und EURATOM ihren Sitz.
Mit Hilfe der Einbindung in die westlichen Gemeinschaften konnte der Kleinstaat Belgien eine größere Bedeutung als außerhalb des Integrationsprozesses erreichen. Die feste Einbindung ermöglichte ihm auch die Kompensation für den Verlust des Kolonialreichs zu Beginn der sechziger Jahre.
Heute nimmt Belgien sowohl in der Europäischen Gemeinschaft als auch in der Atlantischen Gemeinschaft eine Rolle ein, die insbesondere bei intragemeinschaftlichen Auseinandersetzungen bedeutsam werden kann.
Norbert Lepszy, Dr. phil., geb. 1948; wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster. Veröffentlichungen u. a.: Regierung, Parteien und Gewerkschaften in den Niederlanden, Düsseldorf 1979; Rolle und Bedeutung der niederländischen Gewerkschaften, in: H. Rühle/H. -J. Veen (Hrsg.), Gewerkschaften in den Demokratien Westeuropas, Bd. II, Paderborn 1983; (zus. m. W. Woyke) Benelux — Eine politische Landeskunde, Opladen 1984 (i. E.). Wichard Woyke, Dr. phil., geb. 1943; Akad. Oberrat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster. Veröffentlichungen u. a.: Oppositionsparteien und Verteidigungspolitik im gaullistischen Frankreich 1958— 1973, Opladen 1975; Die NATO in den siebziger Jahren, Opladen 1977; Handwörterbuch Internationale Politik (Hrsg.), Opladen 1 9802; Europäische Gemeinschaft — Europäisches Parlament — Europawahl, Opladen 1983; (zus. m. N. Lepszy) Benelux — Eine politische Landeskunde, Opladen 1984 (i. E.).
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