I. Einleitung
Gerhard Merz, Gießen Im Verlauf der letzten Jahre hat sich der Verfasser zusammen mit einer Anzahl europäischer Kollegen mit dem Problem der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) beschäftigt — d. h. mit dem Mechanismus, mit dem die zehn Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ihre Diplomatie gegenüber der Außenwelt koordinieren. Außenpolitik im herkömmlichen Sinne bewegt sich außerhalb des Rahmens der die EG begründenden Verträge, doch hat sich seit 1970 ein immer elaborierteres prozedurales Geflecht der Konsultation und der gemeinsamen Formulierung von Positionen gegenüber Drittländern herausgebildet Der Hauptanstoß des Interesses an dem Phänomen EPZ lag in deren Fähigkeit, die Politik von Staaten zusammenzuführen, die ansonsten weitestgehend unabhängig bleiben, die keine formalen außenpolitischen Kompetenzen an die Brüsseler Kommission oder ein vergleichbares Gremium übertragen und die parallel zur EPZ ihre eigene nationale Politik außerordentlich energisch weiterverfolgen.
Vor dem Hintergrund dieses allgemeinen Interesses berief der Verfasser 1981 unter den Auspizien des Londoner Royal Institute of International Affairs eine Konferenz zur Diskussion der Frage ein, bis zu welchem Grad diese fortbestehenden Traditionen nationaler Außenpolitik erfolgreich in eine gemeinsame Strategie integriert werden können. Die im Zusammenhang mit dieser Konferenz geschriebenen Aufsätze sind überarbeitet und unter dem Titel „National Foreign Policy and European Political Co-Operation" (London, George Allen and Unwin 1983) veröffentlicht worden. Der vorliegende Artikel stellt die auf den neuesten Stand gebrachte Fassung der im Schlußkapitel dieses Buches getroffenen Schlußfolgerungen dar.
Die folgenden allgemeinen Aussagen basieren auf den Arbeiten zehn internationaler Wissenschaftler (einschließlich des Verfassers selbst in Großbritannien), die jeweils die Außenpolitik ihres eigenen Landes und deren Beziehung zur EPZ einer detaillierten Betraübersetzung: chung unterzogen. Jeder Wissenschaftler wurde gebeten, sechs grundsätzliche Fragen zu untersuchen in bezug auf:
— die charakteristischen Elemente der Haltung ihres Landes zur EPZ und ihrer Zukunft, — den Grad des Wandels in der Haltung der Regierungen und der Meinungen der Eliten während der siebziger Jahre, — den Grad der Orientierung der Außenpolitik ihrer Länder auf andere Institutionen und Staaten als die der Europäischen Gemeinschaft, — den Grad der Erschwerung voller Partizipation an der EPZ durch innenpolitische oder administrative Faktoren, — die Beziehung zwischen nationalen ökonomischen Interessen und EPZ, — die Beziehung zwischen nationalen Sicherheitsinteressen und EPZ.
Die Antworten auf die vier letzten Fragen werden nachfolgend ausführlich zusammengefaßt. In bezug auf die beiden ersten Fragen ist eine Verallgemeinerung weniger einfach. Der Natur der Sache nach beleuchten die einzelnen Länderstudien am besten den Grad der Besonderheiten der nationalen Positionen bzw. ihres zeitlichen Wandels. Nichtsdestoweniger können auch hier einige umfassende Thesen vorgetragen werden.
Erstens gibt es z. B. nach wie vor beträchtliche Differenzierungen im Stil der nationalen Außenpolitik der Zehn, die sich in der EPZ vermischen. Dies ist nicht einfach eine Frage der Unterteilung nach großen und kleinen Ländern, nach den sechs ursprünglichen und den vier späteren Mitgliedern oder nach Mittelmeerländern und Nordeuropäern — so wichtig diese Unterscheidungen auch sind. Es ist auch eine Frage der verschiedenen Standpunkte in europäischen und internationalen Angelegenheiten, die sich aus verschiedenartigen geopolitischen Lagen und je besonderen historischen Erfahrungen ableiten. Die Entscheidungsträger in jeder Hauptstadt haben deutlich — wenn auch bisweilen nur feine — unterschiedliche Erwartungen in bezug auf die EPZ und deren potentielle Rolle. London sieht sie als natürliche Erweiterung des traditionellen Anliegens der britischen Diplomatie, „ganz oben am Tisch" zu sitzen. Paris tendiert zu einer kühleren Einschätzung: EPZ wird hier als wichtiges Hilfsinstrument der nationalen Außenpolitik, kaum je als Ersatz für diese gesehen. Roms Unterstützung für die EPZ muß im breiteren Kontext der Einstellungen zur europäischen Integration insgesamt gesehen werden. In ähnlicher Weise unterschied sich die Entwicklung der Einstellungen der Mitgliedstaaten zur Politischen Zusammenarbeit im Tempo und bisweilen sogar in der Richtung — während der Falkland-Krise 1982 ließ Irlands Enthusiasmus für eine gemeinsame Position der EG nach, während Großbritannien, mit überraschend starker Unterstützung Frankreichs, zunehmend die durch die EPZ implizierte Verpflichtung zur Solidarität für den Fall betonte, daß ein Mitgliedstaat von einer dritten Partei angegriffen werde. Sicherlich wurde die ungestüme Begeisterung der Herren Genscher und Colombo für die EPZ noch nicht einmal von ihren nationalen Kollegen immer im gleichen Maße geteilt, während der Eintritt Griechenlands in den Prozeß zu einem scharfen Abbremsen der Initiativen zu weiterer Zusammenarbeit geführt hat, auf die andere kleine Staaten wie Belgien und Luxemburg gehofft hatten.
Trotz dieser klaren Aussage über die Dauerhaftigkeit nationaler Stile und Prioritäten verdeutlichen die zehn Länderstudien auch, daß die EPZ in den äußeren Beziehungen aller Mitgliedstaaten zunehmend in den Vordergrund getreten ist. Darüber hinaus gibt es, obwohl es zeitweilig Streit oder Verlust an Schwung geben mag, doch auch eine starke Grundströmung der Begeisterung, die noch dadurch gesteigert wird, daß es nunmehr konsistente Muster äußerer Entwicklungen zu geben scheint, die die Formulierung freiheitlicher westeuropäischer Werte, unterschieden sogar von denen der Vereinigten Staaten, in internationalen Beziehungen begünstigen. Zweifellos ist diese Begeisterung einigermaßen zyklisch, mit aufsteigender Tendenz nach jeder größeren Krise der West-West-oder Ost-West-Beziehungen, aber sie ist wahrscheinlich auch kumulativ. Die EPZ kann heute nicht mehr zusammenbrechen oder gar absterben, ohne daß dies zu einem Desaster für die Gemeinschaft als Ganzes führen würde. Ihre Arbeitsgruppen und ihr kollegiales Politisches Komitee nehmen im Alltagsgeschäft der nationalen Diplomaten eine viel zu zentrale Stellung ein, als daß dies eintreten könnte. Selbst die Außenminister, denen ja die dauerernde Präsenz ihrer Spitzenbeamten fehlt, sind auf gewisse Weise dadurch sozialisiert worden, daß sie sich regelmäßig mit den Standpunkten ihrer zehn Kollegen auseinanderzusetzen haben; sie neigen dazu, diese als Bündnispartner gegen heimische Gegenspieler zu benutzen, und zwar in einer Weise, die den Finanz-und Landwirtschaftsministern weniger offensteht. Das beharrliche Weiterbestehen der nationalen Diplomatie außerhalb der EPZ ist keine Bedrohung der Institution als solcher mehr.
Tatsächlich ist die Politische Zusammenarbeit, vom nationalen Standpunkt aus gesehen, sicherlich im letzten Jahrzehnt in signifikanter Weise mehr und mehr in den Vordergrund gerückt. Selbst wenn es unwahrscheinlich ist, daß die jeweiligen heimischen Öffentlichkeiten wissen, wofür das Kürzel EPZ steht, ist dies nicht weiter wichtig. Selbst Präsident Reagan hatte, so hört man, als er sein Amt übernahm, kaum eine Ahnung davon, was EPZ wirklich beinhaltet. Allein die allgemeine Tatsache, daß sich die Zehn konsequent gegenseitig konsultieren, und zwar in Angelegenheiten von großer Wichtigkeit, wird wahrgenommen, insbesondere in Kreisen der wachsamen Regierungs-, Wirtschaftsund Medieneliten. Nur wenige derer, die sich beruflich mit auswärtigen Beziehungen befassen, können es sich leisten zu ignorieren, was sich in der EPZ abspielt. In zunehmendem Maße bilden die aus diesem Prozeß hervorgehenden Erklärungen, Haltungen, ja auch Handlungen den Rahmen, innerhalb dessen die jeweilige nationale Außenpolitik betrieben werden muß. Umgekehrt trifft dies weniger zu, als das früher der Fall zu sein pflegte. Um die materiellen Implikationen dieser Entwicklung deutlich zu machen, wenden wir uns nun detaillierter den von den einzelnen Länderspezialisten untersuchten vier verbleibenden Fragen zu.
II. Außereuropäische Ablenkungen
Die erste Frage behandelt den Grad, in dem Mitgliedstaaten in bezug auf ihre außenpolitischen Aktivitäten immer noch über den Rahmen der Gemeinschaft hinausblicken, entweder um Unterstützung zu erhalten oder um ein Problem direkt anzusprechen. Es ist klar, daß die EPZ zumindest für drei Länder — Belgien, die Bundesrepublik Deutschland und Luxemburg — nicht nur den Hauptrahmen ihrer Diplomatie darstellt, sondern fast den einzigen. Wenn man, vorläufig, das delikate Thema der Vereinbarkeit der EPZ mit dem reibungslosen Funktionieren der NATO-Allianz, die für sechs der sieben anderen Mitglieder von Bedeutung ist, einmal beiseite läßt, dann stellen diese drei, verbunden durch ihre geographische Lage, ein Herzstück der Verpflichtung auf die EPZ dar. Aus unterschiedlichen historischen Gründen gibt es keine ernsthaften Belastungen ihrer Loyalität durch politische Interessen in anderen Regionen des Erdballs oder durch andere Staatengruppierungen. Für sich allein genommen wäre dies nicht genug, um Begeisterung für eine kollektive westeuropäische Politik zu erzeugen, aber wie die Dinge liegen, sind Belgien und Luxemburg aus Prinzip starke Befürworter der Harmonisierung, während die Bundesrepublik hier nur wenig zurückbleibt, einerseits der Sache der Gemeinschaft ergeben, aber andererseits sich auch der eigenen politischen Bedeutung in den internationalen Beziehungen bewußt. Die Vorteile der Größe, Modernität und des Wohlstandes sind vitale Beiträge Westdeutschlands zur EPZ, aber gleichzeitig sind sie nationale Aktiva, die in Zukunft von weniger auf die Gemeinschaft ausgerichteten Außenministern als Hans-Dietrich Genscher gebraucht werden könnten. Im Hinblick auf solche Zeiten waren viele deutsche Politiker nicht unglücklich darüber, den im Entwurf einer Europäischen Akte ins Auge gefaßten Verlust an Kontrolle über die nationale Manövrierfähigkeit zu vermeiden. Die milden Formulierungen der Stuttgarter „Feierlichen Erklärung zur Europäischen Union" waren in deutschen Augen vielleicht enttäuschend, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland selbst läuft die politische Strömung zur Zeit eher gegen Entscheidungen, die einen Verzicht auf nationale Kontrolle in außenpolitischen Angelegenheiten bedeuten.
Eine zweite Dreiergruppe hat wichtige Interessen außerhalb der EPZ, verfolgt diese aber nicht auf eine dem Ziel der gemeinsamen Ausrichtung der Außenpolitik der Zehn ernsthaft abträgliche Weise. Irland pflegt seinen neutralen Status und tendiert zu etwas schüchterner (als neuer Mitgliedstaat) Identifikation mit der Dritten Welt sowie mit anderen neutralen Staaten. Beide Verbindungen sind in der Gemeinschaft einzigartig. Dänemark hat traditionelle Beziehungen zu seinen skandinavischen Nachbarstaaten, die im Nordischen Rat institutionalisiert sind, der selbst wiederum ein Modell der Kooperation auf vielschichtiger Basis einerseits (keine zwei Mitglieder verfolgen ihre Außen-und Verteidigungspolitik in identischen Foren) und Begrenzungen der Integration andererseits ist. Italien kann keine andere formelle Staaten-gruppierung als Alternative gegen die EG ausspielen, hält aber ein beträchtliches Interesse an Angelegenheiten des Mittelmeerraumes und in Teilen Nordafrikas aufrecht. Soweit Nationen überhaupt , peer groups'haben, von denen sie akzeptiert und in denen sie einflußreich sein wollen, ist Italiens Blick sowohl nach Süden als auch auf das . goldene Dreieck'im Zentrum der Europäischen Gemeinschaft gerichtet.
Und doch behindert keine dieser außengerichteten Inanspruchnahmen ein echtes Bekenntnis zur EPZ. Tatsächlich verdankt Irland seine neue Rolle in wichtigen Weltangelegenheiten fast ausschließlich dem europäischen System der Zusammenarbeit, mit der wichtigen Ausnahme seiner traditionellen Teilhabe am UN-Friedensprozeß. So war Irland sogar bereit, die Ausweitung der EPZ auf Sicherheitsprobleme geflissentlich zu übersehen, um den erreichten Schwung zu erhalten. Ebenso fanden sich dänische Regierungen durch die EPZ vor neue Möglichkeiten der Beeinflussung der Politik ihrer größeren Nachbar gestellt, z. B. in Richtung auf größere Freigiebigkeit in den Beziehungen zur Dritten Welt, während ihre nordischen Verbindungen sie in die Lage versetzten, als nützliches Bindeglied zwischen der EG und einer wichtigen Gruppe von Ländern mit historischer Affinität zu agieren. Diese Rolle setzt einer Distanzierung Kopenhagens von den Ansichten der Mehrheit in der EPZ Grenzen.
Noch stetiger ist das Bekenntnis Italiens zu einer gemeinsamen Außenpolitik, die als Teil-schritt zur umfassenden Vereinheitlichung in der Gemeinschaft angesehen wird. Seine verschiedenen . Brücken'zu Ländern wie Malta und Äthiopien werden von seinen Partnern eher als nützliche zusätzliche Quellen des Einflusses in den internationalen Beziehungen denn als Ablenkungen oder Schwierigkeiten angesehen. Auch hat Italien nicht mit Anstrengungen gegeizt, die Wirkung der EPZ in der Welt, besonders gegenüber dem Mittleren Osten und den Vereinigten Staaten, zu konsolidieren, ?. T. aus der Erkenntnis heraus, daß Italien ohne diesen Mechanismus wahrscheinlich noch größere Schwierigkeiten hätte, als eine Großbritannien und Frankreich ebenbürtige Mittelmacht Anerkennung zu finden.
Die Niederlande passen wahrscheinlich am besten, wenn auch nicht in gleichem Maße, in dieselbe Kategorie wie Irland, Dänemark und Italien; bisweilen identifizieren sie sich mit anderen Gruppen, aber nicht so stark, als daß die Solidarität in der EPZ gestört würde. In gewisser Hinsicht bilden sie — wie Patrick Keatinge hervorhebt — zusammen mit Irland und Dänemark eine pressure group für . moralische'Angelegenheiten, meistens im Zusammenhang mit Ansprüchen von Entwicklungsländern gegenüber ihren früheren Kolonial-herren, was bekanntlich starke Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedstaaten ausgelöst hat (dies mag der Grund dafür sein, daß die natürliche Obergrenze für die gemeinsame Stimmabgabe in den Vereinten Nationen sich bei etwa 60 % bewegt, wobei es die meisten Divergenzen in Nord-Süd-Angelegenheiten gibt) Die Analyse zeigt jedoch letztlich, daß selbst liberale reiche Staaten nur wenige positive Ansätze zeigen, die Dritte Welt zu unterstützen, so daß sich diese kleineren Mitgliedstaaten recht problemlos mit den relativ fortgeschrittenen Beziehungen zufriedengaben, wie sie zwischen der Gemeinschaft und den afrikanischen, karibischen und pazifischen Ländern im Lom-Abkommen erreicht worden sind.
Es bleibt eine ansonsten voneinander abweichende Gruppe von Staaten, die ihre Außenpolitik neben der EPZ auch auf anderen Schauplätzen betreiben und die dementsprechend der Vorstellung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik reserviert gegenüberstehen. Diese Gruppe besteht aus zwei großen Staaten, Großbritannien und Frankreich, und dem jüngsten Mitglied, Griechenland. Es bedarf kaum weiterer Erläuterungen darüber, daß Großbritannien und Frankreich beide, als die ältesten und historisch mächtigsten Staaten der Gemeinschaft, ihre historisch gewachsenen vielfältigen Bindungen bei weitem noch nicht abgebrochen haben. Ihre Beziehungen zu früheren und jetzigen Kolonien, von den Vereinigten Staaten über Ägypten und den Libanon bis hin zu Französisch-Polynesien und den Falkland-Inseln, werfen unvermeidlicherweise Probleme auf, zu denen ihre europäischen Partner sehr wohl eine unterschiedliche Haltung einnehmen mögen oder denen eine kollektive Politik nicht willkommen, wenn nicht gar überflüssig wäre.
Wenn es auch zutrifft, daß die alten Ablenkungspotentiale der SEATO und CENTO schon lange stillgelegt worden sind und daß andere westeuropäische Staaten bis zu einem gewissen Grad Interessen im Mittleren Osten oder gar in Afrika entwickelt haben, sind die Regierungen in Paris und London immer noch in einer besonderen Position. Kraft ihrer Verfügung über Nuklearwaffen ist ihre Politik für die INF-Verhandlungen von entscheidender Bedeutung; ihr Veto-Recht gibt ihnen in den Vereinten Nationen immer noch eine hervorgehobene Stellung; ihre militärische Macht ist im Vergleich zu allen Staaten außer den Supermächten immer noch bedeutend. Vermutlich wird keines der beiden Länder bewußte Schritte zur Zerstörung der EPZ unternehmen. Aber eine gemeinsame Außenpolitik wird ohne das Einveständnis beider nicht erreicht werden können und wahrscheinlich auch nicht ohne wichtige Veränderung der Orientierung und der nationalen Handlungsfähigkeit jedes der beiden.
Griechenland ist nicht so entscheidend für die EPZ oder gar für die EG als Ganzes. In dem Maße aber, in dem seine Partizipation erwünscht und begehrt ist, muß auch anerkannt werden, daß seine Horizonte sich meistens von denen der anderen in der Gemeinschaft unterscheiden. In den vergangenen Jahren (nicht erst unter der gegenwärtigen sozialistischen Regierung) lag die außenpolitische Priorität Griechenlands auf der Stärkung der Bindungen zu den arabischen Staaten des Nahen Ostens. In geringerem Maße wurden auch die traditionellen Balkaninteressen neu entfaltet. Im Ergebnis hat sich Griechenland entschieden geweigert, den . ausgewogenen'Kurs der Neun im arabisch-israelischen Konflikt mitzutragen und sich auch bei Verurteilungen der sowjetischen Außenpolitik auffallend zurückgehalten. Der Vorstellung einer . natürlichen'Einheit der außenpolitischen Perspektive der Zehn wird dadurch klar Schaden zugefügt, daß Athen sich meist nur nominell in eine Linie mit seinen Partnern stellt. Die EPZ kann äußerliche Meinungsverschiedenheiten überleben (ja sogar möglicherweise davon profitieren), aber sie könnte durch die Kritik bereits eines einzigen Mitglieds schwach werden. Wenn Spanien der EG beitritt und eine ähnliche Linie wie Griechenland verfolgt (was durchaus nicht unwahr-scheinlich ist) könnte sich innerhalb der EPZ eine Nord-Süd-Scheidelinie auftun, wobei selbst Italien der Arabien-Zentriertheit Athens und Madrids zuneigen könnte.
III. Innenpolitische Faktoren
Sind die äußeren Orientierungen der Mitgliedstaaten von unterschiedlicher Bedeutung für die EPZ, so hat die Wirkung innenpolitischer Faktoren auf die außenpolitische Zusammenarbeit zumindest ein gemeinsames Charakteristikum: es gibt relativ wenig Spielraum für verantwortliche Mitwirkung im Prozeß. Das System der Beziehungen zwischen Regierungen (intergouvernemental) wie auch einige Aspekte der durch Verträge geregelten gemeinsamen Politikbereiche stellen jene politischen Gruppierungen, die die auswärtige Politik genau prüfen und kontrollieren wollen, vor ein unauflösliches Dilemma. Auf der einen Seite verlegen die kollektiven Beratungen den Ort der Entscheidungen einen wichtigen Schritt weiter weg von den nationalen Parlamenten, wobei sie ja auch immer noch vertraulich geführt werden. Auf der anderen Seite ist das Europäische Parlament immer noch weit davon entfernt, den Außenministern auf regionaler Ebene zufriedenstellende Zügel anzulegen. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments haben für ihr jetziges Recht, den Präsidenten in EPZ-Angelegenheiten befragen zu dürfen, hart gearbeitet, aber sie entlocken ihm selten mehr als die beschwichtigenden Antworten, mit denen Diplomaten in der Öffentlichkeit so schnell bei der Hand sind Als Ergebnis ist die EPZ vorrangig ein Feld der Regierungsaktivitäten, in dem pressure groups nur schwach vertreten sind und diese dort, wo sie denn existieren, den Diskussionsforen nicht nahe genug kommen können, um ernsthaften Einfluß auszuüben. Denn: die öffentliche Meinung in den Mitgliedstaaten ist über die EPZ miserabel informiert und weit von ihr entfernt — beides durchaus in der traditionellen Einstellung der Masse der Bevölkerung zur Außenpolitik liegend. In keinem der Mitgliedstaaten gibt es Anzeichen dafür, daß ein Bewußtsein über die Folgewirkungen der EPZ auch nur sehr weit in Kreise der gebildeten öffentlichen Mei-nung vorgedrungen wäre. Informierte Kritik an dem, was sich auf Treffen der Außenminister abspielt, kommt meist von den Mitgliedern des Europäischen Parlaments, aber deren eigene Losgelöstheit von der nationalen Politik bewirkt, daß viel von der Publizität auf steinigen Boden fällt; dies insbesondere deshalb, weil es auch in ihren eigenen Reihen eine gewisse Skepsis in bezug auf die ambitionierte Haltung einiger zur EPZ gibt. In Straßburg kritisierte im Oktober 1982 ein italienisches EP-Mitglied die Rolle seines eigenen Außenministers beim Zustandekommen des Genscher-Colombo-Plans mit der Begründung, daß Italien kaum in der Lage sei, eine eigenständige gangbare Außenpolitik zu entwickeln, geschweige denn eine gemeinsame europäische Außenpolitik zu bewerkstelligen. Nationale Parlamentarier verhalten sich sogar noch kritischer, vor allem dann, wenn die EPZ durch Verletzung eines besonderen Interesses oder Grundsatzes ihre Aufmerksamkeit erregt. Meist jedoch steht eine gewisse permissive Inaktivität auf der Tagesordnung und dieParlamentarier beschäftigen sich mit unmittelbareren Anliegen.
Anzeichen aus den nördlichen Ländern deuten darauf hin, daß wir uns auf dem Weg in ein Zeitalter befinden, in dem die Entpolitisierung der Außenpolitik durch Kontroversen über Nuklearwaffen und Entspannung beendet wird. Dies könnte für die EPZ zwei mögliche Wege bahnen. Auf der einen Seite könnte die Emotionalität der öffentlichen Debatte die Entscheidungen innerhalb der Atlantischen Allianz verhärten und das Anwachsen einer westeuropäischen Perspektive in den Ost-West-Beziehungen als Alternative zu der von Washington vorgetragenen begünstigen. Auf der anderen Seite könnte das bloße Ansprechen des Verteidigungsproblems die zerbrechliche Struktur der EPZ zerschlagen, die bisher Stück für Stück zusammengefügt wurde, jeweils unter bewußter Ausklammerung der prinzipiellen Probleme. Im gegenwärtigen instabilen Klima der internationalen Politik könnten dabei Kräfte freigesetzt und Lösungen konstruiert werden, die die EPZ (ja sogar das bestehende Bündnissystem) geradewegs zerschneiden und die gegenwärtigen Positionen außer Kraft setzen könnten. In dieser Hinsicht mögen die Euro-Barometer-Umfragen, die für das Konzept der europäischen Einigung durchgängig größere Unterstützung anzeigen als für die reale Lage der Gemeinschaft, ein kleiner Gradmesser sein
Der andere wichtige Bereich, in dem innenpolitische Überlegungen die EPZ naturgemäß beeinträchtigt haben, ist der der Administration. Die vertraute Beobachtung, daß die EPZ gut für die Außenministerien ist und die Außenministerien gut für die EPZ sind, wird von den meisten unserer Untersuchungen bestätigt. Der Prozeß der Koordinierung selbst verlangt eine Menge traditioneller diplomatischer Fähigkeiten und schafft eine neue Ebene hoher Politik für Ministerien, deren Monopolanspruch in bezug auf auswärtige Politik in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt worden ist.
Dementsprechend ist in allen Ländern (mit den möglichen Ausnahmen Frankreichs und Griechenlands) das jeweilige Außenministerium zu einer mächtigen internationalen Lobby für die Vorteile einer gemeinsamen auswärtigen Politik geworden, sowohl aus Gründen der internationalen Effektivität als auch wegen des Anreizes für die allgemeine Kooperation innerhalb der Gemeinschaft. Der durch gemeinsame Demarchen im Ausland, sei es in Washington, den Vereinten Nationen oder im Mittleren Osten, erreichte Status hat seinerseits Rückwirkungen auf die Innenpolitik durch Stärkung der persönlichen Position der am Prozeß beteiligten Außenminister, wie die Karrieren Carringtons, Colombos, FitzGeralds, Genschers und Thorns zeigen. Die Vorzüge dieser komfortablen Stellung der Außenminister in der EPZ sind natürlich gleichzeitig ihre Nachteile. Ein gewisser anmaßender Ehrgeiz und eine Tendenz zur psychologischen Eigenschaft des Gruppendenkens’ hat zu einigen unangenehmen Resultaten geführt, wie z. B. zu Menachem Begins verächtlichen Zurückweisungen der europäischen Vermittlungsbemühungen und insbe-sondere zur britischen Überbeschäftigung mit EPZ auf Kosten der Falkland-Inseln und der Beziehungen zu Malaysia Es hat wenig Sinn, durch die EPZ die Geschicke der europäischen Diplomaten neu zu beleben, wenn gleichzeitig ein Übermaß an Begeisterung die politisch Handelnden blind macht für die ständige Notwendigkeit, Ziele und Mittel im Gleichgewicht zu halten.
Die Beziehung der nationalen Administrationen zum kollektiven Prozeß hat eine weitere charakteristische Eigenschaft: Die Fähigkeit der Außenminister, die zusätzlichen Aufgaben, die die EPZ über die turnusmäßige Präsidentschaft hinaus mit sich bringt, zu erfüllen, weist beträchtliche Unterschiede auf — oder genauer, die Belastungen, denen sie sich bei der Erfüllung dieser Aufgaben ausgesetzt sehen, unterscheiden sich beträchtlich. Bis jetzt hat jedes Land seine Verantwortlichkeiten mit überraschender Effizienz gemeistert. Selbst Luxemburg, mit den geringsten personellen Ressourcen ausgestattet, konnte nicht nur der Überfülle der Treffen zufriedenstellend Herr werden, sondern auch noch Gaston Thorn für seine Wandermission im Mittleren Osten freistellen. Irland und Dänemark folgten Belgien und den Niederlanden in der reibungslosen Übernahme der Doppelbelastung durch EG-Präsidentschaft und EPZ, obwohl es allen kleinen Staaten schwerfiel, über die administrativen Aufgaben hinaus politische Initiativen zu entwickeln. Der Schwung der Erklärung von Venedig wurde während der niederländischen Präsidentschaft 1981 gerade eben aufrechterhalten und Belgiens Begeisterung für die Europäische Akte konnte während seiner Amtsperiode 1982 nur wenig bewirken. Im zweiten Halbjahr 1983 wurde die griechische Präsidentschaft durch Griechenlands Mangel an administrativen Ressourcen (Bonn und Paris haben hier diskrete Hilfen gegeben) nicht daran gehindert, in Angelegenheiten wie der des koreanischen Flug-zeugs eine starke unabhängige Position einzunehmen. Andererseits war Griechenland kaum in der Lage, die anderen Neun voranzuschleppen. Allgemeiner gesprochen zeugt die Tatsache, daß die komplexe Organisation und die Troika überhaupt möglich sind, von dem komplizierten Handlungsgeflecht zwischen den Regierungen, zu dem die EPZ mittlerweile geworden ist.
IV. EPZ, Wirtschaft und Einstellungen gegenüber der Gemeinschaft
Überlegungen zur fünften der eingangs gestellten Fragen, der Beziehung zwischen nationalen wirtschaftlichen Interessen und der EPZ, haben weniger Diskussionen über die finanziellen Kosten von EPZ-Initiativen hervorgebracht als über die unterschiedlichen Einstellungen bezüglich des Nutzens der gemeinschaftlich geregelten Politikbereiche als Instrumente auf der außenpolitischen Handlungsebene. Das liegt daran, daß die EPZ bisher nach unmittelbar finanziellen Kriterien relativ kostenneutral war. Der Anstieg bilateraler Konsultationen, der durch das Handeln zu zehnt ausgelöst wurde, kann wahrscheinlich durch Rationalisierungen bei COREU (Telexnetz der außenpolitischen Zusammenarbeit) und (bis zu einem gewissen Grad) bei den Vertretungen in Drittländern ausgeglichen werden. Andererseits trifft aber wahrscheinlich auch zu, daß die kleinsten Staaten sich veranlaßt sahen, die Zahl ihrer Botschaften zu erhöhen, um ihrem erweiterten Interessenbereich gerecht zu werden, während die größeren Staaten kaum in der Lage waren, ihre Ausgaben für Vorbereitungsmaßnahmen zurückzuschreiben.
In der Frage der Nutzung der vertraglich geregelten gemeinschaftlichen Politikbereiche als EPZ-Werkzeuge scheint es einen stillschweigenden Konsensus zu geben, daß ein gewisses überschreiten der Grenzlinien sowohl unvermeidlich als auch wünschenswert ist, und zwar entlang folgender Linien: Selbst ohne EPZ hat die Gemeinschaft Außenbeziehungen, und nichts ist dadurch gewonnen, daß man vorgibt, diese von politischen Inhalten freihalten zu können. Da die EPZ nun einmal etabliert ist, wäre es absurd, wenn diese sich nicht die finanziellen Mittel der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zunutze machen könnte, um durch Handels-oder Assoziierungsabkommen in Not geratenen befreundeten Staaten zu helfen oder neue Kontakte zu ermutigen. Doch muß dies mit Feinfühligkeit geschehen. Es würde keinen Nutzen bringen, ökonomische Macht als Ersatz für militärische Intervention einzusetzen. Dies würde zum Widerstand aufreizen, ohne daß man etwas in Reserve hätte, womit man verhandeln könnte. In Erweiterung dieser Haltung ist es praktisch einhellige Auffassung, daß es aus Gründen der internationalen Politik keine festen ökonomischen Verpflichtungen, wie z. B. Sanktionen, geben darf. Die Gemeinschaft, so die allgemeine Übereinstimmung, kann es sich einfach nicht leisten, ihren Haushalt, ihre Handels-und Landwirtschaftspraxis für einen nicht mit ihr selbst in Zusammenhang stehenden Zweck zu gefährden. Das ist der Grund, warum es unter den Westeuropäern eine so durchgängige Ablehnung amerikanischer Versuche gab, das ökonomische Gewicht der EG als Mittel in ihren erneuerten Kampf gegen die Sowjetunion zu werfen — wobei man sich auf dieser Seite des Atlantiks durchaus bewußt ist, daß die Amerikaner die EG nun als protektionistischen Rivalen betrachten und durchaus keine Notwendigkeit sehen, sich über unverkaufte Butterüberschüsse oder Auftragsverluste für europäische Maschinenbaufirmen Sorgen zu machen. Die Sanktionen, denen die Europäer zugestimmt haben, waren meist geringfügiger oder weitgehend informeller Art (nur im Falle des Iran sind in nationalen Parlamenten entsprechende Gesetze verabschiedet worden). Sobald der Anstand es erlaubte, wurden sie wieder aufgehoben; nicht immer sind sie einheitlich oder mit großer Begeisterung durchgeführt worden
Die Mitgliedstaaten setzen ihre gemeinsame ökonomische Stärke konsequenterweise viel lieber für . sanfte'politische Ziele ein, wie z. B. die Langzeitstrategien des euro-arabischen Dialogs oder der . globalen'Mittelmeerpolitik, als für die Aussicht, . Verkettungspolitik'für spezifische Probleme zu spielen Letzten Endes jedoch hängen die Haltungen der Staaten in dieser und vielen anderen Fragen davon ab, wie stark sie ihre außenpolitischen Aktivitäten in den eigentlichen Bereich der Gemeinschaft einbringen wollen, einerseits mit den Verpflichtungen zur Harmonisierung und zur Verteidigung ihrer gemeinsamen ökonomischen Basis durch offene politische Aktion und andererseits dem verbrieften Recht, die gemeinsamen Mittel für . höhere'und weitergefaßte Zwecke in den internationalen Beziehungen einzusetzen. Dieser Frage wollen wir uns jetzt zuwenden.
Da es sich hier im Kern um die gleiche Frage handelt, die die Gemeinschaft als Ganzes be- drängt — d. h. die Frage, wieviel Meinungsund Interessenkonvergenz es darüber gibt, in welche Richtung sie sich entwickeln soll —, muß die Antwort mit der Beschreibung des buntscheckigen Musters der Positionen der verschiedenen Staaten beginnen. Die Kapitel der Länderexperten in unserer Studie zeigen klar, daß die Einstellungen der Länder zur EPZ in engem Zusammenhang mit ihrer langfristigen Sicht der Gemeinschaft als Ganzes stehen und daß es keine einfachen Beziehungen gibt, geschweige denn eine einzige, allgemein geteilte Auffassung.
Man kann eine breite Trennungslinie zwischen den Integrationisten’ und den , Kooperationisten'beobachten, aber innerhalb jeder Gruppe gibt es Querströmungen und Divergenzen. So sind z. B. die Benelux-Länder, Italien und die Bundesrepublik weitgehend integrationistisch, aber nicht immer aus den gleichen Gründen oder im gleichen Maße. Sowohl die Niederlande als auch die Bundesrepublik stehen dem Drängen nach einer stärker integrierten Gemeinschaft prinzipiell positiv gegenüber, aber die niederländische Haltung zur Europäischen Akte war ambivalent;
die Niederlande wären vermutlich — wie Alfred Pijpers sagt — damit zufrieden, den Geist des Intergouvernementalismus (d. h.der Reduzierung der Gemeinschaft auf die Beziehungen zwischen Regierungen, Anm. d. ü.)
ein für allemal in die Flasche zurückzuverbannen, den sie als Freibrief zur Anarchie für die größeren Mitglieder sehen. Im Gegensatz dazu waren die Deutschen verantwortlich für den Versuch, die Gemeinschaft auf eine neue Ebene der formalen Verbindlichkeit zu heben, aber auch sie sind in der Praxis vorsichtig, einen Supranationalismus zu fördern, der von deutschen Finanzbeiträgen leben, den speziellen Problemen Deutschlands aber nur ungenügende Beachtung schenken könnte. In der Sphäre der Außenpolitik bezieht sich dies auf die Sowjetunion und Osteuropa, wo die Bundesrepublik behutsam aufzutreten gelernt hat. So würde es Bonn sicher nicht begrüßen — um einmal die extremste Möglichkeit durchzuspielen —, in eine durch Mehrheitsbeschluß zustandegekommene Gemeinschaftspolitik eingespannt zu werden, die, im Stile von Frau Thatcher oder gar von Präsident Mitterrand, nach einer festen Haltung gegenüber der Sowjetunion riefe. Ein solches Szenario ist im Augenblick fast unvorstellbar, was für sich selbst bereits die Grenzen der Politischen Zusammenarbeit auf interessante Weise widerspiegelt Belgien und Italien sind in ihrer Unterstützung für die EPZ als Instrument der Integration weniger behutsam. Beide sind . realistisch geworden in ihrer Akzeptanz der freiwilligen Prozeduren der EPZ als vernünftigem Preis für wenigstens etwas Fortschritt in dem zunehmend stagnierenden Unternehmen Europa. Die belgische Betonung liegt vielleicht eher darauf, wie die EPZ selbst zu einem Teil des sich herausbildenden Korpus gewohnheitsrechtlicher Regelungen werden kann, der die Staaten immer fester aneinander bindet, während Rom mehr Wert auf politische Übereinstimmung um ihrer selbst willen legt, als wichtigen Faktor der Konsolidierung der unter Mühen errungenen Nachkriegsallianz historisch disparater Staaten. Aber Belgien und Italien teilen die Schlüsseleigenschaft, Schöpfungen des neunzehnten Jahrhunderts zu sein, nach wie vor zweigeteilt durch bittere Antagonismen, bemüht, ihre Außenpolitik zur Schaffung eines Netzes sicherer Beziehungen zu nutzen, in das ihre eigenen zerbrechlichen nationalen Strukturen eingebettet werden können.
Auch Irland ist dem Fortschritt im Prozeß der europäischen Einigung verpflichtet, kann aber auf Grund seiner Einstellung zur EPZ nicht derselben Gruppe wie die der oben genannten Staaten zugerechnet werden — eine Einstellung, die in mancher Beziehung denen näher steht, die, wie Frankreich, am intergouvernementalen Ende des Spektrums stehen. Dublin ist nicht bereit, die EPZ unabhängig von den Ereignissen in der Gemeinschaft selbst weiter befördert zu sehen. Wie Belgien und Italien neigt es zu einer Enwicklung der EPZ um ihrer selbst willen und wegen des Impetus, den diese der europäischen Bewegung gibt, aber Irland hegt den Verdacht, daß die'EPZ zum Ersatz für weitere Integration und Umverteilung innerhalb der Gemeinschaft wird. Es versucht daher, den Wunsch von Staaten wie Großbritannien, sich die EPZ zunutze zu machen, zu verbinden mit der Notwendigkeit, die Regionalpolitik der EWG auszuweiten und die gemeinsame Agrarpolitik beizubehalten. Darüber hinaus konnten sich die Iren nicht mit dem im Genscher-Colombo-Plan enthaltenen Versuch identifizieren, die EPZ mit dem Netzwerk der Gemeinschaft zu verknüpfen, da sie befürchteten, daß dieser Versuch Implikationen für eine europäische Sicherheitspolitik haben würde Abgesehen von Irland gehören alle Spätgekommenen, zusammen mit Frankreich, in die Gruppe der , Kooperationisten. Dies ist kein Zufall in dem Sinne, daß Großbritannien, Dänemark und Griechenland das Element des Idealismus fehlt, das bei den meisten der ursprünglichen Gründern der Gemeinschaft vorhanden war. Sie befinden sich in einer geographischen Randlage; alle drei sind Halb-inseln (wenn wir uns der ursprünglichen Verbindung von der Themse zum Rhein erinnern) des Hauptkontinents, die in die Seewege oder in ganz andere Regionen hineinragen. Auch schlossen sie sich der Gemeinschaft in der Zeit nach dem Luxemburger Kompromiß an, in der Annahme, daß sie in eine lockere Konföderation übergegangen sei, die sich nur im Gletschertempo zum eigentlichen Föderalismus hinbewege.
Die Bedeutung dieser Tatsache für die EPZ (die Implikationen für den Entscheidungsfindungsprozeß der Gemeinschaft wurden in der heftigen Auseinandersetzung über die Agrarpreise im Mai 1982 deutlich) liegt darin, daß die Neulinge die EPZ weder als Plattform zur Integration gebracht noch durch extensive Ausnutzung gemeinsamer ökonomischer Interessen instandgehalten sehen wollen. Denn alle haben besondere Geldsorgen: Großbritannien (wie auch die Bundesrepublik) möchte seine Zahlmeisterrolle reduzieren, zumindest nicht weiter ausbauen; Dänemark trat der EG vor allem wegen der wirtschaftlichen Vorteile bei, die es immer noch genießt und nicht gefährden will; Griechenland, wie vorher Großbritannien, ist der Gemeinschaft nur beigetreten, um sich sofort über die Beitrittsbedingungen zu beschweren. Athen und London könnten zwar eine neue Runde der Beitrittsverhandlungen im Kontext einer grundsätzlichen Neuordnung des Musters wirtschaftlicher Gewinne und Verluste in der Gemeinschaft in Erwägung ziehen, aber selbst in diesem Falle würden sie kaum irgendwelche gesetzlichen Restriktionen in bezug auf die Formulierung der nationalen Außenpoli-tik befürworten. Für Dänemark gilt, daß es die EPZ zum Teil aus demselben Grund befürwortet, aus dem diese in den Benelux-Ländern ursprünglich beargwöhnt wurde — nämlich daß sie die Position der nationalen Administrationen gegenüber der Kommission stärkt.
Frankreich paßt nicht in das Muster, das die neuen Mitglieder der Gemeinschaft als diejenigen ausweist, die einer um die EPZ herum konstruierten integrationistischen Erneuerung am meisten mißtrauen. Frankreich hat natürlich von Anbeginn die Bedeutung der intergouvernementalen Methoden betont, und zwar mit dem ganzen Gewicht seines Großmachtstatus und als einer der Gründer der Gemeinschaft. Es ist hier nicht der Ort, noch einmal die wohlbekannte Geschichte Fouchets, der Politik des . leeren Stuhls', des Widerstands gegen die Erweiterung und der Geringschätzung des Europäischen Parlaments zu wiederholen. Die Politische Zusammenarbeit ist jedenfalls eine etwas andere Angelegenheit. Französische Regierungen haben EPZ und das System der Beziehungen zwischen Regierungen (Intergouvernementalismus) nicht einfach gleichgesetzt, obwohl in der gaullistischen Tradition die Bedeutung außenpolitischer Zusammenarbeit immer hervorgehoben worden ist. Sie haben die britische Tendenz, die kollektive Diplomatie über das gemeinschaftlich erreichte Maß (an dem Frankreich natürlich großes Interesse hat) hinaus zu heben, mißtrauisch betrachtet und sich häufig über die durch die Politische Zusammenarbeit hervorgebrachten neuen Schichten an Bürokratie irritiert gezeigt. Auch stehen sie der Begeisterung, mit der die Kommission die EPZ schließlich in die Arme genommen hat, argwöhnisch gegenüber und lehnen einige Einmischungen der kleineren Mitglieder in die große Machtpolitik ab. Frankreich ist daher als einer der Staaten zu klassifizieren, die nicht wollen, daß die politische Zusammenarbeit eine neue Welle des Ausbaus der Gemeinschaft auslöst, aber — wie üblich — aus sehr eigenen Gründen.
V. Das Sicherheits-Dilemma
Der Vergleich der nationalen Einstellungen zu den Implikationen der Politischen Zusammenarbeit für die Gemeinschaft als Ganzes enthüllte eine einigermaßen deutliche Trennungslinie, aber auch ein komplexes Muster querlaufender Sympathien, vermischt mit schierem Individualismus. Er war in dieser Hinsicht der Analyse der äußeren Orientierungen und der innenpolitischen Einflüsse vergleichbar — insoweit, als es hier keine Identität der Standpunkte gibt, sondern eher einige gemeinsame Einstellungen und ein Fehlen verhärteter Verhandlungspositionen. Das Feld der Sicherheitsprobleme verändert dieses Muster nicht
Das wichtigste einheitliche Merkmal im Hinblick auf Sicherheit ist die Tatsache, daß außer Irland alle Mitgliedstaaten auch Teil der NATO sind. Sie gehen daher in der Regel von denselben Grundannahmen über die Bedrohung durch die Sowjetunion aus und haben in der historisch beispiellosen hochkomplizierten Umgebung eines modernen Bündnisses einen langen gemeinsamen Konditionierungsprozeß durchlaufen. Doch hat gerade diese* Einheitlichkeit eine Spaltungswirkung auf die Gemeinschaft. Selbst beim jetzigen Stand der Dinge ist es für die EPZ schwierig, effektiv zu operieren, wenn die militärischen Aktivitäten der Mitglieder in einem anderen Gremium koordiniert werden Die Vereinigten Staaten waren in der Lage, diese Funktionsaufteilung in Zeiten der Zwietracht mit Westeuropa auszunutzen. Wenn ferner Vorschläge in Richtung auf eine verstärkte Beachtung sicherheitspolitischer Fragen innerhalb der Gemeinschaft gemacht werden, dann erscheint die Barriere des bestehenden NATO-Engagements in der Tat von großer Bedeutung. Schließlich gibt es in den westeuropäischen Staaten nach wie vor ein großes Maß echter Unterstützung für die Atlantische Allianz, vor allem in Regierungskreisen. Besonders Italien, Luxemburg und die Niederlande sehen in der NATO den Eckpfeiler ihrer auswärtigen Beziehungen, und nur das jüngste Aufsplittern des Zweiparteiensystems hält davon ab, Großbritannien automatisch derselben Kategorie zuzurechnen. Weiterhin würden, obwohl jeder der fünf gemeinsamen Unterzeichner des Nordatlantik-Vertrages und der Römischen Verträge seine eigenen speziellen Gründe hat, sich gegenüber dem gegenwärtigen Zustand ambivalent zu verhalten, es wohl alle (wahrscheinlich sogar Griechenland) für eine größere Katastrophe halten, wenn sich die Vereinigten Staaten aus Europa zurückziehen würden.
N Jede neue europäische Unternehmung in puncto Verteidigung und Sicherheit ist daher weit mehr eine intellektuelle als eine praktische Realität, über die Möglichkeit ist in den letzten Jahren viel geredet worden, aber das Gewicht der bestehenden nationalen und der NATO-Einrichtungen hat verhindert, daß selbst Versuchsballons weit vom Boden abheben konnte. Französisches Gemurmel über eine Revision der Westeuropäischen Union (WEU) scheint nicht ernst genommen zu wer-den, vielleicht nicht einmal in Paris und Diskussionen zwischen einigen Parteien im Europäischen Parlament über die Notwendigkeit von Treffen der Verteidigungsminister — analog zu denen der Außenminister — sind von den nationalen Regierungen heruntergespielt worden 1981 gab es einen Fortschritt insofern, als Diskussionen über sicherheitspolitische Fragen in der EPZ förmlich akzeptiert wurden, aber die weitergehenden Vorschläge im Genscher-Colombo-Plan wurden in den vertraulichen Verhandlungen 1982 systematisch neutralisiert
Ein genauer Blick auf die einzelnen Staaten zeigt, warum dies der Fall gewesen ist. Für die meisten Mitglieder ist Sicherheit ein in mehr als dem üblichen Sinne empfindliches Thema. Besonders für die Bundesrepublik und Italien ist der Eindruck unerwünscht, sie drängten zu stark auf den Aufbau einer neuen militärischen Organisation, selbst wenn das Motiv die Entfernung Westeuropas aus der Schußlinie der Supermächte ist. Gegenwärtig können diese zwei wichtigen Länder (zumindest in der Öffentlichkeit) wenig mehr tun, als eine allgemeine Möglichkeit ins Gespräch zu bringen und es anderen zu überlassen, deren Implikationen herauszustellen. Nur Belgien tut dies unbekümmert. In Dänemark, den Niederlanden und Griechenland stehen starke Kräfte gegen eine . Militarisierung'der Gemeinschaft, und es bedarf keiner weiteren Erläuterung, daß jeder weitere Schritt in diese Richtung eine schwere Störung in der irischen Politik verursachen würde, in der der Neutralismus, als direktes Resultat der Politischen Zusammenarbeit, wieder zum Gegenstand von Kontroversen geworden ist.
Wahrscheinlich ist, daß die Koordinierung in Sicherheitsfragen unter den gegenwärtigen Umständen eine natürliche Grenze erreicht hat. Es ist schwer abzusehen, wie weitere Fortschritte gemacht werden können, ohne einer Gemeinschaft d Id carte näherzukommen, da mehrere Länder sich bei formaleren Verfahrensweisen ausschalten würden. Die EG wird eine . Sicherheitsgemeinschaft'im Sinne Präsident Mitterrands bleiben, der meinte, daß sich alle Mitgliedstaaten durch Bedrohungen der territorialen Integrität irgendeines anderen Staates verpflichtet fühlen würden, aber im Kontext Nachkriegseuropas wäre dies wahrscheinlich ohnehin der Fall. Eine aussichtsreichere, da einer anerkannten Notwendigkeit entsprechende und keinem ernsthaften nationalen Interesse zuwiderlaufende Entwicklung ist, daß die Politische Zusammenarbeit zunehmend zum Lobbyinstrument der Europäer gegenüber den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion in bezug auf Abrüstungsfortschritte werden könnte. Dies könnte durch gemeinsame Positionen in der KSZE und den Vereinten Nationen erreicht werden und hätte den Vorteil, eine neue Welle öffentlicher Unterstützung für die EPZ zu erzeugen.
Das Sicherheitsproblem ist kaum gelöst. Aber die Staaten der Gemeinschaft können tatsächlich nur sehr wenig unternehmen, um es anzupacken. Selbst innerhalb der engen deutsch-französischen Beziehungen ist man gezwungen, die Schwierigkeiten unter den Teppich zu kehren, die sich aus der Nicht-Teilnahme Frankreichs an der KommandoStruktur der NATO und aus der Tatsache ergeben, daß französische Kurzstreckenraketen auf deutschen Boden gerichtet sind Frankreich stellt in sich selbst eine hohe Barriere gegen jede europäische Sicherheitsorganisation dar. Es ist Mitglied der NATO, aber nicht in ihr aktiv; es zieht die WEU der Euro-Gruppe der NATO vor; es sieht in jeder Ecke das Gespenst des Supranationalismus lauern, und stellt einen ständigen Stein des Anstoßes für diejenigen dar, die nationale Verteidigungspolitik für anachronistisch halten. Aber gerade General de Gaulle wollte Europa zu einer in jeder Beziehung von den Supermächten unabhängigen Gemeinschaft machen, und wenn die Belastungen der frühen achtziger Jahre in der Atlantischen Allianz anhalten, wäre es für Frankreich durchaus keine drastische Kehrtwendung, die Führung in der Wiederbelebung der Idee der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu übernehmen, die es in den fünfziger Jahren vorgeschlagen hatte In der britischen Politik gibt es auf der Linken, in der Mitte und auf der Rechten Elemente, die einen solchen Schritt aus verschiedenen Gründen unterstützen könnten, und mindestens die Hälfte der übrigen acht Mitgliedstaaten würden ihn möglicherweise begrüßen.
Aber dies geht zu weit in den Bereich der Spekulation. Für unseren gegenwärtigen Versuch der Einschätzung nationaler Unterschiede in der Haltung zur sicherheitspolitischen Zusammenarbeit genügt es, folgendes herauszustellen: eine Gemeinschaft, in deren Reihen sich zwei ständige Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und acht Nicht-Mitglieder befinden; eine Gemeinschaft mit einem neutralistischen Staat, acht Vollmitgliedern der NATO, einem Unterzeichnerstaat des NATO-Vertrages von 1949, der aber eine unabhängige Kontrolle seiner Streitkräfte besitzt; eine Gemeinschaft mit zwei Nuklearmächten, einem Staat, der mehr mit lokalen Bedrohungen Zyperns und der Ägäis beschäftigt ist als mit dem zentralen Gleichgewicht, und mit mindestens vier Staaten, die im Innern von Streitigkeiten über die Stationierung der von ihnen selbst 1979 geforderten amerikanischen Raketen zerrissen sind. Eine solche Gemeinschaft ist nicht gerade in der besten Verfassung, eine neue gemeinsame Sicherheitspolitik zu entwickeln — obwohl die Anreize dazu für einige sehr wohl existieren mögen.
VI. Nationale und gemeinsame Interessen — im Gleichgewicht?
Das vorher gesagte sollte deutlich gemacht haben, daß es hinter dem Vorhang der EPZ zahllose Unterschiede in den Ansichten und Divergenzen im Verhalten gibt. Aber auch wenn die Einheitlichkeit nur oberflächlich ist, so hat sie sich doch als dauerhaft erwiesen, und ein Grund für den fortgesetzten Prozeß der politischen Zusammenarbeit ist darin zu sehen, daß sich die innerhalb der Gruppierung der Zehn gebildeten Koalitionen nie verfestigt haben. Strukturelle Risse sind bisher, trotz des ganzen Geredes über . Direktorien'oder über ein Europa der . zwei Ränge' nicht aufgetreten. Auftretende Bündnisse pflegen höchst informell, problemzentriert und wechselhaft zu sein. Selbst da, wo zwei Länder eine gemeinsame politische Perspektive haben, bedeutet dies nicht, daß sie sich auch in ökonomischen oder sozialen Fragen nahestehen, und die weitere Analyse wird zeigen, wie in der EPZ Solidarität in einer Frage (z. B. Frankreichs mit Großbritannien in der Falkland-Krise) nicht unbedingt auf andere Fragen übertragen wird, nicht einmal bezogen auf denselben Kontinent (z. B.französische-britische Meinungsverschiedenheiten in bezug auf Mittelamerika).
Die Konsequenzen dieses Musters der Verschiedenheiten sind paradox. Einerseits erschweren sie den Quantensprung auf die Ebene, auf der eine gemeinsame Außenpolitik sich natürlich aus gemeinsamen Vorstellungen und Interessen entwickelt. Andererseits bedeuteten sie auch, daß es in der EPZ keine ernsthaften Antagonismen mit gezogenen Schlachtlinien und geschlossenen Ansichten gibt. Neue Ideen und Vorschläge sind jederzeit möglich und manchmal erfolgreich, wie der London-Bericht zeigte. Dennoch fördert das ständige Auf und Ab der nationalen Positionen eher den Status quo. In einem auf Freiwilligkeit basierenden System wie der EPZ ist es, selbst wenn man grundsätzlich allseitigen guten Willen unterstellt, schwer, die überwältigenden Mehrheiten zu mobilisieren, die effektiv gebraucht werden, um größere Veränderungen in der Praxis durchzusetzen. Die meisten der eingeführten Verbesserungen waren kostenneutrale Rationalisierungen, die einfach den Kommunikationsfluß verbesserten. In diesem Sinne sind sie langfristige Investitionen, die die Konvergenz der Einstellungen ermöglichen sollen, aber für sich selbst genommen stellen sie noch keine Verpflichtung von qualitativer Bedeutung dar.
Es gibt sicherlich wenig Anzeichen dafür, daß die EPZ die Hoffnungen des Tindemans-Berichts durch Erneuerung der inneren Strukturen der Gemeinschaft erfüllen könnte. Im Gegensatz zu einigen Interpretationen sind in den siebziger Jahren Fortschritte gemacht worden (Europäische Währungsunion, EG-Erweiterung, endlich eine gemeinsame Fischereipolitik), aber in jedem Fall unter beträchtlichen Schwierigkeiten. Bei internen Fragen war der Sinn für Kollegialität in der EPZ jedoch gering.
Vielleicht heißt dies aber, die EPZ einer allzu rigorosen Überprüfung zu unterziehen. Sie sollte statt dessen nach ihrer Kapazität beurteilt werden, eine konsistent harmonisierte Außenpolitik und effektive Ergebnisse in den Beziehungen zu Drittländern zu produzieren. Unter solchen Kriterien gibt es sicher auf den ersten Blick sehr gute Gründe für die Aussage, daß die EPZ gestärkt, erweitert und weiterentwickelt worden ist, um die Terminologie des Haager Gipfels von 1969 zu übernehmen. Um diese Einschätzung abzuschließen und klarzumachen, daß die Darstellung der nationalen Perspektiven im Hinblick auf die EPZ nur der Füllung einer offensichtlichen Lücke und nicht dem Übergang ins andere Extrem dient, müssen zwei entgegengesetzte Argumente überprüft werden: erstens, daß nationale Verschiedenheiten unter einen sich entwickelnden Konsensus subsumiert werden, der Meinungsverschiedenheiten regelmäßig in den Rang untergeordneter Fragen verweist; zweitens, und im Gegensatz dazu, daß die EPZ wesentlich ein abwechselnd geund mißbrauchtes Instrument von Staaten und daher nur als statischer Rahmen anzusehen ist, nicht aber als organische Bewegung zur Einheit hin.
Einer der Hauptpunkte zur Unterstützung der These, daß die EPZ einen immer solideren Konsenus hervorbringt, ist die Tatsache, daß Wechsel in den nationalen Regierungen die gemeinsamen außenpolitischen Haltungen im allgemeinen nicht erschüttern, da die Vorteile einer Blockstrategie jeder neuen Regierung so augenfällig erscheinen, daß eine Änderung in der Politik schädlich erscheint. Doch hat dieses Argument wichtige Grenzen. Zunächst legen Staaten auch ohne formale Systeme der Koordination häufig trotz interner Veränderungen Kontinuität in der Außenpolitik an den Tag; das Fehlen von Veränderungen ist daher noch kein Beweis für die Wirkung der Politischen Zusammenarbeit. Zweitens gibt es umgekehrt Hinweise dafür, daß innenpolitische Umwälzungen trotz der Zwänge eines kollektiven Systems der politischen Entscheidungsfindung in die europäische Außenpolitik übergreifen. In jüngster Zeit hat die Machtübernahme der PASOK das griechische Verhältnis sowohl zur NATO als auch zur EG zweifellos viel problematischer gemacht, auch wenn das vor den Wahlen zu hörende Gerede vom Rückzug aus diesen zwei Institutionen nachgelassen hat. Ähnlicher-und paradoxerweise ist Frankreich unter einem sozialistischen Präsidenten zu einem eher verläßlicheren Partner in der EPZ geworden als unter den Launen von Giscard d'Estaing; in Irland ist FitzGerald eindeutig ein natürlicherer Europäer als Charles Haughey.
Selbst innerhalb einer Regierung können Ministerwechsel die EPZ beeinträchtigen. Der Rücktritt Lord Carringtons und die darauffolgende Entschlossenheit Mrs. Thatchers, die Außenpolitik unter ihre eigene Kontrolle zu bringen, hat die Fähigkeit der Europäer, ihre allmählichen Bewegungen hin zur Anerkennung der PLO fortzusetzen, ins Wanken gebracht Umgekehrt wird in Ländern mit relativ häufigen Regierungswechseln das Element der Kontinuität eher durch bestimmte Schlüsselpersonen repräsentiert als durch einen Sozialisationseffekt der EPZ. Die Karriere von Leo Tindemans in Belgien ist ein Beleg dafür, ebenso wie die seines Spitzenbeamten Philippe de Schoutheete. Ein italienisches Beispiel wäre Roberto Ducci. Beamte sind zugegebenenmaßen das entscheidende Bindeglied. In dem Maße, in dem sie an die EPZ gebunden sind (und nicht, wie in der Bundesrepublik, aus politischen Gründen ausgetauscht werden können), können sie deren vorgeschobene Position für die Außenpolitik ihres Landes auch über Regierungswechsel hinweg aufrechterhalten. Der Prozeß der Politischen Zusammenarbeit übt zumindest dadurch ständigen Druck in Richtung auf einen Konsensus aus, daß er in den nationalen Administrationen Enthusiasten rekrutiert.
Obwohl also zweifellos in der EPZ wichtige einigende Kräfte am Werk sind, ist es nicht gerechtfertigt anzunehmen, daß sich das System mittlerweile weitgehend aus eigener Kraft aufrechterhält und von den Komplexitäten der zehn nationalen Politiken, die ihr zugrundeliegen, isoliert existiert. Politische Zusammenarbeit ist nach wie vor ein zarter, leicht störbarer Mechanismus. Diese These kann untermauert werden, wenn wir kurz auf einige der substantiellen Fragen Bezug nehmen, die bei den Treffen der Außenminister der Gemeinschaft im Rahmen der EPZ im Vordergrund der Beratungen gestanden haben. So hat z. B. die Diskussion der Krisen im Nahen Osten eine gemeinsame Haltung hervorgebracht, aber auch verschiedene nationale Taktiken, einschließlich der einseitigen Erklärung Claude Cheyssons in Israel im Dezember 1981, die europäische Initiative sei tot In der KSZE-Konferenz wurde eindrucksvolle Solidarität unter Beweis gestellt, aber in den entscheidendsten europäischen Sicherheitsfragen, Rüstungskontrolle und Stationierung von Curise Missiles und Pershing II, wetteifern die einzelnen Staaten darum, wer sich am meisten zurückhält. In der weitergefaßten Frage der Politik gegenüber den Vereinigten Staaten konnte die „Formel von Gymnich' lediglich die allgemeinsten der gemeinsamen Positionen zum Ausdruck bringen, und die bilateralen Beziehungen zwischen Washington und den einzelnen Mitgliedstaaten sind nicht spürbar lockerer geworden. In bezug auf die andere Supermacht haben die Zehn mit einigem Erfolg versucht, in der Afghanistan-und Polen-Frage zusammenzuarbeiten. Aber die Sowjetunion brauchte in der ersten Frage nur der Moskau-Mission Lord Carringtons eine Absage zu erteilen, um den Vermittlungsversuch abrupt zu beenden, genauso wie Präsident Giscard nur wenig Ermunterung brauchte, um 1980 mit seinem Warschauer Treffen mit Präsident Breschnew aus der geschlossenen Front auszubrechen. Ähnlich ist es bei den Nord-Süd-Fragen, wo man nur wenig an der Oberfläche kratzen muß, um in Fragen wie Gemeinschaftsfonds, Außenhilfe, Waffenverkäufe und Apartheid peinliche Unterschiede in den Interessen und in der Praxis zu finden
Man kann daher nur schwer argumentieren, daß wir in vielen Fragen der Politik innerhalb der Politischen Zusammenarbeit eine ständige Vertiefung der Übereinstimmung und der gemeinsamen Sache beobachten können. Dagegen ist ein recht großes Maß an Überein-stimmung in den Umrissen der meisten Politikbereiche und den ihnen zugrunde liegenden Werten evident, zusammen mit einem gewissen Anstoßeffekt von einem Problem zum nächsten. Der Erfolg in der KSZE führte schnell zur Formulierung einer gemeinsamen Politik gegenüber Portugal, den Palästinensern, Zypern und anderen mehr Doch hat dies nur selten zu einem gesicherten Konsensus über Strategien, geschweige denn über eine detaillierte Taktik geführt. Die EPZ ist noch viel zu jung, um schon einen Politik-Reflex'oder einen geschlossenen Bestand gemeinsamer Interessen geschaffen haben zu können.
Dies führt uns zur zweiten zu überprüfenden These: der alternativen Behauptung, daß die EPZ lediglich einen statischen Rahmen darstellt — ein weiteres, wenn auch wichtiges Forum, in dem Staaten ihre nationale Außenpolitik austragen und das sie für ihre Zwecke nutzen. Zur Stützung einer solchen Interpretation birgt unsere Studie viel Material.
Es gibt nach alldem verschiedene Funktionen, die die EPZ für die nationale Außenpolitik erfüllt. Davon, wie die EPZ als Karte in der Gemeinschaftspolitik im weiteren Sinne gespielt wird — sei es zur Ermutigung größerer Integration, wie es Belgiens Absicht ist, sei es, wie im Falle Großbritannien, zur Ablenkung von eigener Intransigenz in anderen Angelegenheiten — wurde schon gesprochen. Ein weiterer klarer Vorteil, den die EPZ einer nationalen Außenpolitik verschaffen kann, ist die Verbesserung des eigenen Status oder Ansehens in der Welt. Wiederum sind Großbritannien und auch Italien wahrscheinlich die besten Beispiele für Mitglieder, deren nachlassender Einfluß durch ihre Mitarbeit als Teil eines regionalen Blocks wieder aufgefrischt worden ist. Es bleibt anzumerken, daß dann auch eine konsequente Erneuerung nationaler Aktivität die Politische Zusammenarbeit vor Probleme stellen kann.
Die meistgenannte Art der Ausnutzung der EPZ durch die Mitgliedstaaten war deren Funktion als . Deckmantel'für nationale Positionen, die sonst — sei es zu Hause oder im Ausland — geleugnet werden müßten. Italienische Regierungen sahen sich durchgängig genötigt, ihre eigenen außenpolitischen Initiativen in die Verkleidung von EPZ-Erklärungen zu stecken, um über die politischen Turbulenzen, die jede Administration in Rom plagen, hinausgehende Kontroversen über äußere Beziehungen zu vermeiden. Die Bundesrepublik hat sich, so Wolfgang Wessels und Reinhardt Rummel in dem angegebenen Buch, durch die Halbanonymität der Mitarbeit in der EPZ zunehmend aus der Passivität der ersten beiden Jahrzehnte ihres Bestehens befreien können. Diese beiden Autoren unterstellen auch, daß, obwohl die Deutschen nach wie vor die Solidarität durch die Politische Zusammenarbeit brauchen, es mittlerweile einige kleine Anzeichen, wie z. B. die Teilnahme der Bundesrepublik am Gipfel von Guadaloupe, dafür gibt, daß sie sogar aus einem rein kollektiven Ansatz herauswachsen könnten. In entgegengesetzter Richtung empfanden es die Niederlande als angenehm, ihre allmähliche Entfernung von der pro-israelischen Politik von 1973 in den Zusammenhang einer allgemeinen europäischen Politik zu stellen, die die Notwendigkeit betonte, alle Parteien des Konflikts im Nahen Osten an den Verhandlungstisch zu bringen.
Andere instrumentelle Gründe, die EPZ zu favorisieren, bestehen im Zugang, den sie kleineren Staaten zu den Überlegungen der wichtigen Mächte Westeuropas ermöglicht, und, paradoxerweise, auch in der Suche nach nationaler Identität. Dänemark, Irland und Luxemburg haben gleichermaßen empfunden, daß die Entwicklung einer durch die Politische Zusammenarbeit stimulierten, nach außen schauenden Außenpolitik sowohl die äußere Wahrnehmung ihrer Individualität erhöht hat als auch (zumindest in den ersten beiden Fällen) ein gewisses Maß an Nationalismus im eigenen Land nährte.
VII. Schlußbetrachtung
Es wäre unsinnig so zu tun, als seien die Vorteile, -die die Staaten aus der EPZ ziehen, alle inkompatibel mit dem Überleben und dem Fortschritt des gemeinsamen Unternehmens. Es gibt gute Gründe für die Argumentation, daß die EPZ sich nur entwickeln kann, wenn die Mitgliedstaaten weiterhin das Gefühl haben, daß diese ihren individuellen Interessen dient. Aber der Zeitpunkt der Entscheidung muß kommen, wenn das Verfolgen des nationalen Vorteils die Ausbeutung des guten Willens der Partner und die Zwanglosigkeit der Verpflichtung zur Folge hat, oder andersherum, wenn das Fortschreiten des Sytems den Mitgliedstaaten tatsächliche Opfer, politische oder finanzielle, abverlangt. Bisher hat sich die EPZ unter Vermeidung dieser Knotenpunkte entwickelt Die Verpflichtungen für die Staaten sind nicht größer als die, die freundschaftlichem Brauch entsprechen, und das System leidet einigermaßen unter regelmäßiger Nonkonformität.
Dies bedeutet nicht, daß die Politische Zusammenarbeit einen bestimnmten Weg eingeschlagen hat und sich von nun an in die Liste der vielen internationalen Organisationen oder Einrichtungen einreihen wird, in de-B nen Diplomatie zwar vorkommt, aber nicht umgesetzt wird — wie der Europa-Rat, die OECD, die WEU oder selbst die Vereinten Nationen. Denn was wir oben eher als Konsensus der Werte denn als Taktik beschrieben haben, ist zweifellos im Verlauf der letzten zehn Jahre mit der EPZ als Speerspitze einer allgemeinen westeuropäischen Bewegung erreicht worden, einer Bewegung, mit der sich in der Tat auch nicht-europäische Staaten wie Japan oder Australien zuweilen identifiziert haben. Diese grundlegende Perspektive folgte auf den Verfall der Entspannungspolitik und die Enttäuschung, wenn auch in unterschiedlichem Maße, über beide Supermächte. Was sie wirklich meint, ist die Entwicklung einer besonderen (west-) europäischen Position in internationalen Angelegenheiten, die Betonung diplomatischer Mittel im Gegensatz zu Zwangsmaßnahmen, die zentrale Stellung von Vermittlungsbemühungen bei der Lösung von Konflikten, die Bedeutung langfristiger ökonomischer Lösungen für politische Konflikte und die Notwendigkeit des Selbstbestimmungsrechts der Völker — all dies in Abgrenzung von den politischen Normen der Supermächte
Solche axiomatischen Grundsätze leiten sich aus den schmerzlichen Lektionen zweier Kriege und der Entkolonialisierung ab und sind als deren Ergebnis tief verwurzelt. Man kann argumentieren, daß sie lediglich das gefällige liberale Moralisieren von Staaten repräsentieren, die die großen Ereignisse gerne beeinflussen würden, dazu aber nicht mehr in der Lage sind. Man kann aber auch mit einiger Plausibilität sagen, daß Einheitlichkeit in der Rhetorik über praktischen Dilemmata schnell zerbricht und daß die EPZ an der Kluft zwischen den vier . Hauptakteuren'(immer noch mächtig und voller Ansprüche) und den kleineren Staaten, die den idealistischen Ansatz einer . zivilen Macht'nur unwillig aufgeben, scheitern könnte. In jedem Fall ist klar, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft in den letzten dreizehn Jahren gezwungen waren, ihre nationalen Interessen in der Sphäre der Außenpolitik neu zu formulieren. Sie sahen die Vorteile des Zusammenschlusses und kamen innerhalb dessen zu gemeinsamen Einstellungen, die in sich selbst weit davon entfernt sind, das komplexe Bündel der althergebrachten Interessen, das die modernen Nationalstaaten konstitutiert, zu unterminieren und damit etwa eine wahrhaft gemeinsame Außenpolitik zu schaffen. In der langfristigen historischen Sicht jedoch kann die Politische Zusammenarbeit wegen ihrer Integrationskapazität und ihrer weltpolitischen Perspektive als von großer Bedeutung bezeichnet werden.