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Strategische Rüstungsentwicklung und Rüstungskontrolle in den USA | APuZ 2/1984 | bpb.de

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APuZ 2/1984 Die Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa (KVAE) Strategische Rüstungsentwicklung und Rüstungskontrolle in den USA Der Einfluß von Präzisionswaffen auf das strategische Denken

Strategische Rüstungsentwicklung und Rüstungskontrolle in den USA

Wolfgang Heisenberg

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Zusammenfassung

Die von der Reagan-Administration unternommenen Versuche, in ihren öffentlichen Erklärungen eine verteidigungspolitische Konzeption zu entwerfen, haben für den Bereich der strategischen Politik nicht zu der erwünschten Klärung geführt. Das liegt zum Teil an der Inkonsistenz der amerikanischen Erklärungen. So wird einerseits betont, die Regierung gehe davon aus, daß ein Kernwaffenkrieg nicht gewonnen werden könne, andererseits werden die Ziele der amerikanischen Verteidigungspolitik im Fall eines Versagens der nuklearen Abschreckung so dargestellt, daß sie sich von der vorsichtigen Umschreibung eines militärischen Sieges nicht erkennbar unterscheiden. Der Verbesserung des C 3-Systems wird höchste Priorität eingeräumt, doch sind die vorgesehenen Maßnahmen in diesem Bereich offensichtlich unzureichend, und es werden an anderer Stelle Rüstungsmaßnahmen empfohlen, die die im C 3-Bereich entstandenen Instabilitäten verstärken. Eine gewisse Präzisierung der strategischen Doktrin der Reagan-Administration könnte in den Empfehlungen der sogenannten Scowcroft-Kommission enthalten sein, die langfristig das Ziel der Krisenstabilität in den Vordergrund stellen. Andererseits empfiehlt der Bericht auch die Aufstellung der MX-Rakete, die zunächst eine Destabilisierung mit sich bringen würde. Die von der Kommission herausgestellten Stabilisierungsziele könnten vielleicht auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle eine langfristige konzeptionelle Orientierung bieten, doch wird Rüstungskontrolle den Zielen der strategischen Politik ausdrücklich untergeordnet. Hierzu gehören Ziele wie die Entwicklung einer strategischen Counter-Force-Fähigkeit und der Möglichkeit, einen begrenzten Kernwaffenkrieg zu führen, die sich mit bestimmten Zielen der Rüstungskontrolle nicht vereinbaren lassen. Außerdem wurde die unter der Regierung Nixon/Kissinger gescheiterte Politik das „linkage" wieder aufgenommen. Im Bereich der Rüstungspolitik ging es zunächst um eine Verringerung der Verwundbarkeit der amerikanischen landgestützten ICBM. Anders als die Regierung Carter befürwortete die Reagan-Administration die Stationierung landgestützter ICBM in nah beieinander liegenden, extrem gehärteten Stellungen („Dense Pack"). Doch ist es der Regierung bisher nicht gelungen, die Zustimmung des Kongresses hierfür zu erhalten. Auf längere Sicht wird die Aufstellung sehr kleiner, mit nur einem Gefechtskopf ausgerüsteter Raketen empfohlen, die auf mobilen Startanlagen montiert sein könnten. Erwogen wird auch der Übergang zu einer Taktik des „launch on warning". Auch gibt es Anhaltspunkte dafür, daß die Reagan-Administration ernsthaft den Aufbau eines Raketenabwehrsystems diskutiert. Auch wenn die Realisierbarkeit der von Präsident Reagan angedeuteten Pläne noch ungewiß erscheint, stünde die Technologie bereit, einen verhältnismäßig wirksamen Schutz der bedrohten ICBM-Stellungen aufzubauen. Im Bereich der seegestützten strategischen Waffen wird sich die Verwundbarkeit der U-Boote auf Grund der größeren Reichweite der Trident II, die Ende der achtziger Jahre eingeführt werden soll, vermutlich weiter verringern. Wegen der zu erwartenden hohen Treffgenauigkeit dieser Waffen wird man die seegestützten Systeme in den neunziger Jahren sicher nicht mehr als reines Vergeltungspotential bezeichnen können, doch sind ihrer Anwendung im Rahmen eines begrenzten Kernwaffenkrieges auf Grund weiter bestehender Probleme vor allem bei der Kommunikation mit U-Booten enge Grenzen gesetzt. Die luftgestützte Komponente wird durch den Bau des B-l-B-Bombers und den weiteren Aufbau eines Potentials luftgestützter Marschflugkörper weiter verstärkt. Es hat gegenwärtig den Anschein, als werde es möglich sein, die Überlebensfähigkeit dieser Komponente durch die Verringerung des Radarquerschnitts der Bomber („Stealth-Technologie") auch in den neunziger Jahren zu gewährleisten.

Die noch immer andauernde Kontroverse über die Stationierung nuklearer Mittelstrekkenwaffen in einigen Ländern Westeuropas scheint in ihrer polarisierenden Wirkung vorübergehend die Einsicht verdeckt zu haben, daß es letztlich um mehr geht als nur um die Stationierung einer — am Kernwaffenpotential der beiden Supermächte gemessen — sehr kleinen Anzahl nuklearer Waffensysteme, nämlich um allgemeinere Fragen wie die nach der Rolle der Kernwaffen in der westlichen Verteidigung, nach der Haltung zur Rolle militärischer Macht in den internationalen Beziehungen oder nach der Haltung zur Sowjetunion und ihren Alliierten. Genau-genommen ist eine Bewertung der Nachrüstungsentscheidung nur möglich, wenn diese als Bestandteil einer konsistenten strategischen Politik der Amerikaner oder besser der Supermächte gesehen wird, die sich von Europa aus nur begrenzt beeinflussen läßt. Die Stationierung von landgestützten Marschflugkörpern oder Pershing-II-Raketen in Westeuropa kann eine ganz unterschiedliche sicherheitspolitische Bedeutung haben, je nachdem, ob diese dem bestehenden Kernwaffenpotential lediglich eine „neue Dimension" hinzufügen oder ob sie Bestandteil einer Umstrukturierung des westlichen Kernwaffenpotentials sind, die mit dem Abbau von Systemen kürzerer Reichweite und dem Abzug nuklearer Gefechtsköpfe aus Europa verknüpft ist.

Der Charakter der neuen Mittelstreckenwaffen hängt davon ab, ob man sie als Element einer angeblichen nuklearen Kriegführungsstrategie der Amerikaner oder als Mittel zur Verringerung der Abhängigkeit von Kernwaffen, ob man sie als Mittel der amerikanisch-europäischen „Kopplung" oder als Mittel der „Entkopplung" ansieht. Der „wirkliche" Charakter dieser Waffen ergibt sich nicht aus ihnen selbst, sondern nur aus der strategischen Politik der Supermächte im ganzen.

Eine der Schwierigkeiten bei der Bewertung des Nachrüstungsbeschlusses liegt aber gerade darin, daß es eine völlig kohärente strategische Politik der Vereinigten Staaten oder gar des NATO-Bündnisses nicht gibt und auch noch nie gegeben hat. In der Diskussion über den Nachrüstungsbeschluß führt das notwendigerweise zu einem gewissen Maß an „Irrationalität“ in der Argumentation beider Seiten: Bei den Befürwortern der Nachrüstung in Form sich widersprechender Argumente, etwa wenn die westlichen Mittelstrekkenwaffen einerseits als Gegengewicht gegen die sowjetische SS-20 und andererseits als Mittel der Eskalationskontrolle und der amerikanisch-europäischen „Kopplung" bezeichnet werden, für die der Eindruck eines europäischen „Gleichgewichts" vermieden werden muß. Die Gegner der Nachrüstung weichen den Schwierigkeiten dagegen gelegentlich mit einer Haltung des Eigensinns aus, den man in die Worte fassen könnte: „Was auch immer die sicherheitspolitische Funktion der neuen Mittelstreckenwaffen sein mag, jedenfalls haben wir schon jetzt zuviel Kernwaffen in Europa." Es soll daher hier der Versuch gemacht werden, einige Züge der strategischen und Rüstungskontrollpolitik der Reagan-Administration aus europäischer Perspektive nachzuzeichnen.

I. Die „deklaratorische" Politik der Reagan-Administration auf dem Gebiet der nuklearen Strategie und Rüstungskontrolle

Bei Beginn der Amtszeit Präsident Reagans schien zumindest das Grundmuster seiner Sicherheitspolitik einigermaßen klar erkennbar zu sein. Die meisten Beobachter in Europa gingen davon aus, daß das außenpolitische Bild des Präsidenten von der sowjetischen Herausforderung, also vom Ost-West-Kon-flikt, dominiert werde, den er als erklärter „Realpolitiker" primär in machtpolitischen Kategorien erfassen würde. Reagan hatte deutlich zu erkennen gegeben, daß er von dem stetigen Anwachsen der sowjetischen militärischen Macht beunruhigt war und es als vordringliche Aufgabe ansah, die langfristige Verschiebung des militärischen Kräfteverhältnisses zugunsten der Sowjetunion durch ein massives Rüstungsprogramm wieder auszugleichen. Dem entsprach seine Forderung, den Rüstungsetat bis Ende der achtziger Jahre um jährlich 8 bis 10 % zu erhöhen.

Allzu große Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser Vorstellungen in eine konkrete politische Konzeption konnten kaum erwartet werden, denn schon lange vor dem Amtsantritt Reagans waren im regierungsnah arbeitenden akademischen Bereich die Konzepte für eine auf die „Einhegung" der militärischen Macht der Sowjetunion zielende amerikanische Sicherheitspolitik entwickelt worden, und viele der daran beteiligten Wissenschaftler hatten einflußreiche Positionen in der neuen Administration erhalten

Tatsächlich ließ die militärische Sicherheitspolitik der neuen amerikanischen Administration jedoch, zumindest in der Anfangsphase, eine klare Orientierung vermissen. Sogar innerhalb der Administration wurde das Fehlen klarer Prioritäten in der Rüstungspolitik und einer von außen wahrnehmbaren militärischen „Doktrin" kritisiert In der Öffentlichkeit wurde der Regierung weniger die absolute Höhe der Verteidigungsausgaben vorgeworfen, als die Tatsache, daß diese Ausgaben in langfristigen Rüstungsprogrammen festgelegt wurden, die mit unübersehbaren Folgelasten verbunden wären, und daß durch die unterschiedliche Förderung aller Rüstungsbereiche von den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht der wirksamste Gebrauch gemacht werde.

Mit der Bekanntgabe einer „sicherheitspolitischen Gesamtstrategie" (integrated strategy for preserving our national security) durch den Sicherheitsberater Judge Clark im Mai 1982 und mit den Jahresberichten des Verteidigungsministers Weinberger vom Februar 1982 und Februar 1983 ist hier wenigstens teilweise Abhilfe geschaffen worden, wenn auch gerade im strategischen Bereich erhebliche Unklarheiten bestehen blieben. Die Berichte betonen einerseits die Kontinuität mit der strategischen Politik vorhergehender Regierungen und versuchen klarzustellen, daß Kernwaffen auch in Zukunft zur Abschrekkung, nicht etwa zum Einsatz oder als Zwangsmittel bestimmt sind, daß die Regierung nicht der Meinung ist, ein Kernwaffen-krieg könne gewonnen werden, und nicht beabsichtige, einen begrenzten Kernwaffenkrieg in Europa zu führen. Andererseits enthalten sie eine Reihe von Formulierungen, die zu inneramerikanischen Kontroversen, aber auch zur Besorgnis bei den europäischen Bündnispartnern geführt haben.

So wurde Verteidigungsminister Weinberger vorgeworfen, er widerspreche sich selbst, wenn er einerseits betone, er sei der Meinung, ein Kernwaffenkrieg könne nicht gewonnen werden, in anderen Erklärungen jedoch fordere, im Fall eines Versagens der Abschreckung müßten die Vereinigten Staaten fähig sein, in einem Kernwaffenkrieg die Oberhand zu behalten („to prevail")

Der letzte Jahresbericht des Verteidigungsministers Weinberger drückt sich in dieser Frage vorsichtiger aus. Er spricht lediglich davon, daß ein Konflikt im Falle des Versagens der Abschreckung mit möglichst wenig Gewaltanwendung beendet und die Abschrekkung wiederhergestellt werden müsse. Andererseits relativiert Weinberger seine Feststellung in bezug auf die Gewinnbarkeit eines Kernwaffenkrieges dadurch, daß er fordert, auch die Sowjetunion müsse dazu gebracht werden, dies zu begreifen. Hierzu ist, nach Auffassung Weinbergers, ein strategisches Potential erforderlich, das nicht nur sicherstellt, daß der Sowjetunion alle denkbaren Ziele einer nuklearen Aggression verwehrt werden können, sondern das darüber hinaus auch die Möglichkeit enthält, diejenigen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Werte der Sowjetunion zu zerstören, die sie am höchsten einschätzt

Leider tragen diese Ausführungen zur Klärung der amerikanischen strategischen Doktrin kaum etwas bei: So bleibt unklar, was mit der Forderung gemeint ist, die Vereinigten Staaten müßten in der Lage sein, im Fall eines Versagens der Abschreckung der Sowjetunion alle denkbaren Ziele einer nuklearen Aggression zu verwehren. Für die Interpretation dieser Aussage kommt es darauf an, an welche Kategorie von „Zielen" hier gedacht ist. Der Bericht selbst weist darauf hin, daß auch die Zerstörung politischer, militärischer und wirtschaftlicher Werte ein militärisches Ziel darstellen kann. Es gibt in der gegenwärtigen strategischen Situation jedoch bekanntlich keine Mittel, die Zerstörung solcher Ziele durch strategische Kernwaffensysteme zu verhindern. Will man diesen Satz nicht als Ankündigung langfristiger Raketenabwehrpläne auffassen, und dafür bedürfte es wohl mehr als eines so versteckten Hinweises, dann muß er sich auf politische Ziele beziehen. Um dem Gegner die Durchsetzung „vernünftiger" politischer Ziele durch eine Aggression zu verwehren, genügt im Prinzip aber schon die Möglichkeit einer „gesicherten Vergeltung", da eine sinnvolle politische Zielsetzung die unter dieser Strategie angedrohten Schäden nicht in Kauf nehmen kann. Von einer Abschreckungspolitik dieser Art distanziert sich der Bericht jedoch ausdrücklich. Angesichts solcher Unklarheiten kann man es kaum als böswillig bezeichnen, wenn Gegner der amerikanischen strategischen Politik in diesen Äußerungen die Forderung nach der klassischen Verteidigungsoption sehen. Dem Gegner mögliche Ziele einer Aggression zu verwehren, wurde schon immer als wichtigste Aufgabe militärischer Verteidigung betrachtet. Im übrigen sind die Forderungen, die aus der Unterstellung abgeleitet werden, die Gegenseite betrachte einen Kernwaffenkrieg als gewinnbar, so weitgehend, daß der Verdacht naheliegt, es handele sich hier um eine „Projektion", d. h.der Gegenseite würden die eigenen Motive unterstellt.

Aber auch die übrigen Teile der Jahresberichte sind kaum präziser. So trägt beispielsweise die Forderung, die Vereinigten Staaten müßten die Möglichkeit haben, diejenigen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Werte der Gegenseite zu zerstören, die von der Sowjetunion am höchsten eingeschätzt werden, kaum zur Definition der amerikanischen strategischen Zielplanung bei, denn der amerikanische SIOP (Single Integrated Operation Plan) umfaßte seit jeher politische, militärische und wirtschaftliche Zielkategorien. Schon Ende der siebziger Jahre wurden dem damaligen SIOP einige Optionen hinzugefügt, die der Administration bessere Möglichkeiten geben sollten, „politische" Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen, indem etwa durch die Bedrohung der sowjetischen Lebensmittelversorgung oder sowjetischer Truppen im Fernen Osten besondere sowjetische Ängste berücksichtigt werden konnten

Was die Haltung zur Rüstungskontrolle betraf, ließen sich innerhalb der Administration anfangs drei „Denkschulen" unterscheiden.

Ein Teil der mit Rüstungsaufgaben befaßten Mitarbeiter der Reagan-Administration — vor allem innerhalb des Pentagons — wollte sich auf Verhandlungen mit der Sowjetunion erst einlassen, nachdem es gelungen war, wieder eine Situation militärischer Überlegenheit gegenüber der Sowjetunion herzustellen.

Eine zweite Gruppe war bereit, in Verhandlungen einzutreten, sobald die Amerikaner ihre Entschlossenheit zur stärkeren Rüstung unter Beweis gestellt hätten, doch räumte sie der Rüstungskontrolle insgesamt nur eine geringe Bedeutung ein. Eine dritte, vor allem im Außenministerium vertretene Gruppe war an einer Fortsetzung des Rüstungskontrollprozesses trotz kritischer Haltung gegenüber den vorher erzielten Ergebnissen interessiert. Es ist heute noch nicht sicher zu beurteilen, ob die Tatsache, daß sich Präsident Reagan zur Fortsetzung der strategischen Rüstungskontrollverhandlungen sowie zur Eröffnung neuer Verhandlungen über Mittelstreckenraketen, nicht zuletzt auf Druck seiner europäischen Bündnispartner, bereit fand, auf die Durchsetzung der zweiten oder der dritten Denkschule hinweist.

In diesem Zusammenhang wurde eine Reihe von „Grundsätzen" der amerikanischen Rüstungskontrollpolitik bekanntgegeben: Zunächst sollte der Stellenwert, den die Rüstungskontrolle bisher angeblich in der amerikanischen Außen-und Sicherheitspolitik innehatte, reduziert werden. Die Verteidigungspolitik sollte wieder eindeutigen Vorrang vor der Rüstungskontrolle erhalten. Es wurde für notwendig gehalten, neue Kriterien für Reduzierungs-oder Begrenzungsvereinbarungen zu entwickeln, um den militärischen Bedürfnissen besser Rechnung tragen zu können. Statt auf die Anzahl der Abschußanlagen sollte beispielsweise auf die der Gefechts-köpfe abgestellt oder die Nutzlast der Träger-mittel begrenzt werden. Auch gab die Regierung bekannt, daß sie der Verifizierbarkeit von Rüstungskontrollabkommen größere Aufmerksamkeit widmen wolle. Schließlich wurde betont, daß es um die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen im ganzen gehe, in denen die Rüstungskontrolle nur einen Teilbereich bilde. Die Verhandlungen setzten daher eine gewiße Zurückhaltung der Sowjetunion in anderen Bereichen voraus (Junktim-Politik). Um den neuen Ansatz herauszuheben, wurden sie in START (Strategie Arms Reduction Talks) umbenannt.

Zur amerikanischen Verhandlungsposition wurde erklärt, die Vereinigten Staaten strebten eine phasenweise Reduktion der strategischen Kernwaffensysteme an. In einer ersten Reduzierungsphase solle die Anzahl der Gefechtsköpfe auf ballistischen Raketen um mindestens ein Drittel auf gleiche Höchstwerte reduziert werden. Von den verbleibenden Systemen sollten nicht mehr als 50 % auf landgestützten ICBM (Intercontinental Ballistic Missiles) montiert sein. In einer zweiten Phase sollten gleiche Höchstgrenzen für andere Elemente der strategischen Streitkräfte beider Seiten vereinbart werden, einschließlich Höchstgrenzen für die jeweilige Gesamtnutzlast der strategischen Trägermittel beider Seiten, die niedriger festgesetzt werden sollten als die gegenwärtige Nutzlast des amerikanischen Potentials Inzwischen wurden zahlreiche Spezifizierungen, Änderungen und Ergänzungen dieser Grundposition angekündigt, insbesondere wurde vorgeschlagen, beide Seiten sollten jeweils bei der Einführung neuer nuklearer Gefechtsköpfe eine größere Anzahl alter Gefechtsköpfe zerstören. Auf diese Vorschläge soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden, zumal sie an der Grundstruktur der amerikanischen Verhandlungsposition wenig verändern.

Insgesamt macht die deklaratorische strategische Politik der Reagan-Administration den Eindruck, als sei sie in erster Linie dazu bestimmt, Befürchtungen der Bündnispartner zu zerstreuen und Kritiker in den Vereinigten Staaten und in Europa zu belehren. Paradoxerweise wurden die Befürchtungen der Bündnispartner hierdurch eher verstärkt, denn mangels präziser strategischer Leitlinien mußten sich die europäischen Staaten bei der Beurteilung der „tatsächlichen" strategischen Politik der Reagan-Administration, vor allem ihrer Rüstungspolitik, an den allgemeinen außen-und sicherheitspolitischen Äußerungen der neuen Administration orientieren. Da die Regierung Reagan offenbar glaubte, ihre Rüstungspolitik nicht ohne eine pauschale anti-sowjetische Orientierung mit einem deutlich militanten Akzent durchsetzen zu können, besteht bei den Bündnispartnern die Neigung, auch die strategische Politik Reagans als aggressiv und militant einzustufen. Zusätzliche Hinweise auf die strategische Politik der Reagan-Administration finden sich jedoch an anderer Stelle: Aufgrund des Widerstands im Kongreß gegen das MX-Programm der Regierung befürwortete Präsident Reagan die Errichtung einer „neutralen" Gutachtergruppe, die von dem ehemaligen nationalen Sicherheitsberater Brent Scowcroft geleitet wurde, und der hochgestellte sicherheitspolitische Experten unterschiedlicher politischer Orientierungen angehörten. Die im April 1983 veröffentlichten Empfehlungen dieser Kommission, die sich Präsident Reagan in einer Erklärung vom 19. April 1983 zu eigen machte, haben u. a. zu einer Modifizierung der amerikanischen Verhandlungsvorschläge geführt. Sie können gegenwärtig mit gewissen Einschränkungen als zuverlässigste Leitlinie im Nebel der strategischen Politik der Reagan-Administration dienen.

Der Bericht stellt die Wirksamkeit der nuklearen Abschreckung als Ziel der strategischen Politik in den Vordergrund. Nach Auffassung der Kommission sind hierfür folgende Voraussetzungen erforderlich:

— der Wille und die Fähigkeit, auch im Fall eines massiven konventionellen Angriffs der Sowjetunion mit dem gesamten militärischen Potential einschließlich der Kernwaffen zurückzuschlagen, — die Fähigkeit, notfalls auch einen begrenzten Kernwaffenkrieg zu führen, — die Fähigkeit, diejenigen sowjetischen Ziele zu bedrohen, die von der sowjetischen Führung für besonders wichtig gehalten wer-den und den Kern sowjetischer Militärmacht darstellen, — die Fähigkeit, gehärtete oder ungehärtete militärische Ziele der Gegenseite zu zerstören, und zwar im gleichen Umfang wie umgekehrt das strategische Potential der Sowjetunion diese Fähigkeit besitzt.

Rüstungskontrolle soll nach Auffassung der Kommission einerseits zur Wirksamkeit der Abschreckung beitragen, und zwar dadurch, daß sie die Modernisierung der strategischen Rüstung auf längere Sicht in Richtung auf einen Zustand größerer Stabilität (im Sinne von Krisenstabilität) steuert, und andererseits quantitative Reduktionen ermöglichen. Größere strategische Stabilität soll vor allem durch die Aufstellung von strategischen Waffen erreicht werden, die den Wert des einzelnen Ziels verringert (Dispersion). Hierbei wird vor allem an die Entwicklung einer kleinen ICBM mit Einzelgefechtskopf gedacht („Midgetman"). Die Rüstungskontrolle soll solche Entwicklungen auf längere Sicht unterstützen, indem beispielsweise bei Reduzierungs-oder Begrenzungsvereinbarungen nicht mehr auf die Anzahl der Startanlagen (launcher), sondern auf die der Gefechtsköpfe abgestellt wird.

In der von der Kommission entwickelten Konzeption hat Rüstungskontrolle ihren Platz, doch ist sie dem Ziel der wirksamen Abschreckung untergeordnet. Wirksame Abschreckung aber wird an Voraussetzungen geknüpft, die dem Stabilisierungsziel der Rüstungskontrolle widersprechen, z. B. die Vorbereitung auf einen begrenzten Kernwaffen-krieg und die Entwicklung einer Counter-Force-Fähigkeit. Mit anderen Worten: Es werden zunächst im Interesse wirksamer Abschreckung destabilisierende Entwicklungen bewußt in Kauf genommen, die dann auf längere Sicht durch Rüstungskontrolle wieder gemildert werden sollen.

II. Das Problem der Verwundbarkeit landgestützter ICBM

Obwohl die drastische Steigerung des Verteidigungsetats die Regierung in die Lage versetzte, militärische Programme auf einer sehr breiten Front zu fördern, war es offensichtlich, daß nicht alle sicherheitspolitischen Probleme, welche die neue Administration zu sehen glaubte, auf diese Weise gelöst werden konnten.

Als vordringlich erwies sich im strategischen Bereich das Problem der Verwundbarkeit landgestützter ICBM. Aufgrund der technologischen Entwicklung in den Vereinigten Staaten und nach der Analyse sowjetischer Raketentests in den Jahren 1977/78 hatte sich in der amerikanischen Regierung die Überzeugung durchgesetzt, daß der bisher unterstellte amerikanische Vorsprung bei der Treffgenauigkeit strategischer Trägermittel weitgehend verlorengegangen war und daß spätestens Mitte der achtziger Jahre mit einer bedrohlichen Counter-Force-Fähigkeit der sowjetischen landgestützten ICBM gerechnet werden müsse. Das Problem mußte sich verschärfen, wenn die neue Regierung, um ihrem Vorsatz gemäß mit der angenommenen sowjetischen Counter-Force-Fähigkeit gleichzuziehen, die Entwicklung der amerikanischen MX-Rakete beschleunigen würde, die von ihr ironischerweise „Peacekeeper" getauft wurde. Denn die MX-Rakete wäre mit ihren zehn Gefechtsköpfen, die eine sehr hohe Treffgenauigkeit haben sollen nicht zuletzt gerade wegen ihrer hohen Counter-Force-Fähigkeit ein besonders „lohnendes" Ziel für sowjetische Angriffe und könnte damit eine Destabilisierung der strategischen Situation bewirken. Grundsätzlich wurden drei Möglichkeiten für eine Lösung des Problems der Verwundbarkeit erwogen:

1. Entwicklung neuer Stationierungsformen für landgestützte Interkontinentalraketen, 2.der Übergang zu einer Taktik des „Launchon-Warning", d. h. eines Starts der landgestützten ICBM bei Vorliegen zuverlässiger Informationen über einen gegnerischen Counter-Force-Angriff, und 3. die Verteidigung der ICBM-Stellungen durch Raketenabwehrsysteme. * 1. Stationierungsformen für neue ICBM Besondere Anstrengungen wurden unternommen, eine neue, sichere Form der Stationierung zu entwickeln. Das gegen Ende der Regierung Carter befürwortete MAP-System (Multiple-Aim-Point-System), das ursprünglich vorsah, die geplanten 200 MX-Raketen in einem System von insgesamt 4 600 leicht verbunkerten Stellungen auf staatlichen Wüstengebieten im Südwesten der USA unterzubringen, die so weit voneinander entfernt sein sollten, daß von einem Gefechtskopf nicht mehr als eine Stellung zerstört werden könnte wurde von der Reagan-Administration vor allem aus zwei Gründen abgelehnt: Das MAP-System erhöht zwar die Anzahl der Ziele, die der Gegner zerstören muß, wenn er die landgestützten ICBM der Vereinigten Staaten ausschalten möchte. Mit wachsender Treffgenauigkeit könnte es aber für die Sowjetunion möglich werden, die Vermehrung der Ziele durch eine entsprechende Erhöhung der Anzahl der Gefechtsköpfe pro Rakete zu kompensieren, und das möglicherweise kostengünstiger. Außerdem hatte sich herausgestellt, daß ein MAP-System eine sehr große Fläche benötigen würde und wegen seiner sozioökonomischen und ökologischen Auswirkungen politisch schwer durchsetzbar schien.

Die Reagan-Administration entschied sich daher für das sogenannte Dense-Pack-System, das die Stationierung der MX-Raketen in verhältnismäßig dicht beieinander liegenden extrem gehärteten Stellungen vorsah Den Vorteil dieser Form der Stationierung sieht sie darin, daß im Fall eines Angriffs auf die Stellung mit mehreren Gefechtsköpfen die erste Explosion später eintreffende Gefechts-köpfe zerstören würde („fratrizide-Effekt"). Auf diese Weise würde wenigstens ein Teil der angegriffenen Raketen überleben Außerdem ließe sich das System vermutlich politisch leichter durchsetzen, da es kompakter wäre als MAPs und im Falle einer Zunahme der Bedrohung entsprechend der Idee des

MAP-Systems durch leere Kapseln ergänzt werden könnte. Schließlich böte es günstige Voraussetzungen für eine Kombination mit Raketenabwehrsystemen, die für eine Verteidigung in geringen Höhen vorgesehen sind (Loads/Low Altitude Defense System).

Bisher ist es der Regierung noch nicht gelungen, dieses Programm in der Öffentlichkeit und im Kongreß durchzusetzen. Der Grund hierfür muß darin gesehen werden, daß die für den „fratrizide-Effekt“ verursachenden Vorgänge im einzelnen noch nicht hinreichend bekannt und bei der extremen Härtung von Raketen-Silos noch zahlreiche Probleme offen sind. Aufgrund dieser Schwierigkeiten veranlaßte Präsident Reagan die Bildung der bereits erwähnten Scowcroft-Kommission, deren veröffentlichte Empfehlungen ein Bündel von Maßnahmen im Bereich der Rüstungsund Rüstungskontrollpolitik vorsahen

Hinter diesen Vorschlägen steht die Vorstellung, daß sich die Kriegsgefahr erhöht, wenn in einer Krisensituation eine Seite oder beide Seiten mit einem Vorteil durch den Einsatz ihres militärischen Potentials rechnen können. Eine solche Situation ist insbesondere dann gegeben, wenn beide Seiten die Fähigkeit besitzen, durch den Einsatz strategischer Waffen gegen militärische Einrichtungen der Gegenseite dieser mehr oder wertvollere militärische Handlungsmöglichkeiten (Optionen) zu nehmen, als sie selbst durch den Einsatz aufgeben („Krisenstabilität"). Um Stabilität zu erreichen, kommt es danach also darauf an, das strategische Potential so aufzustellen, daß jedes mögliche Ziel einen geringeren strategischen Wert besitzt als die zu seiner Zerstörung erforderliche Waffe.

Wenn jede strategische Rakete der Vereinigten Staaten lediglich mit einem Gefechtskopf ausgerüstet wäre, könnte sie, da zu ihrer Zerstörung immer mindestens ein nuklearer Gefechtskopf eingesetzt werden muß, in der Regel kein „lohnendes" Ziel darstellen. Das gilt jedoch nicht ausnahmslos. So sind Situationen vorstellbar, in denen die mit Einzelgefechtskopf ausgerüstete Rakete einen höheren strategischen Wert darstellt, als der sie angreifende Gefechtskopf — etwa wenn die Gegenseite über eine sehr viel größere Zahl von Gefechtsköpfen verfügt oder wenn es für die eigenen ICBM bessere Einsatzmöglichkeiten gibt.

Die Vereinigten Staaten könnten daher auch dann nicht vollständig auf den Schutz ihrer landgestützten Raketen verzichten, wenn es sich ausschließlich um Midgetman-Raketen handelte; doch ließe sich bei diesen Waffen ein Verwundbarkeitsproblem deshalb verhältnismäßig einfach lösen, weil sie aufgrund ihres geringeren Gewichts mobil aufgestellt werden könnten. Es sprechen viele Gründe für die Annahme, daß bei weiter steigender Treffgenauigkeit und verbesserten Aufklärungsmöglichkeiten im strategischen Bereich die Verwundbarkeit nur durch Mobilisierung auf ein akzeptables Maß reduziert werden kann. Insoweit haben die Leitlinien der Kommission auch außerhalb der Administration sowie in Europa weitgehende Zustimmung gefunden.

Problematisch sind allerdings die Empfehlungen, soweit sie sich auf die MX-Rakete beziehen, denn das durch die Stationierung dieses Waffensystems entstehende Stabilitätsproblem wird durch die Beschränkung auf 100 Stück nicht verringert, sondern weiter verschärft. Die offenbar vorgesehene Härtung der für die MX bestimmten Titan-und Minuteman-Silos kann das Problem nur sehr geringfügig mildern und ist gemessen an der Wirksamkeit verhältnismäßig kostspielig.

Die für diese Vorschläge geltend gemachten Gründe sind überwiegend politischer Natur. Sie passen in den von der Reagan-Administration gesetzten politischen Rahmen der amerikanischen Verteidigungspolitik, aber sie überzeugen im einzelnen weit weniger als die für das Midgetman-Programm und die Rüstungskontrollkonzeption angeführten Argumente. Die Behauptung, die Sowjetunion lasse sich, da sie als erste eine strategische Counter-Force-Fähigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten aufgebaut habe, auch nur durch eine entsprechende amerikanische Counter-Force-Fähigkeit abschrecken, ist historisch nicht sicher zu belegen. Und selbst wenn man sie ohne historische Rechtfertigung als plausibel anerkennen würde, erschiene es zweifelhaft, ob man im Interesse einer Perfektionierung der Abschreckung eine erhebliche Destabilisierung im Krisenfall in Kauf nehmen sollte. Auch stellt sich die Frage, ob die MX-Rakete, sollten die im amerikanischen Schrifttum zu findenden Angaben über ihre Treffgenauigkeit tatsächlich zutreffen, nicht eine Überreaktion auf die Counter-Force-Fähigkeit der Gegenseite darstellt, zumal auch das bereits im Aufbau befindliche see-, land-und luftgestützte Potential an Marschflugkörpern gegen unbewegliche militärische Ziele eingesetzt werden kann und die gegenwärtig entwickelte Trident II (D-5) eine beträchtliche Counter-Force-Fähigkeit besitzen soll.

Die vorgesehene Härtung der Titan-und Minuteman-Silos, in denen die MX-Rakete untergebracht werden soll, wäre jedenfalls dann problematisch, wenn die Treffgenauigkeit der sowjetischen ICBM tatsächlich so hoch wäre, wie nach den Tests von 1977/78 vielfach angenommen wurde. Wenn die Stationierung der MX-Rakete schließlich mit dem Argument begründet wird, man müsse die Entschlossenheit und den Willen demonstrieren, den sowjetischen Ansprüchen auf militärische Überlegenheit entgegenzutreten, dann muß gefragt werden, ob Entschlossenheit nicht auch, und vielleicht sogar wirksamer, mit dem sinn-volleren Midgetman-Programm allein hätte bewiesen werden können. Da die Empfehlungen der Kommission im übrigen eindeutig am Ziel der Krisenstabilität orientiert sind, muß dieser Teil, der ein erhebliches Maß an Instabilität in Kauf nimmt, den Eindruck erwecken, hier habe die Kommission vor den in das MX-Projekt investierten bürokratischen und wirtschaftlichen Interessen kapituliert.

Da die Stationierung der MX-Rakete in Titan-oder Minuteman-Silos als Übergangslösung gedacht ist, werden die Bemühungen fortgesetzt, auch für die MX-Rakete eine weniger verwundbare Stationierungsform zu finden. Neben dem „Dense-Pack-System" werden gegenwärtig dem Vernehmen nach vor allem zwei weitere Optionen untersucht:

a) Die Stationierung in großen, speziell für diesen Zweck konstruierten Langstrecken-flugzeugen, von denen immer einige außerhalb des Luftraums der Vereinigten Staaten über dem freien Meer patroullieren sollen, sowie

b) die Stationierung in sehr tiefliegenden unterirdischen Stellungen, möglicherweise mit mehreren, weit voneinander entfernten Ausgängen. Wie auch immer diese Untersuchungen ausgehen werden, die Kosten für eine weniger verwundbare Stationierung werden vermutlich so hoch sein, daß sich, wenn die gegenwärtige Grundstimmung anhält, der schon jetzt spürbare politische Druck zur Entwicklung defensiver Optionen verstärken wird. 2. Verwundbarkeitsreduktion durch „Launch On Warning"

Eine „Launch-On-Warning'-Taktik wurde und wird z. T. auch heute noch geradezu als Musterbeispiel einer instabilen strategischen Situation angesehen. Fehlalarme sind nicht mit völliger Sicherheit auszuschließen. Die Zeit, die für eine sorgfältige Bewertung des gemeldeten Angriffs zur Verfügung stünde, wäre außerordentlich kurz, ein Abbruch oder eine Begrenzung des einmal in Bewegung gesetzten Gegenangriffs nicht mehr möglich. Trotz wachsender Verwundbarkeit der amerikanischen landgestützten ICBM wurde daher bisher allenfalls ein „Launch-Under-Attack", d. h. ein Start eigener ICBM während des tatsächlichen gegnerischen Angriffs in Betracht gezogen. Vorher ging man davon aus, daß die andere Seite selbst im Fall eines umfassenden Angriffs auf das gesamte landgestützte Potential nicht in der Lage wäre, diesen so zu koordinieren, daß die amerikanischen ICBM mit einem Schlag zerstört werden könnten. Vielmehr würde ein solcher Angriff eine gewisse Zeit erfordern, die ausreichen müßte, einen Teil des amerikanischen Potentials nach Detonation der ersten gegnerischen Gefechts-köpfe zu starten. Auf diese Weise stünde mehr Zeit zur Verfügung, als im Fall eines „Launch-On-Warning", und ein falscher Alarm wäre ausgeschlossen.

Wenn heute die Möglichkeit eines „LaunchOn-Warning“ wieder ernsthaft diskutiert wird, dann hat das vor allem zwei Gründe: Einmal ist die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der strategischen Frühwarneinrichtungen soweit gesteigert worden, daß, nach Ansicht amerikanischer Militärs, die Gefahr eines Fehlalarms so gut wie ausgeschlossen erscheint. Zum anderen böte die MX-Rakete theoretisch die Möglichkeit, einen auf diese Weise begonnenen Gegenangriff wieder abzublasen, indem die Gefechtsköpfe der MX-Raketen zunächst in eine stationäre Erdumlaufbahn geschossen würden, von wo aus sie entweder nach Bestätigung des Angriffs auf ihre Ziele gelenkt oder unschädlich zur Erde zurückgeholt würden. Ob ein solches Verfahren unter den empirisch weitgehend unbekannten Bedingungen eines Kernwaffenkrieges mit der nötigen absoluten Zuverlässigkeit funktionieren würde, muß bezweifelt werden. Man kann nur hoffen, daß es sich hier lediglich um eine Gedankenspielerei handelt, zumal gegenwärtig offenbar ohnehin die Neigung besteht, das Problem der Verwundbarkeit landgestützter ICBM für die nähere Zukunft wieder zu relativieren. 3. Entwicklung von Raketenabwehrsystemen Angesichts der bisher unüberwindlichen Probleme, die einer „sicheren" Stationierung landgestützter ICBM im Wege stehen und der hohen Risiken einer „Launch-OnWarning-Taktik" scheinen die Befürworter der Entwicklung eines Raketenabwehrsystems in den Vereinigten Staaten, trotz des ABM-Vertrages von 1972, an Boden zu gewinnen. Die Reagan-Administration hat die für Forschung und Entwicklung im Bereich der Raketenabwehr bereitgestellten Mittel erhöht und die Scowcroft-Kommission setzte sich mit großem Nachdruck für eine Ausweitung dieses Programms ein. Diese Tendenzen werden sich vermutlich weiter dadurch verstärken, weil Präsident Reagan sich in seiner Rede vom März 1983 die Vision eines primär auf defensive Systeme gestützten strategischen Potentials zu eigen machte. Der ABM-Vertrag wird dabei nicht als rechtliches Hindernis angesehen, einmal weil man geltend macht, es müsse möglich sein, sich in Fragen, die wie der ABM-Vertrag den Kernbereich staatlicher Sicherheit betreffen, notfalls auf veränderte Umstände (clausula rebus sic stantibus) zu berufen, und weil die Vereinigten Staaten die Gültigkeit des Vertrages schon bei seiner Unterzeichnung davon abhängig gemacht hätten, daß es später zu einer Vereinbarung über die Begrenzung der offensiven Rüstung komme. Eine solche Vereinbarung sei bisher aber nicht erzielt worden.

Mit der Vorstellung eines fast undurchdringlichen Raketenabwehrsystems, die an Unverwundbarkeitsmythen anknüpft, wollte Präsident Reagan der amerikanischen strategischen Politik in erster Linie wohl eine langfristig konsensfähige Perspektive geben und die Amerikaner nach dem Vorbild des Mondlandungsprogramms Präsident Kennedys zu einer großen technischen Anstrengung aufrufen. Wie ein derartiges Abwehrsystem aussehen könnte, darüber gibt es bisher nur verhältnismäßig vage Vorstellungen. Die von der Reagan-Administration einberufene Studien-gruppe für defensive Technologien (Defensive Technologies Study Team) unter Leitung von C. Fletcher hat hierzu zunächst ein verhältnismäßig weitgespanntes Forschungsprogramm empfohlen, in dem noch Prioritäten festgelegt werden müssen.

Ein wirksames Abwehrsystem müßte vermutlich mindestens dreistufig ausgebaut sein. Auf der ersten Stufe könnte der Versuch gemacht werden, angreifende Raketen bereits in der Startphase zu zerstören. In gewisser Weise sind die Voraussetzungen für eine wirksame Abwehr in dieser Phase verhältnismäßig günstig, vor allem, weil die von den Triebwerken ausgehende Strahlung die Ortung und Verfolgung der angreifenden Raketen erleichtert und weil die einzelnen Gefechtsköpfe, Eindringhilfen usw. noch nicht voneinander getrennt sind. Da andererseits der für die Abwehr zur Verfügung stehende Zeitraum sehr kurz und die zu überbrückenden Entfernungen groß wären, sind die technischen Anforderungen für eine wirksame Abwehr auf dieser Stufe außerordentlich hoch. In Betracht gezogen werden u. a. raumgestützte Röntgen-laser, die von „kleinen" Kernexplosionen angetrieben werden, aber auch optische oder kinetische Systeme.

Auf der zweiten Stufe wäre eine Abwehr nach der Startphase auf dem außerhalb der Atmosphäre verlaufenden Teil der Flugbahn denkbar. Hierfür stünde mehr Zeit zur Verfügung, und die zu überbrückenden Entfernungen wären u. U. geringer. Doch würde die Zielerfassung und die Verfolgung erhebliche Probleme bereiten, weil die angreifenden Gefechtsköpfe hier bereits getrennt wären und in einer Wolke von Eindringhilfen, Teilen der Trägerraketen usw. schwer zu erkennen wären. Doch ist es heute immerhin vorstellbar, daß sich dieses Problem durch die Kombination vieler in verschiedenen Wellenbereichen arbeitender raumgestützter Sensoren mit leistungsfähigen Rechenanlagen oder durch riesige im Gigaherzbereich arbeitende Radaranlagen auf geostationärer Umlaufbahn lösen läßt. Als Abwehrmittel kämen hier u. a. weltraumgestützte optische Systeme mit chemischen Lasern, kinetische Systeme, vielleicht aber auch neutrale Teilchenstrahlen oder bodengestützte Systeme in Frage.

Schließlich könnten angreifende Gefechts-köpfe auf der dritten Abwehrstufe nach Eintritt in die Erdatmosphäre bekämpft werden. Durch die Luftreibung würden sich die Gefechtsköpfe in der Atmosphäre verhältnismäßig rasch von den sie begleitenden Eindringhilfen, Raketenteilen usw. trennen, so daß die Zielerfassung und die Verfolgung weit weniger Probleme aufwürfe als auf der zweiten Stufe. Verhältnismäßig kleine, bewegliche Radaranlagen würden hierfür angeblich ausreichen. Zur Abwehr könnten u. a. Abwehrraketen wie die im Zusammenhang mit früheren amerikanischen Plänen entwickelten Sprint-und Spartan-Raketen mit konventionellen Gefechtsköpfen und Zielsuchsystemen dienen. Wegen der kurzen Reichweite derartiger Systeme wäre hier kein die gesamte Fläche der Vereinigten Staaten abdeckendes Verteidigungssystem möglich. Es könnten jeweils lediglich eng beieinanderliegende Objekte (Bevölkerungszentren, wirtschaftliche oder militärische Einrichtungen) geschützt werden.

Bis auf die für die dritte Stufe vorgesehenen Systeme beruhen alle diese Pläne auf Technologien, die zwar als möglich erkennbar sind, deren technische und politische Realisierbarkeit jedoch keineswegs als gesichert angesehen werden kann und deren Entwicklungszeit heute noch nicht absehbar ist (von der Kostenwirksamkeit ganz zu schweigen). So hat es beispielsweise den Anschein, als würden die Spekulationen über den Entwicklungsstand des Röntgenlasers vor allem durch den extrem hohen Geheimhaltungsgrad angefacht. Mehr als daß das Prinzip inzwischen experimentell bestätigt zu sein scheint, ist aus den an die Öffentlichkeit gelangten Informationen kaum zu entnehmen. Die vorhandenen Beschreibungen eines auf diesem Prinzip beruhenden Raketenabwehrsystems klingen noch immer mehr nach Science Fiction als nach ernsthafter Entwicklungsarbeit.

Für einzelne Komponenten der zweiten Stufe gibt es offenbar bereits konkretere Planungen, doch liegen auch hier die für ein wirksames System benötigten technischen Daten (Leistung des Lasers, Spiegelgröße, Steuerung) noch weit außerhalb dessen, was gegenwärtig als realisierbar angesehen wird, zumindest sobald simple Abwehrmaßnahmen, wie der Schutz durch spiegelnde oder Hitze ableitende Oberflächen sowie durch Rotation, in Betracht gezogen werden. Lediglich für die dritte Abwehrstufe stehen die erforderlichen Technologien im wesentlichen bereits heute zur Verfügung. Zur Verringerung der Verwundbarkeit landgestützter ICBM-Stellungen könnten Raketenabwehrsysteme daher im Prinzip schon heute aufgebaut werden.

Die Debatte über die Frage, ob die Vereinigten Staaten mit dem Bau eines Raketenabwehrsystems beginnen sollen, wird bislang noch kaum in der Öffentlichkeit geführt. Präsident Reagan hat erklärt, die Regierung werde ihre langfristigen Ziele auf diesem Gebiet im Rahmen der bestehenden vertraglichen Verpflichtungen halten. In der Administration und im akademischen Bereich scheint die Auseinandersetzung, sieht man von der Haltung zum ABM-Vertrag und von den andersartigen technischen Problemen einmal ab, weitgehend mit den gleichen strategischen und politischen Argumenten geführt zu werden wie die ABM-Debatte in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren. Doch hat sich die Grundstimmung seit jener Zeit deutlich verändert. Die Unterstützung für eine „reine" Abschreckungsdoktrin im Sinne etwa der „gesicherten Vergeltung" ist auch im akademischen Bereich merkbar schwächer geworden. Argumente, wie sie damals etwa von Donald Brennan zugunsten einer defensiven strategischen Posture ins Feld geführt wurden, dürften heute auf weit offenere Ohren stoßen als damals. Von den „klassischen “ Abschreckungsdoktrinen haben sich die Vereinigten Staaten in den vergangenen zehn Jahren so weit entfernt, daß eine Rückkehr nicht mehr möglich erscheint.

Dies muß keineswegs bedeuten, daß sich die Auffassung durchgesetzt hat, Kernwaffen-kriege könnten in einer sinnvollen Weise „gewonnen" werden oder es könne politische

Gründe geben, die einen Kernwaffenkrieg rechtfertigen. Abschreckung kann auch dann ein sinnvolles Konzept sein, wenn sie nicht allein auf die Fähigkeit gestützt ist, Bevölkerungszentren zu zerstören. Es gibt keine strategischen Gründe, die dagegen sprechen, die nukleare Abschreckung im Rahmen des technisch und wirtschaftlich Machbaren mit defensiven Optionen zu verstärken. Vor allem wäre es unsinnig, eine Destabilisierung der strategischen Situation in Kauf zu nehmen, nur um dem in Wirklichkeit schon lange aufgegebenen Dogma „reiner" nuklearer Abschreckung gerecht zu werden.

Bedenken erweckt die Rede Präsident Reagans vom März 1983 nicht deshalb, weil sie auf defensive strategische Möglichkeiten verweist, sondern weil sie den gefährlichen Mythos der Unverwundbarkeit beschwört und, anstatt den Blick auf die politischen Probleme der Vereinigten Staaten zu lenken, die alte amerikanische Hoffnung wieder zum Leben erweckt, die sicherheitspolitischen Probleme ließen sich ein für alle Male durch ein großes technologisches Vorhaben beseitigen. Das Problem liegt weniger darin, daß hier von politischer Seite „Star-Wars-Visionen" ausgemalt werden, ohne Gewähr dafür, daß die Techniker wirklich in der Lage sind, sie zu realisieren, als vielmehr in der Verschleierung der Tatsache, daß sich die sicherheitspolitische Situation der Vereinigten Staaten weiter verschlechtern wird, wenn die amerikanische Regierung nicht bereit ist, an den politischen Problemen mit politischen Mitteln weiterzuarbeiten.

III. Strategische Rüstungsentwicklung und Rüstungskontrolle

Die Rüstungsentscheidungen der Reagan-Administration in anderen Bereichen der strategischen Triade haben weniger öffentliches Aufsehen erregt, obwohl die für die see-und luftgestützten Streitkräfte beantragten Mittel etwa in der gleichen Höhe lagen wie die für die landgestützten ICBM. Doch folgte die amerikanische Regierung hier im großen und ganzen dem bereits von früheren Regierungen eingeschlagenen Kurs. Nur an wenigen Stellen sind neue Akzente zu erkennen: 1. Das Führungs-und Fernmeldesystem (C 3)

Frühere Erklärungen der Reagan-Administration stimmen mit den Empfehlungen der Scowcroft-Kommission darin überein, daß dem Aufbau eines zuverlässigen und überlebensfähigen Führungs-und Fernmeldesystems (C 3 Command, Control) erste Priorität eingeräumt werden soll. Darin drückt sich einmal das wachsende Bewußtsein der Ver25 wundbarkeit des bestehenden C 3-Systems aus und zum anderen die Einsicht, daß ein zuverlässig funktionierendes Führungs-und Fernmeldesystem die notwendige Voraussetzung für eine Strategie bildet, die darauf abstellt, im Fall eines Versagens der Abschreckung „den Frieden unter günstigen Bedingungen wiederherzustellen, einen Angriff erfolgreich abzuwehren und das Ausmaß des Konflikts zu begrenzen"

Nach amerikanischen Studien würde schon ein begrenzter Einsatz von 50 bis 100 sowjetischen Kernwaffen gegen das amerikanische Führungs-und Fernmeldesystem die zentrale Kontrolle amerikanischer strategischer Reaktionen unmöglich machen Wenn diese Schätzungen zutreffen, dann handelt es sich hier um ein Problem, das weit schwerer wiegt als die durch die Verwundbarkeit der landgestützten ICBM entstandenen „Instabilitäten". Nach Auffassung von Steinbrunner muß jeder Einsatz von mehr als zehn Kernwaffen die Frage aufwerfen, ob es nicht sinnvoller ist, gleich das gesamte Spektrum gegnerischer Ziele anzugreifen, weil ein solcher Einsatz nach einem Angriff gegen die eigenen Führungseinrichtungen nicht mehr wirksam durchgeführt werden könnte. Er weist außerdem darauf hin, daß die von der Reagan-Administration in Angriff genommenen Maßnahmen zur Verringerung der Verwundbarkeit und zur Modernisierung des Führungsund Fernmeldesystems das Problem nur geringfügig mildern, nicht aber beseitigen können. Eine realistische Einschätzung dieser Schwierigkeiten müsse daher zu grundlegenden Veränderungen in der strategischen Politik der Vereinigten Staaten führen. Obwohl die amerikanische Administration diese Probleme offenbar zu sehen beginnt, sind prinzipielle Änderungen bisher nicht erkennbar.

Vielmehr enthält die gegenwärtige strategische Politik der Reagan-Administration eine Reihe von Elementen, die die von Steinbrunner angesprochenen Probleme eher verschärfen. Hierzu gehört in erster Linie die Stationierung der MX-Rakete in Titan-und Minuteman-Silos, aber ebenso die Stationierung der Pershing II in Europa, trotz der besonderen Verwundbarkeit gerade des europäischen Führungs-und Fernmeldesystems

Auch die Forderung des Verteidigungsministers Weinberger, die strategischen Streitkräfte müßten in die Lage versetzt werden, schon auf unklare Warnindikatoren zu reagieren, deutet auf eine Unterschätzung der Risiken hin, die angesichts der Verwundbarkeit des C 3-Systems mit einer Alarmierung der strategischen Streitkräfte verbunden sind. Trotz Festsetzung neuer Prioritäten in der deklaratorischen Politik erscheint die tatsächliche Rüstungspolitik und militärische Planung eher als Fortsetzung der bisherigen Politik. 2. Die Seestreitkräfte Im Bereich der seegestützten Streitkräfte folgen die Empfehlungen der Scowcroft-Kommission dem gleichen Konzept wie bei den landgestützten ICBM: Auf längere Sicht wird empfohlen, für den Fall, daß sich auch die strategischen U-Boote als verwundbar erweisen sollten, eine Stationierungsform zu entwickeln, bei der der strategische und wirtschaftliche Wert jedes einzelnen Ziels möglichst gering ist. Es soll also der Bau verhältnismäßig kleiner, mit nur wenigen SLBM bestückter U-Boote vorbereitet werden. Vorerst wird sich jedoch voraussichtlich die Verwundbarkeit der amerikanischen SLBM aufgrund des geringeren Geräuschpegels der Trident-U-Boote und mit der Ende der achtziger Jahre zu erwartenden Einführung der Trident II weiter verringern. Die größere Reichweite der Trident II erweitert den möglichen Operationsraum der Boote beträchtlich und verlagert ihn in Bereiche, die innerhalb des möglichen Wirkungsbereichs amerikanischer bodengestützter Luft-und Landstreitkräfte liegen und in denen sich deshalb die gegnerische U-Boot-Abwehr schwierigen Bedingungen gegenübersieht. Ob und wann es also zu der vorgeschlagenen Neuorientierung kommen wird, ist bisher noch nicht abzusehen. Aufgrund der geplanten hohen Treffgenauigkeit der Trident II wird es von Ende der achtziger Jahre an in sehr viel stärkerem Maße als bisher möglich sein, SLBM gegen die gleichen Zielkategorien und nach den gleichen strategischen Richtlinien einzusetzen wie die land-und luftgestützten Komponenten des strategischen Potentials der Vereinigten Staaten, wobei wegen der kürzeren Flugzeit der Verwendung gegen Ziele, die eine schnelle Bekämpfung erfordern (im Amerikanischen ist hierfür der Begriff „time urgent targets“ gebräuchlich), eine besondere Bedeutung zukommt. Es wird nach der Ein-Bführung der Trident II also nicht mehr möglich sein, die seegestützte Komponente eindeutig als „Vergeltungsstreitmacht 1'zu kennzeichnen, wenn auch SLBM (Sea Launched Ballistic Missiles) selbstverständlich weiter in dieser Funktion eingesetzt werden können.

Andererseits wird eine Einbeziehung der see-gestützten Komponente in eine Strategie der „Limited-Strategic-Options" oder der begrenzten nuklearen Kriegführung weiterhin nur in begrenztem Umfang in Frage kommen, da sich die Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit U-Booten auf absehbare Zeit nicht vollständig lösen lassen werden und das Problem der Verwundbarkeit der Boote nach Abschuß nur eines Teils der auf ihnen stationierten Raketen eher zunehmen wird. Die Stationierung von Marschflugkörpern auf U-Booten trägt zur Lösung dieser Probleme nicht wesentlich bei. 3. Die Luftstreitkräfte Bei den strategischen Luftstreitkräften hat die Reagan-Administration mit der Entscheidung für die Produktion des B-l B-Bombers die Entscheidung Präsident Carters revidiert, der zugunsten einer Ausrüstung des veralteten B-52-Bombers mit Marschflugkörpern auf den B-l-Bomber verzichten wollte. Gleichzeitig wird die Produktion luftgestützter Marschflugkörper (ALCM) und die Umrüstung des B-52 für den Einsatz von Marschflugkörpern fortgesetzt. Zwei Staffeln (Squadrons) des mit ALCM ausgerüsteten B-52 stehen nach Angaben der „Military Balance 83/84" bereits zur Verfügung. Da niemand erwartet hätte, daß sich die Lebensdauer des B-52-Bombers durch Einführung von Marschflugkörpern auf unbestimmte Zeit verlängern ließe, kann in der Entscheidung für den B-1BBomber kein grundlegender Kurswechsel gesehen werden.

Auf längere Sicht scheinen die Vereinigten Staaten in diesem Bereich auf die sogenannte „Stealth-Technologie" zu setzen, d. h. auf die Möglichkeit, den Radarquerschnitt eines Flugzeugs durch die Beschichtung mit Materialien, welche Radarstrahlen absorbieren, durch bauliche Maßnahmen oder andere Techniken zu verringern. Die hierbei im einzelnen angewandten Verfahren werden geheimgehalten. Es ist daher ohne klassifizierte Informationen kaum möglich, die Chancen dieser Technologien in Relation zu den Entwicklungsmöglichkeiten der Radarabwehrsysteme einzuschätzen. Die Frage wird auch da-27 durch kompliziert, daß die Verringerung des Radarquerschnitts offenbar mit Kompromissen bei den Flugdaten erkauft werden muß.

Die Entscheidung für den B-l B-Bomber trägt zunächst der Tatsache Rechnung, daß die Stealth-Technologie erst in den neunziger Jahren einsetzbar sein wird und die veralteten B-52-Bomber nicht mehr als ausreichend angesehen werden, die Wirksamkeit der luft-gestützten Komponente bis zu diesem Zeitpunkt zu garantieren. Sie ist, wenn man entsprechend der bisherigen strategischen Politik der Vereinigten Staaten vom Prinzip der Triade ausgeht, allenfalls auf der Basis eines Kosten/Nutzen-Kalküls zu kritisieren.

Da es schließlich noch fraglich scheint, in welchem Maß durch die Einführung von Stealth-Technologie die Eindringfähigkeit strategischer Bomber in den neunziger Jahren tatsächlich gewährleistet werden kann, läßt sich auch die Fortführung des ALCM-Programms, trotz der Einführung des B-l B-Bombers, rechtfertigen. Allerdings tragen die scheinbare Inkonsequenz dieser Entscheidung ebenso wie die enormen Kosten des B-1BProgramms zum Gesamteindruck eines forcierten strategischen Rüstungsprogramms bei, dem es an klaren strategischen Prioritäten fehlt. 4. Optionen für Rüstungskontrolle im strategischen Bereich Trotz des gegenwärtigen Rückzugs der Sowjetunion aus den Rüstungskontrollverhandlungen mit den Vereinigten Staaten rechnen viele Amerikaner auf längere Sicht mit ihrer Rückkehr an den Verhandlungstisch. Die Erfolgsaussichten müssen allerdings, zumindest bis zu den amerikanischen Präsidentenwahlen, gering eingeschätzt werden.

Anders als bei SALT scheinen die Schwierigkeiten hier weniger in strategisch-technischen Details als in den politischen Rahmenbedingungen zu liegen. Zur drastischen Verschlechterung der politischen Atmosphäre zwischen den beiden Supermächten in den siebziger Jahren haben das massive sowjetische Rüstungsprogramm, das sowjetische Vorgehen in Afrika, im Nahen Osten und in Afghanistan und in jüngster Zeit der sowjetische Abschuß einer koreanischen Verkehrs-maschine zweifellos entscheidend beigetragen. Man wird aber auch die gegenwärtige amerikanische Rüstungspolitik nicht von dem Vorwurf freisprechen können, die entstandeB nen Probleme ihrerseits zu verschärfen. In seiner Gesamtheit vermittelt das amerikanische Rüstungsprogramm nicht den Eindruck von Zurückhaltung und Augenmaß, das für eine glaubhafte Rüstungskontrollpolitik erforderlich wäre.

Trotz der immer wieder von amerikanischer Seite vorgetragenen Behauptung, die Sowjetunion könne nur durch ein energisches Rüstungsprogramm, also von einer Position der Stärke aus, zu ernsthaften Verhandlungen veranlaßt werden, muß es heute fraglich erscheinen, ob Rüstungskontrolle mit einer Politik vereinbar ist, die — wie es fast in allen Reden Präsident Reagans oder Verteidigungsminister Weinbergers anklingt — sich selbst als geradezu heroischen Versuch auffaßt, in der Entwicklung des strategischen Kräfteverhältnisses zwischen den beiden Supermächten einen jahrzehntelangen Trend zugunsten der Sowjetunion zum Stillstand zu bringen oder sogar umzukehren. Möglicherweise läßt sich eine solche Politik nur durch eine so militante Rhetorik legitimieren, daß Zurückhaltung in der tatsächlichen Modernisierungspolitik selbst dann schwer durchzusetzen wäre, wenn sie den Intentionen der Regierung tatsächlich entspräche.

Wenn es unter diesen Voraussetzungen tatsächlich gelingen sollte, Fortschritte im Bereich der Rüstungskontrolle zu machen, dann wohl weniger in Richtung auf eine Stabilisierung als auf quantitative Begrenzungen oder Reduzierungen.

Substantielle Reduktionen wurden schon vor den Empfehlungen der Scowcroft-Kommission von Präsident Reagan als primäres Ziel der Rüstungskontrollverhandlungen angegeben. Die Kommission macht hierzu den Vorschlag, bei Reduzierungen nicht mehr — wie bisher — auf die Anzahl der Startanlagen, sondern auf die Anzahl der Gefechtsköpfe abzustellen. Damit soll eine mit früheren Reduzierungsvorschlägen verbundene typische Schwierigkeit vermieden werden, die darin liegt, daß sich im Fall einer Verringerung der Startanlagen auch die Chancen für den Gegner vergrößern würden, mit einem Counter-Force-Schlag einen signifikanten Teil davon zu zerstören, daß also die Krisenstabilität ab-nähme. Wenn dagegen die Anzahl der Gefechtsköpfe reduziert wird, könnte die Anzahl der Startanlagen gleichbleiben oder sogar vergrößert werden, wenn die Anzahl von Gefechtsköpfen pro Startanlage reduziert wird.

Da dem Gegner aber aufgrund der Reduktionen eine geringere Anzahl von Gefechtsköpfen zur Verfügung stünde, verringerten sich seine Chancen auf einen erfolgreichen Counter-Force-Angriff.

Der von der Kommission geforderte Anreiz, den Wert der individuellen strategischen Ziele zu verringern (Dispersion), geht allerdings nicht von dem Vorschlag aus, Gefechts-köpfe zu zählen, denn der Kostenvorteil von Mehrfachgefechtsköpfen bliebe erhalten. Er beruht vielmehr ausschließlich auf der Bedrohung durch den Gegner, also auf dessen Counter: Force-Fähigkeit. Der neue Zählmodus gibt lediglich eine Chance, die durch die Entwicklung der Counter-Force-Fähigkeit entstandenen Gefahren durch weitere Modernisierungsmaßnahmen wieder zu verringern.

Aber selbst wenn man der Meinung ist, daß die durch die wachsende Counter-Force-Fähigkeit beider Seiten entstandene Destabilisierung der strategischen Situation primär ein Produkt der sowjetischen Rüstungspolitik ist, weist der Vorschlag der Kommission Probleme auf. Vor allem zeigt er nicht auf, wie Abrüstungsvereinbarungen, die sich auf Gefechtsköpfe beziehen, verifiziert werden sollen. Der wesentliche Grund im Rahmen der SALT-Verhandlungen, auf Startanlagen und nicht auf Gefechtsköpfe abzustellen, lag gerade darin, daß sich zumindest stationäre Startanlagen über Aufklärungssatelliten verhältnismäßig zuverlässig beobachten lassen. Zwar hat sich seit dem Beginn der SALT-Gespräche die Qualität der von den Satelliten übermittelten Bilder noch einmal erheblich verbessert; trotzdem wird es auf absehbare Zeit aber wohl keine Möglichkeit geben, die Anzahl der auf einer Rakete montierten Gefechtsköpfe über Satellitenaufklärung zu ermitteln. Man könnte an Zählregler und kollaterale Maßnahmen denken, wie sie im Rahmen von SALT II vorgesehen waren, doch bildeten diese lange Zeit einen Hauptangriffspunkt gegen die SALT-Politik Kissingers. Es bliebe also nur die Forderung nach „On-SiteInspection". Aber selbst wenn sich die Sowjetunion darauf einließe, wäre es schwierig, Verfahren zu finden, die gleichzeitig eine zuverlässige Verifikation ermöglichen und sich mit dem Sicherheitsbedürfnis beider Seiten vereinbaren ließen. Trotz aller Fortschritte in der Aufklärungstechnologie ist daher zu befürchten, daß die von der Kommission empfohlenen Rüstungskontrollziele an den gleichen Schwierigkeiten scheitern werden wie die Abrüstungsverhandlungen der fünfziger und frühen sechziger Jahre. /

Ein Teilerfolg mit geringen Reduzierungsquoten und einem an SALT II orientierten Verifikationsverfahren wäre im Fall einer baldigen Wiederaufnahme der Verhandlungen allenfalls dann denkbar, wenn Präsident Reagan aus innenpolitischen Gründen einen Erfolg zur Verbesserung seiner Chancen auf eine Wiederwahl benötigen würde. Hierzu könnte es aber nur dann kommen, wenn sich der gegenwärtige wirtschaftliche Aufschwung in den Vereinigten Staaten bis zu den Wahlen drastisch verlangsamen sollte oder wenn sich Präsident Reagan durch wahltaktische Fehler in größere Schwierigkeiten bringen würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hier ist vor allem an den Kreis um Albert Wohlstetter und das European American Institute for Security Research zu denken. Ein Teil der in diesem Rahmen entwickelten Vorstellungen sind inzwischen auch in der Bundesrepublik veröffentlicht worden, z. B. U. Nerlich (Hrsg.) unter Mitwirkung von Falk Bomsdorf, Die Einhegung sowjetischer Macht, Baden-Baden 1982.

  2. Hier wird u. a. die Fiscal Year 1982-1988 Defense Guidance genannt, die bisher zwar nicht publiziert wurde, deren Inhalt jedoch an die Öffentlichkeit gelangt ist.

  3. Jahresbericht des amerikanischen Verteidigungsministers Caspar W. Weinberger vom 1. 2. 1983, Auszüge in deutscher Übersetzung veröffentlicht in: Europa-Archiv, 38 (1983) 16, S. D 437ff., hier S. D 442/443.

  4. Nach Angaben von Desmond Ball wurde in den von der Reagan-Administration erarbeiteten neuen Richtlinien für den Einsatz strategischer Waffen, dem Nuclear Weapons Employment and Acquisition Master Plan, der National Security Decision Directive 13 und dem Nuclear Weapons Employment Plan-82 (NUWEP 82), der bewußte Versuch unternommen, die nuklearen Einsatzpläne mit anderen Elementen der strategischen Politik zu integrieren und den Erfordernissen eines länger andauernden Kernwaffenkriegs Rechnung zu tragen. Hierzu D. Ball, Targeting for Strategie Deterrence, Adelphi Papers Nr. 185, London 1983.

  5. Vgl. Rede Präsident Reagans vor dem Eureka-College in Eureka am 9. 5. 1982, oder Erklärung Außenminister Haigs vor dem Auswärtigen Ausschuß des Senats am 11. 5. 1982; Auszug veröffentlicht in: Europa-Archiv, 37 (1982) 13, S. D 300-306.

  6. Bei der MX handelt es sich um eine in der Entwicklung befindliche amerikanische Interkontinentalrakete mit voraussichtlich 10 Gefechtsköpfen.

  7. Für den Fall, daß die MX-Rakete mit dem Mark-12 a Gefechtskopf mit AIRS (Advanced Inertial Reference Sphere) ausgerüstet wird, kann nach Angaben der Zeitschrift Aviation Week and Space Technology von einer Explosionsstäfke von 335 KT und einem CEP (Circular Error Probable/Streukreisradius) von 400 Fuß = 0, 07 nautische Meilen ausgegangen werden. Wie alle Angaben zur Treffgenauigkeit sollte dieser Wert nur als grober Anhaltspunkt verstanden werden.

  8. Später wurde ein alternatives System von 1000 Stellungen für 100 MX-Raketen erwogen.

  9. In Betracht gezogen wurden z. B. streifenförmige Stellungen mit einer Größe von 1, 8 x 25 km bei einem mittleren Abstand der einzelnen Silos von rund 500 m.

  10. Der „fratrizide-Effekt" ließe sich — so wird angenommen — nur vermeiden, wenn die Gefechts-köpfe innerhalb weniger Mikrosekunden gleichzeitig gezündet würden, was gegenwärtig für technisch nicht realisierbar gehalten wird.

  11. Empfohlen wird u. a. die Entwicklung einer „kleinen" Interkontinentalrakete, die mit einem Gefechtskopf ausgerüstet werden soll („Midgetman"). Ihr Gewicht soll auf ca. 15 t begrenzt werden, während vergleichsweise das Gewicht der MX-Rakete ca. 100 t beträgt. Sie soll mit einem Lenkverfahren ausgerüstet werden, das dem der Pershing II ähnelt und eine hohe Treffgenauigkeit ermöglicht. Über die Stationierungsform der Midgetman ist noch nicht entschieden, doch ist zumindest eine landmobile Version geplant. Darüber hinaus wird empfohlen, 100 MX-Raketen als Überbrückungsmaßnahme in vorhandenen Minuteman-oder Titan-Silos bis zur Einsatzreife der neuen Rakete zu stationieren. Schließlich sind Rüstungskontrollvorschläge im Rahmen von START vorgesehen, die der Sowjetunion einen Anreiz bieten sollen, ihre strategischen Streitkräfte ebenfalls so aufzustellen, daß der Wert der einzelnen Ziele verringert wird.

  12. Jahresbericht des Verteidigungsministers Weinberger für das FY-84 vom 1. 2. 1983, in: Europa-Archiv, 38 (1983) 16, S. D. 437 f„ hier D 438.

  13. J. Steinbrunner, Nuclear Decapitation, in: Foreign Policy Nr. 45, Winter 81/82, S. 16-28.

  14. Ebd.

Weitere Inhalte

Wolfgang Heisenberg, geb. 1938; Studium der Rechtswissenschaften; 1967 bis 1979 Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen (Arbeiten auf dem Gebiet der Deutschland-und Berlin-Politik, der strategischen Politik, Rüstungskontrolle und des Völkerrechts); 1972 Research Associate beim International Institute for Strategie Studies in London; seit 1979 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fritz Thyssen Stiftung und Lehrbeauftragter beim Seminar für Politische Wissenschaften der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: The Alliance and Europe: Part I: Crisis Stability in Europe and Theatre Nuclear Weapons, Adelphi Papers No. 96, London 1973; Nuklearwaffenfreie Zonen als Gegenstand der internationalen Rüstungskontroll-Diplomatie, in: Europa-Archiv, 31 (1976) 13, S. 445— 452; Kernwaffen in Europa: Probleme einervereinbarten Kontrolle, in: Polarität und Interdependenz, Beiträge zu Fragen der Internationalen Politik, hrsg. von der Stiftung Wissenschaft und Politik, Baden-Baden; Die Vertrauensbildenden Maßnahmen der KSZE-Schlußakte. Theoretische Ansätze und praktische Erfahrungen, in: Zwischen Intervention und Zusammenarbeit, hrsg. von Bruno Simma und Edda Blenk-Knocke, Berlin 1979; Rüstungskontrolle ohne einheitliche Konzeption, Stiftung Wissenschaft und Politik, 1980.