Der Doppelbeschluß der NATO von 1979, der das Verhandlungsziel setzte, in Europa ein regionalstrategisches Gleichgewicht herzustellen, hat indirekt das Problem der Drittstaatenarsenale und insbesondere der französischen „Force de Frappe" akut werden lassen. Der Andropow-Vorschlag vom Dezember 1982, die strategischen Kernwaffen Frankreichs und Großbritanniens zum Maßstab für den Bestand an sowjetischen Mittelstreckenraketen zu machen, schuf nicht nur eine neue Verhandlungssituation in Genf, sondern rief auch Streit in Frankreich selbst wie in ganz Westeuropa darüber hervor, ob dieses neue sowjetische Konzept die Grundlage für einen Ost-West-Kompromiß sein konnte. Die Rolle der Kernrüstung Frankreichs wird im Beitrag zunächst im Hinblick auf ihre historische Entwicklung seit der IV. Republik und die unter de Gaulle konzipierte Nuklearstrategie untersucht, die im Grunde bis heute beibehalten worden ist. Die von der Pariser Linksregierung durchgeführte Modernisierung der „Force de Frappe" wirft für die achtziger Jahre die Frage nach der politischen wie militärischen Relevanz dieses Arsenals der nationalen Abschreckung auf. Im Zusammenhang mit den heutigen Rüstungskontrollverhandlungen wird dann die Haltung Frankreichs wie diejenige der NATO und der UdSSR umrissen. Wenngleich hier Übereinstimmung darin zu bestehen scheint, daß die Drittstaaten-Kernwaffen in den Gesamtprozeß der „arms control“ einbezogen werden müssen, so gibt es gravierende Divergenzen hinsichtlich des Zeitpunkts, des Verhandlungsrahmens und der Modalitäten einer derartigen Anrechnung im globalen Ost-West-Kräfteverhältnis.
Mit dem Vorschlag des sowjetischen Partei-chefs Juri Andropow vom Dezember 1982, die strategischen Arsenale der beiden kleinen europäischen Atommächte Frankreich und Großbritannien zum Maßstab für das der Sowjetunion vertraglich zuzubilligende Potential an gegen Westeuropa gerichteten Mittelstreckenraketen zu machen, ist die Frage der sogenannten Drittstaatwaffen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung um die NATO-Nachrüstung gerückt. Diese für alle Beobachter überraschende Initiative des erst einige Wochen vorher zum Nachfolger von Leonid Breschnew gewählten Andropow mag in erster Linie von politischen Motiven, nämlich dem Bestreben, die ohnehin im westlichen Lager um die Durchführung des Doppel-beschlusses der NATO vom Dezember 1979 bestehenden Divergenzen noch zu verstärken, bestimmt worden sein. Ganz zweifellos hat dieser sowjetische Schritt neue Bewegung in die bis zum Jahresende 1982 offenbar erstarrten Fronten bei den Genfer Verhandlungen der beiden Weltmächte über die Begrenzung der im Westen so genannten INF, der . Intermediate Nuclear Forces", also der nuklearen Mittelstreckenarsenale in und um Europa gebracht. Sicherlich suchte die neue Führung im Kreml hiermit die von dem atlantischen Bündnis 1979 vereinbarte Verhandlungsposition zu unterlaufen und die Vereinigten Staaten ihrerseits zu größerer Flexibilität zu veranlassen.
I. Die Entwicklung der französischen Nuklearrüstung
Ursprung und Zielsetzungen unter General de Gaulle In Frankreich legt man seit der Gründung der V. Republik Wert auf die Feststellung, nicht General de Gaulle, sondern die Kabinette der IV. Republik hätten den Bau der Atombombe beschlossen und in die Wege geleitet. Das ist richtig, aber es trifft den Kern der Sache nicht; denn das Kennzeichen der „Force de Frappe" ist ihre volle Unabhängigkeit und — im Gegensatz zur britischen Atomrüstung — das Fehlen jeglicher Bindungen an die NATO und an die Zielplanung und Einsatzmodalitäten im Rahmen des Bündnisses. Ministerpräsident Pierre Mends-France verfügte Ende 1954 gewissermaßen unter Ausschluß der Öffentlichkeit die Aufnahme der militärischen Nuklearforschung, doch erst die Linkskoalition unter dem Sozialisten Guy Mollet entschloß sich zwei Jahre später zur Entwicklung eigener Kernwaffen. Eine Grundsatzdebatte hierüber fand nicht statt; die Nuklearoption wurde wenn nicht heimlich, so doch still und leise und fast verschämt aufgenommen. Die schnell aufeinanderfolgenden Kabinette der im Innern wie nach außen durch den Algerienkrieg geschwächten Republik verfolgten hiermit weder eine bündnispolitische Neuorientierung noch eigene strategische Vorstellungen 1) -Es ging wohl darum, mit Großbritannien im Status einer Atommacht gleichzuziehen. Als aktuelle Begründung für den Schritt zum militärischen Atom wurde damals in Paris angeführt, der unglückselige Ausgang der französisch-britischen Suez-Expedition vom November 1956 habe die Notwendigkeit bewiesen, in Zukunft einem Ultimatum (der Vereinigten Staaten) und Drohungen (von Seiten der Sowjetunion) dank einer eigenständigen Verfügung über Kernwaffen widerstehen zu können — obwohl ja gerade die Kapitulation Großbritanniens in der Suez-Affäre das Gegenteil bewiesen hatte, daß nämlich der Besitz eines kleinen, unabhängigen Atomarsenals nicht genügte, um politischem Druck zu widerstehen.
Eine von sämtlichen internationalen Bindungen und Auflagen freie Nuklearstreitmacht war von der IV. Republik auch nicht erwogen worden, und Mendös-France nahm sogar eine gegenüber dem englischen Partner gravierende Diskriminierung hin, indem er im Protokoll zur Rüstungskontrolle des abgeänder-ten Brüsseler Vertrages zur Westeuropäischen Union (WEU) vom Oktober 1954 einem Artikel zustimmte, der besagte, der Ministerrat der WEU werde mit einfacher Mehrheit die Höhe der Kernwaffenbestände, über die ein kontinentales Mitgliedsland verfügen durfte, festsetzen. Dieser sehr wesentliche Souveränitätsverlust Frankreichs war die Gegenleistung für die von der Bundesrepublik im gleichen Protokoll eingegangene Verpflichtung, auf ihrem Staatsgebiet keine atomaren, chemischen und biologischen Waffen (die sogenannten ABC-Waffen) herzustellen. Der Vertrag schloß also die rein nationale Verfügungsgewalt (wenn auch nicht unbedingt den nationalen Einsatzbefehl) über Kernwaffen aus, zumal die Höhe der erlaubten Bestände von der Rüstungskontrollbehörde der WEU zu verifizieren war General de Gaulle, der im Mai 1958 zur Macht zurückgekehrt und Ende des Jahres zum Präsidenten der neuen Republik gewählt worden war, setzte sich über diese Vertrags-bestimmungen hinweg. Er bereitete sofort den unter den letzten Kabinetten der „Republikanischen Front" unternommenen Bemühungen ein Ende, die Atomrüstung mit finanzieller Hilfe insbesondere der Bundesrepublik zu betreiben und er lehnte später auch alle Angebote der Vereinigten Staaten zur rüstungstechnischen Kooperation auf dem Nukleargebiet ab. So weigerte er sich Ende 1962, dem amerikanisch-britischen Abkommen über den Aufbau einer multinationalen Flotte von „Polaris" -Unterseebooten (mit amerikanischen Trägerraketen, aber Sprengköpfen eigener Produktion) beizutreten. Die Beihilfe Washingtons beschränkte sich auf die Lieferung eines Prototyp-Kernreaktors — der es den französischen Technikern erlaubte, die für die U-Boote benötigten Atomantriebsmotore nachzubauen — und von zwölf Boeing 707 Spezialmaschinen zwecks Auftanken der französischen Atombomber in der Luft Der von de Gaulle systematisch ins Werk gesetzte Wiedereintritt Frankreichs in das Konzert der Großmächte beruhte entscheidend darauf, daß er über ein militärisches Instrument verfügte, das diesen Anspruch durchzusetzen vermochte, d. h. über Kernwaffen, die allein unter nationalem Kommando standen und nur dem Schutz Frankreichs, nicht aber dem der Bündnispartner dienten. Der immer wiederholten Maxime de Gaulles zufolge konnte die Androhung, die „Force de dissuasion", die Abschreckungswaffen einzusetzen, nur glaubhaft sein, wenn es um die vitalen Interessen des eigenen Landes ging. Es gilt von vornherein klarzustellen, daß es sich hier nicht um Sinn und Nutzen des Besitzes von Kernwaffen überhaupt handelt. Schließlich waren auch Politiker der IV. Republik davon überzeugt, daß, wie es de Gaulle dann einmal formulierte, der Verzicht auf die Nuklear-option eine „chronische und gigantische Unterlegenheit“ gegenüber den Kernwaffenstaaten bewirken müßte und sie hatten sich aus diesem Status-Denken heraus zum Bau der Bombe entschlossen. Der britischen Atomrüstung lag das gleiche Motiv zugrunde.
Die Problematik, die vom General-Präsidenten in die atlantische Grundsatzdebatte um den Wert und die Grenzen der Abschreckung innerhalb eines Bündnisses getragen worden ist, bezieht sich darauf, ob es zutrifft, daß ein Kernwaffenstaat den Einsatz dieser Waffen dem Gegner gegenüber nur glaubhaft machen kann, wenn sein eigenes Gebiet und damit seine nationalen Lebensinteressen bedroht sind. De Gaulle jedenfalls leitete aus diesem Postulat die moralische und politische Berechtigung für den Aufbau des voll eigenständigen, durch keine Bündnis-Absprachen gebundenen Abschreckungsarsenals ab, und untermauerte dies mit der immer wieder öffentlich wiederholten Behauptung, auf die Vereinigten Staaten als Garantiemacht sei im Ernstfall und angesichts des sich entwickelnden atomaren Patts mit der Sowjetunion kein wirklicher Verlaß, und Frankreich müsse deshalb seine Verteidigung in die eigenen Hände nehmen
Beide Abschreckungsphilosophien, die der NATO und die Frankreichs, können nicht zugleich richtig sein, sie schließen einander aus. Beide Abschreckungsstrategien können nicht gleichzeitig angewandt werden; denn die französische kann nur und erst in Aktion treten, wenn die der NATO versagt hat. Niemand im Westen akzeptierte — damals wie heute — die Thesen de Gaulles; denn sonst hätten sich die europäischen Verbündeten ja gleichfalls aus der integrierten Militärstruktur lösen und ihre militärischen Bündnisverpflichtungen aufkündigen bzw.den Weg zur nationalen Atommacht beschreiten müssen. Der östliche Gegenspieler nahm die „ultima ratio“ der „Force de Frappe" gleichfalls nicht ernst, nutzte sie aber nach Kräften aus, um das westliche Bündnis politisch zu spalten. Die französischen Bürger schließlich glauben, wie Meinungsumfragen ausweisen in ihrer Mehrheit nicht an die Wirksamkeit der rein nationalen Abschreckung.
Wäre nicht das geistig-moralische Unbehagen, das bei den Partnern seit fast 20 Jahren angesichts des Pariser Partikularismus besteht, so könnte man hierin einen praktisch nutzlosen, weil durch Fakten nicht beweisbaren scholastischen Disput sehen. Die politische Ratio gebot es damals dem französischen Staatschef, die Zuverlässigkeit der amerikanischen Nukleargarantie für Westeuropa in Zweifel zu ziehen; denn wie anders hätte er seine Landsleute von der Notwendigkeit der eigenständigen „Force de Frappe“ überzeugen und die Opposition aller nicht-gaullistischen Parteien überwinden können, die gegen ihn das Argument ins Feld führten, allein die Integration in der NATO vermöge die Sicherheit Frankreichs zu verbürgen
De Gaulle dachte nicht als Moralist und als Militärstratege, sondern als Staatsmann, der die Blockstrukturen, die aus dem Kalten Krieg hervorgegangen waren und die Teilung Europas zu verewigen drohten, zu überwinden suchte; für den die Kernwaffen, bei denen die USA praktisch das Monopol im Westen besaßen, in allererster Linie eine politische Funktion hatten, indem sie dazu dienten, die amerikanische Hegemonialstellung im Bündnis zu erhalten und zu rechtfertigen. In der NATO mit ihrer integrierten Militärstruktur und auch in einer auf Großbritannien erweiterten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sah er — wie er Konrad Adenauer schon kurz nach seinem Regierungsantritt im September 1958 erläuterte — die ständige, systembe-dingte Unterordnung der europäischen Staaten unter die Vormachtstellung Washingtons. Nachdem sein im Sommer 1958 unternommener Versuch, Präsident Eisenhower und Premierminister MacMillan für die Schaffung eines Dreier-Direktoriums der westlichen Atommächte als weltpolitisch-strategisches Führungsorgan der NATO zu gewinnen, gescheitert und auch sein Einspruch gegen die von Washington im Bündnis durchgesetzte Strategie der „flexible response" wirkungslos geblieben waren, trat er zum Alleingang an, um die Bündnisstrukturen auf dem Wege des gegenseitigen Beispiels aufzulockern und das europäische Staatensystem unter Zurückdrängung des Einflusses der beiden Weltmächte im Sinne des „Europas der Vaterländer", also der alten Nationalstaaten und der klassischen Militärallianzen neu zu gestalten. Sein im Februar 1965 öffentlich verkündeter Dreistufenplan der „Entspannung, des Einvernehmens und der Zusammenarbeit" zwischen Ost und West, dessen Grundkonzept er Nikita Chruschtschow bereits im März 1960 entwickelt hatte verfolgte diese Zielsetzung. In dieser globalen außenpolitischen Sicht war die „Force de Frappe“ nur ein Mittel zum Zweck und eben nicht ein Selbstzweck, d. h. die Demonstration der wiederentstandenen „grandeur" Frankreichs. Mitte der sechziger Jahre jedenfalls fiel die Herausnahme der französischen Streitkräfte aus dem Verteidigungssystem der NATO für das Bündnis militärisch viel stärker ins Gewicht als die damals strategisch noch völlig irrelevante nationale Atombewaffnung.
Entscheidend für das Gelingen des gaullistischen „großen Wurfes" der gesamteuropäischen Neuordnung war nicht der Besitz der „Force de Frappe" als solcher — wiewohl sie als Faustpfand der eigenen Handlungsfreiheit eine unverzichtbare Rolle spielte —, sondern die Bereitschaft der Sowjetunion, mit der Entspannung „ä la francaise" dem Beispiel de Gaulles zumindest begrenzt zu folgen und den eigenen Verbündeten im Warschauer Pakt ein größeres Maß an Autonomie zuzugestehen. Das Rumänien Ceausescus bot sich gewissermaßen als Spiegelbildmodell an, doch die Ereignisse im Jahr 1968 — die Erschütterung der Position de Gaulles durch die Mai-Unruhen — und vor allem das Scheitern des Prager Frühlings und die darauffolgende erneute Disziplinierung der Blockstaaten machten den Hoffnungen de Gaulles ein
Ende. Unerwiesen bleibt, ob die gaullistische Strategie nicht überhaupt aussichtslos war, weil die UdSSR sich damals bereits auf den Weg des modus vivendi mit dem Hauptgegenspieler, den Vereinigten Staaten, begeben hatte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, daß der französische Staatschef die „Force de Frappe" als Instrument der politischen Evolution in ganz Europa begriff. Nachdem der Weg hierzu im Osten verbaut war, suchte er erneut in den letzten Monaten seiner Amtszeit (wie in der sogenannten Soames-Affäre deutlich wurde) eine Veränderung der atlantischen Bündnisstrukturen zu erreichen Als sein Nachfolger Georges Pompidou auf diese Ambitionen verzichtete und sich mit dem Status quo in der NATO wie mit dem nun einsetzenden multilateralen Entspannungsprozeß der beiden Weltmächte und ihrer jeweiligen Partner abfand, wurde der diplomatische Nutzen der „Force de Frappe" und darüber hinaus der eigenständigen französischen Verteidigung fragwürdig. Mit der Ende der siebziger Jahre beginnenden rückläufigen Entwicklung und der Verhärtung des Ost-West-Verhältnisses wuchs die Gefahr, daß die Sonderstellung Frankreichs zur Selbstisolierung führte; denn für den Osten und insbesondere die Sowjetunion war der positive Effekt der „Force de Frappe" nicht mehr evident, und im Westen mußte zwangsläufig die Frage akut werden, warum Frankreich im Zeichen einer verstärkten militärischen Konfrontation nicht wieder voll in dem Bündnis, von dessen Verteidigungsfähigkeit letzten Endes auch sein eigenes überleben abhängt, mitarbeitet.
Das Dilemma jedes Verantwortlichen in Paris ist unauflösbar: Die Rückkehr in die NATO-Integration ist nicht möglich, weil sie in keiner innenpolitischen Konstellation durchsetzbar wäre und ein wesentliches Tabu der V. Republik zerstören würde. Die Alternative, die bewaffnete Neutralität, will niemand, wohl ausgenommen die Kommunisten, und es ist auch nicht zu sehen, was Frankreich sicherheitspolitisch damit gewinnen würde. Also verbleibt man in einer prekären Mittel-position, stets balancierend zwischen der Zugehörigkeit zum Atlantikpakt und der Bekräftigung der Solidarität (die aber ihren Ausdruck nicht in bindenden militärischen Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten findet) einerseits, und dem Pochen auf der vollen Entscheidungsfreiheit im gesamten Spektrum der Verteidigung, im atomaren wie im konventionellen Bereich, andererseits. Diese Zwitterposition durchzusetzen erfordert großes dialektisches Geschick, zumal für Regierungsparteien, die sich erst vor sechs Jahren zum Prinzip der bis dahin von ihnen erbittert bekämpften Atomrüstung und Verteidigungspolitik bekannt haben, und die Urheberrechte an diesem gallischen Spezifikum des „sowohl als auch" nicht geltend machen können. 2. Die Grundlagen der Nuklearstrategie Diese Ambivalenz der Verteidigungspolitik findet sich naturgemäß in der Formulierung der Nuklearstrategie wieder. Die Theoretiker der „Force de Frappe“ haben zu diesem Zweck eine eigenartige Semantik erfunden, die mit Begriffen operiert wie „enjeu" (das, was auf dem Spiel steht), „Proportionalität der Abschreckung", „gleichmachende Wirkung des Atoms" und vor allem „Ungewißheit". General Andr Beaufre steuerte den brillanten Satz bei, die Ungewißheit sei die Mutter der Abschreckung General Lucien Poirier, der im Ausland kaum bekannt ist, Ende der sechziger Jahre aber im Planungsstab des Armeeministeriums den theoretischen Unterbau der Nukleardoktrin wesentlich mitbestimmt hat, entwickelte sogar eine militärische Variante der Relativitätstheorie. Die berühmte Formel von Albert Einstein ließ sich demzufolge wie folgt abwandeln: Masse (Nuklearkapazität) plus Bewegung (Ungewißheit) gleich (Abschreckungs-) Energie. Je geringer die Nuklearkapazität, desto größer die Ungewißheit, ob, wann, wo und womit jene zum Einsatz gelangt Das erklärt auch, warum die französische Doktrin den Kontrahenten so weit wie möglich im unklaren über die eigenen Absichten halten will, während die Doktrin der NATO angesichts der enormen, vielfältigen Masse auf ein Höchstmaß von Berechenbarheit abgestellt ist.
Der Gedanke der „proportionalen" Abschrekkung stammt von General Pierre Gallois und besagt, Frankreich brauche, um seine Abschreckung glaubwürdig zu machen, nur ein atomares Zerstörungspotential, das im Lande des Angreifers Vernichtungen anrichtet, die den Wert des Objekts Frankreich in dessen Augen übersteigen müssen. Diese These, auf der de Gaulle seine Nuklearstrategie fundierte, setzt allerdings voraus, daß die „Force de Frappe“ eine gesicherte Befähigung zum Zweitschlag besitzt, d. h. einen „Entwaffnungs-schlag" zu überleben vermag. Der Maßstab für diese Minimal-Abschreckung ist folglich nicht das eigene Potential, sondern die Fähigkeit des Gegners, und damit sieht sich Frankreich gezwungen, im technologischen Wettlauf der Supermächte, der die Waffenentwicklung der Sowjetunion bestimmt, mitzuhalten. Die entscheidende Frage ist deshalb, ob Frankreich die Proportionalität im Hinblick auf die militärtechnischen und finanziellen Ressourcen des östlichen Riesenreiches auf die Dauer wahren kann.
Die seit 1960 entwickelte Nuklearstrategie baut auf drei „essentials" auf:
1.der massiven Vergeltung (angesichts der fehlenden Mittel läßt sich die NATO-Strategie der angemessenen Erwiderung [flexible response] nicht nachvollziehen), 2.der Einsatz gegen die Großstädte und Industriezentren der UdSSR mit Maximierung der Vernichtungswirkung, 3.der Ersteinsatz (first use) von Kernwaffen auch dann, wenn der Gegner mit konventionellen Kräften die Lebensinteressen Frankreichs bedroht.
Der Gegner blieb zur Regierungszeit de Gaulles verschwommen. Generalstabschef Charles Ailleret konzipierte ab 1966, dem Datum des Austritts aus dem militärischen NATO-System, die „Rundum-Strategie“ („Strategie tous-azimuts"), in der die atomare Abschrekkung nach allen Himmelsrichtungen, also theoretisch auch gegen, die USA und Nichtkernwaffenbesitzer, wirken mußte. Das war unzweifelhaft infolge des grotesken Mißverhältnisses von Anspruch und in absehbarer Zeit verfügbaren militärischen Mitteln eine politische Doktrin, die von de Gaulle selbst Anfang 1969 aufgegeben wurde Lediglich die Kommunistische Partei hat seit ihrer Bekehrung zur „Force de Frappe" die Rundum-verteidigung aufgegriffen, und sie hält heute in der Regierungsverantwortung wider besseren Wissens daran fest, daß dies die geltende Nukleardoktrin der Linkskoalition sei. 3. Die Anpassungen unter den Nachfolgern de Gaulles Als erster nannte der Nachfolger Aillerets, der Luftwaffengeneral Michel Fourquet, den potentiellen Gegner, die Sowjetunion, beim Namen und suchte den Verwendungszweck der taktischen Nuklearwaffen insbesondere im strategischen Vorfeld Bundesrepublik zu präzisieren Eine umfassende Darstellung der Strategie gab dann der damalige Verteidigungsminister Michel Debr im Weißbuch 1972 Die sogenannte Debr-Doktrin hat bis heute ihre volle Gültigkeit bewahrt und wird gerade von der Linksregierung wieder besonders betont.
Bei der Formulierung der militärischen Aufträge fehlt hier die klare Unterscheidung von strategischen und von taktischen (gefechtsfeldbezogenen) Waffen. Letztere (Jagdbomber und bodengestützte „Pluton" -Raketen mit einer Reichweite von rund 100 km) sind integraler Bestandteil der massiven Vergeltungs-Strategie. Ihr Ersteinsatz gegen den mit konventionellen Kräften auf die Grenzen Frankreichs vorrückenden Feind ist als letzte Warnung vor der Auslösung des strategischen Schlages gegen die Lebenszentren des Angreifers gedacht. Dem klassischen Feld-heer, also den diesseits und jenseits des Rheins stationierten Einheiten der 1. Armee, fällt die Aufgabe der hinhaltenden örtlichen Verteidigung zwecks Erkundung der gegnerischen Offensiv-Absichten zu, und es kann eventuell, falls sich die Regierung in Paris hierzu aus völlig eigenem Ermessen entschließt, im Rahmen der NATO-Streitkräfte-Planungen für den Raum Europa-Mitte eingesetzt werden, sollte es zu konventionellen Kampfhandlungen zwischen den Bündnissen kommen. Für den Einsatz der französischen Kernwaffen bestehen indessen derartige Absprachen mit dem NATO-Oberkommando nicht und soweit bekannt, gibt es bisher hierüber auch keine Konsultationen mit den Verbündeten und insbesondere der Bundesrepublik, durch deren Südwesten der atomare Stolperdraht Frankreichs verläuft und der damit als Zielgebiet eingeplant ist.
Die Doktrin des „alles oder nichts", die im Endeffekt auf die Wahl zwischen der Androhung des Selbstmords und der Kapitulation hinausläuft, wurde vom Nachfolger Georges Pompidous bereits in seinen ersten öffentlichen Erklärungen in Frage gestellt. Giscard d'Estaing erwog den Einsatz der „Force de Frappe" nur im Falle eines (sowjetischen) Nuklearangriffs auf Frankreich, und er gab somit eines der „essentials" der gaullistischen Doktrin auf, den Ersteinsatz von Kernwaffen, Sein Generalstabschef erklärte vor der Pariser Verteidigungsakademie unumwunden, er bezweifle, daß in dem extremen Fall, wo alles in Europa um Frankreich herum zusammengebrochen wäre, noch der nationale Wille bestehen würde, die massive Zerstörung anzudrohen, um das überleben zu sichern Die vom Präsidenten und seinen Beratern in die Strategiediskussion eingeführten Begriffe „erweiterte Sanktuarisierung" (durch Einbeziehung der Bundesrepublik in die nationale Nuklearabschreckung) und „einheitliches Schlachtfeld Europa" schufen mehr Verwirrung als Klärung, und letztlich blieb es beim Status quo; denn die neo-gaullistische Partei (R. P. R.) unter Jacques Chirac vermochte dank ihrer starken parlamentarischen Stellung in der Regierungskoalition alle Versuche einer Revision der Strategie im Sinne einer Annäherung an die NATO zu blockieren
Der im Mai 1981 zum Präsidenten gewählte Francois Mitterrand unternahm noch nicht einmal den Versuch, das militärische Erbe des Gaullismus den völlig veränderten innenpolitischen Grundbedingungen, also der sozialistisch-kommunistischen Koalition, anzupassen. In der Opposition hatten sich die beiden Parteien darauf geeinigt, die Nuklearstreitmacht „en etat", d. h. einsatzbereit zu halten; in der Praxis jedoch wurde den einzelnen Elementen der Atomrüstung, den strategischen wie den sogenannten taktischen, eine noch höhere Priorität eingeräumt. Mitterrand und seine Minister heben stärker als die Liberal-Konservativen die uneingeschränkte nationale Verfügungsgewalt und Entscheidungsfreiheit hervor und angesichts einer krisenhaften Wirtschaftslage und der systematischen Anfechtung von selten der bürgerlichen Opposition sehen sie in dem „fait nucle aire" ein wesentliches Mittel zur Aufrechterhaltung des nationalen Konsenses und das — in Wirklichkeit allerdings recht brüchige -sicherheitspolitische Fundament der Koal tion. Schon aus diesem Grunde ist jede Forderung nach Einbeziehung der französischen Kernwaffen in den multilateralen Prozeß der Rüstungsbeschränkung und Abrüstung ein gravierendes Moment der innen-und parteipolitischen Auseinandersetzung.
II. Das Nulearwaffenarsenal Frankreichs
1. Der Aufbau seit 1960 Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges verfügte General de Gaulle als Chef der provisorischen Regierung die Aufnahme der Kernforschung. Im Oktober 1945 wurde das Kommissariat für Atomenergie (CEA) gegründet, um Anschluß an die Entwicklung in den angelsächsischen Ländern zu gewinnen und deren damalige Monopolstellung zu brechen Das Kabinett Guy Mollet hatte Ende 1956 eine militärische Abteilung beim CEA eingerichtet. Ein Jahr später wurde beschlossen, eine Isotopentrennungsanlage in Pierrelatte, nördlich von Marcoule im Rhonetal, zu bauen, wo bereits drei Atommeiler in Betrieb waren, ursprünglich zur Stromgewinnung, dann aber zur Herstellung des für die Atombomben benötigten Plutoniums. Das andere Grundmaterial für die militärische Nutzung, das hochangereicherte Uran, sollte in Pierrelatte gewonnen werden, doch erst General de Gaulle vermochte im Sommer 1962 die Finanzierung dieser Anlage, welche insgesamt die damals gewaltige Summe von 4, 5 bis 5 Milliarden Franc kostete, endgültig im Parlament und gegen den starken Widerstand aller nicht-gaullistischen Parteien durchzusetzen. Mit größter Dringlichkeit wurde gleichfalls der Bau der noch in der IV. Republik geplanten Trägerwaffe, des Fernbombers Mirage IV A (der seine Ziele in der UdSSR aber nur durch Auftanken in der Luft erreichen konnte), vorangetrieben. Die erste Atombombe explodierte dann im Februar 1969 in der (damals noch französischen) Sahara. Zwei Jahre später waren die ersten Plutonium-Sprengköpfe produziert, obwohl die Mirage IV erst ab Herbst 1963 einsatzbereit waren, insgesamt 52, davon 16 als Reserve. Es dauerte fast zehn Jahre, bis die beiden anderen Bestandteile der französisehen Triade, die raketentragenden Unterseeboote und die landgestützten Mittelstreckenraketen in verbunkerten Stellungen auf dem Plateau von Albion in der Provence, in Dienst gestellt wurden. Die Planzahl von über 50 der-
artigen Mittelstreckenraketen wurde zu-
nächst auf 27 und dann auf zwei Batterien von ------------insgesamt 18 Einheiten verringert. Das erste Atom-Unterseeboot, die „Redoutable", mit 16 Raketen wurde im (einzigen) Stützpunkt, der Ile Longue bei Brest, im Dezember 1971 in Dienst gestellt
Im Jahre 1963 entschied General de Gaulle auch, mit der Entwicklung der sogenannten taktischen Kernwaffen zu beginnen, und zwar von Jagdbombern der Luftwaffe und der Marine-Luftwaffe und von bodengestützten, auf Panzerlafetten montierten Raketen vom Typ Pluton Insbesondere letzteres Waffensystem läßt sich kaum in Einklang bringen mit der amtlichen Doktrin der Minimalabschrekkung und der kategorischen Ablehnung jeglicher Mittel einer „Nuklearkriegführung", d. h.des Einsatzes derartiger Waffen auf dem Gefechtsfeld. Um die letzte Warnung vor der Auslösung der massiven Vergeltung zu erteilen, genügen einige wenige Atomjagdbomber; das Pluton-System ist hierfür überflüssig, zumal dessen Schutz in den Standorten in Ostfrankreich einen nicht unerheblichen Teil der Heeres-und Luftverteidigungsverbände bindet. Sicherlich spielte hier das Streben eine Rolle, technologisch mit den beiden Weltmächten mitzuziehen und so über die gesamte Skala der Nuklearwaffen zu verfügen, doch mag für de Gaulle, die psychologische Notwendigkeit den Ausschlag gegeben haben, das Heer gleichfalls zu beteiligen, um es nicht in die Rolle des konventionellen Knappen unter den atomaren Rittern, der Marine und Luftwaffe, absinken zu lassen. Völlig unerklärlich im Hinblick auf die geltende Nuklearstrategie ist dagegen die von Giscard d'Estaing 1978 getroffene Entscheidung, die Entwicklungsarbeiten für Neutronensprengköpfe aufzunehmen; denn dieses Waffensystem kann, wenn überhaupt, nur im Rahmen der NATO-Strategie der „flexible response" zur Anwendung kommen, und es müßte, wie von den gegenwärtig Verantwortlichen in Paris mehrfach eingestanden, eine völlige Revision der eigenen Strategie im Gefolge haben. Dennoch läßt Präsident Francois Mitterrand dieses Entwicklungsprogramm fortsetzen, obwohl er eine Entscheidung über die Einführung von Neutronensprengköpfen bei der Truppe auf unbestimmte Zeit verschoben hat 2. Der heutige Stand Die Nuklearstreitkräfte weisen gegenwärtig die folgenden Merkmale auf
A) Strategische Waffensysteme a) Strategische Luftstreitkräfte (FAS)
— 18 Mittelstreckenraketen S 3 (zwei Batterien zu je neun Raketen)
Reichweite: rund 3 500 km.
Sprengkopf: je 1 Megatonne (Mt).
— 34 Fernbomber Mirage IV (zehn in Reserve). Zwei Geschwader und ein Geschwader von elf Tankflugzeugen Boeing C 135 zwecks Auftanken in der Luft.
Sprengkopf: je eine freifallende Bombe von 60 Kilotonnen (Kt).
b) Strategische Seestreitkräfte (FOST)
— fünf atomgetriebene Untersee-Boote (Heimathafen Ile Longue bei Brest) mit je 16 Mittelstreckenraketen: Wasserverdrängung 8 000 To. Reichweite rund 3 000 km. Ein Sprengkopf M 20 pro Rakete mit 1 Mt. Zielgenauigkeit rund 800 Meter CEP.
B) Taktische Nuklearstreitkräfte (A. N. T.)
a) Luftwaffe: Taktische Luftflotte (FATAC) — 30 Mirage III (Fliegerhorst Luxueuil)
— 45 Jaguar (Fliegerhorste St. Dizier und Istres)
Alle ausgerüstet mit je einer Atombombe AN 52 mit einer Sprengwirkung von Kt.
b) Heer: Raketensystem Pluton auf 30 AMX 30 Selbstfahrlafetten (100 Raketen insgesamt vorhanden, bei Nachlade-Fähigkeit). Reichweite rund 100 km, mit je einem Sprengkopf von 10 Kt oder 25 Kt AN 51 Fünf Artillerie-Regimenter sind mit Pluton ausgerüstet (Garnison in Mailly, Suippes, Laon, Oberhoffen, Beifort) c) Marineluftwaffe: einige der 36 Super-Etendard IV Trägerflugzeuge sind mit der Atombombe AN 52 ausgerüstet.
Im Wehrhaushalt 1983 sind die effektiven Ausgaben für die Atomstreitmacht mit nicht ganz 20 Milliarden Francs (die Wehrausgaben insgesamt, aber ohne Renten-und Sozialkosten liegen bei 133, 2 Milliarden Francs) ausgewiesen. Gegenüber dem Vorjahr liegt der Zuwachs beim Nuklearelement jedoch wesentlich höher als bei den konventionellen Waffengattungen der drei Teilstreitkräfte, einschließlich der Gendarmerie, und zwar bei 14 % gegenüber im Schnitt 10 %. Dieser Vorrang wird noch deutlicher bei den Investitionsausgaben, d. h. bei den Mitteln für Beschaffung, Forschung und Entwicklung, denn der Anteil beträgt hier über 31 % des gesamten Finanzvolumens 25). 3. Das Modernisierungsprogramm für die achtziger Jahre Der Ende Mai 1983 in erster Lesung von der Nationalversammlung gebilligte Fünfjahresplan für die Verteidigungsausgaben 1984 bis 1988 orientiert sich an diesem Eckwert für die fortschreitende Modernisierung aller Komponenten der „Force de Frappe". Für diesen Zeitraum sind insgesamt 415 Milliarden Francs für die Investitionen vorgesehen, davon entfallen 132 Milliarden, also fast ein Drittel der Gesamtmittel, auf die Kernwaffen.
Der Schwerpunkt liegt weiterhin beim seegestützten strategischen Bestandteil; bis Ende 1988 soll das sechste Atom-U-Boot, die „Inflexible", in Dienst gestellt werden; ein siebtes, dessen Bau erst im Juli 1981 von der neuen Linksregierung verfügt wurde, soll zu Beginn der neunziger Jahre die dann total veraltete „Redoutable" ablösen. Ein sehr erheblicher Teil der Mittel wird für die Umrüstung der Atom-Flotte auf die M 4-Rakete aufgewandt die gegenüber der bisherigen M 20 eine bedeutsame quantitative und qualitative Verbesserung darstellt. Sie wird eine Reichweite von mehr als 4000 km haben und sechs Mehrfachsprengköpfe (MRV aber nicht unabhängig steuerbare MIRV) von je 150 Kt Sprengwirkung tragen, und außerdem über moderne Eindringhilfen verfügen. Die Treffgenauigkeit soll zwischen derjenigen der amerikanischen Poseidon 3-Rakete und der Minuteman III Mk 12 A, jedenfalls aber bei weniger als 300 Meter (Radius des Aufschlags vom Zielmittelpunkt aus) liegen. Von den fünf heute einsatz-fähigen Atom-U-Booten, von denen sich stets zwei bis drei in den vorgegebenen Abschußpositionen befinden, wird eine Einheit, die . Tonnant", bis Ende 1985 auf die M 4-Raketen umgerüstet, die drei weiteren Einheiten der ersten Generation von Atom-U-Booten erst nach diesem Datum. Ferner werden 18 Mirage IV A-Bomber, also etwa die Hälfte des heutigen Bestandes, auf die Luft-Boden-Rakete ASMP (Air-Sol Moyenne Porte) mit einer Reichweite von rund 100 km und einem Sprengkopf von 150 Kt umgerüstet, während der Restbestand ab 1985 seine strategischen Aufträge verliert.
Im neuen Fünfjahresplan fehlen indessen die Finanzierungsmittel für den von den Militärs dringend geforderten Ausbau des sogenannten nuklearen Umfeldsystems. Es handelt sich neben der bisher eingeplanten Beschaffung von vier Seeaufklärungs-Flugzeugen zur Befehlsübermittlung für die Atom-Flotte im wesentlichen um die Entwicklung von Erdsatelliten für Aufklärungszwecke (Beobachtung feindlicher Raketenabschüsse und strategischer Bewegungen usw.), für die Nachrichtenübermittlung und für die Navigation der im Einsatz befindlichen U-Boote. Zum Schutz des ozeanischen Elements der „Force de Frappe“ ist bis Ende 1988 die Indienststellung von drei atomgetriebenen Angriffs-U-Booten (hunterkiller) vorgesehen, doch muß aufgrund der finanziellen Engpässe die Beschaffung der von der Marine gewünschten Überwassereinheiten für die U-Boot-Bekämpfung unterbleiben. Die Kriegsmarine soll erst im Laufe des folgenden Rüstungsplans, also ab 1989, einen (statt zwei) atomgetriebenen (Katapult-) Flugzeugträger und 16 (statt 46) Seeaufklärungsflugzeuge vom Typ Atlantik 2 erhalten. Die Zahl der für diesen Zweck erforderlichen Korvetten (drei geplant) bleibt gleichfalls hinter den Anforderungen der Militärs zurück
Im „taktischen" Nuklearbereich erhält die Luftwaffe bis zum Auslaufen des Fünfjahresplans für 36 ihrer neuen Mirage 2000-Jagd-bomber die Luft-Boden-Raketen ASMP. Mit diesem Waffensystem werden gleichfalls 43 Super-Etendard der Marineluftwaffe ausgerüstet. Das Heer muß dagegen bis 1992 warten, ehe es die Nachfolge-Generation der Pluton, die Hades-Rakete mit einer Reichweite von 350 km, in Dienst stellen kann.
Eine Analyse des Rüstungsprogramms bis 1988 (das jedoch, geht man nach den in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen, noch Kürzungen erfahren kann, sollten die optimistischen volkswirtschaftlichen Voraussagen, auf denen es beruht, nicht zutreffen) zeigt, daß sich anteilmäßig das Schwergewicht weiter zugunsten der strategischen Waffen auf Kosten sowohl der taktisch-nuklearen wie der konventionellen Komponenten verschiebt. Gemessen an der Zahl der Sprengköpfe, und nicht der Trägerwaffen, ist der Aufwuchs im kommenden Jahrzehnt sehr groß, und er stellt ganz zweifellos einen qualitativen Sprung dar, wie die folgende Graphik verdeutlicht, in der eine in Großbritannien geplante ähnliche Entwicklung zum Vergleich mit einbezogen worden ist:
MRV (Multiple Reentry Vehicle): Mehrere Sprengköpfe, die im freien Fall ihre Ziele erreichen.
MARV (Manoeuvrable Independently Guided Reentry Vehicles): Mehrere Sprengköpfe, die ihre Ziele selbständig ansteuern und ihre Flugbahn verändern können.
III. Der rüstungskontrollpolitische Kontext der französischen Kernwaffen
1. Die Haltung Frankreichs zur Rüstungsbegrenzung Die V. Republik hat eine Mitwirkung an den multilateralen Rüstungskontrollverhandlungen von Anbeginn verweigert. De Gaulle lehnte 1960 die Teilnahme am Genfer Abrüstungsausschuß mit der Begründung ab, die beiden Weltmächte müßten vor einer Teilnahme Frankreichs zu einer erheblichen Begrenzung ihrer Atomarsenale gelangen. Wenngleich Giscard d'Estaing diesem Gremium nach seiner Erweiterung und dem Verzicht auf die amerikanisch-sowjetische Kopräsidentschaft 1978 beitrat, hielt doch jeder Staatschef bis hin zu Francois Mitterrand daran fest, daß das Problem am besten durch eine Konferenz der fünf Nuklearmächte zu lösen sei. Frankreich trat den wichtigsten Rüstungsbegrenzungsabkommen, die im Rahmen der Vereinten Nationen ausgehandelt wurden, nicht bei Zwar unterzeichnete Paris (wie Peking, dessen Verhalten eine bemerkenswerte Parallelität zum französischen aufweist) den Atomwaffensperrvertrag von 1968 nicht, erklärte aber, man werde sich so wie die Unterzeichnerstaaten verhalten — womit man die in Artikel 6 festgelegte moralische Verpflichtung zur Nuklearabrüstung der Kernwaffenstaaten übernahm.
Die konstante Haltung Frankreichs wurde zuletzt wieder durch Premierminister Pierre Mauroy bekräftigt, als er am 20. September 1983 die eventuelle Beteiligung an Verhandlungen über die Begrenzung der Kernwaffen von drei Vorbedingungen abhängig machte: erstens: einer wesentlichen und verifizierbaren Verringerung der atomaren Überrüstung der beiden Weltmächte; zweitens: bedeutsamen Fortschritten beim Abbau der konventionellen und chemischen Waffen in Europa; drittens: Verzicht auf die Schaffung neuer (Raketen-) Abwehrsysteme
Diese offizielle Position stellt einen klaren Rückschritt gegenüber dem Grundsatzprogramm der Sozialistischen Partei (SP) von 1971, dem Gemeinsamen Regierungspro. gramm der Linksunion von 1972 (1977 aktualisiert) und dem Abrüstungsplan Mitterrands vom Dezember 1977 usw. dar; denn dort verpflichteten sich die Sozialisten, in der Regierungsverantwortung sofort und aktiv an allen laufenden Abrüstungsverhandlungen mitzuwirken
Das Wahlmanifest Mitterrands vom Januar 1981, das die Grundlage der Koalition mit den Kommunisten bildet, nimmt ausdrücklich auf die Entschließung des Sonderparteitags der SP vom Januar 1978 bezug, demzufolge im Rahmen einer „Konferenz über die Verringerung der Streitkräfte und der Spannungen" in Europa auch die französischen taktischen (aber nicht mehr die strategischen) Waffensysteme Gegenstand der Verhandlungen sein würden, und atomwaffenfreie Zonen in „neuralgischen Gebieten“ gefordert wurden. Die Entschließung der SP zu Abrüstung und Sicherheit vom Mai 1982 wiederholte diese Programmpunkte. Das Wahlmanifest (die HO Punkte des Kandidaten Mitterrand) nahm überdies die von Präsident Reagan im Sommer 1982 verkündete Null-Option für die Mittelstreckenraketen vorweg, indem es den Rückzug der SS-20 und den Verzicht auf die Stationierung der Pershing II in Europa postulierte!
Präsident Mitterrand änderte hierzu die Haltung seines Landes; denn im Kommunique des deutsch-französischen Gipfeltreffens in Paris vom Februar 1982 wurde der Doppelbeschluß der NATO vom Dezember 1979, den Frankreich nicht unterzeichnet hatte, als „notwendig und in beiden Teilen untrennbar“ bezeichnet. Der Andropow-Vorschlag vom Dezember 1982 wurde von der Regierung und allen Parteien verworfen, wobei sich die Hauptkritik gegen eine Forderung richtete, die von der UdSSR gar nicht gestellt worden war, nämlich die formale Einbeziehung des französischen (und britischen) Arsenals in die Genfer INF-Verhandlungen. Es war ja nicht von einer vertraglichen Begrenzung der „Force de Frappe“ die Rede, sondern von einer Anrechnung auf Seiten der NATO. Ein solches Mitzählen lehnte Präsident Mitterrand in seiner Rede vor dem Bundestag im Januar 1983 kategorisch ab. Die Argumente hiergegen sind bekannt; sie laufen darauf hinaus, daß Frankreichs Abschreckungsmacht unabhängig sei, allein dem Schutze der eigenen Lebensinteressen diene und folglich auch kein Bestandteil der Mittelstreckenarsenale der USA und der UdSSR sei. Der außenpolitische Sprecher der SP, Jacques Huntzinger, untermauerte auf der „Wehrkunde-Tagung“ in München kurz darauf diese These mit der Behauptung, wenn SS-20 auf Kopenhagen, Hamburg und Rom fielen, dann müßten nicht die Franzosen mit ihren strategischen Waffen, sondern die USA darauf antworten
Der französische Staatschef setzte sich vor dem Bundestag für eine Verhandlungslösung in Genf ein, die es — dank der Entschlossenheit der NATO — erlauben würde, auf die westliche Nachrüstung zu verzichten; diese Linie wurde von der Kommunistischen Partei (KPF) gebilligt, die es bis dahin sorgsam vermieden hatte, wegen der „Euro-Missiles“, wie die INF in Frankreich genannt werden, in Konflikt mit dem Koalitionspartner zu geraten. Die im wesentlichen von der KPF und der CGT-Gewerkschaft getragene Friedensbewegung richtete sich denn auch ausschließlich gegen das neue atomare Wettrüsten in Europa und sparte die eigenen Kernwaffen aus. Die Situation änderte sich abrupt nach dem Siebener-Gipfel von Williamsburg von Ende Mai 1983, auf dem Mitterrand dem globalen Sicherheitskonzept des Westens (und Japans) zugestimmt hatte. Das Politbüro der KPF veröffentlichte am Mai eine Erklärung 31), in der unter Verweis auf dieses Engagement des Staatschefs die Ausweitung der Genfer INF-Verhandlungen der USA und der UdSSR auf alle europäischen Staaten (d. h. die KSZE-Mitglieder) gefordert wurde; denn mit der Erklärung von Williamsburg sähe sich auch Frankreich vom Ergebnis in Genf betroffen. Der Präsident legte dem KPF-Chef Georges Marchais Anfang Juli in einem Gespräch im Elyse dar, er sei sich bewußt, daß das eigene Kernwaffenarsenal früher oder später in Rüstungsbegrenzungsgespräche einbezogen werden müsse, doch wolle er sich die Bedingungen hierfür nicht von außen aufzwingen lassen. Georges Marchais deutete diese Aussage allerdings eine Woche später in einem Sinne, der zu einem offenen Konflikt mit Mitterrand führte. In dem Gemeinsamen Kommuniqu der KPF und der KPdSU in Moskau bestand er darauf, sich in zwei wesent-liehen Punkten von der Haltung Mitterands zu distanzieren: zum einen, indem die KPF erneut auf der europäischen Ausweitung der bilateralen INF-Verhandlungen bestand, und zum anderen, indem sie erklärte, die französischen Kernwaffen müßten bei der Herstellung eines Zustands des nuklearen Gleichgewichts in ganz Europa auf Seiten des westlichen Bündnisses mit angerechnet werden. Georges Marchais machte nach seiner Rückkehr aus Moskau geltend, dies sei völlig logisch denn wenn (seit Williamsburg) die westliche Sicherheit unteilbar sei, könne man von der UdSSR nicht verlangen, den Beitrag Frankreichs hierzu einfach zu ignorieren, und es sei nicht hinnehmbar, daß andere Mächte (die beiden Großen) allein über die Frankreich direkt betreffenden europäischen Sicherheitsfragen verhandelten.
Die französische Regierung berief sich ihrerseits auf den von der NATO beschlossenen bilateralen Charakter des INF-Gremiums, und der Premierminister betonte am 20. September 1983, daß Frankreich von dem Doppelbeschluß nicht betroffen sei und nicht an ihm mitwirke. Angesichts der für die INF-Verhandlungen gesetzten Frist bis zum Spätherbst ist die Frage der Drittstaatenarsenale dort ohnehin nicht mehr zu lösen, und sie wird erst im Zuge des globalen Prozesses der Begrenzung der strategischen Kernarsenale politisch zum Tragen kommen. Unverkennbar ist jedoch, daß die mit dem Doppelbeschluß der NATO ausgelöste Drittstaaten-Problematik den politischen und moralischen Druck auf die Verantwortlichen in Paris verstärken muß, die bisher geübte Abstinenz in Sachen Kernwaffen-Begrenzung aufzugeben. 2. Die Position der NATO (und das Sonderproblem der britischen Kernstreitmacht) Die Verbündeten verfolgten die gaullistische Atombewaffnung mit Unbehagen. Sie sahen in ihr das Unterpfand des französischen Partikularismus und sie erkannten sehr wohl, daß der rein nationale Charakter der „Force de Frappe" de Gaulle die Rechtfertigung lieferte für die Aufkündigung der militärischen Bündnispflichten. Nach der Absage von Paris an die Formel von Nassau, also die Schaffung einer multinationalen Flotte von amerikanischen Atom-U-Booten und Polaris-Raketen mit britischen und französischen Sprengköpfen, versteifte sich der Widerstand Washingtons. Verteidigungsminister McNamara nannte die „Force de Frappe" überflüssig (weil sie das Abschreckungsarsenal der Allianz nicht wesentlich stärken konnte) und gefährlich (weil Frankreich durch den selbständigen Einsatz seiner Kernwaffen die USA gegen ihren Willen in einen Nuklearkrieg verwickeln könnte)
Der amerikanische Verteidigungsminister ließ anläßlich der NATO-Ministertagung in Athen im Frühjahr 1962 wissen, die USA seien im Falle einer akuten Nuklearkrise gezwungen, das französische Potential auszuschalten. Es ist zutreffend, daß diese amerikanische Haltung auf die sogenannte französische Auslöser-These'zurückzuführen war, die besagte, daß im Falle eines Zögerns der USA, dem Aggressor den Nuklearwaffeneinsatz anzudrohen, die „Force de Frappe" diese Rolle übernehmen müßte. Sie ist von General Andr Beaufre, der Anfang der sechziger Jahre der französische Vertreter in der „Standing group" in Washington (dem damaligen höchsten militärischen Organ der NATO) war, entwickelt, von de Gaulle aber niemals gebilligt worden. In den siebziger Jahren, als die französische Kernwaffenrüstung erstmals (mit ihren boden-und seegestützten Elementen) eine militärische Bedeutung erhielt und ihr bündnispolitischer Spaltungseffekt in der Phase der multilateralen Ost-West-Entspannung kaum noch ins Gewicht fiel, nahm die NATO sie als unabänderliches Faktum hin, zumal Präsident Giscard d'Estaing die Erklärung von Ottawa vom Juni 1974 unterschrieb, in der der Beitrag der britischen und französischen Kernwaffen zur globalen Abschrekkungswirkung der Allianz anerkannt wurde.
Die NATO lehnte die Einbeziehung dieser Drittstaaten-Arsenale in die SALT-Verhandlungen von Anfang an ab und setzte sich gegenüber den sowjetischen Forderungen in Wladiwostok (Treffen Ford-Breschnew) Ende 1974 wie im SALT-II-Vertrag vom Juni 1979 durch. Die im Doppelbeschluß angelegte neue Verhandlungsebene über die Mittelstreckenraketen war gleichfalls rein bilateral, und sie strebte „idealiter" die Herstellung eines Gleichgewichtes allein zwischen den amerikanischen und sowjetischen Waffensystemen an.
Dennoch bestand und besteht ein wesentlicher Unterschied in der Situation Frankreichs und Großbritanniens. Das Vereinigte Königreich ist völlig in das Militärsystem der NATO integriert und ist Mitglied der Besonderen Konsultativgruppe für die INF-Ver. handlungen, was für Frankreich nicht zutrifft Das Abkommen von Nassau 1962 implizierte bereits das Zusammenwirken der Angelsachsen, und seit 1964, als Premierminister Harold Wilson das NATO-Projekt der MLF (Multilaterale Atomstreitmacht der NATO) zu Fall brachte, hat London fortschreitend seine Atomflotte in die amerikanische (NATO-) Abschreckungsstrategie eingebracht. Die vier Polaris-U-Boote sind (neben der rein nationalen Rolle des „ultima ratio") in die strategische Zielplanung des NATO-Oberkommandos Europa (SACEUR) eingebunden und in operativer Hinsicht im Oberkommando Atlantik (SACLANT) integriert, auch wenn die Entscheidung über ihren Einsatz allein bei der britischen Regierung liegt. Anders ausgedrückt: das britische Arsenal ist abhängig, aber unverwundbar, weil es im großen amerikanischen U-Boot-Potential aufgeht; das französische Arsenal ist unabhängig, aber verwundbar, weil zwei oder maximal drei U-Boote in Schußpositionen geortet werden können.
Für die europäischen Verbündeten war es selbstverständlich politisch vorteilhaft, den europäischen Anteil an der atlantischen Abschreckung zu erhalten, und aus rein militärischer Sicht nicht unproblematisch, die beiden kleinen strategischen Kernarsenale in die Waagschale der Nuklearrüstungsbegrenzung zu werfen, denn trotz aller Zielplanungen und Absprachen in der NATO hat, was das britische Element anbetrifft, die letztlich nationale Verfügungsgewalt in den Augen des Gegenspielers nicht die gleiche Glaubwürdigkeit wie diejenige, welche der amerikanische Präsident mit seinen unvergleichbar größeren und abgestuften Mitteln besitzt Auf die „Force de Frappe" ist im Ernstfall ohnehin kein Verlaß, und eine im NATO-Rahmen koordinierte Einsatzplanung besteht nicht. Das Dilemma des Bündnisses liegt darin, daß man nicht gleichzeitig (wie in der Erklärung von Ottawa) die beiden kleinen Atomarsenale als Beitrag zur Gesamtabschreckung des Westens anerkennen und sie andererseits als „quantit ngligeable" behandeln kann, wenn es darum geht, ein Gesamt-gleichgewicht für die in und für Europa vorhandenen Nuklearpotentiale zu errechnen. Für die NATO-Verbündeten (jedenfalls für die Mitglieder des integrierten Führungssystems) ist dies auch keine Frage des Prinzips, sondern der Opportunität, die sich in dem Maße stellt, wie die Modernisierung der britischen und der französischen Atomflotte diesen eine echte strategische Bedeutung verschafft. Aus amerikanischer Sicht muß die Abschrekkungsdialektik berechenbar bleiben, d. h. auf dem Kräfteverhältnis Washington-Moskau beruhen. Das Einwirken von Drittstaaten, insbesondere der ungebundenen Atommächte Frankreich und China, destabilisiert diese Beziehung dann in unannehmbarem Maße, wenn die beiden letzteren im Laufe des kommenden Jahrzehnts in der Lage sein sollten, eine strategische Rolle zu spielen, indem sie eine Zweitschlag-Kapazität erreichen, also, was heute noch nicht der Fall ist, sich einem entwaffnenden Erstschlag entziehen. Eine Einbindung der Drittstaaten-Waffen in den Rüstungskontrollprozeß liegt deshalb im übergeordneten Interesse der Vereinigten Staaten wie der Sowjetunion Der amerikanische Vizepräsident George Bush hat Ende September lediglich eine Binsenwahrheit ausgesprochen, als er sagte, zu irgendeinem Zeitpunkt müßten diese Arsenale einbezogen werden. Warum sich das bei INF nicht (mehr) erreichen läßt, ist hier im Eingangskapitel dargelegt worden — eine Erkenntnis übrigens, die bereits im berühmten Nitze-Kwisinski-Kompromiß ihren Niederschlag gefunden hat. Unter anderem hat die französische Regierung den Kompromiß beim „Waldspaziergang" der beiden Unterhändler ja gerade deshalb als annehmbare Lösung für ein Genfer INF-Abkommen begrüßt, weil hier die Drittstaaten-Waffen ausgeklammert und auf eine spätere (START-) Verhandlungsrunde verschoben worden sind 3. Die Position der Sowjetunion und ihrer Verbündeten Noch zur Regierungszeit von General de Gaulle suchte Moskau — trotz aller lobenden Äußerungen über dessen Politik der Unabhängigkeit — die formale Einbeziehung der Force de Frappe", wie auch des britischen „deterrent", in die strategische Rüstungsbegrenzung zu erreichen, mußte sich aber im SALT-I-(Interims-) Abkommen 1972 mit dem Brief des Unterhändlers Semjonow an seinen amerikanischen Kollegen Gerard Smith zufriedengeben, in dem der Anspruch enthalten war, die Drittstaaten-Arsenale stillschweigend durch eine entsprechende Anzahl von sowjetischen Atom-U-Booten zu kompensieren. Im SALT-II-Vertrag von 1979 fehlt ein solcher Hinweis. Offensichtlich stellte sich die UdSSR darauf ein, die amerikanischen FBS (forward based Systems) und die Waffen Großbritanniens und Frankreichs im Rahmen von SALT III in der Unterabteilung Mittelstreckensysteme zu behandeln. Außenminister Gromyko brachte einige Wochen vor dem Doppelbeschluß der NATO im November 1979 bei seinen Gesprächen mit der Bundesregierung in Bonn erneut die Forderung vor, die drei Nuklearmächte der NATO müßten an diesem Regional-Tisch sitzen. Der dann im November 1980 in Genf bei Beginn der „eurostrategischen" Gesprächsrunde vorgelegte sowjetische Vertragsentwurf bezog die britischen und französischen Raketen und Bomber voll in die angeblich schon bestehende (völlig unrealistische) Gleichgewichts-situation ein und implizierte damit auch die Verringerung der Drittstaaten-Arsenale. Die sowjetische Führung hat sich stets und seit 1974 unter Verweis auf die Ottawa-Erklärung darauf berufen, daß diese Waffen strategischer Natur seien, weil sie auf das Gebiet der UdSSR gerichtet seien — eine Tatsache, die aus der Sicht Moskaus weitaus stärker wog als der Umstand, daß es sich zugleich aufgrund ihrer Reichweite um Mittelstreckensysteme handelte. Das Moskauer Grundkonzept der „gleichen Sicherheit“, sprich der buchhaltungsmäßig festgeschriebenen Parität zwischen den beiden Bündnissen, verlangte deren Einbeziehung.
Das entscheidend Neue am Andropow-Vorschlag vom Dezember 1982 war, daß er die Verhandlungsstrategie Breschnews aufgab und die Mittelstreckenproblematik „europäisierte“, indem er die Behandlung der amerikanischen strategischen Bomber in und für Europa abtrennte und ein erstes INF-Abkommen mit einer „Gleitklausel" anstrebte, die nur auf sowjetischer Seite, nicht aber für die Briten und Franzosen Verringerungen der strategischen Raketen vorsah. Über die schroffe Ablehnung in London und Paris zeigte sich der Kreml (ob gespielt oder ernsthaft, bleibe dahingestellt) erstaunt und verär37 gert, und sowjetische Diplomaten machten geltend, Andropow habe zum ersten Mal den vollen politischen wie militärischen Wert der beiden kleinen Atomarsenale anerkannt und ihnen in Europa die strategische Gleichberechtigung zugestanden. Das hieß aber keineswegs, wie die weitere sowjetische Verhandlungstaktik in Genf zeigte, daß man bereit war, die zentralstrategische Ebene (mit den USA) von der regionalstrategischen zu trennen, und die Antwort auf die Null-Lösung Reagans, man sei zum völligen Verzicht auf die Mittelstreckenpotentiale bereit, vorausgesetzt, Frankreich und Großbritannien (und China?) gingen gleichfalls auf Null, war reine Rhetorik angesichts der bekannten Haltung von Paris und London.
Bemerkenswert war, daß Juri Andropow seine beiden „Durchbrüche" jedesmal in den Gesprächen mit Erich Honecker in Moskau bekannt gab, was sicherlich kein Zufall ist, sondern die besondere Rolle der DDR im europäischen Prozeß unterstreichen soll.
Wesentlich ist hier das Zugeständnis vom Mai 1983, „eine Gleichheit der nuklearen Potentiale in Europa sowohl für Träger als auch für Sprengköpfe herbeizuführen" (und das gleiche Zählkriterium auch auf die strategischen Bomber in Europa anzuwenden). Damit erklärte sich die Sowjetunion theoretisch bereit, auf 94 SS-20 herunterzugehen, also auf weniger, als 1979, zur Zeit des Doppelbeschlusses, gegen West-Europa stationiert waren
Die Frage ist, ob Andropow, nachdem er Breschnews Maximalposition bei den INF
Verhandlungen aufgegeben hatte, hierin den letzten oder aber den ersten Schritt ernsthafter sowjetischer Verhandlungsbereitschaft sieht (und ob er seine eventuelle Flexibilität gegenüber den klaren Widerständen im eigenen Apparat durchzusetzen vermag). Aus sowjetischer Sicht muß es das Fernziel sein, den Aufwuchs nicht nur des amerikanischen, sondern auch des Drittstaaten-Potentials zu begrenzen. Wie aus der vorstehenden Tabelle ersichtlich, ist (theoretisch) in zehn Jahren mit 582 französischen (strategischen) Sprengköpfen und (selbst ohne Trident II) mit maximal 384 britischen zu rechnen.
Die Gleitklausel Andropows sucht diese Begrenzung allerdings indirekt zu erreichen, indem hier die Erhöhung der SS-20-Sprengköpfe analog zum Anwachsen der britischen und französischen eingeplant ist. In Moskau ist man sich gewiß auch darüber im klaren, daß von einer solchen Formel unweigerlich in der westeuropäischen (und amerikanischen) Öffentlichkeit ein erheblicher Druck auf die französische und die britische Regierung ausgeht, die Modernisierung zu unterlassen, um ein Nuklear-Gleichgewicht auf möglichst niedriger Ebene herzustellen!
Das Problem würde sich nur verlagern, aber nicht grundlegend verändern, sollte es noch gelingen, auf der Basis des Nitze-Kwisinski-Kompromisses die Drittstaaten-Problematik in den globalen START-Verhandlungsprozeß einzubauen, denn dann wären die USA gefordert, die beiden kleinen Potentiale (und das chinesische) auf ihrer Seite mit zu berücksichtigen. Wie immer die Genfer Verhandlungen ausgehen, Frankreich (auch Großbritannien) kann sich den Zwängen nicht mehr entziehen, die von der Existenz seiner Atomrüstung ausgehen. General de Gaulle hat dies vor 25 Jahren nicht voraussehen können; er hätte sich aber ohne jeden Zweifel anders verhalten als seine Diadochen und würde wohl aus der Not eine Tugend gemacht und das ganze politische Gewicht Frankreichs in der Rüstungskontrollpolitik der Weltmächte und ihrer Bündnisse voll und konstruktiv zum Tragen gebracht haben.
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