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„Kabel-Demokratie" -der Weg zur Informationskultur | APuZ 45/1983 | bpb.de

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APuZ 45/1983 Artikel 1 Kabelfernsehen in der Bundesrepublik und in anderen westeuropäischen Ländern „Kabel-Demokratie" -der Weg zur Informationskultur Drähte, die die Welt umspannen: die Nachrichtenagenturen

„Kabel-Demokratie" -der Weg zur Informationskultur

Gerhard Vowe/Gernot Wersig

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das politische System zeigt eine Reihe von Krisensymptomen. Dahinter wird die Möglichkeit der Weiterentwicklung von Demokratieformen deutlich, die allerdings durch die Leistungsfähigkeit des auf Medien beruhenden Systems der gesellschaftlichen Kommunikation nicht unterstützt wird. Die neuen Informations-und Kommunikationstechnologien bieten hier mit ihren in Umrissen erkennbaren Leistungsmerkmalen eine wesentliche technologische Unterstützung an. Die Entwicklung einer „Kabel-Demokratie" wird allerdings erhebliche Probleme mit sich bringen, zu deren Bewältigung neue Formen des Zusammenwirkens von Politik, Medien, Organisationen, Bevölkerung und Wissenschaft notwendig sind. Es stellt sich die Aufgabe der Herausbildung einer „Informationskultur“ als Grundlage der post-modernen Informationsgesellschaft.

I. Krisensymptome

Es ist kaum noch zu übersehen, daß sich bestimmte, wahrscheinlich tragende Aspekte des inneren Zusammenhangs entwickelter Industriegesellschaften verändern. In zunehmendem Maße entwickeln sich unterschiedliche Lebenshaltungen, Lebensansprüche, Wertbindungen bis hin zu Artikulationsformen, die sogar unversöhnlich erscheinen. Gemeinsamkeit ist hier immer schwieriger zu erkennen, Stiftungsversuche werden immer oberflächlicher und verstärken eher Zahl und Umfang von Randpositionen, anstatt sie einbinden zu können.

Das System der Regelung gesellschaftlicher Abläufe wird durch diese Widersprüchlichkeiten enormen Belastungen unterworfen. Die repräsentative Demokratie setzt voraus, daß alle gesellschaftlich wirkenden Interessen repräsentiert werden und sich auf ein gemeinsames Verständnis zurückbeziehen können. Die sich neu entwickelnde Pluralität stellt diese Voraussetzungen in Frage, indem sie sich teilweise der Unterstellung des gemeinsamen Verständnisses entzieht und sich auch nicht selbstverständlich in den etablierten Repräsentationsformen wiederfindet. Die gewohnten Mechanismen zur Herstellung von Gemeinsamkeit sind den neuen Entwicklungen gegenüber einigermaßen unbeweglich: a) Die Auseinandersetzungsformen der sozialen Marktwirtschaft treffen auf neuartige Konfliktformen, aus denen heraus sie sich nicht entwickelt haben: Tarifkonflikte bilden keine Ebene für Arbeitslose; wenn Wachstumswirtschaft in engem Rahmen keine Vollbeschäftigung mehr erreichen kann, wird die Trennung von Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik zweifelhaft; Produktivitätsfortschritte schaffen nicht mehr Verhandlungsspielräume zur Konfliktregulierung, sondern neue Kon-flikträume; Wirtschaftspolitik und Umweltpolitik stehen in einem zunächst zwangsläufig erscheinenden Widerspruch.

b) Das Konflikteindämmungspotential eines mit wirtschaftlichem Wachstum mitgewachsenen Wohlfahrtsstaats hat Ansprüche hervorgerufen, die teilweise nur auf der Hoffnung weiteren erheblichen Wachstums beruhen können. Das soziale Netz mit seiner un-überschaubaren Verschachtelung von moralischen und gesellschaftspolitischen Rechtfertigungen, oft tages-und gruppenspezifischen Regelungen, den Interessen etablierter staatlicher Verwaltungsinstanzen, droht sich zusammenzuziehen. Jeder Versuch, mit ihm an einer Stelle Konfliktregulierung zu betreiben, schnürt an anderer Stelle Konfliktquellen auf. Rechte hätten viele, wenn nicht alle, doch wer soll sie bekommen?

c) Die repräsentative Demokratie als Grundlage von Konfliktregulierung hat Schwierigkeiten, dem Repräsentativitätsanspruch nachzukommen. Weder sind die sie Ausführenden repräsentativ für die Bevölkerung, noch repräsentieren sie zu den Problemen die Meinungsverteilungen; auch gelangen viele Probleme des eigentlichen Feldes verzerrt, zu spät oder gar nicht in ihre Mechanismen. Wahlinteressen anstelle von erkennbarem Verantwortungsbewußtsein erzeugen Parteienverdrossenheit und politische Resignation, aber auch den Aufstand derjenigen, die ihre lokalen oder von den Zentralen nicht beachteten Interessen doch berücksichtigt wissen wollen.

II. Anforderungen an ein Kommunikationssystem

Die Neuartigkeit der Konflikte verbietet es aus sich heraus, an den Erfolg der bislang entwickelten Regulierungsmechanismen zu glauben. Werden neuartige Konflikte als altartige behandelt, muß zwangsläufig das Konfliktpotential anwachsen und sich neben der Konzentration auf die inhaltlichen Ebenen auch gegen diese Mechanismen als solche wenden. Die sozialen und kulturellen Errungenschaften, die es zu retten gilt, lassen diese Entwicklung ebensowenig als wünschenswert erscheinen wie den autoritären Ausweg des „starken Mannes".

Die Krisenhaftigkeit bietet allerdings die Chance, hinter der Oberfläche der Probleme diejenigen Bestandteile unserer Gesellschaft zu erkennen und zu beschreiben, die — als zum „Fundus" gehörig — für unverzichtbar und weiterentwicklungsfähig gehalten werden. Der aktuelle Ruf nach „Opferbereitschaft" kann dann auch als Wunsch nach Verstärkung von Solidarität, die Veränderung der Parteien-und Willensbildungslandschaft (Bürgerinitiativen, Alternativ-Szene, Neue Soziale Bewegungen) als Notwendigkeit der stärkeren Beteiligung der Bürger an den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, der drohende Rückzug ins Privatistische als Aufforderung zur stärkeren gesellschaftlichen Einbindung des Individuums verstanden werden.

Wollte man in diese Richtung gehen, muß man berücksichtigen, daß damit das System der gesellschaftlichen Kommunikation, wie es sich um die Medien wie Presse, Funk, Fernsehen gebildet hat, erheblichen Belastungen ausgesetzt würde:

a) Eine stärkere Bürgerbeteiligung auch zwischen den vierjährlichen pauschalen Stimmabgaben für letztlich doch unbekannte Sachhaltungen (etwa über Volksbegehren, Bürger-foren) erforderte eine erhebliche Intensivierung politischer Kommunikation: Aufmerksamkeit auf viele und unterschiedliche Themen lenken, Sachwissen verbreiten, Engagement wecken, sich selber artikulieren — alles dies findet in der gegenwärtigen Verfassung der Kommunikationsmittel sehr bald bereits rein technische und organisatorische Grenzen. b) Wenn einander entgegenstehende Ziele und Interessen nicht mehr nur auf plakative Grundformen („X statt Y") zurückgeschnitten werden sollen, sondern sich Einigungsprozesse in einem Hin und Her der Argumente und Begründungen abspielen sollen (und z. T. bereits parlamentarisch müssen), geht dies nur in Form von sachlich orientierten „Kampagnen", die stärker in die Bevölkerung zu tragen sind, als dies etwa in den „Stellvertreter-Konfliktsendungen" des Fernsehens möglich ist (die im übrigen auch kaum eine politische Auswirkung haben).

c) Die Interessen und Bedürfnisse der Bürger werden zunächst in ihrem eigenen (lokalen, betrieblichen) Umfeld deutlich und auch dort artikulierbar. Ihre Berücksichtigung, Filterung, Verallgemeinerung für das politische Handeln auf höheren Ebenen ist in den letzten Jahren wenig gelungen, z. T. weil die entsprechenden Voraussetzungen eines von unten (vom Lokalen) nach oben (zum Zentralen) gehenden Kommunikationsflusses fehlten. Die Anzeichen, daß unser kommunikatives System bisher derartigen Anforderungen nicht gerecht geworden ist, sind evident:

— Das Zusammenbringen von Personen, die ein ähnliches Problem empfinden, ist — selbst mit Kopierer, Billigdruck, Telefon — aufwendig und zeitraubend. Die Folge davon ist, daß sich derartige Aktionen nur punktuell ereignen, häufig das wesentliche nicht berühren, zu spät kommen und relativ rasch ermüden. Wer auf dieser Basis „partizipieren" will, kann dies kaum als normalen Bestandteil seines Bürgerverhaltens tun, sondern wird sehr schnell in die Rolle des „Berufspartizipierers” gedrückt.

— Die Massenmedien sind, z. T. durch ihre Organisationsform bedingt, nur relativ schwer zu bewegen, sich dieser Artikulationen anzunehmen (erst dann, wenn sie einen gewissen Grad von Aufsehen erregen) und hinken damit nicht nur nach, sondern behindern diesen Vorgang. Ihre Ergänzung z. B. um Stadtteilzeitungen ist mühselig und aufwendig-

— Das von den Massenmedien vorgenommene Vorspielen von Konflikten und Positio-B nen, die bereits so verallgemeinert sind, daß in der Lebenswelt des Publikums kaum noch Entsprechungen auffindbar sind, führt zu einem deutlichen Trend des Entziehens: Quiz, Talkshow, Video-Recorder, Video-Spiele sind unübersehbare Fluchtburgen der Nicht-Teilnahme am politischen Geschehen.

— Der Sachgehalt der Diskussionen um Zukunftsfragen ist weit unterhalb des möglichen Niveaus; Phrasen, Bonmots, sträfliche Vereinfachungen, unrealistische Annahmen beherrschen das Feld der vorgespielten Auseinandersetzung; ein Argument gilt nicht aus seinem Sachgehalt heraus, sondern aus der Prominenz des Befragten. Diejenigen, die es vielleicht tatsächlich besser wissen (weil sie nicht von vornherein durch Parteitaktik ein bestimmtes Ergebnis erzielen müssen), dringen kaum in diesen Diskussionskreis vor. Die Folge ist ein weiterer Zerfall von Zusammenhang: Mehr und mehr Kreise, Gruppen ziehen sich aus dieser Diskussion überhaupt zurück („denen glaube ich sowieso nicht mehr") und bleiben in ihren kleinen Einheiten.

— Die Frustration und das Bemühen, sich doch Gehör zu verschaffen, schlagen dann häufig genug in die unterschiedlichsten Formen von Gewalt um; sei es, weil dies als letztes Mittel begriffen wird (z. B. HausbesetzerSzene), sei es, um wenigstens derart Aufmerksamkeit zu erregen und Gewicht zu erhalten (z. B. Startbahn West).

III. Technologische Beiträge zur Krisenbewältigung

Diese Überforderung des gesellschaftlichen Kommunikationssystems ist auch bedingt durch die technologischen Begrenzungen gegenwärtig vorherrschender Kommunikationsmittel. Zwar wird die Krisenbewältigung eine generelle Umstellung bisheriger Verfahren und Einstellungen erfordern, doch ist unbezweifelbar, daß ohne technologische Voraussetzungen („Sachtechnik") Ziele wie die Verstärkung von Solidarität, Teilnahme und Engagement nicht erreichbar sein werden. Dafür sprechen etwa folgende Gesichtspunkte: — Durch technologische Entwicklungen, internationale Verflechtungen u. ä. ist der Zeit-horizont, der bei jeder politischen Entscheidung eine Rolle spielt, so erheblich erweitert worden, daß er die Kapazität des einzelnen übersteigt. Zeitübergreifende Gedächtnis-und Entscheidungshilfen sind daher bereits eine Selbstverständlichkeit: Bibliotheken und ihre elektronischen Fortsetzungen, Simulation, Folgenabschätzungen, Prognosen.

— Die Bedeutung des Raumes hat sich verändert: Entwicklungen an einer Stelle erstrek-ken sich in ihren Auswirkungen über große Bereiche (z. B. Saurer Regen). Räumlich voneinander getrennte Personen und Gruppen müssen sich miteinander verständigen. Das Persönliche Gespräch ist dafür zwar geeignet, erfordert aber erhebliche Transportaufwendungen (Reisen), so daß ein zunehmendes Bedürfnis nach schneller und komfortabler Überbrückung von Räumen besteht, wie dies beispielsweise das Telefon nur in sehr eingeschränkter Form leistet.

— Nicht alle Bürger sprechen die gleiche Sprache, haben den gleichen Bezugspunkt in der Kommunikation. Um sich über größere Räume hinweg zu verständigen, bedarf es einer Reihe von Zwischenstufen, Übersetzungen, speziellen Aufbereitungen und Darstellungsformen, Bereitstellung von Verständigungshilfen. Auch dies erfordert einen gewissen Grad an technologischer Infrastruktur.

— Die Abdeckung von Interessen, Bedürfnissen, Ansprüchen, die Voraussetzung zur Erreichung der genannten Ziele ist, läßt sich in den Massenmedien, die ihre Inhalte nur verteilen und die Abdeckung nur vorspielen, nicht erreichen. Dazu bedarf es kommunikativer Möglichkeiten, in denen jeder jeden komfortabel erreichen kann (Netze).

Die neuen Informations-und Kommunikationstechnologien bieten hierfür eine Reihe von zumindest technischen Möglichkeiten (deren entsprechende Nutzung damit aber noch keineswegs gesichert ist):

— Wissen kann immer umfangreicher gespeichert und immer komfortabler genutzt werden. — Maschinelle „Intelligenz" ermöglicht große zeitliche Flexibilität (Beispiel Video-Recorder). — Telekommunikationsnetze ermöglichen in zunehmendem Maße die Aufnahme von Verbindungen zwischen Personen, aber auch von Personen zu maschinellen Systemen mit einer wachsenden Zahl von Wahlmöglichkeiten (Bildschirmtext ist hier nur ein erster Beginn). — Die Verteilung von Inhalten zum gleichen Zeitpunkt an viele wird zunehmend ergänzt durch Angebote, die über Telekommunikationsnetze zugreifbar sind, aber dem Zugreifenden den Zeitpunkt, den Ort, den Inhalt überlassen. Nicht nur Datenbanken, sondern auch Bild-, Ton-, Film-Datenbanken werden möglich.

— Dabei müssen nicht nur vorfabrizierte Inhalte angeboten werden, sondern es können auch Inhalte für den Anfragenden neu produziert werden.

— Technisch muß der Benutzer nicht darauf beschränkt bleiben, nur ein Angebot anzunehmen, sondern er wird auch in der Lage sein, selber als Produzent von Nachrichten in Erscheinung zu treten.

— Für all dieses können sehr leistungsfähige Datenverarbeitungsanlagen eine Fülle von Unterstützungsdiensten leisten.

— Die dazu benötigten Endgeräte werden ebenfalls immer leistungsfähiger und dadurch billiger, daß sie immer mehr Funktionen in sich vereinigen (z. B.der Schritt vom Fernsehbildschirm zum Allzweckbildschirm).

Dieser ganze technologische Komplex wird auch als „Telematik" bezeichnet, d. h. er ist bestimmt durch das Zusammenwachsen von Telekommunikationsnetzen und Informationstechnologien (insbesondere der Informatik). Es verdichtet sich der Eindruck, daß mit der Telematik die sachtechnische Richtung angezeigt ist, mit der die dargestellte, z. Zt. nicht bewältigbare Belastung des gesellschaftlichen Kommunikationssystems aufgefangen werden kann. Wohlgemerkt: Diese Technologien stellen zwar eine notwendige, aber bei weitem noch nicht hinreichende Bedingung dar. Sie werden erst dann einen Beitrag zur Krisenbewältigung leisten können, wenn sie „richtig" eingesetzt werden, d. h. zielgerichtet darauf gerichtet werden, daß sie die Defizite von Solidarität, Teilnahme und Engagement verringern. Auch wenn hier nicht darauf eingegangen werden soll, muß zumindest daran erinnert werden, daß ihr gedankenloser Einsatz als Fortsetzung der „alten" Technologien und Organisationsformen leicht in das Gegenteil umschlagen kann, d. h. Krise gar nicht mehr anders als technokratisch-autoritär bewältigbar macht.

Tendenzen für eine zukunftsofientierte Konzeption der „Informatisierung der Gesellschaft" als gesellschaftliche Gestaltungsvorstellung sind allerdings in Umrissen bereits vorzustellen: a) Der Verlust an Lokalität läßt sich ausgleichen durch: lokale Netze der Verteilkommunikation mit Bürgerbeteiligung (z. B kabelgebundener Lokalfunk/-fernsehen), lokale interaktive Netze mit Selbstorganisationsmöglichkeiten (etwa als identifizierbare Benutzer-gruppen in Bildschirmtext, computergestützte Konferenz-und Gruppenkommunikationsmöglichkeiten in lokal verfügbaren Netzen). Damit gewinnen Fragen eine neue Qualität wie:

— Was ist außerhalb meiner unmittelbaren Umgebung: außerhalb des Rufraumes, des „Forums“, aber für diese unmittelbare Umgebung von Belang (z. B. Stadtrat).

— Was ist außerhalb meiner unmittelbaren Umgebung: außerhalb des unmittelbaren Zeitraums, des spontanen Erlebens, aber für diesen Zeitraum von Belang (z. B. die Geschichte des Stadtteils, das elektronische Archiv, die dokumentierte mündliche Überlieferung, aber auch die zukünftigen Planungsvorschläge, simulierte Stadtbilder, Szenarien für mögliche Trassenführung einer Zubringerbahn usw.).

— Was ist außerhalb meiner unmittelbaren Umgebung: außerhalb des unmittelbaren Verständnisbereiches, der spontanen Überein-stimmung, des zugänglichen Alltagswissens, aber für diese unmittelbare Umgebung von Belang (z. B. die Gründe für und gegen Blockheizkraftwerke, Möglichkeiten des Energiesparens, der ökologischen Gestaltung von Hinterhöfen, die Hintergründe für Jugendrevolten usw.). Telekommunikation sorgt demnach für Stärkung der Lokalität, indem sie Verbindungen nach „außen" schafft und derart gerade einer „Provinzialität" entgegenwirkt.

b) Die Distanz zwischen politischer Entscheidungsebene und Betroffenen läßt sich verringern durch die Öffnung der gruppengebundenen Netze für die repräsentative politische Ebene, die derart wieder in direkten Kontakt mit den Bürgern treten kann. Durch die Einbeziehung der technologischen Möglichkeiten in den Entscheidungsprozeß wird Politik auch für die Betroffenenebene zugänglicher, durchschaubarer und beeinflußbarer.

c) Der Verlust an direkter Beziehung der politischen Repräsentanten zu den Problemen der Menschen läßt sich zumindest teilweise durch deren technische Einbindbarkeit in die tatsächlich ablaufenden Diskussionen abbauen. Telekonferenzen u. ä. vermitteln u. U. ein präziseres Bild von sozialer Realität als Meinungsumfragen.

d) Das zeitliche Auseinanderfallen von politischem Denken und Handeln in den verschiedenen Sektoren einerseits und dem Handeln der Betroffenen andererseits läßt sich bei entsprechender Anlage verringern, wenn die ablaufenden Prozesse technisch aufgezeichnet und miteinander verknüpft werden.

e) Die Unterschiedlichkeit der Interessen, die alles so unüberschaubar macht, wird zunächst aus der Unüberschaubarkeit befreit werden können. Werden Interessen zunächst (technisch) gleichberechtigt verzeichnet, ergibt sich auch die Möglichkeit, sie leichter als grundsätzlich möglich anzuerkennen. Subjektivität bedarf auf einem bestimmten technischen Niveau nicht mehr des Filters der .. Massenmedien", um sich am öffentlichen Gespräch beteiligen zu können.

f) Die Konfliktlösung erhält damit als erste Stufe die Möglichkeit, Konflikte aufzuzeigen und zu beschreiben. Als zweite Stufe wird die technische Möglichkeit geliefert, den Prozeß der Austragung von Konflikten zu verfolgen. In einer dritten Stufe werden bisher nicht verfügbare Steuerungsmechanismen möglich: Simulation der möglichen Bewältigung, gleichzeitige Einschaltung von betroffenen Gruppen, Argumentationsbewertungen, umfassender Wissenszugriff werden eine echte Auseinandersetzung möglich machen, die gegenwärtig nur vorgehandelt wird. Hier darf an die „OrakeT'-Experimente erinnert werden, die als „Debattenshows" z. Z. eine Renaissance erleben

Wesentliche Elemente auch heute noch tragfähiger Konzeptionen waren damals — vor gut zehn Jahren — bereits vorgedacht: Einsatz von Telekommunikation, Breitenwirkung durch Verteilmodus, Zugriff auf Datenbanken usw. Einiges müßte heute hinzugefügt oder verändert werden. Der grundlegende Unterschied aber ist heute in der „Normalität" zu sehen: Der erreichte Komfort von Kommunikation, Dokumentation und Information über die Telematik und der Aufbau auf bestehenden Ansätzen (z. B. Telefonnetz) wird Telematik in die Lebenswelt großer Teile der Bevölkerung einschleusen. Die Eliteninformatik, von der auch Krauchs „Orakel" noch geprägt war, ist, um mit Nora/Minc zu reden, der Masseninformatik gewichen oder besser, sie weicht ihr: Noch sind zu einer Konfliktbewältigung mit telekommunikativer Unterstützung erst schüchterne Ansätze zu sehen.

Beispielhaft sei hier ein Szenario vorgestellt:

Ein Postkunde erhält eine Telefonrechnung, die er für überhöht hält. Da über die Post keine befriedigende Aufklärung zu erhalten ist, sucht er Personen, die ähnliche Probleme haben und gibt einen entsprechenden Suchauftrag an das Netz; dieses liefert Hinweise auf einen Ausschuß des Verbraucherverbandes sowie auf zwei Arbeitskreise, die sich in seiner Region damit befassen, ferner die Adressen von Rechtsanwälten mit entsprechenden Erfahrungen. Der Postkunde nimmt über das Netz Kontakt mit dem nächsten Arbeitskreis auf, legt sein Problem dar, bekommt Hinweise auf ähnliche Fälle sowie Literatur-angaben:

er wird zu einer Sitzung eingeladen.

Der Ausschuß des Verbraucherverbandes hat Zugriff auf diese und ähnliche Fallsammlungen, der zuständige Bundestagsausschuß gegebenenfalls auch. Rückfragen bei Betroffenen können über das Netz erledigt, Petitionen eingebracht und die Fälle direkt dem zuständigen Bundespostsachbearbeiter zugleitet werden. Die Initiativen und Arbeitskreise nehmen untereinander Kontakt auf und fordern ein Gesetz, das konsumentenfreundlichere Geschäftsbedingungen der Bundespost anstrebt.

Hierzu wird vom betreffenden Bundestagsausschuß (bzw. einer Fraktion) ein computergestütztes Debattensystem aufgelegt, das den betroffenen Einrichtungen Gelegenheit zur organisierten Diskussion unter Einschluß der entsprechenden Experten gibt („elektronisches Hearing"). Liegt ein Gesetzentwurf vor, wird dieser in eine „elektronische Gesetzesüberwachung" eingebracht, die den Interessierten jederzeit Überblick über den Stand der Entwicklung gibt und gegebenenfalls auch „Meinungsgruppen" definiert, die zu Abstimmungen über Streitfragen gebeten werden ...

Eine Gesellschaft zeichnet sich ab, in der die einzelnen und die Gruppen, in denen sie sich organisieren, über Netzzugangsstellen (als Heimterminal 'oder öffentlicher Zugang) durch leistungsfähige, integrierte Netze miteinander verbunden sind, in der ein Heimcomputer zum täglichen Leben gehört. Derartige — zunächst technologische — Perspektiven mögen erschreckend wirken, aber grundlegende technologische Veränderungen waren schon immer schwierig zu begreifen und gedanklich zu bewältigen.

Auch die alte Transporttechnologie hat bereits Raum-und Zeitflexibilität erheblich erweitert; die neue Telekommunikationstechnologie wird hier einen weiteren Schritt ermöglichen können und darüber hinaus auch zwischen den Extremen der Individual-und der Massenkommunikation einen völlig neuen Bereich der gruppenbezogenen Identifikation, Artikulation, Organisation und Einflußnahme eröffnen.

IV. Probleme

Mit der Entscheidung für eine derartige Strategie werden — wie bei jeder Entscheidung für einen Technologieeinsatz — neue Probleme entstehen:

— Zunächst ist vor der Illusion zu warnen, daß mit der Schaffung selbst einer geeigneten technologischen Grundlage (die heute noch nicht vorliegt, sondern sich erst in Umrissen andeutet) das Problem bereits gelöst sei. Mit bloßer Technik entsteht noch keine Kommunikation; dafür sind die Menschen selbst zuständig. — Nicht jeder beliebige Technologieeinsatz ist bereits als Lösungsbeitrag zu werten: Kabelsysteme ohne Rückkanäle werden die Krise der Verteilmedien verschärfen. Die rein privatwirtschaftliche Nutzung von 20 oder 30 Verteilkanälen wird die Stiftung „gesellschaftlichen Zusammenhangs" auf die Markenartikelwerbung beschränken, also gegenüber bisherigen Funktionen der Medien eher Defizite schaffen. — Mit der Wahl einer Möglichkeit werden andere Möglichkeiten beschnitten: Ein Gewinn an Distanz kann Verlust an Nähe bedeuten; ein größerer Zeithorizont kann den Verlust von Augenblicklichkeit nach sich ziehen; ein Zuwachs an Vielfalt bedeutet auch den Verlust von Einheitlichkeit; ein Gewinn an Vernunft kann auch den Verlust an Spontaneität und Gefühl bewirken. — Gewinne und Verluste sind aber auch betrachtbar als Gegenbewegungen, die einiges, was vielleicht gefährdet schien, wieder zurechtrücken. Die große räumliche Flexibilität kann dazu führen, daß der politische Zentralismusanspruch, der zur teilweisen Entfunktionalisierung lokaler Politik geführt hat, zurückgewonnen werden kann. Bessere Abstimmungsmechanismen von Entscheidungen, die gleichzeitig an vielen Orten getroffen werden (können), können zentrale Steuerung des Zusamenlebens teilweise durch eine Gemeinsamkeit des Überblicks (z. B. durch entspreB chende Informationssysteme) ersetzbar werden lassen.

— Hier ist auch an gesellschaftliche Ausgleichsbewegungen zu denken. Das sich anbahnende Gegeneinander von naturwissenschaftlich scheinender Rationalität (angedeutet in Zahlenspielen, Modellen, Indikatoren) und subjektiver Emotionalität (Reagieren aus dem „Bauch") könnte unter Zuhilfenahme der neuen Technologien neu miteinander vermittelt werden.

Viele der oft beschworenen Gefahren erweisen sich bei genauerer Betrachtung eher als Projektionen von Ängsten denn als notwendigerweise erwartbare schwerwiegende Beeinträchtigungen, die über das Maß an Beeinträchtigungen, die gesellschaftliches Leben zwangsläufig mit sich bringt, hinausgehen. Vieles wird sich auch ohne besondere Maßnahmen „ausregeln" oder „einpendeln". Allerdings kann durchaus bereits abgesehen werden, daß es eine Reihe von „Knirschpunkten" gibt, an denen eine unbeeinflußte Entwicklung bis zu ihrer Einpegelung erhebliche soziale Kosten verursachen würde. Hier sind bereits frühzeitig Gegensteuerungen als Bestandteil einer umfassenden Strategie notwendig, etwa a) Fluchttendenzen, Isolation, Suchterscheinungen werden durch die neuen Technologien auch neue Anlässe und Befriedigungsformen erhalten. Hier wird eine Steuerung der anzubietenden Dienste und der technischen Möglichkeiten notwendig. Das Heim-terminal darf nicht nur als Instrument des Spiels gegen eine Maschine eingeführt werden, sondern muß bereits frühzeitig voll interaktiv sein (d. h. dazu dienen, die Kommunikation zwischen Menschen zu unterstützen). Beratung und Hilfestellung müssen auf breiter Ebene verstärkt werden.

b) Selbstüberheblichkeit, Arroganz, Eitelkeit, die in den Verteilmedien nahezu zwangsläufig einen geeigneten Darstellungsapparat fanden, können auch diese neue Spielwiese erobern und die neuen Formen von Selbstdarstellung, Artikulationsmöglichkeiten, Vermittlung von Seh-und Denkweisen überwuchern. Zugangssteuerungen, Verhaltensabsprachen, Selbstkontrolle sind hier dringend notwendige Korrektive. c) Vorhandene ökonomische und politische Macht hat zur Nutzung der Möglichkeiten eine erheblich bessere Ausgangsposition. Die Herstellung von Bedingungen relativer Chancengleichheit ist daher vorrangiges Prinzip, z. B. durch öffentliche Zentren, Beschränkung des zulässigen Machteinsatzes, Unterstützung gesellschaftsfördernder Initiativen. Wenn dies gelingt, kann tatsächlich die von der Reise-Demokratie zur Verteilmedien-Demokratie übergegangene Form der industriellen Gesellschaft in eine Kabel-Demokratie gewandelt werden. Eine solche Ausprägung darf nicht als bloße Verstärkung der Verteilmedien-Demokratie aufgefaßt werden, sondern das soziale System stellt sich dann dar als ein interaktives Geflecht von Gruppen, das sich von Zeit zu Zeit, von Anlaß zu Anlaß als Gemeinschaft im Verständigungsprozeß erlebt. Man kann also sehr wohl die Bildung einer kommunikationstechnischen Grundlage unterstützen, um eine Möglichkeit für veränderte gesellschaftliche Kommunikationsverhältnisse zu schaffen, wenn man sich dabei vorbehält, an bestimmten kritischen Punkten gegensteuern zu können.

Eine bloß kulturpessimistische Position allein bringt uns aus zwei Gründen nicht weiter:

— Sie argumentiert von feststehenden Werten aus und ignoriert, daß ein begründeter Wertwandel auch aufgrund technischer Entwicklung möglich sein muß.

— Sie hat eine wichtige Funktion zur Aufmerksamkeitsweckung und Warnung. Aber da es nie so verheerend ausgeht, wie sie wähnt, meint man schließlich, es sei gar nichts zu regeln, es ginge schon alles seinen Gang.

Eine kulturpessimistische Position ersetzt also weder Politik noch Forschung und Entwicklung; sie kann sie allerdings befördern und befruchten.

Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß auch die alten, bekannten Strategien zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme durch die und mit den neuen Informationsund Kommunikationstechnologien nicht greifen werden. Die Neuartigkeit dieser Probleme fordert ein Zusammenwirken aller derjenigen, die in diesen Problemen und Krisenzusammenhängen die Chance sehen, gesellschaftli21 ehe Entwicklung voranzutreiben, bisherige Begrenzungen zu überwinden, Tendenzen von Pluralismus, Demokratisierung und individueller Freiheit auf eine neue gesellschaftliche Basis zu stellen. Gefordert sind hier in den traditionellen Trägern gesellschaftlichen Handelns vor allem

— die politischen Instanzen, von denen experimentelle Politik gefordert wird, die vor allem ein Innovationsklima schafft, in dem sich anstelle „elektronischer Hinterhöfe” elektronische Foren bilden können;

— die Massenkommunikationsmittel im weitesten Sinne, die die neuen Möglichkeiten innovativ selber nutzen müssen, anstatt sich an ihren bisherigen Positionen festzuklammern; ihre Verantwortung als demokratischer Faktor muß sie dazu zwingen, die neuen Formen in ihrer Herausbildung zu unterstützen und vorzuleben;

— die gesellschaftlichen Einrichtungen (Wirtschaft, Verbände, Vereine), denen mit den neuen Technologien die Möglichkeit geboten wird, sich über ihre primäre Zielsetzung hinaus auch aktiv am Geschehen der gesellschaftlichen Kommunikation zu beteiligen;

— die Bevölkerung, in der sich neue Vorstellungen vom gesellschaftlichen Miteinander artikulieren. Die „neuen sozialen Bewegungen" sind essentiell auch Kräfte der sozialen Basis, die tendenziell ähnliche Zielsetzungen verfolgen. Einerseits gilt es, ihnen gegenüber Toleranz zu üben, wenn sie widersprüchlich und betont alternativ auftreten; andererseits ist auch von ihnen zu fordern, die Chancen, die in den Technologien liegen, zu erkennen und fruchtbar zu nutzen, statt sie pauschal zu verurteilen;

— die Wissenschaft, die an diesen neuen Problemen auch ein entsprechendes Verständnis von sich selber zu entwickeln hat: Lieferung zukunftsweisender Vorlagen anstelle des „Imnachhinein-Forschens“, Arbeit mit Betroffenen anstelle neutralistischer Distanzierung, Einbeziehung von Subjektivität in den Erkenntnisprozeß anstatt realitätsferner Verallgemeinerung.

Die neuen Formen der gesellschaftlichen Organisation sind — im Hinblick auf die auf uns zukommenden Technologien — auch mit dem Schlagwort „Informationsgesellschaft" bezeichnet worden. Wenn eine Informationsgesellschaft der konsequente Nachfolger der Moderne werden soll, dann braucht sie nicht nur eine entsprechende Kommunikationsstruktur, sondern auch und vor allem eine angemessene Weiterentwicklung ihres kulturellen Systems. Die Schaffung einer „Informationskultur", die es uns ermöglicht, eine demokratischere Informationsgesellschaft zu entwickeln, ist die eigentliche „neue Front", die sich allmählich in Politik, Medien, Organisationen, Bevölkerung und Wissenschaft andeutet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der vorliegende Aufsatz stammt aus dem Projekt INSTRAT „Informationssysteme als informationspolitisches Gestaltungspotential und gesellschaftliche Entwicklungsstrategie“ (gefördert von BMFT beim Arbeitsbereich Informationswissenschaft der Freien Universität Berlin).

  2. Anfang der siebziger Jahre konnte Helmut Krauch aktuelle Streitfragen von Experten unter Einbeziehung des Publikums im Westdeutschen Fernsehen (III. Programm) diskutieren lassen. Das Konzept findet sich heute in zahlreichen Sendereihen im bundesdeutschen Fernsehprogramm. Vgl. dazu U. Dohrmann/G. Vowe, Konfliktorientierte Informationssendungen, in: Media-Perspektiven, (1982) 10, S. 645— 659.

  3. Vgl. S. Nora/A Mine, Die Informatisierung der Gesellschaft, Frankfurt/Main — New York 1979.

  4. G. Wersig, Die Kommunikative Revolution. Strategien zur Bewältigung der Krise der Moderne. Manuskript INSTRAT, Berlin, 1983.

Weitere Inhalte

Gernot Wersig, geb. 1942, M. A., Dr. phil.; seit 1977 Professor für Informationsund Dokumentationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichung u. a.: (Hrsg.) Informatisierung und Gesellschaft. Wie bewältigen wir die neuen Informations-und Kommunikationstechnologien?, München etc. 1983. Gerhard Vowe, geb. 1953, Dipl. Pol., Dr. phil.; ehemals Assistent am Arbeitsbereich Informationswissenschaft der Freien Universität Berlin; z. Zt. am Institut für Politikwissenschaft an der TH Darmstadt tätig. Veröffentlichung u. a.: Interpretation von Wissenschaft und Gesellschaft. Der Beitrag von Information und Kommunikation, 2 Bd., Berlin 1983.