Utopie, Zukunftsliteratur, Science Fiction — drei Begriffe, die sich mehrfach überschneiden, sich aber auch in wesentlichen Punkten unterscheiden. Gemeinsam sind ihre Wurzeln: der Hang, über künftige Entwicklungen nachzudenken, über Chancen und Gefahren des Fortschritts, aus der Überfülle des sich anbietenden Stoffes eine fesselnde Lektüre zu formen. Es ist, in moderner Sprache ausgedrückt, das Denken in Modellen, das hier im Vordergrund steht. Modelle im Sinn der Kybernetik: Postulat einer spannungsgeladenenAusgangssituation, logische Analyse der Konsequenzen bis hin zu irgendeinem Endzustand — Katastrophe oder Glückseligkeit. Interessant in diesem Zusammenhang ist eine längst in die Praxis gesellschaftlich-zukunftsgerichteter Forschung eingeführte Methode: die Simulation. Im Gegensatz zu abstrakt-all-gemeingültigen Formeln, die integrale Erscheinungen und Wirkungen beschreiben, zielt man auf den Spezialfall, exerziert die Prozesse an herausgegriffenen Einzelfällen beispielhaft durch. Das ist Science Fiction im besten Sinn des Wortes — aus der Verbindung zwischen Wissenschaft/Technik und Phantasie/Spekulation entstanden. Die Ausgangssituation ist beliebig, allerdings mit einer auf den Zweck des Versuchs bezogenen Einschränkung; das Spektrum der Möglichkeiten reicht von einer wirklichkeitsnahen Basis mit dem Ziel einer Extrapolation mit hoher Realitätsnähe bis zum Gedankenexperiment, an dem alternative Entwicklungen aufgezeigt werden sollen — nicht mit dem Hintergedanken der Voraussage, sondern als Erweiterung der Denkmöglichkeiten, als Training der geistigen Flexibilität, vielleicht auch nur zum intellektuellen Vergnügen. Auch die Wahl des Beispiels ist lediglich dem Grundsatz optimaler Typisierung unterworfen: Was sich ereignet, welchen Wechselwirkungen es unterliegt, welche Resultate aufscheinen ..., das soll die wichtigsten Aspekte des zugrunde gelegten, kausalen oder vernetzten Systems beleuchten. Schließlich müssen noch die Regeln vereinbart sein, ganz im Sinn eines logisch festgelegten Spiels, und sie müssen keineswegs jenen unserer Naturwissenschaft oder jenen unserer Gesellschaft entsprechen; gelegentlich ist es gerade der Unterschied zum scheinbar fest vorgegebenen Ordnungssystem, der sich als besonders aufschlußreich erweist. Dann allerdings — wieder nach dem Vorbild des Spiels — gibt es kein Ausbrechen mehr, und gerade hier zeigt sich der Bezug zur Science, und nicht so sehr in einer wissenschaftlich oder technisch ausgerichteten Thematik oder in einer perfekten Orientierung auf realistisch beschriebene Requisiten oder Hintergründe.
Das Modell also, die Simulation als Leitbild relevanter Science Fiction. Oder umgekehrt: Science Fiction als literarisches Gedankenexperiment, nach den strengen Regeln kybernetischer Modellversuche. Die logische Struktur, die Wissenschaft, liefert eine Art Skelett, die literarische Phantasie erfüllt es mit Fleisch, macht es lebendig, bunt, dynamisch. Die daraus resultierende Spannung ist nicht nur ein Zugeständnis an den Leser, sondern erwächst bestenfalls aus der vorgegebenen Situation; es ist eben die Fähigkeit des Schriftstellers, diese so zu wählen, daß sich daraus Prozesse entwickeln, deren Dynamik die Beobachtung, eher eine „Teilnahme durch Lektüre", zu einem Erlebnis macht. In diesem Spannungsfeld hebt sich die gute Science Fiction von der übrigen Literatur ab, die mehr oder weniger auf die klassisch vorgegebenen Konflikte zwischen Menschen und Menschengruppen fixiert ist. Das bedeutet aber gewiß nicht, daß der Mensch in der Science Fiction ausgeklammert wäre. Wie man inzwischen längst eingesehen hat, ist die menschliche Existenz eng mit wissenschaftlicher Einsicht und technischem Handeln verbunden, so daß jede auf rein materiale Eigenschaften beschränkte Darstellung von vornherein irrealistisch und ungültig ist. Was letztlich interessiert und schließlich auch die emotionalen Momente des Miterlebens aktiviert, ist der handelnde, leidende und hoffende Mensch innerhalb der Gesellschaft, des Milieus — auch dann, wenn die emotionalen Elemente des Miterlebens von der gegenwärtigen Wirklichkeit abweichen.
Diese Art der Darstellung ist die eigentliche Stärke der Science Fiction, insbesondere dann, wenn man nicht nur rein ästhetische Aspekte im Auge hat, sondern auch die Auswirkungen auf gesellschaftliche Erscheinungen, auf Vorstellungen, Denken, Handeln. In der Tat sind alle unsere Aktivitäten auf Zu-29 kunft orientiert — das menschliche Gehirn ist in seinen größten Leistungen eine Vorhersagemaschine —, doch darauf wird in unserem Unterrichtssystem kaum Rücksicht genommen, und auch die offiziöse Kunst hängt eher an der Tradition. So ist der Zukunftsroman, wie er sich in oft billiger Weise den Lesern bietet, für viele die erste Konfrontation mit zukunftsgerichtetem Gedankengut. Die Auseinandersetzung mit den Chancen und Gefahren der Zukunft ist für jeden realitätsnahen Menschen ein Bedürfnis, wobei sich allerdings zeigt, daß die Systemvernetzung heute so kompliziert ist, daß der Laie es schwer hat, einigermaßen passende Vorstellungen zu entwickeln. Zwar liegt umfangreiches Schrifttum futurologischer Thematik vor, doch ist es eben die Eigenschaft wissenschaftlicher wie auch populärwissenschaftlicher Darstellungen, daß man die Dinge abgehoben vom Einzelschicksal beschreibt, wodurch sich manches — durch Formeln und Schaubilder gefaßt — dem Vorstellungsvermögen entzieht: Die Verbindung zwischen den oft genug in statistischer Form ausgedrückten Zukunftser-Wartungen zu dem, was als Konsequenz für den einzelnen Bedeutung hat, läßt sich schwer herstellen. Genau hier gewinnt die Science Fiction eine Funktion und der Autor eine Verantwortung, ob er sich das wünscht oder nicht: Die von ihm erzählten Geschichten behandeln das Schicksal eben am konkretisierten Beispiel, als Auswirkung auf einfache Menschen, die sich in einer veränderten Umgebung zurechtzufinden versuchen, mit dem Ziel des überlebens.
Futurologie als Unterhaltung
Science Fiction, wie sie hier beschrieben wird, ist selbst eine Fiktion, eine Art Idealbild, das zwar einzelne Autoren und viele Anhänger im Auge haben, das aber selten erreicht wurde und vielleicht auch kaum erreichbar ist. Derartigen Charakterisierungen gegenüber erfolgt immer wieder der Einwand, daß sich diese Form der Literatur, wie sie sich in Buchhandlungen und Kiosken bietet, doch ganz anderer Art sei, eine auf vordergründiges Vergnügen gerichtete Unterhaltungsware, die Zukunft nur Vorwand für nicht weiter begründete Wunder, der Weltraum lediglich Spielplatz verrückter Abenteuer. Diese Kritiker haben recht; ein hoher Prozentsatz des Dargebotenen, sicher über 90%, verdient den Vorwurf ohne jeden Zweifel. Es bleibt aber immerhin ein geringer Teil, in dem, zumindest als Ansatz, einiges von den Vorzügen zu finden ist, die die Darstellungsart und Thematik der Science Fiction prinzipiell zuläßt. Seltsam genug, daß man gerade dieses Genre aus dem Horizont seiner schlechtesten Beispiele heraus beurteilt; viele Autoren, die mit vernichtender Kritik nicht geizen, haben kaum mehr als die primitivsten Heftreihen zur Kenntnis genommen. Würde man den „historischen Roman" oder den „Liebesroman" auf entsprechende Art beurteilen, dann könnte das Ergebnis nicht viel anders aussehen. Deshalb lohnt es sich gewiß, einmal von der Schwemme minderwertiger Produkte abzusehen und das ins Auge zu fassen, was brisant, aufregend und — bemerkenswerterweise! — auch literarisch verheißungsvoll ist.
Utopie, Zukunftsliteratur, Science Fiction — darin liegt das utopische Staatsgebilde „Politeia", das Plato im 4. Jh. v. Chr. beschrieb, ebenso wie „Utopia" von Thomas Morus und der „Sonnenstaat" von Thomas Campanella, es gehören das „Neue Atlantis" von Fancis Bacon ebenso dazu wie die „Voyages Imaginaires" des 18. und 19. Jahrhunderts, es gliedern sich die Werke der beiden Großen Jules Verne und Herbert G. Wells ein, aber auch die Exponate des alten und simplen deutschen Zukunftsromans mit Hans Dominik an der Spitze. Und schließlich umschreibt Science Fiction natürlich auch all das, was seit dem Auftauchen des Wortes unter diesem Etikett erschienen ist, angefangen von Hugo Gernsbacks „Ralph 124C 41+" über die Pulps bis zu den Weltraumabenteuern von Arthur C. Clarke und Robert Heinlein und den Robotergeschichten von Isaac Asimov samt der ganzen Phalanx ihrer Nachfolger aus den Bereichen der hard Science, des inner space, der new wave und der in ihrer Qualität eher abfallenden angloamerikanischen Science-Fiction-Autoren der Gegenwart. Nicht zu vergessen der Sonderfall „Wissenschaftlicher Phantastik", die Version utopischer Unterhaltung aus den sozialistischen Ländern. Man kann natürlich darüber diskutieren, ob man den modernen Begriff Science Fiction für all das anwenden, also Werke der Vergangenheit gewaltsam in das neue Schema pressen soll, wobei selbst Goethes Faust und die Bibel nicht verschont werden. Andererseits ist es natürlich ebensowenig legitim, als Science Fiction einfach all das zu bezeichnen, was sich banal und pseudowissenschaftlich gibt, und dementsprechend das diesem Genre entwachsene Wertvolle einfach der Hochliteratur zuzuschreiben. Über den Sinn bürokratischen Zettelkastendenkens in der Kunst läßt sich ohnehin streiten, und außerdem sind die Grenzen verwaschen; es gibt verschiedenste Über-gänge zu allen anderen literarischen Sparten, und im übrigen ist die Science Fiction gerade dort am interessantesten, wo sie sich aus der Masse heraushebt, sich der Definition entzieht. Auf der anderen Seite allerdings haben sich in ihr einige grundlegende Plots mit bestimmten Protagonisten, Requisiten und Kulissen ergeben, die mehr sind als Äußerlichkeiten. So eignet sich beispielsweise der Schauplatz Zukunft auch dafür, unsere eigene Zeit aus einem ungewohnten Blickpunkt her zu betrachten und damit einen Aspektwechsel zu vollziehen, der neues Licht auf manche Gegenwartsfragen wirft. So bietet der Schauplatz „Weltraum" die Möglichkeit, eine Art von vereinfachten Modellzuständen zu postulieren und auf diese Weise eine durchaus bewußtseinserweiternde Relativierung zu erreichen — wobei das scheinbar Selbstverständliche in Frage gestellt wird. Und in ähnlicher Weise lassen sich Außerirdische und Roboter dazu verwenden, dem Menschen und damit der menschlichen Kultur einen Vergrößerungs-oder auch Zerrspiegel vorzuhalten, in dem manch charakteristische Züge, die uns im Alltag kaum noch auffallen, herausgehoben und betont werden: in einem Akt bewußter Irritation, Herausforderung zur Selbstreflexion, Zurückführung — über den Umweg irrealer Welten — zur Erde, zum Menschen selbst.
An diesen Beispielen wird eine Besonderheit der Science Fiction deutlich: daß ihre Abweichung von der Wirklichkeit nicht nur in der Versetzung des Schauplatzes in die Zukunft oder in den Weltraum liegen kann, sondern auch in einer beabsichtigten Vereinfachung der Szene. Auch das entspricht einer wissenschaftlichen Versuchssituation, bei der man alle irrelevanten Größen auszuschalten versucht und nur jene Kräfte wirken läßt, die das Erscheinungsbild wesentlich bestimmen. Im utopischen Roman, und gerade in den bemerkenswerten Antiutopien im besonderen Maße, gibt es eine ganze Reihe Beispiele dafür. Die bedingungslose Unterwerfung des Menschen unter eine kontrollierende Instanz ist ein häufig behandelter Fall, aber ebenso auch die Katastrophe, die in den Schilderungen meist schicksalhaft und unabwendbar scheint, allerdings nur solange, als man die simplifizierte Ausgangsbasis als naturgegeben ansieht.
Themenfeld Mensch/Technik
Die ersten Science-Fiction-Darstellungen waren dem Technischen verhaftet, und manche Autoren und Kritiker hielten es sich zugute, daß das von ihnen bevorzugte literarische Feld durch das Charisma der Prophetie ausgezeichnet sei. Autoren wie Hans Dominik haben die eingetroffenen Voraussagen geradezu aufgelistet, und immer wieder wird auf die zwar wenigen, aber doch recht eindrucksvollen Fälle hingewiesen, in denen sich Erwartungen zu erfüllen schienen, beispielsweise bei der minutiösen Beschreibung der Atombombe in einer sonst recht mittelmäßigen Geschichte, die dem Autoren damals den Besuch der CIA einbrachte. Aber natürlich ist es Unsinn, Literatur nach ihrem Vorhersageeffekt zu beurteilen. Im großen und ganzen ist man sich in einschlägigen Kreisen auch darüber einig, daß es auf ganz andere Aspekte ankommt.
Die enge Verflechtung der Science Fiction mit der wissenschaftlich-technischen Thema-tik gilt noch heute, obwohl der Begriff Technik schon längst seine alten Grenzen gesprengt hat; im Prinzip dreht es sich immer wieder darum, wieweit Einsichten in die Gesetzmäßigkeit von Erscheinungen zu gezielten, nicht unbedingt mit Maschinen zusammenhängenden Maßnahmen führen. Dies findet sich längst nicht mehr nur im Bereich der Physik und Chemie, vielmehr kann man auch mit Recht von einer Biotechnik, einer Medicotechnik, einer Psychotechnik und einer Soziotechnik sprechen. Zur Ausübung der letztgenannten beispielsweise bedarf es tatsächlich längst nicht mehr der Apparatur — der Eingriff in menschliche Vorstellungen und Entscheidungen erfolgt durch raffinierten Gebrauch von Überredung, Pseudoargumentation und emotionaler Assoziation; daß solche Verfahren nicht nur im eher harmlosen Sektor von Kaufen und Konsumieren angewandt werden, sondern auch als Instrument der psychischen Unterdrückung brauchbar sind, zei31 gen gerade manche der Science Fiction zugeordneten Romane auf eindrucksvolle Weise. Auch Orwells „ 1984" ist ein Beispiel dafür: Wenn man heute immer wieder hört, dieses Buch würde das Computerzeitalter vorweg-nehmen, die Kontrolle durch Automaten und Überwachungssysteme, so merkt der aufmerksame Leser doch bald, daß es auf diese Hilfsmittel in Orwells Zukunftsstaat überhaupt nicht ankommt; Unterdrückung, und das hat die Geschichte oft genug gezeigt, ist auch ohne technische Hilfsmittel möglich, ja, es gibt sogar die These, daß sich in hochtechnisierten Staatswesen Unterdrückungsmaßnahmen nicht auf die Dauer beibehalten lassen — weil der Einsatz einer komplexen Technik einen gewissen Intelligenzgrad der Bevölkerung voraussetze. Nur der Dumme, der Unintelligente, der seine Umwelt nicht mehr versteht, sei Unterdrückern bedingungslos ausgesetzt.
Science Fiction moderner Prägung präsentiert sich als Massenliteratur. In dieser Hinsicht kann man Jules Verne und Herbert G. Wells mit ihrer weiten Verbreitung in aller Welt als typische Vorläufer bezeichnen. Bei ihnen wie auch bei ihren Epigonen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts spielten die Schicksale von Erfindern und ihren Ideen eine besondere Rolle. Die Entwicklung wurde also von einem fest umrissenen Punkt aus anvisiert, nämlich jenem, von dem die Initiative ausgeht. Auch dieser Plot bietet verschiedenste Möglichkeiten; Herbert G. Wells beispielsweise wandte ihn mehrfach an, um in einem durchaus modernen Sinn auf soziale Umwälzungen hinzuweisen; bei Hans Dominik erschöpft sich das Geschehen meist im Auftreten von Hindernissen, die der geniale Ingenieur zu überwinden hatte. In der modernen Science Fiction verschiebt sich der Personentyp von der VIP (Very Important Person) auf das vom Geschehen betroffene leidende und sich verzweifelt wehrende Individuum. Das mag ein Kunstgriff sein, um uns die Abläufe besonders nahe zu bringen, ist aber auch ein wirkungsvoller erzählerischer Trick: weil dadurch der Leser selbst auf dem Kenntnisstand des Betroffenen gehalten wird und die Schicksalsschläge, die sich dann aus dem Geschehen heraus ergeben, für ihn ebenso unvorhersehbar erscheinen wie für den Protagonisten — wenn sie sich in der späteren Reflexion auch als ableitbare Konsequenzen ergeben.
Negative Sozialutopien
Das gilt nicht nur für den Mainstraem, sondern auch für jene herausragenden Werke, die die Spitze der Pyramide bilden. Ging es bei Thea von Harbous „Metropolis" und Bernhard Kellermanns „Der Tunnel" — so unterschiedlich diese beiden Bücher auch sein mögen — noch um die Initiatoren, bei Thea von Harbou um die Industriellen, bei Bernhard Kellermann um die Ingenieure, so haben wir es etwa bei Walter Jens „Nein — die Welt der Angeklagten" und Winfried Bruckners „Tötet ihn!" mit einfachen Menschen zu tun, die ins Räderwerk der Regierungsmaschinerie geraten. Natürlich spielt auch bei diesen Werken die Technik eine Rolle, in Wirklichkeit aber rücken tiefgreifende soziale Umschichtungen, sich verselbständigende politische Systeme, mehr und mehr in den Mittelpunkt. Bei einem der wichtigsten Bücher des Genres, Jewgenij Samjatins „Wir", ist es der Konstrukteur des Raumschiffs INTEGRAL, dem das Leben im „Einzigen Staat" zur Hölle wird und der einen verzweifelten Ausbruchsversuch unternimmt; es ist fast unnötig zu sagen, daß der Versuch mißlingt, ja, daß der negative Held des Geschehens schließlich „umgedreht" wird, keine Persönlichkeit mehr, nur noch williger Anhänger des Systems. Samjatin, ein Bolschewik der ersten Stunde, Freund von Maxim Gorki und Dozent im St. Petersburger „Haus der Kunst", wendet sich hier gegen das System, dem er selbst entwachsen ist. Er meint nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart, jedoch in bester utopischer Tradition ins Extreme weitergeführt. Es war der dichterische Niederschlag der Enttäuschung über den auch von ihm mit verwirklichten Sowjetstaat, eine Kritik par excellence, ein leidenschaftlicher Ruf zur Besinnung. Verständlich, daß er in der UdSSR bis heute nicht erschienen ist.
Mitten ins Zeitgeschehen, in die Entartungserscheinungen der Zivilisation im Gefolge des großbürgerlichen Kapitalismus, greift Aldous Huxley mit der Antiutopie „Schöne neue Welt". Dabei stellt er die aller Manipulation hilflos ausgesetzten Einwohner des Welt-staats einer Gruppe entarteter „Wilder" gegenüber, die ihr „Recht auf Unglück" fordern.
Aldous Huxley, Bruder des Nobelpreisträgers Julian Huxley, Absolvent der Oxford University, greift in seinem Buch den Monopolkapitalismus ebenso an wie das sozialistisch-utopische Ideal, er stellt den technischen Fortschritt in Frage und läßt als letzten — nicht praktikablen — Ausweg allenfalls eine romantische „Zurück-zur-Natur" -Philosophie gelten. Neben Orwells „ 1984" ist „Schöne neue Welt" die einflußreichste Antiutopie der Geschichte.
George Orwell, mit bürgerlichem Namen Eric Blair, der sich trotz seiner in Eton genossenen Erziehung lange Zeit als Vagabund durchs Leben schlug, war lange genug Anhänger des Kommunismus und aus dieser Einstellung heraus aktiver Freiheitskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg. Später distanzierte er sich von der Kommunistischen Internationalen und trat in die Labour Party ein. Obwohl sein Buch vom Aufbau her stark an Samjatins „Wir" erinnert, geht es ihm in „ 1984" insbesondere um eine Bloßstellung des stalinistischen Totalitarismus, während sich Samjatin eher gegen allgemeine Übersteigerungseffekte diktatorischer Systeme wendet.
Höchstes politisches Engagement muß man auch Karel apek zusprechen, einem typischen Bahnbereiter moderner Science Fiction. Dem bürgerlichen Milieu entwachsen, war er in der österreichisch regierten Tschechoslowakei von Anfang an mit freiheitlich orientierten Strömungen konfrontiert, was sich allerdings bei ihm nicht in einer nationalistischen, sondern in einer überregionalen, europäischen Haltung auswirkte. Karel Capek war Journalist, Redakteur, Verfasser von Essays, Dramen und Romanen. In seinem Buch „Der Krieg mit den Molchen" beschreibt er Konflikte zwischen Kapital und Arbeiterklasse, in dem Theaterstück „R. U. R. — Rossom's Universal Robots", durch das der Ausdruck „Roboter" populär wurde, geht es um Auswüchse industrieller Schwerarbeit. In beiden Fällen setzt apek gezielt das Inventar der Science Fiction ein — seine „Molche" sind Wesen aus dem Weltraum, seine Roboter Maschinen, die nach und nach auf überraschende Weise Eigenleben gewinnen. In „Krakatit" (in dem es um einen Sprengstoff bisher ungeahnter Zerstörungskraft geht, womit die Situation im Zeitalter der Atombombe vorweggenommen ist) verwendet er noch einmal die Gestalt des besessenen Wissenschaftlers, allerdings in weit differenzierterer Weise, als das andere vor ihm getan haben, beispielsweise Herbert G. Wells oder Maurice Renard (mit seinem „Doktor Lerne"). Sein Held, der Erfinder der zerstörerischen Chemikalie, wird selbst das Opfer eines Bündnisses zwischen Kapital und Machtpolitik — eine Sachlage, in der die ganze Tragik unserer Gegenwart liegt.
Ein Klassiker der sozial orentierten Science Fiction, „Kallocain", stammt von einer Frau: der Schwedin Karin Boye, vor ihrem Selbstmord 1941 eine der beliebtesten romantisch orientierten Dichterinnen ihres Landes. In ihrem Buch spielt der Chemiker Leo Kall die Hauptrolle. Er hat ein hochwirksames Präparat, eben „Kallocain", erfunden: die effektvollste Wahrheitsdroge, die es je gab. Welch weittragende Basis für eine soziale Antiutopie! Die Droge zwingt die Menschen zur Preisgabe der intimsten Gefühle und liefert jeden „Abweichler" der Justiz des Weltstaates aus. Karin Boye kann schließlich noch mit einer originellen und unerwarteten Wendung aufwarten: Das Präparat „Kallocain" beweist die ungeheuerliche Tatsache, daß im Grunde genommen jeder schuldig ist, wenn man nur genau genug nachforscht; damit ist der auf den Endzustand völliger Kontrolle gerichtete Glauben (aber auch die Furcht!) ad absurdum geführt — ohne einen Anflug letzter Freiheit, der Freiheit der Gedanken, ist eine Existenz unmöglich.
Großes Aufsehen erregte der ehemalige Verlagslektor, Gründungsmitglied des Deutschen PEN-Zentrums und Angehörige der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Hermann Kasack, als er 1952 seinen Roman „Das große Netz" veröffentlichte. Weit von der Realität entfernt, symbolisch und mystisch angelegt, steht dieses Buch dennoch in seinem Engagement nicht hinter seinen Vorgängern zurück. Eine Kleinstadt in Deutschland, eine geheimnisvolle Organisation, die die Bevölkerung unter Kuratel nimmt und sich weniger durch psychischen Terror als durch widersinnige Aufgaben unbeliebt macht: das Ausfüllen stupider Fragebogen, Zwang zu Arbeit ohne erkennbaren Sinn, Anweisung zur gegenseitigen Bespitzelung, künstliche Warenverknappung ... Der Ausgang der Geschichte ist grotesk; es stellt sich heraus, daß hinter all den geheimnisvollen Vorgängen eine Filmgesellschaft steht, der es um einen realistischen Horrorfilm ging. Das Buch ist satirisch, von bitterer Heiterkeit durchsetzt, und so beschäftigte sich die Kritik eher angewidert mit dem Stoff. Trotzdem ist es ein aufrüttelndes Buch — und ein hervorragendes Beispiel für die Methode der Über-zeichnung bis zum Absurden. Wenig bekannt ist, daß sich der bekannte deutsche Literat Walter Jens, Inhaber eines Lehrstuhls für allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen, mit seinem ersten, 1948 unter einem Pseudonym erschienenen Buch einer düsteren und bis zur Grausamkeit spannungsgeladenen Antiutopie verschrieb: „Nein — die Welt der Angeklagten". Es ist die Vision eines totalitären Zukunftsstaates, in dem die Menschen nur noch in die Kategorien Richter, Zeugen und Angeklagte unterteilt sind. Die an Kafka erinnernde Alptraumwelt läßt die hinter dem Inquisitionssystem stekkende Staatsmacht anonym, die sich in zahllosen Leiden und Qualen vollziehende Entpersönlichung der Individuen vollzieht sich scheinbar von selbst, ohne Zweck und Sinn. Heute hat Walter Jens zu seinem Stoff Distanz gewonnen und bezeichnet sein Werk als melancholische Parabel. Vielleicht läßt ihn, der sich längst in den Höhen der gefeierten Literaten bewegt, auch die als Konzession an den Leser auslegbare Spannung seiner Geschichte zweifeln. Nichtsdestoweniger liegt damit aber eine der eindrucksvollsten negativen Sozialutopien vor, in der im übrigen all jenes technische Brimbamborium fehlt, das andere Autoren brauchen, um die von ihren Gesellschaftsutopien ausgelöste Angst zu schüren.
Die Vision der Katastrophe
Obwohl das Problem schon bei Wells und bei Capek anklingt, gewinnt es doch erst seit Hiroshima und Nagasaki brennende Bedeutung: die dem Menschen in die Hand gelegte Möglichkeit der umfassenden Selbstzerstörung. Bei einigen Autoren spielt die Katastrophe nur eine Nebenrolle, ist der aus der Logik des Geschehens heraus unausweichlich scheinende Zusammenbruch lediglich durch seine Auswirkungen angedeutet. Hier wäre etwa „Marys Land" von Harold Mead zu nennen, der 18 Jahre lang Berufssoldat, davon einige Zeit Gefangener der Japaner, später Dozent und Schriftsteller in England war. „Marys Land" brachte ihm große Anerkennung der Kritik. Im Mittelpunkt seiner Geschichte steht eine Gruppe von Kindern, die in einem Internat für spätere Führungsaufgaben eines offenbar totalitären Staates vorbereitet werden. Der Bombenabwurf zerstört die herrschende Ordnung; die Kinder finden Gelegenheit zu einem Ausbruch, der sie in immer bedrohlichere Situationen führt. Unter der Belastung werden unterdrückte Emotionen und Handlungsmuster wieder lebendig, ein Thema, das William Golding in seinem Buch „Der Herr der Fliegen" in anderer Art aufgegriffen hat. Schließlich fallen die wenigen Kinder, die den Exodus überstanden haben, einer Truppe britisch karikierter Soldaten in die Hände; die Konfrontation dieser so verschiedenen Menschen gibt Harold Mead Gelegenheit, auf die Schwächen der Systeme hinzuweisen, die sich in einem auf Mißtrauen beruhenden heißen oder kalten Krieg notwendigerweise einstellen müssen. Bemerkenswert, daß er einen immerhin noch versöhnlich anmutenden Schluß findet!
Das Grollen der Bomben dient auch dem österreichischen Journalisten, Schriftsteller und Theaterautoren Winfried Bruckner als Begleitmusik eines etablierten Unterdrükkungsmechanismus. Wien im 21. Jahrhundert, aus geringfügig erscheinenden Zufällen heraus entschließt sich ein junger Arzt zur Revolte und sieht sich plötzlich — ungewollt — als ihr Anführer. Die zur Bereinigung des Konflikts entsandten Truppen stehen unversehens einer entschlossenen Schar von Bürgern gegenüber, die bereit sind, ihre Freiheit zu verteidigen. Der offene Ausgang läßt Hoffnung zu, woran deutlich wird, daß es Bruckner nicht um die Erzeugung von Resignation geht, sondern eher um die Anregung, sich gegen gesellschaftliche Automatisierung und Uniformierung zur Wehr zu setzen.
Es ist beachtlich, daß eine ganze Reihe deutschsprachiger Autoren, meist von der Öffentlichkeit, aber auch von der Science-Fiction-Szene unbachtet, zu bemerkenswerten Bearbeitungen des Endzeitthemas gefunden hat. Einen atmosphärischen, ja dichterischen Text legt Hellmuth Lange mit seinem Bändchen „Blumen wachsen im Himmel" vor. Der Autor, studierter Diplomkaufmann, hauptsächlich aber als Schriftsteller und Redakteur tätig, schrieb dieses Buch unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe. Da er sich schon bei anderen, insbesondere Jugendromanen, mit der utopischen Darstellung vertraut gemacht hatte, lag es für ihn nahe, von einer utopischen Fiktion auszugehen. So schafft er Distanz zum unmittelbaren Zeitgeschehen, indem er die Entwicklung — in stark verfremdeter Form — auf einen fernen Stern verlegt: der Lebensraum von einer Eiszeit bedroht, nur noch wenige überlebende, und als letzter Ausweg der verzweifelte Versuch, die Katastrophe durch Entzünden eines atomaren Feuers zu verhindern. Diese Hoffnung täuscht, anstelle der tödlichen Kälte ist das ebenso tödliche Feuer getreten, und der Berichterstatter, der seine Botschaft für einen „unbekannten Freund vom fremden Stern" verfaßt, vermittelt die Einsicht, daß gewaltsam initiierter technischer Fortschritt kein Glück vermittelt; wenn überhaupt, führt der Weg zum Besseren über eine langsame Entwicklung, die die Anpassung zuläßt.
In Dichte und Atmosphäre steht Hans Wörner mit seiner Geschichte „Sie fanden Menschen" seinen Kollegen gegenüber nicht zurück. Wörner arbeitete nach seinem Studium einige Zeit als Bergmann und wurde später Journalist und Schriftsteller. Eine ganze Reihe von Büchern, die wenig Bezug zu Science Fiction haben, stammen aus seiner Feder. „Sie fanden Menschen" beruht auf einer Science-Fiction-Idee ersten Ranges: Ein Blitz ist über das Land gegangen, die Licht-waffe hat Menschen und Städte vernichtet. Sieben Jahre später dringt eine Expedition in die verwüstete Region, die immer noch durch tödliche Strahlen verseucht ist, ein. Eine kleine Gruppe nichtsahnender junger Menschen, unvorbereitet mit dem Ausdruck der Vernichtung konfrontiert, und inmitten der monotonen Strahlenwüste plötzlich die Begegnung mit Leben, mit Menschen, die die Katastrophe überlebt haben, doch unbarmherzig und für immer von ihr gezeichnet sind. Dieses Buch ist vollkommen anders geschrieben als jenes von Lange, in einem einfachen, fast nüchternen Stil, der aber dennoch von Atemlosigkeit, von Hektik gezeichnet ist. Probleme, wie sie auch das klassische Drama kennt, eine Situation, die nicht nur zur Auseinandersetzung, sondern auch zu einer Neu-besinnung herausfordert...
Die unbarmherzigste Darstellung des nuklearen Wahnsinns stammt von Mordecai Roshwald, der im jugendlichen Alter mit seinen Eltern von Polen nach Palästina auswanderte, seinen Kriegsdienst in der israelischen Armee absolvierte und danach eine feste Position als Professor an der University of Minnesota einnahm mit den Spezialgebieten „Politische Theorie" und „Soziale politische Philosophie". Das Buch, 1959 vorgelegt, greift Probleme aus seinen Fachgebieten auf. Obwohl Mordecai Roshwald keinerlei Konzessionen an dichterische Sprache macht, ist die von ihm entworfene Situation von einer erschütternden Gleichnishaftigkeit. „Das Ultimatum" heißt das Buch in seiner deutschen Ausgabe, doch trifft der Originaltitel „Level 7" den Grundgedanken besser. Gemeint ist die tiefste unterirdische Etage eines Schutzraumsystems, in das sich jene Soldaten zurückziehen, die einen nuklearen Krieg auch dann noch weiterführen sollen, wenn an der Oberfläche alles zerstört ist. Der Roman ist als Tagebuch konzipiert, und jener, der es schreibt, ist einer der total Angepaßten, von seiner Aufgabe überzeugt, jeglicher Zweifel ledig, phantasielos und pflichtbewußt. Obwohl er durch einen Trick seines Vorgesetzten ohne Vorwarnung in die Abgeschiedenheit der unterirdischen Anlagen versetzt wird, findet er alles in Ordnung, regt sich eher über die Enge der Räume und über eintönige Mahlzeiten auf. Gerade diese beschränkte Sicht aber bringt eine bestürzende Note von Absurdität in seine Berichte — wenn er das Schreckliche, die Apokalypse, mit den Worten eines Militärbürokraten kommentiert. Und als schließlich auch bei ihm die Einsicht aufflackert, daß all die Pflichterfüllung und Hingebung an das als ideal bezeichnete hohe Ziel sinnlos und vergeblich waren, wirkt das gerade aus der Sicht dieses simplen Charakters heraus um so aufrüttelnder.
Verständlich, daß Kritiker an dieser reduzierten Sprache einiges auszusetzen hatten — offenbar soll nach ihrer Ansicht der Untergang in fein gesetzten, wohlklingenden Worten beschrieben werden. Es gab aber auch enthusiastische Urteile, beispielsweise von Linus Pauling und Bertrand Russell. Beide wurden nicht als Literaturkritiker, sondern als Wissenschaftler und politisch aktive Menschen bekannt, so daß man ihre Fähigkeit für ein literarisches Urteil wohl etwas relativieren muß; andererseits aber bestätigt ihre Reaktion die Wirksamkeit dieser Geschichte und damit die Wirksamkeit von Science Fiction allgemein: Niemand zuvor ist es gelungen, die Folgen der weltweiten nuklearen Vernichtung so erschütternd zu beschreiben.
Bewertungskriterien
Kritikern von Science Fiction wird auffallen, daß die Reihe der als Beispiel herangezogenen Bücher nur selten im Zusammenhang mit einer Science Fiction genannt wird, die selbst Kenner viel zu stark mit den einschlägigen anglo-amerikanischen Modeautoren identifizieren. Und doch gehören sie nach allen gültigen Kriterien dazu — aus dem Aspekt der Modellsituation heraus, gleichgültig ob Weltraum oder Zukunft, aus dem Aspekt der Thematik aus dem Spannungsfeld zwischen Mensch und Technik, nicht zuletzt auch auf Grund der verwendeten Mittel und Begriffe — wenn man will auch Klischees. Die genannten Bände weisen große Unterschiede in Darstellung und Ausdruck auf. Wenn sie etwas gemeinsam haben, dann vielleicht, daß in vielen Fällen die Charakterisierung der Menschen, ihre Psychologie in den Hintergrund tritt. Das freilich nur bei vordergründiger Betrachtungsweise. In Wirklichkeit arbeitet Science Fiction ja auch mit den Strategien der Unterhaltungsliteratur, und das bedeutet gewiß nicht den Verzicht auf psychologische Konflikte und Emotionen. Anders ist allerdings die Art der Darbietung: Nicht die Beschreibung steht an erster Stelle, die Analyse, in anderen Literaturgattungen oft bis zur Selbstzerfleischung vorangetrieben, sondern die Herausforderung zum Miterleben durch die Erscheinungen der Personifikation und Identifikation. Gelingt es, für Handelnde oder Leidende Anteilnahme zu erwirken, dann ist der Leser nicht mehr auf vornehme Distanz bedacht, die auf intellektuelles Vergnügen abzielt, sondern er begibt sich mitten in die Handlung hinein, fühlt mit, bangt und hofft, ringt um Entscheidungen. Einfach falsch ist die Behauptung, bei Science Fiction würden menschlich-emotionale Aspekte außer acht bleiben, wobei man sich beispielsweise auf einfach-nüchterne Darstellungsweisen beruft, wie sie etwa Hans Wörner zu eigen sind, oder auf die absichtliche Horizontbeschränkung, von Mordecai Roshwald als Darstellungsmittel angewandt. Gerade die beiden genannten Beispiele zeigen, wie intensiv die Wirkung so gestalteter Texte sein kann, daß sie geradezu leidenschaftliche Stellungnahme und Aufruhr hervorrufen können.
Die unterschiedliche Beurteilung von Science-Fiction-Texten liegt aber gewiß auch daran, daß diese —-als immanenter Bestandteil der Gattung Literatur — Werte aufweisen, die nicht unbedingt auf der Ebene der Ästhetik diskutiert werden. Gewiß wird man auch sprachlich-ästhetische Kriterien berücksichtigen müssen, und es gibt ebenso sicher eine ganze Menge von Science-Fiction-Texten, die diesen nicht genügen. Andererseits aber schließt Science Fiction hohe Qualität des sprachlichen Ausdrucksvermögens keineswegs aus; Bücher wie jene von Harold Mead oder Hellmuth Lange zeigen, daß die klassische Art der Personenbeschreibung wie auch der dichterisch überhöhte Ausdruck durchaus anwendbar sind. Daß diese Art der Literatur, die sich immerhin einer besonderen Art der Fragestellung annimmt, nicht auch zu eigenen Ausdrucksformen finden kann, die über die von der Tradition gesetzten Grenzen hinauswirken, ist jedoch nicht von vornherein verständlich. Vielleicht ist es literarisch gebildeten Kritikern weniger bekannt, doch gibt es auch im Bereich der Wissenschaft und der Technik großartige, als Symbole brauchbare Bilder, gibt es assoziationsreiche sprachliche Begriffe, gibt es eine neue Terminologie — und eine neue Denkweise, die durchaus auch als Ausdrucksmittel verwertbar sind. Selbst die Art der Argumentation, der Aufbereitung, der logischen Darlegung kann über ausgetretene Pfade hinausführen, in literarisches Neuland hinein. Zugegeben — von all diesen Möglichkeiten ist noch wenig verwirklicht, einige wenige, bescheidene Andeutungen müssen genügen. Doch warum soll darauf nicht einmal hingewiesen werden? — Vielleicht als Herausforderung für jene, die sich des literarischen Ausdrucksmittels Science Fiction deshalb nicht bedienen wollen, weil sie darin nur Beschränkungen sehen.
Worin aber können nun jene allgemeinen Werte liegen, die in der Science Fiction offenbar eine übergeordnete Bedeutung gewinnen? Als Tatsache wurde schon erwähnt, daß auf künftiges Geschehen gerichtete Ausführungen, selbst im abenteuerlichen Gewand, für viele junge Menschen die erste Konfrontation mit jenem Teil der Geschichte bedeuten, der nicht rückwärts, sondern vorwärts weist. Unabhängig von ästhetischem Vergnügen ist jede Art von gesprochenem oder geschriebenem Wort auch Träger übermittelter Information, übermittelter Kenntnis. Ob klassisches Drama oder Dienstmädchenroman — kein Leser kann sich einem Lernprozeß entziehen. Ob man Dinge nun realistisch betrachtet oder als einen Fluchtbereich der Phantasie darstellt: Durch jede Beschreibung von Milieus, Personen oder Entscheidungen werden Vorstellungen und Meinungen geprägt. Es mag in der Wirkung belanglos erscheinen, wenn Leser bei der Lektüre von Wildwest-oder Kriminalromanen falsche Ansichten über den Sittenkodex von Cowboys oder die Lebensführung eines Kriminalkommissars erhalten. Weitaus bedenklicher ist allerdings die Sachlage, wenn es sich um technisch-wissenschaftliches Gedankengut handelt: Auch wenn Science Fiction gewiß nicht als Lehrlektüre empfohlen werden soll, so bestimmt sie doch mancherlei Meinungen über das, was technisch erreichbar ist oder nicht, über Wertesysteme in Raum/Mensch/Technik/Gesellschaft, über Weltbilder, die heute ohne naturwissenschaftliches Fundament nicht denkbar sind. Dabei geht es nicht unbedingt um dieübermittelte Sachinformation — viel wichtiger ist das dahinterstehende Weltbild, das sich in den Geschichten spiegelt, denn hier werden Einstellungen geformt, die von einem bedingungslosen Technik-Optimismus über skeptische Distanz bis zu absoluter Wissenschaftsfeindlichkeit reichen: Gerade viele Geschichten junger deutscher Autoren, die in letzter Zeit von sich reden machen, drücken Antipathie gegenüber der Naturwissenschaft und Technik aus — und tragen sie weiter. Darüber hinaus kann aber auch in der Phantasie, die künftige Maschinen oder Städte entwirft, abseits von darin enthaltenem Schulwissen, eine andere Qualität stecken, ausdrückbar etwa durch die Originalität des Dargestellten, in der sich auch Witz, Satire oder Kritik zeigen können. Verständlich ist, wie sich immer wieder zeigt, daß es dem durchschnittlich gebildeten Literatur-kritiker schwer fällt, solche Besonderheiten zu erkennen. Und manches, was vielleicht sprachlich unzulänglich erscheint, auf der anderen Seite aber originell und witzig, vielleicht sogar tiefgründig ist, wird oft mit einem Achselzucken abgetan. Der Denkweise der Wissenschaft entnommene Charakterisierungen, Ironie und Groteske im Entwurf der technisch-gesellschaftlichen Modelle, aussagekräftige, durch ihre Assoziationen vielsagende Begriffe ... All das ist offenbar nur auf der einen Seite der Grenze zwischen Naturwissenschaft/Technik und humanistisch-historische Bildung erkennbar: Da ein Gedankenaustausch zwischen beiden Seiten fehlt, unterbleibt auch die so wünschenswerte gegenseitige Befruchtung.
Spezialfall „social fiction"
Erheblich günstiger erscheint dagegen die Situation der „social fiction", die als gesellschaftlich orientierte Utopien manchmal vom übrigen Genre abzutrennen versucht werden. Oft bringt der offiziöse Literaturkritiker aus begrüßenswerten politischen Aktivitäten und Haltungen heraus weitaus mehr Interesse an sozialen Umständen mit, so daß jene Sparte ein wenig besser beurteilt wird als der Bereich der hard Science mit ihren Maschinen, Robotern und Raumschiffen. Dies gilt für Orwells „ 1984" ebenso wie für Huxleys „Schöne neue Welt“, jene beiden Bücher, die wohl von allen utopischen Darstellungen das stärkste Echo gefunden haben. Ein weiteres Mal läßt sich daran nämlich das althergebrachte Verfahren ästhetischer Kritik benutzen, die Verbindung vom Autor zum Werk herstellen. Abstammung, Nationalität, Bildungsweg, politische Gesinnung ... all das drückt sich letztlich in weitaus durchsichtigerer Weise in den Texten aus, als in wissenschaftlich-technischen Fiktionen, bei denen die Person des Autors in ähnlicher Weise zurücktritt, wie bei den Ergebnissen der Wis-senschaft und der Technik selbst. Auf dieser Brücke ist der Zugang zum Verständnis eines Werks leicht möglich; nichts spricht dagegen, sie zu betreten. Auch der Übergang zur Auseinandersetzung mit dem beschriebenen System erfolgt dann fast nahtlos, wobei hier ebenfalls wieder althergebrachte Methoden anwendbar sind, beispielsweise die Analyse der Lebensepoche des Autors auf gesellschaftliche und politische Zustände hin, aus deren Erweiterungen sich dann oft genug die beschriebenen Staats-oder Gesellschaftsstrukturen erweisen.
Letzten Endes bietet es sich auch an — ganz im Sinn des Mißverständnisses über den angeblichen Vorhersagecharakter von Science Fiction —, die eingetretene Gegenwart als Vergleichsebene zu verwenden und an diesem Beispiel zu diskutieren, „worin sich der Autor nun geirrt hat und worin er recht hatte". Es ist daher auch kein Wunder, daß über die wenigen bekannten neueren Sozial-Utopien weitaus mehr wissenschaftliche Veröffentlichungen geschrieben wurden als über sämtliche anderen Äußerungen eher wissenschaftlich-technisch orientierter Science Fiction. Zweifellos verdienen es gerade die im sozialen Raum operierenden Fiktionen, von verschiedensten Seiten her beachtet zu werden; mit Fug und Recht darf man behaupten, daß neben ihrer politisch-gesellschaftlichen Relevanz auch die sprachliche Behandlung des Stoffes meist weitaus gekonnter ist. Wahrscheinlich liegt das im alten Dilemma der Science Fiction begründet, daß der Autor fundierte Einsichten in das Gefüge unserer modernen Welt, insbesondere in die Wechselwirkungen zwischen technischem Handeln und menschlicher Gesellschaft, haben muß, außerdem aber mit den Maßstäben der Literatur gemessen wird, sich also vom Niveau seines sprachlichen Ausdrucksvermögens her gesehen den Kollegen von der anderen Seite der Kultur als ebenbürtig erweisen sollte. Da Doppelbegabungen dieser Art höchst selten sind, bekommt man leider viel zu selten Spitzenwerke dieser Gattung vorgelegt. Das bedeutet aber nicht, daß sie nicht existieren — gerade das wenige, was standhält, erweist sich oft als weitaus wichtiger als vieles, was uns die Welt der alten Griechen zurückzuführen versucht.
Man hat die Science Fiction oft mit dem Terminus „Fluchtliteratur" belegt — weil sie einem Eskapismus Vorschub leistete, der sich vom Hier und Jetzt entfernen wolle, in irreale imaginative Räume hineinführe, in denen man frei von Alltagssorgen, unbelastet vom Zwang für Entscheidungen sei. Merkwürdigerweise trifft dieser Vorwurf viel eher auf manche literarischen Formen zu, die scheinbar weitaus fester auf dem Boden der Wirklichkeit stehen, beispielsweise für den Abenteuer-oder Agentenroman; er trifft natürlich auch für jene der sogenannten Fantasy nahe-stehende Science Fiction zu, die freilich anstelle der „Science" die Pseudowissenschaft setzt (oft unerkannt von den naturwissenschaftlich unbelasteten Kritikern). Gerade die gesellschaftlich und politisch orientierte Science Fiction aber führt uns, soweit sie auch in entfernte Räume hinausgreift, doch immer wieder in die Gegenwart zurück. Jener, der sie als Vehikel der Wirklichkeitsflucht benutzen wollte, wäre also schlecht beraten. Literatur:
Brian W. Aldiss, Der Millionen-Jahre-Traum, Bergisch-Gladbach 1980.
Hans-Joachim Alpers/Werner Fuchs/Ronald M. Hahn/Wolfgang Jeschke (Hrsg.), Lexikon der Science Fiction Literatur, München 1980. Hans-Joachim Alpers /Werner Fuchs/Ronald M. Hahn/Wolfgang Jeschke, Reclams Science Fiction Führer, Stuttgart 1982.
Peter Nicholls (Ed.), The Encyclopedia of Science Fiction, London-Toronto-Sydney-New York 1981.
Dieter Hasselblatt, Grüne Männchen vom Mars, Düsseldorf 1974.
Manfred Nagl, Science Fiction in Deutschland. Tübinger Vereinigung für Volkskunde e. V., Tübingen 1972.
Martin Schwonke, Vom Staatsroman zur Science Fiction, Stuttgart 1957.