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Entwicklungslinien deutscher Universitätsgeschichte. Die deutsche Universität als ständische und als funktionsorientierte Einrichtung | APuZ 3-4/1984 | bpb.de

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APuZ 3-4/1984 Entwicklungslinien deutscher Universitätsgeschichte. Die deutsche Universität als ständische und als funktionsorientierte Einrichtung Staatliche Hochschulpolitik in der Bundesrepublik. Daten, Strukturen und Tendenzen Hochschulreformpolitik Versuch einer Bilanz Friedensbewegung und nationale Frage. Zum Beitrag von Wilfried von Bredow, Friedensbewegung und Deutschlandpolitik, in: B 46/83, S. 34 — 46

Entwicklungslinien deutscher Universitätsgeschichte. Die deutsche Universität als ständische und als funktionsorientierte Einrichtung

Gerd Roellecke

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die deutsche Universität war bis zum Beginn der jüngsten Hochschulreform Ende der sechziger Jahre eine hochfeudale Einrichtung. Sie ist ursprünglich ein christlich-abendländisches Unternehmen, ein Produkt der mittelalterlichen Spannungen zwischen Papst und Kaiser und entstand als Dolmetscherin einer Wahrheit, die von der Kirche nicht verwaltet werden konnte. Mit der Lehre des Rechtes erfüllte die Universität letztlich eine kaiserliche Aufgabe; sie erhielt fürstlichen Rang und behielt diesen über das Ende des Ständestaates hinaus. Da die jüngste Hochschulreform in nichts anderem bestand als in der quantitativen Verallgemeinerung aristokratischer Privilegien, mußte sie den fürstlichen Rang der deutschen Universität endgültig aufheben. Große Massen können nur durch generalisierte, abstrakte Normen, durch Recht, gesteuert werden. Da Recht generalisieren muß, entfremdet es und beeinträchtigt die Erfüllung der Hochschulaufgaben Wissenschaft und Erziehung, die grundsätzlich kein Recht vertragen. Verrechtlichung schließt den Versuch ein, Geist zu organisieren; das mußte schiefgehen und ist schief gegangen. Da die Arbeitsteilung in einer Gesellschaft kategorisch eine Auslese verlangt, müssen die großen Subsysteme — Recht, Religion, Gesundheit, Wirtschaft, Technik — entscheiden, wen sie akzeptieren wollen und wen nicht Wenn die Universitäten nicht mehr hinreichend differenzieren, müssen die Abnehmer von Hochschulabsolventen differenzieren, und zwar nach ihren eigenen Ansprüchen und Verfahren. Das mit dem fürstlichen Rang der Universität verbundene Wahrheitsethos für die akademischen Lehrer wird heute abgelöst durch das Ethos des Fachmannes. Da aber Fachkunde von anderen Leuten anerkannt wird als Wahrheit, wird für die Professoren die eigene Universität (sowie die Lehre) immer mehr zur Nebensache, die Auseinandersetzung mit Fachleuten zur Hauptsache. Es werden sich daher künftig zwei Gruppen von Professoren unterscheiden: die Berufsfachoder Expertenprofessoren auf der einen, die reinen Lehrprofessoren auf der anderen Seite. Die vielberufene Unterscheidung zwischen Forschungs-und Lehrprofessoren wird es dagegen in absehbarer Zeit nicht geben, da die Zeit für Forschung vorbei ist, wenn Wahrheit zur Ideologie geworden ist. Politisch bleibt nur eine Möglichkeit: eine stärkere Differenzierung der Hochschullandschaft durch schnellstmögliche Auflösung der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze in Dortmund und die Einführung von Hochschulzugangsprüfungen.

Überarbeitetes und ergänztes Manuskript eines Vortrages, den der Verfasser am 12. Oktober 1983 im Rahmen des Hochschullehrergespräches der Politischen Akademie Eichholz „ Von der Universität zur Massenhochschule — Die Zukunft von Forschung und Lehre im deutschen Hochschulwesen“ gehalten hat.

Die These lautet: Die deutsche Universität befindet sich im Übergang von einer ständischen zu einer funktionsorientierten Einrichtung. Sie leidet daran, daß sie sich nicht entscheiden kann, ob sie die Schule verlängern oder Fachleute ausbilden soll.

Diese These wird begründet, indem der historische Ort der deutschen Universität bestimmt (L), ihre gegenwärtige Situation beschrieben (II.) und die Entwicklung des deutschen Hochschulwesens zu prognostizieren (III.) versucht wird.

I. Die feudale Universität

Die deutsche Universität war bis zum Beginn der jüngsten Hochschulreform Ende der sechziger Jahre eine hochfeudale Einrichtung. Nur wenn man das erkennt, versteht man, was die jüngste Hochschulreform angerichtet hat.

Wie aber kann man sagen, die deutsche Universität sei bis Ende der sechziger Jahre eine hochfeudale Einrichtung gewesen, wo doch der Ständestaat spätestens seit der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815 auf deutschem Boden nicht mehr existiert? Die Antwort darauf lautet: Die Universität ist ein christlich-abendländisches Unternehmen, ein Produkt der mittelalterlichen Spannungen zwischen Papst und Kaiser und beginnt erst seit kurzem, sich ihrer Traditionen zu entledigen.

Der biblische Lehrauftrag machte die Kirche ursprünglich zum Träger des Erziehungswesens. In der christlichen Verkündigung war jedoch kein Platz für die Lehre des Corpus juris des oströmischen Kaisers Justinian, das um 1050 wiederentdeckt worden war. Andererseits gab es ein geradezu gieriges Interesse, das Corpus juris kennenzulernen. Die Herrschaft des deutschen Königs und römischen Kaisers wurde als Fortsetzung des römischen Weltreiches verstanden (translatio imperii). Deshalb mußte das justinianische Recht als das wahre kaiserliche Recht erscheinen. Und wer es kannte und lehren konnte, mußte viele Schüler anziehen. Solche Lehrer gab es um 1100 in Bologna. Deshalb entstand dort die erste moderne Universität. An diesem Ursprung der Universität ist vor allem wichtig, daß die christlich-abendländische Universität entstanden ist als Dolmetscherin einer Wahrheit — einer Wahrheit, die von der Kirche nicht verwaltet werden konnte.

In einem ständischen Gemeinwesen, in dem Gottes Wille jedem seinen Platz auf dem Wege zur ewigen Seligkeit zuweist, konnte die Wahrheit allerdings nicht frei vagabundieren. Außerdem erzwang das Fremdenrecht den Zusammenschluß von Schülern und Lehrern zu Genossenschaften mit eigener Hoheitsgewalt, zu „universitates". Genauer heißt das: Auf das Problem, wie sich die biblische Wahrheit mit der kaiserlichen des römischen Rechtes vertrug, reagierte das ständische Gemeinwesen gattungstypisch mit der Ausdifferenzierung eines neuen Standes der dann wiederum Gottes Wille entsprechen konnte, mit der Ausdifferenzierung der Universität. Was ein Stand war, können wir uns heute kaum noch vorstellen. Es war auch immer unklar und mußte es sein, weil der Ständestaat sonst nicht flexibel genug gewesen wäre. Jedenfalls bestimmte der Stand die persönliche Zuordnung zu einer Schicht oder Institution und zugleich die politischen Rechte des Betroffenen „Bürger" war also nicht nur ein Geburtsstand, sondern zugleich die Gewährleistung bestimmter Freiheiten, Rechte und Privilegien in einer Stadt. Um zu verdeutlichen, was die ständische Ausdifferenzierung der Universität bedeutete, könnte man also sagen: In der Universität wurde der akademische Bürger dem Stadtbürger gleichgestellt. Damit würde aber der Rang der Universität in der ständischen Hierarchie verfälscht.

Seit der Verfasser als Universitätsrektor Sitz-ordnungen für Rektorbälle und akademische Festakte zu verantworten hat, wird ihm die Erzämtertheorie des Sachsenspiegels immer plausibler. Nach dieser Theorie wurde das Wahlrecht der Kurfürsten durch ihre Hofämter bestimmt. Das läßt sich verallgemeinern: Der Rang einer Person oder einer Institution hing ursprünglich von der Nähe zum Kaiser ab. Die Kenntnis und Verwaltung des Rechtes rückte aber nicht nur die Professoren, die als Beichtväter, Rechtsberater und Leibärzte tätig wurden, in die unmittelbare Nähe des Kaisers und seiner ersten Lehnsleute, sondern die ganze Universität. Damit erhielt die Universität fürstlichen Rang.

Vor allem aber: Die Universität erfüllte mit der Lehre des Rechtes letztlich eine kaiserliche Aufgabe. Genaugenommen oblag es dem Kaiser als dem höchsten irdischen Richter zu sagen, was Recht und was Unrecht war. Die Universitäten konnten und durften das wahre kaiserliche Recht nur mit ausdrücklich erklärtem kaiserlichen Willen verkünden. Hatte der Kaiser einmal sein Einverständnis erklärt, so nahmen die Universitäten unmittelbar an seiner kaiserlichen Gerichtsgewalt teil — und diese stand grundsätzlich nur Fürsten zu.

Allein der hochfeudale und hocharistokratische Rang der Universitäten erklärt zum Beispiel, warum die Universitäten Zepter — die Zeichen geistlicher Herrschaft — erhielten, warum Doktoren trotz des Ebenbürtigkeitsprinzips im Reichskammergericht über Fürsten urteilen durften, warum die Rechtsfakultäten bei Aktenversendungen eine Art Revisionsinstanz waren, warum die Prorektoren als akademische Universitätsleiter von Amts wegen kaiserliche Hofpfalzgrafen waren und — besonders wichtig — warum die Universitäten im 19. Jahrhundert in vielen deutschen Staaten Sitz und Stimme in den Kammern der Herren neben den Prinzen aus den regierenden Häusern und den Standesherren erhielten Sie hatten eben fürstlichen Rang.

Daß die Universitäten im 19. Jahrhundert in den Herrenhäusern vieler deutscher Staaten vertreten waren, belegt nicht nur den fürstlichen Rang der Universitäten, sondern auch, daß die Universitäten ihren fürstlichen Rang über das Ende des Ständestaates hinaus behalten haben. Das ist außer den Universitäten nur noch zwei Einrichtungen gelungen: der katholischen Kirche wegen ihrer Übernationalität und der Reichspost wegen ihrer Überterritorialität. Bei den Universitäten ist es jedoch erstaunlich. Einmal lagen viele von ihnen gegen Ende des 18. Jahrhunderts so dar-nieder, daß damals mehr als die Hälfte der deutschen Universitäten eingingen Zum anderen hatten die Universitäten den Regierenden zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur Freude bereitet. Die damaligen Burschenschaften und Turnerschaften etwa waren radikal progressiv und neigten zum Terrorismus Aber vielleicht haben gerade die damaligen Progressiven den mittelalterlichen Rang der Universitäten gerettet. Wer sich an die Spitze des Fortschritts stellt, wird oft nicht mehr gefragt, wie reaktionär die Gesetze sind, nach denen er angetreten ist. Hinzu kam, daß man für die Herrlichkeit des mittelalterlichen Reiches schwärmte, seine altdeutsche Tracht so trug wie die Protestler von 1968 ihre Jeans, und daß man in Wilhelm von Humboldt einen „Chefideologen" gefunden hatte, der insofern ein wirklicher Reformer war, als er den institutionellen Rahmen der deutschen Universität völlig unberührt ließ, ihr aber einen neuen Geist gab, der sie immerhin bis nach dem Zweiten Weltkrieg beseelte, einen Geist übrigens, der sich dem fürstlichen Rang der deut-sehen Universität trefflich anschmiegte. Oder gibt es etwas Königlicheres als „Einsamkeit und Freiheit", die in der Universität verwaltenden Prinzipien

Bedenkt man den traditionellen fürstlichen Rang der deutschen Universität, so wird zunächst klar, daß sich deutsche Akademiker bis heute nicht nur zur Funktionselite rechnen, also zur Elite der Fachleute, sondern auch zur Machtelite, also zur Führungsschicht der Politiker. Es gibt wohl kein anderes Land der Welt, in dem Professoren so häufig zu politischen Tagesfragen das Gewissen der Nation spielen wie die Bundesrepublik. Von Weltfriedenserklärungen bis zu Aufrufen bei Bürgermeisterwahlen reichen die Erklärungen und sind vermutlch nie schlauer als das, was sich deutsche Professoren an Reden und Aufrufen während des Ersten Weltkrieges geleistet haben. Und die Studenteska, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre „Ho Ho Ho Chi Minh" -brüllend durch die Straßen Berlins randalierte, stand dieser Geisteshaltung nicht fern.

Bedenkt man den traditionellen fürstlichen Rang der deutschen Universität, so wird ferner klar, warum in einer Demokratie die akademische Ausbildung für jedermann Maßstab aller bildungs-und die Verallgemeinerung des Professorenstatus Ziel aller hochschulreformerischen Bemühungen werden mußte. Die demokratische politische Gleichheit zwang dazu, die aristokratischen Privilegien der Akademiker auf alle „hochschulreifen Bürger" und den Professorenstatus mindestens auf alle akademischen Bürger möglichst gleichmäßig zu verteilen. Unterstützt wurde dieser Druck durch die Humboldtsche Universitätsideologie, nach der nur ein Universitätsstudium vollendete Bildung verspricht

Bedenkt man schließlich, daß die jüngste Hochschulreform in nichts anderem bestand als in der quantitativen Verallgemeinerung aristokratischer Privilegien, so wird klar, daß

II. Die heutige Universität

sie den fürstlichen Rang der deutschen Universität endgültig aufheben mußte. Privilegien vertragen keine uneingeschränkte Verallgemeinerung. Insofern ist das Hochschulrahmengesetz, das die Verallgemeinerung besiegelte, die Todesurkunde der fürstlichen Universität.

Daß die fürstliche deutsche Universität eines ziemlich mickrigen Todes gestorben ist, sollte allerdings auch für einen eingefleischten Republikaner kein Grund zur Freude sein. Die alte Universität war eine wissenschaftliche Einrichtung, und Wissenschaft läßt sich ohne traditionell anerkannte Formen nur ganz schwer organisieren. Wissenschaft hat es mit Wahrheit zu tun, Organisation mit Entscheidung Über Wahrheit kann man aber nicht entscheiden. Sie läßt sich weder befehlen noch ist sie abstimmungsfähig. Deshalb gedeiht Wahrheit am kräftigsten in der ironischen Würde des Überlebten, buchstäblich im Muff der Talare, genauer: in Formen, die längst als leer durchschaut sind, aber eben deshalb respektiert werden.

Humboldt wußte noch, daß für die Freiheit des Geistes Organisation etwas ganz Fremdes, Gleichgültiges ist Aus diesem Grund hat er die Organisation der Universität unangetastet gelassen und nur ihren Geist belebt. Die Hochschulreformer in der Bundesrepublik sind genau umgekehrt verfahren. Sie haben nur die Organisation geändert und sich um den Geist nicht gekümmert, vermutlich in der Annahme, die alte deutsche Universität sei nicht tot zu kriegen. Das war ein Irrtum. Die alte deutsche Universität hat ihre Seele ausgehaucht.

Ihre Seele war die Wahrheit. Der Suche nach der Wahrheit verdankt sie ihre Entstehung und ihre Blüten: der Suche nach dem wahren kaiserlichen Recht, nach dem wahren Wort Gottes und — im 19. Jahrhundert — nach den wahren Gesetzen von Natur und Gesellschaft. Aber wer mag heute noch etwas von Wahrheit hören? Wahrheit ist zur Ideologie geworden Politiker sehen in der Wahrheitssuche eine Immunisierungsstrategie und den Versuch der Professoren, sich vor den Ansprüchen der Gesellschaft zu drücken, zumal die Professoren kaum ein Bibelwort so gut kennen wie die Pilatusfrage: Was ist Wahrheit? Fest steht jedenfalls: das Wort verschwindet mehr und mehr aus der hochschulpolitischen Diskussion. Wer wagt es etwa, im Zusammenhang mit der Studienreform von Wahrheit zu sprechen? Das Gegenteil scheint der Fall: Der Hochschulzugang dient dem Beruf, das Studium hat praxisnah zu sein und die Forschung so nützlich, daß sie nicht nur auf dem Markt der Eitelkeiten, sondern auch auf der Hannover-Messe verkäuflich wird. Was aber haben Beruf, Praxisnähe und Nützlichkeit mit Wahrheit zu tun? Nichts! Die Universität ist deshalb heute ein Organisationskoloß, der durch staatliche Geldtransfusionen und parteipolitische Mund-zu-Mund-Beatmung künstlich am Leben gehalten wird.

Kein Wunder, daß die Reformdiskussion schon seit Jahren fast ausschließlich unter quantitativem, das heißt unter dem Aspekt der Studentenzahlen geführt wird. Daß viele Lautsprecher der Hochschulpolitik heute die Öffnung der Hochschulen für alle Studienbewerber fordern und dann unter der überlast der Studentenmassen stöhnen, ist also nicht Masochismus, sondern Folge gesamtgesellschaftlicher Pression. Eine traditionsschwere öffentliche Stimmung verlangt die Durchlauferhitzerpolitik: möglichst viele Jugendliche möglichst schnell durch die Hochschule, am besten bei abgeschaltetem Geistesstrom, um Energie zu sparen.

Die bloß quantitative Verallgemeinerung aristokratischer Privilegien hat aber nicht nur ideologische, sondern auch hochschulpoliti-sehe Konsequenzen. Daß die Zahl der Studenten wächst und wächst, daß Studenten zur Massenerscheinung werden, wirkt sich auf die Funktionstüchtigkeit der Hochschulen aus.

Damit sind selbstverständlich nicht die viel-beklagten Massenveranstaltungen gemeint.

Massenveranstaltungen hat es in der deutschen Hochschulgeschichte immer wieder gegeben Nur galten sie bis etwa 1960 nicht als Zeichen für eine verfehlte Hochschulpolitik, sondern als Zeugnisse erfolgreicher Lehre. Überhaupt sollte man sich davor hüten, über die Vermassung der Akademiker zu klagen. Auch ist der Spruch „ 25 Prozent eines Jahrgangs können nicht so studieren wie 5 Prozent", so wie er in der Regel gemeint ist, nämlich: 25 Prozent könnten nicht so gut sein wie 5 Prozent, töricht bis dümmlich. Warum können 25 Prozent nicht so studieren wie 5 Prozent? Über die quantitative Verteilung von Intelligenz auf die Staatsbürger — seien sie hochschulreif oder hochschulunreif — weiß man nicht viel. Gegen die Annahme fester Quoten der Intelligenzverteilung spricht vor allem der auffallende Umstand, daß die Staaten immer genau das Quantum an Intelligenz gehabt haben, das sie gerade benötigten. Und die traditionelle anarcholiberale Organisation des deutschen Universitätsunterrichtes ist optimal geeignet, große Massen abzufertigen. Für einen wissenschaftlichen Vortrag — wie eine traditionelle Vorlesung — ist es völlig gleichgültig, ob ihn zehn, hundert oder tausend Hörer hören. Die Konsequenzen der Massenuniversität sind viel ernster und bedrohlicher. Das Wort von den 25 Prozent, die nicht so studieren können wie fünf Prozent, enthält insofern eine richtige Beobachtung, als große Massen nur durch Recht gesteuert werden können. Einer Million Menschen kann man nur durch generalisierte, abstrakte Normen, mit der Möglichkeit, Außenstehende zwecks Kontrolle einzuschalten, also durch Recht, einigermaßen Gewähr für Gleichbehandlung bieten. Die ständig wachsenden Studenten-zahlen als solche mußten deshalb zu einer Verrechtlichung der Universitätsverhältnisse führen. Daß man bei dieser Gelegenheit eine Organisationsform gewählt hat, die polarisiert und damit die Verrechtlichung verschärft, nämlich die Gruppenuniversität, ist eine perverse Konsequenz des fürstlichen Ranges der Universität und gehört in andere Bewertungskategorien. Die Gruppenuniversität ist jedenfalls ein Symptom, aber nicht die Ursache der Universitätsmisere.

Da Recht generalisieren muß, entfremdet es, weil Verhaltensregeln vom einzelnen abgelöst werden und immer mit der Möglichkeit gedroht werden muß, Außenstehende, nämlich den Justizapparat, in eine Auseinandersetzung einzubeziehen. Mit dem trauten Familienleben oder der innigen Freundschaft ist es zu Ende, wenn Kinder gegen ihre Eltern oder Freunde gegen Freunde vor Gericht ziehen. Der Grund hierfür ist offenbar: in Vertrauensverhältnissen haben Fremde nichts zu suchen. Werden Fremde — wie z. B. Richter — eingeschaltet, so zerbrechen Vertrauensverhältnisse, gleichgültig, wer Recht hat.

Vergleicht man aber diese Wirkung des Rechtes mit der Aufgabe der Universitäten, so zeigt sich, daß Verrechtlichung die Erfüllung der Hochschulaufgaben beeinträchtigt.

Aufgabe der Universitäten sind Forschung und Lehre, genauer: Wissenschaft und Erziehung. Wissenschaft und Erziehung vertragen aber grundsätzlich kein Recht. Über wissenschaftliche Wahrheit und pädagogische Wirksamkeit kann kein Gericht der Welt entscheiden. Der Staat und die Gerichte wissen das längst. Deshalb haben sie den Wissenschaftlern die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) und den Lehrern einen Beurteilungsspielraum eingeräumt In diesem Zusammenhang sei an den Fall Galileo Galilei und an Humboldts Wort über die Fremdheit von Geist und Organisation erinnert. Verrechtlichung hingegen schließt den Versuch ein, Geist zu organisieren. Das mußte schief gehen und ist schief gegangen, und zwar in drei Richtungen:

1. Der akademische Unterricht wird flauer, flacher und formeller. Professoren beginnen

Vorlesungsstunden „abzureißen". Das pädagogische Engagement hängt mehr und mehr von einzelnen Personen ab und wird nicht mehr institutionell gestützt.

2. Damit hängt zusammen, daß die Institution Universität nicht mehr das darstellen kann, was Wissenschaft ist. Hier mag der Hinweis genügen, einmal zu prüfen, wer eigentlich die deutschen Universitäten vertritt und auf welchem intellektuellen und moralischen Niveau Universitätsvertretungen Politik machen. Zugegebenermaßen gibt es Ausnahmen, die man freilich nicht immer an Titel und Ehrenzeichen erkennen kann. Vielleicht sind die Ausnahmen sogar in der Überzahl. Aber sie sind trotzdem Ausnahmen, weil sie nicht die Struktur bestimmen.

3. Damit wiederum hängt zusammen, daß gerade hochreputierte Professoren immer mehr dazu neigen, ihre Macht nicht mehr für, sondern eher gegen die eigene Universität zu gebrauchen: als relative Unangreifbarkeit, als Ausweichvermögen oder als Fähigkeit, öffentlich Klage zu führen

Die Richtigkeit dieser Bestandsaufnahme läßt sich mit vielen Beispielen belegen. Jedem, der sich für die Hochschulen interessiert, werden zu den Themen: Unterricht, Wissenschaft und Stars der Wissenschaft sofort ausreichend Beispiele einfallen. Es kommt allerdings darauf an, die Beispiele richtig einzuschätzen. An dieser Stelle sei ein kurzer methodischer Exkurs erlaubt.

Beispiele können natürliche signifikante Indizien sein. Als Einzelfälle ergeben sie jedoch kein Gesamtbild, allenfalls ein Mosaik, von dem man aber nicht weiß, ob es die soziale Realität widerspiegelt. Die soziale Realität gewinnt man jedoch, wenn man fragt, welche Bedeutung die Einzelfälle für andere Beteiligte haben und ob sie ihr Verhalten durch Einzelfälle oder gar nur deren Möglichkeit ändern

Dies soll wieder an einem Beispiel erläutert werden. Im WS 1971/72 wurden besonders viele Vorlesungen gestört. Die Pressekommentare reichten von „Affentheater" über „unbeschreibliches Chaos" bis zu „UniversitätsTerror". Auch Worte wie „Bürgerkrieg" fielen. In dieser Situation erklärte der damalige Bundeswissenschaftsminister von Dohnanyi, er verstünde die Aufregung nicht. In Wirklichkeit würden an keiner Universität mehr als 0, 2 Prozent aller Veranstaltungen gestört, an der Freien Universität Berlin sogar nur 0, 08 Prozent Er hätte hinzufügen können: in Mannheim wurde damals — soweit sich der Verfasser erinnert — nur eine Vorlesung gestört. Aber es ist genau das wichtig, was in die Statistik des Ministers nicht eingehen konnte. Zum Beispiel, daß Mannheimer Professoren in ihren Vorlesungen erklärt haben, ihre Veranstaltungen könnten nicht gesprengt werden, weil sie sie bei der kleinsten Schwierigkeit sofort beenden würden, daß sie über ihr Verhalten bei möglichen Störungen miteinander diskutiert haben und wochenlang innerlich verkrampft in die Hörsäle gegangen sind, und daß sich Rektorat und Dekane mit Taktik und Strategie von Polizeieinsätzen vertraut gemacht haben. Das heißt, obwohl es nur eine Störung gegeben hat, haben alle ihre Einstellung und teilweise auch ihr Verhalten geändert. Das ist die soziale Realität, um die es geht.

Was man in den Hörsälen, bei der Außendarstellung der Universität und in der öffentlichen hochschulpolitischen Diskussion wahrnehmen kann, sind also nicht nur einzelne kleine Fehler, es sind Reaktionen auf Strukturänderungen, die sich — mit bloßem Auge kaum wahrnehmbar — weiterfressen wie Rost.

III. Perspektiven

Damit unter diesen Umständen überhaupt eine Perspektive gewonnen werden kann, soll nachfolgend an die Funktion des gesamten Erziehungssystems angeknüpft, sodann die spezifische Funktion der Universitäten in diesem System genannt und daraus Prognosen abgeleitet werden.

Die Funktion des Erziehungssystems hat schon der Gymnasialdirektor Hegel in der Abschiedsrede auf seinen Amtsvorgänger Schenck am 10. Juli 1809 treffend beschrieben: „Dem Lehrstande ist der Schatz der Bildung, der Kenntnisse und Wahrheiten, an welchem alle verflossenen Zeitalter gearbeitet haben, anvertraut, ihn zu erhalten und der Nachwelt zu überliefern. Der Lehrer hat sich als den Bewahrer und Priester dieses heiligen Lichtes zu betrachten, daß es nicht verlösche und die Menscheit nicht in die Nacht der alten Barbarei zurücksinke."

Damit soll gesagt werden: Da nicht jeder Mensch mit der Kultur immer wieder von vorn anfangen kann, hat das Erziehungssystem die Funktion, die Gesellschaft im ganzen und in all ihren Funktionssystemen zu reproduzieren. Wenn man berücksichtigt, daß die Gesellschaft arbeitsteilig organisiert ist, bedeutet Reproduktion der Gesellschaft: Fördern und Auslesen. Diese beiden großen Unteraufgaben: Fördern und Auslesen, kann das Erziehungssystem aber nur erfüllen, wenn es im Verhältnis zu den anderen Teilsystemen der Gesellschaft relativ verselbständigt wird, wenn es also nicht durch Technik, Wirtschaft und Politik dominiert wird. Wie jedes System will sich aber auch die moderne Gesellschaft in ihrer Modernität selbst erhalten. Deshalb wird es ein relativ autonomes Erziehungssystem geben, solange es eine moderne Gesellschaft gibt.

Das bedeutet jedoch nicht, daß es auch so lange Universitäten geben müßte. Universitäten spielen insofern eine Sonderrolle, als sie das Erziehungssystem nicht nur abschließen, sondern sich eben deshalb auch am Rande des Erziehungssystems befinden. Sie haben die gesellschaftliche Arbeitsteilung bereits weitgehend in sich aufgenommen und erlauben vielen Personen, andere Personen zu behandeln, zu verurteilen, zu unterrichten und ihnen Technik zu verkaufen. Das kann den anderen, auch relativ selbständigen Systemen wie Religion, Recht, Medizin, Wirtschaft und Technik nicht gleichgültig sein. Vielmehr müssen sie versuchen, die Universitätsausbildung auf ihre speziellen Bedingungen auszurichten. Universitäten sind aus diesem Grunde besonders gefährdet und benötigen institutionellen Schutz.

Diesen institutioneilen Schutz bot früher der fürstliche Rang der Universitäten. Heute muß schlichtes Recht den Rang ersetzen, was dem Recht aber nur unvollkommen gelingt. Viele Bedingungen der Erziehung — Autorität des Lehrers und dessen Willen zur Selektion, Sozialisation des Studenten und dessen Willen zur Mitarbeit —, die sich bei der Institutionalisierung durch Rang wie von selbst ergeben, kann Recht nicht beeinflussen. Da formalisierte Prüfungen der Förderungsfunktion in gewisser Weise widersprechen und vom Erzieher eine beträchtliche berufsethische Leistung verlangen, ist eine notwendige Folge der Umstellung des institutionellen Schutzes von Rang auf Recht ein Nachlassen der Selektionsleistungen. Das heißt: Es bestehen immer mehr Schüler und Studenten mit immer besseren Noten das Abitur und die Hochschulabschlußprüfungen. Diese Tendenz wird noch dadurch verstärkt, daß nach dem deutschen System die Folgen der teilweisen Selektionsverweigerung für die selegierende Erziehungseinrichtung nicht sofort spürbar werden. Wenn eine Schule unzureichend ausgebildete Schüler mit einem Einser-Abitur begabt, merkt sie das ebensowenig wie es eine Universität merkt, wenn sie schlecht ausgebildete Lehrer in die Schulen schickt. Spürbar werden die Folgen erst nach Jahren: Wenn die problematischen Einser-Abiturienten als Lehrer in die Schulen zurückkehren und die Universitäten schlecht vorgebildete Studenten erhalten. Das heißt, die Selektionsunwilligkeit erzeugt zunächst im Erziehungssystem eine Spirale der Niveausenkung, die jedoch wegen der Autonomie des Systems schwer zu messen und zu kontrollieren ist.

Andererseits verlangt die Arbeitsteilung in der Gesellschaft kategorisch eine Auslese. Die großen Subsysteme — Religion, Recht, Gesundheit, Wirtschaft, Technik — müssen entscheiden, wen sie akzeptieren wollen und wen nicht. Wenn die Universitäten nicht mehr hinreichend differenzieren, dann müssen die Abnehmer von Hochschulabsolventen differenzieren, und zwar nach ihren eigenen Ansprüchen und Verfahren. Teilweise geschieht dies bereits. Die Personalabteilungen der großen Unternehmen haben inzwischen gelernt, die Validität von Examensnoten einzuschätzen. Der Staat tut sich in dieser Hinsicht freilich viel schwerer, weil er an den Nennwert von Prüfungspapieren genau so gebunden ist wie an den Nennwert von Geld. Aber nicht nur die historische Erfahrung, auch die theoretische Reflexion müßte lehren, daß der Staat spätestens dann neue Ausleseverfahren entwickeln müßte, wenn alle Juristen oder Lehramtskandidaten mit „sehr gut" bestehen würden.

Für das Verhältnis zwischen Schule und Universität gilt selbstverständlich Entsprechendes. Je häufiger sehr gute Abiturienten auftauchen, desto mehr ist die Universität gezwungen, für ihre Zwecke selbst zu selegieren. Und je mehr Studenten es gibt, desto klarer wird der kleine Kreis von Studenten begrenzt, der zum wissenschaftlichen Gespräch zugelassen wird. Anzeichen für die universitätsinterne Auslese sind schon deutlich sichtbar, etwa in der Unterscheidung zwischen Grundstudium und Hauptstudium, die sich ungefähr so auswirkt wie die Unterscheidung zwischen Grundschule und Gymnasium.

Kurzum: Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wird langfristig die Zuständigkeiten für die Zugangsentscheidungen ändern. An die Stelle des Abiturs wird das Aditur, die Hochschulzugangsprüfung, treten und an die Stelle des berufsqualifizierenden Abschlußexamens die Zugangsprüfung für den Beruf.

Das hat auch Folgen für die Orientierung der Professoren. Mit dem fürstlichen Rang der Universitäten war ein Wahrheitsethos für die akademischen Lehrer verbunden, das jetzt durch das Ethos des Fachmannes abgelöst wird. Fachkunde wird aber von anderen Leuten anerkannt als Wahrheit. Also müssen die Professoren immer mehr zu Kommunikationen mit Fachleuten der Berufspraxis und immer weniger zu Kommunikationen mit Universitätskollegen und Studenten neigen. Das interdisziplinäre, kollegiale — wenn man so will: philosophische — Gespräch nimmt quantitativ und qualitativ immer mehr ab. Den Professoren wird der akademische Unterricht und die eigene Universität immer mehr zur Nebensache und die Auseinandersetzung mit Fachleuten immer mehr zur Hauptsache.

Für die Professoren der Lehramtsfächer gilt das freilich nur eingeschränkt, weil in den Lehramtsfächern Beruf und Fachkunde auseinanderzufallen beginnen. Für die Lehramtsfächer gibt es zwar eine Berufspraxis: das Lehramt, doch scheinen Universitätsprofessoren die Gymnasiallehrer immer weniger als Fachkollegen anzuerkennen. Früher haben sich besonders die Universitätsphilologen im wesentlichen aus dem Kreis der Gymnasiallehrer rekrutiert, heute rekrutieren sie sich im wesentlichen aus dem Kreis ihrer eigenen Assistenten. Das scheint Gräben aufzuwerfen. Anders jedenfalls ist der einhellige Protest nicht zu erklären, den der Verfasser einmal bei Universitätsphilologen mit dem Vorschlag erzeugt hat, Gymnasiallehrer als Prüfer bei Lehramtsprüfungen zu beteiligen.

In den Hochschulen werden sich folglich zwei Gruppen von Professoren unterscheiden, die Berufsfach-oder Expertenprofessoren auf der einen und die reinen Lehrprofessoren auf der anderen Seite. Die Professoren der alten philosophischen Fakultät werden durchweg Lehrprofessoren werden, weil sie sich nicht auf einen fachlich orientierten Berufsstand stützen können. Eine Sonderrolle werden nur die Professoren spielen, die als politische Wanderprediger, geistreiche Alleinunterhal9 ter oder als Moralunternehmer auf Festakten, in Akademien oder in Massenmedien wirken.

Die vielberufene Unterscheidung zwischen Forschungs-und Lehrprofessoren wird es dagegen in absehbarer Zeit nicht geben. Der Grund ist einfach. Man braucht nur die Konsequenz daraus zu ziehen, daß Wahrheit zur Ideologie geworden ist, daß Juristen vielleicht noch von Gerechtigkeit, Philosophen aber nicht mehr von, sondern höchstens noch über Wahrheit reden mögen daß das massenhafte Herausquellen der Pilatusfrage aus dem Mund von Akademikern mehr die Unverbindlichkeit als das Ethos der Wahrheitssuche indiziert. Wenn Forschung etwas mit Wahrheitssuche zu tun hat, dann ist die Zeit für Forschung vorbei, wenn Wahrheit zur Ideologie geworden ist. Forschung hat etwas mit Wahrheitssuche zu tun, und nach der Wahrheit zu suchen, lohnt nicht mehr. Sie befindet sich auf dem Altenteil. Natürlich wird es auch weiterhin einen gewissen Entdecker-und Erfindergeist geben. Columbus ist bekanntlich ohne die Idee der deutschen Universität im Rücken und ohne beamtenrechtlich zur Forschung verpflichtet zu sein, nach Amerika gefahren. Aber diesen Entdeckergeist werden die Universitätsinstitute mit den Forschungsund Entwicklungsabteilungen der Industrieunternehmen teilen.

Und die Universität? Ihr Schicksal hängt davon ab, wie sie sich zum Berufsfach verhält. Versucht sie, am Maßstab des Fachwissens mit der Berufspraxis um die beste Fachkunde zu konkurrieren, kann sie aus der derzeitigen Krise gestärkt hervorgehen. Versucht sie aber weiter, den Studenten zur politischen Mündigkeit zu verhelfen, so wird sie eine Art überoberstufe für hochschulreife Bürger werden. Mit den Ausleseentscheidungen für die arbeitsteilige Gesellschaft hat sie dann aber nicht mehr viel zu tun.

Um den Praxisbezug des Sozialwissenschaftlers zu demonstrieren, ist zum Schluß zu fragen: Was ist politisch zu tun?

Die politischen Möglichkeiten haben sich verengt. Die Universitätsideologie ist verbraucht. Auf das Berufsethos der Professoren und die Moral der Studenten kann sich der Politiker nicht mehr verlassen. Er muß vielmehr mit dem dumpfen Widerstand von Traditionalisten rechnen — womit weniger die Konservativen und mehr die „Progressiven"

gemeint sind — und hat als Steuerungsinstrumente nur Geld und Recht zur Verfügung.

Ehningen, die schön billig waren, wirken nicht mehr und waren auch nie flächendekkend anwendbar. Dennoch, Geld und Recht genügen auch. Denn politisch bleibt nur eine Möglichkeit, die in der Öffentlichkeit auch schon viel diskutiert worden ist: eine stärkere Differenzierung der Hochschullandschaft

Die Frage ist lediglich: wie?

Würde man Soziologen fragen, wie man Wirtschaftsunternehmen, Vereine oder militärische Einheiten am wirksamsten differenzieren kann, würden sie ohne Zögern antworten: durch die Rekrutierungsbedingungen Würde man fragen, ob das auch für Universitäten gilt, würde ein amerikanischer Soziologe „selbstverständlich" sagen, ein deutscher jedoch zögern. Aber natürlich hätte der Amerikaner Recht. Daß das Ansehen und die Wirksamkeit einer Organisation wesentlich von den Eintrittsbedingungen für die Mitglieder abhängt, ist für die Universitäten bei Berufungen von Professoren so allgemein anerkannt, daß man die deutsche Hochschulzugangsregelung nur mit der demokratisch pervertierten, starken ständestaatlichen Tradition der deutschen Universitäten erklären kann. Kurzum: Differenzieren läßt sich die Hochschullandschaft nur, wenn man die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze in Dortmund so schnell wie möglich auflöst und Hochschulzugangsprüfungen einführt. Hochschulzugangsprüfungen sind auch rechtlich machbar, wie ein 1976 vorgelegter einschlägiger Gesetzentwurf unter Mitarbeit des Verfassers demonstriert.

Eine Hochschulzugangsprüfung ist der allein mögliche Weg zur Heilung des deutschen Hochschulwesens. Freilich ist es fraglich, ob die Politiker die Kraft finden werden, diesen Weg zu gehen. Zu erwarten ist allerdings, daß die hochschulpolitischen Probleme sie auf diesen Weg stoßen werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wegen genauer Daten und Belege vgl. G. Roellecke, Geschichte des deutschen Hochschulwesens, in: C. Flämig /V. Grellert u. a. (Hrsg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts, Berlin — Heidelberg — New 1982, S. 3, 4 ff. York

  2. H. Grundmann, Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, Darmstadt 1964 2, S. 39 und 46, meint, die europäische Universität sei aus „gelehrtem, wissenschaftlichem Interesse" entstanden, weil er die Bedeutung des justinianischen Rechtes für das Reich nicht berücksichtigt; vgl. a. a. O., S. 41 f.

  3. So schon Grundmann, a. a. O. (Anm. 2), S. 30f. Daß die Universität ein eigener Stand wurde, erklärt auch, warum die Aufnahme in die Universität nicht an ständische Schranken gebunden war.

  4. Vgl. die Darstellung des Ständewesens bei H. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Band I, Frühzeit und Mittelalter, Karlsruhe 19622, S. 115 und 296, der allerdings die Multifunktionalität des Standes nicht besonders betont.

  5. E. von Repgow, Sachsenspiegel, Landrecht 3. Buch LVII § 2.

  6. Vgl. W. Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, Göttingen 1958-, S. 13. Der König „war Bewahrer des Rechts, oberster Richter, aber nicht Gesetzgeber“.

  7. Vgl. § 27 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22. August 1818; § 129 der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819 in der Fassung vom 16. Juli 1906; § 63 der Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen vom 4. September 1831; sämtlich abgedruckt bei E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1, 1803 bis 1850, Stuttgart 1961, Nrn. 52/53, 54/55 und 57.

  8. H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 22.

  9. Vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart 19572, S. 696f. •

  10. W. von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: A. Flitner /K. Giel (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, Band IV, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, S. 255.

  11. Vgl. K. Böhme (Hrsg.), Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart

  12. Vgl. W. von Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan, in: A. Flitner /K. Giel (Hrsg.), a. a. O. (Anm. 10), S. 168, 191. „Der Universität ist Vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft."

  13. Näher G. Roellecke, Hochschulerziehung zwischen Ausbildung und Forschung, in: Der Staat (1982), S. 53, 59 ff. mit weiteren Nachweisen.

  14. W. von Humboldt, a. a. O. (Anm. 10), S. 257.

  15. Näher und differenzierter N. Luhmann, Wahrheit und Ideologie. Vorschläge zur Wiederaufnahme der Diskussion, in: ders., Soziologische Auf-klärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Band 1, Opladen 1972 3, S. 54- 65.

  16. So besteht für die 22 Orientierungspunkte des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft vom 22. Juni 1978 (in: Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Materialien zur Studienreform, Schriftenreihe Hochschule 30, ohne Ort 1979, S. 261, 262) die Wissenschaftlichkeit des Studiums ausschließlich in der „Vermittlung wissenschaftsorientierter Einstellungen und Verhaltensweisen: Vorurteilslosigkeit und Toleranz, Fähigkeit zur Kritik und selbstkritischer Reflexion, Offenlegung von Prämissen und Grenzen, Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit" usw. Nun ist richtig, daß sich eine staatliche Stelle schlecht auf Wahrheit beziehen kann. Aber gerade deshalb ist es symptomatisch, daß sie überhaupt etwas zur Wissenschaftlichkeit sagt. Freilich ist das, was gesagt wird, ganz schlechte, zu einer billigen Moral verkommene politische Spruchweisheit. Einmal sind „Vorurteilslosigkeit" etc. nicht wissenschaftsspezifisch. Zum anderen bedeuten sie individuelle Belastung (bis zur Askese) Und verlangen deshalb nach Sinn, den die Orientierungspunkte aber nicht liefern.

  17. Zeugnisse aus drei Jahrhunderten deutscher Universitätsgeschichte: Johann Stephan Pütter erreichte im WS 1772/73 im Staatsrecht 201 Hörer und im SS 1773 in der Reichsgeschichte 212 Hörer. Vgl. W. Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, Göttingen 1975, S. 37. „Dem vollen Erfolg dieser Einrichtungen (der juristischen Übungen) wirken bedauerlicherweise Umstände entgegen, die von den Universitäten nicht zu vertreten sind: die Teilnahme von 500 bis 800 Studierenden an derselben Übung .... Vgl. A. Stölzel, Schulung für die zivilistische Praxis, Berlin 1894, hier zitiert nach der 10. Aufl. Berlin 1930, S. 21, Anm. 1. „Max Born hielt 1931 die Spezialvorlesung über theoretische Atomphysik vor mehr als 300 Hörern und warnte eindringlich vor der Aussichtslosigkeit der Beschäftigung vieler mit einem so speziellen Fach." Vgl. H. Maier-Leibnitz, Simplex sigillum veri. Robert W. Pohl wird neunzig, in: ders., Zwischen Wissenschaft und Politik. Ausgewählte Reden und Aufsätze 1974— 1979, Boppard 1979, S. 344.

  18. N. Niehues, Schul-und Prüfungsrecht, München 1976, Rdnr. 473.

  19. N. Luhmann, Wabuwabu in der Universität, Zeitschrift für Rechtspolitik (1975), S. 13, 14.

  20. Ebd., S. 13.

  21. Vgl. U. Rosenbaum, Wahrheit in Zahlen, Wissenschaftsminister: Nur maximal 0, 2 Prozent Störungen an Unis, in: VORWÄRTS vom 6. April 1972. Dazu: Dohnanyi verteidigt Statistiken über Störungen, in: Die WELT vom 13. April 1972.

  22. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke in zwanzig Bänden, Band 4, Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808— 1817, Frankfurt/M. 1970, S. 305, 307.

  23. Näher: G. Roellecke, Recht und Prüfungen (erscheint demnächst in der Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Berlin 1984).

  24. Symptomatisch: G. Skirbekk (Hrsg.), Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1977.

  25. Ein differenziertes Hochschulgefüge hat H. Schelsky, a. a. O. (Anm. 8), bereits 1963 gefordert, damals freilich noch in der Hoffnung auf eine „innere Universitätsreform", vgl. S. 311. Diese Hoffnung hat Schelsky 1970 aufgegeben: vgl. die 2., um einen „Nachtrag 1970" erweiterte Auflage, Düsseldorf 1971, S. 243 ff.

  26. Vgl. R. Mayntz, Soziologie der Organisation, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 120ff.

  27. Vgl. G. Roellecke /P. Kickartz, Entwurf eines Landesgesetzes über den Hochschulzugang, RuSt Heft 450/451, Tübingen 1976.

Weitere Inhalte

Gerd Roellecke, Dr. jur., geb. 1927; seit 1969 Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Mannheim; seit 1982 Rektor der Universität Mannheim; 1972— 1974 Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz; 1974— 1977 Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Veröffentlichungen u. a.: Hochschule und Wissenschaft, Stuttgart 1974; (zusammen mit Peter Kickartz) Entwurf eines Ländergesetzes über den Hochschulzugang, Tübingen 1976; Die Logik der Debatte, Heidelberg 1978; Wird das Falsche falsch studiert?, Osnabrück 1979; Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, Darmstadt 1982.