I. Widerstand in der Demokratie?
Widerstand ist keine Alltagsangelegenheit, sondern ein Ausnahmefall: Wenn ein politisches Gemeinwesen keine normale Auseinandersetzung um politische Ziele und Maßnahmen zuläßt, sondern sie im Gegenteil unterdrückt, befinden sich die Kritiker alsbald im Widerstand. Ist heute in der Bundesrepublik, auch und gerade in der Auseinandersetzung um den Doppelbeschluß der NATO, dieser Fall des Widerstandes gegeben?
Man muß zunächst von der Situation sprechen, um auch die sozialethischen Wertungen im richtigen Lichte zu sehen. Abstrakte juristische und moralische Urteile gehen leicht ins Leere.
Wenn in Deutschland von „Widerstand" gesprochen wird, dann muß dafür der Widerstand im und gegen den Nationalsozialismus den Maßstab abgeben. Der 20. Juli 1944, Tag des mißglückten Attentats auf Adolf Hitler, war die Frucht einer Widerstandsbewegung, die sich über Jahre hochgeheimer Vorbereitungen und Diskussionen unter dem permanenten Druck äußerster Gefahr auf diesen Tag und den Sturz des Unrechtsregimes ausgerichtet hatte. Der Widerstand richtete sich gegen den Staat, nicht gegen den Staat überhaupt, aber doch gegen diejenigen, die die Macht im Staat in Händen hielten. Es war Widerstand im vollen Sinne der Bedeutung, weil anderes, freie öffentliche Auseinandersetzung, Kritik und Opposition nicht möglich, nicht geduldet, im Staatsverständnis der Nationalsozialisten nicht vorgesehen war.
Ist heute in der Bundesrepublik ein damit vergleichbarer Fall des Widerstandes gegeben? Im Vergleich der Situation damals und heute muß die Antwort wohl lauten: Nein. Die Befürworter und die Gegner des Doppel-beschlusses der NATO und seiner Ausführung stehen sich in offener freier Auseinandersetzung gegenüber; die demonstrativen Protestaktionen werden von der staatlichen Gewalt bzw.den Ordnungskräften begleitet, aber nicht unterdrückt; alle Seiten bemühen sich, von irritierenden Randgruppen abgesehen, dem Begriff der Gewaltfreiheit konkrete
Maßstäbe zu geben. Die Auseinandersetzung hat auch nicht von ferne den Charakter des Widerstandes.
Zur Situation gehört auch der Blick über die Bundesrepublik hinaus auf den anderen Teil Deutschlands. Der Kontrast zwischen den Bildern von den tausend unbehelligt kampierenden Teilnehmern an der „Prominentenblockade''in Mutlangen und den Bildern von den sechzig Kerzen tragenden, von der Polizei vertriebenen Demonstranten in Ost-Berlin spricht für sich selbst. Von der politischen und staatlichen Situation her gesehen, gibt es in der Bundesrepublik keinen echten Widerstandsfall in der Rüstungsdebatte.
Das ist die Situation. Es ist die Situation einer Demokratie, in der die Verfassung das Grundrecht der Meinungsfreiheit mit den anderen, damit zusammenhängenden Freiheiten (Gewissens-und Glaubensfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit) schützt und garantiert. Diese Dinge gehören zu den Selbstverständlichkeiten unserer politischen Situation heute. Eine Dramatisierung von politischen Auseinandersetzungen enthält natürlich immer auch die Tendenz, diese elementaren Selbstverständlichkeiten gering einzuschätzen und statt dessen die Nähe zu anderen Situationen zu suchen, die die Gegenwart einer Situation totalitärer Bedrohung und Unterdrückung vergleichbar macht. Aber das ändert nichts daran, daß wir uns nicht in einer solchen Situation befinden.
Auf eine knappe Formel gebracht: Unsere Demokratie ist deswegen keine Situation für den Widerstand, weil sie das Recht auf Widerspruch kennt und anerkennt.
Das im Grundgesetz verankerte Recht auf Widerstand (Art. 20, Abs. 4) ist darum das notfalls äußerste Mittel zur Verteidigung einer Demokratie, die dieses Recht garantiert, nämlich in dem Fall, in dem die Staatsorgane nicht bereit sind, die Verfassungsordnung zu schützen, oder sogar selbst diese Ordnung außer Kraft zu setzen versuchen. Dagegen ist der normale Fall der Verteidigung der demokratischen Ordnung nach innen und nach außen selbstverständlich keine Sache des Ausnahmezustandes oder des Widerstands-rechts. Auch von dieser Seite aus gesehen stellt die heutige Auseinandersetzung keinen Fall des Widerstandes dar.
Die erste sozialethische Folgerung aus dieser knappen Situationsanalyse ist diese: Jede politische Auseinandersetzung, auch wenn es dabei um „Schicksalsfragen der Nation" oder „Lebensfragen der Menschheit" geht, muß so geführt werden, daß dabei das Recht gegensätzlicher politischer Auffassungen anerkannt und gewahrt wird. In einer Demokratie stehen alle unter einer doppelten ethischen Verpflichtung: Ihre eigenen Überzeugungen argumentativ zu begründen und mit legalen Mitteln zu verfolgen sowie zugleich für das Recht gegenteiliger Auffassungen einzutreten. Wer den Widerstand ausruft, entzieht sich dem demokratischen Prozeß der Kommunikation.
II. Widerspruch statt Widerstand
Die eben formulierte elementare Regel erscheint als bloß formal. Sie ist aber von erheblicher inhaltlicher und ethischer Bedeutung. Sie formuliert nämlich die sozialethische Regel, die überall dort Geltung verlangt, wo die politisch streitenden Parteien und Gruppen in entscheidenden Sachfragen gerade nicht übereinstimmen und sich statt dessen heftig befehden.
Sie erlangt ganz besondere Bedeutung, wenn Fragen von großer Reichweite strittig sind, die unter Umständen unabsehbare Folgen haben. So wird heute immer wieder das Argument vorgebracht, bei der Frage der nuklearen Bewaffnung handele es sich um ein Problem von einer Größenordnung und von möglicherweise unabsehbaren Folgen, das mit den formalen Regeln der demokratischen Willensbildung nicht gemeistert werden könne. Ähnliche Argumente sind bereits im Zusammenhang mit den Umweltproblemen und der friedlichen Nutzung der Kernenergie diskutiert worden. Die strittigen Sachfragen werden dann zu Rückfragen an den politischen Prozeß demokratischer Willensbildung und führen dazu, daß die Berechtigung demokratischer Entscheidungsverfahren hinterfragt wird. Gibt es nicht Fragen von solchem ethischen Gewicht, daß ein anders lautendes Urteil und eine anders formulierte Meinung aus ethischen Gründen nicht anerkannt werden dürfen? Die Anerkennung des Widerspruchs, auch des öffentlich vollzogenen, durch Demonstrationen und andere Oppositionsformen nachdrücklich zur Geltung gebrachten Widerspruchs, löst also noch nicht das Problem, das wir heute diskutieren. Es wird damit nur an die richtige Stelle plaziert.
Worin besteht das Problem? Der Preis der Freiheit ist der Mangel an Eindeutigkeit. Widerspruch ist selbst eine Form der Freiheit; aber dazu gehören eben — mindestens — zwei, die sich gegenseitig widersprechen. Normalerweise neigen wir dazu, die Welt und die Politik nur von der eigenen Seite und der eigenen Überzeugung aus zu sehen. Die sozialethische Forderung, sich gegenseitig anzuerkennen, ist die Grundforderung, um Freiheit und Frieden und Gerechtigkeit zu verbinden. Wenn sich nun zwei Positionen inhaltlich widersprechen, dann sind sie eigentlich unvereinbar. Diese Unvereinbarkeit wirft also ein neues sozialethisches Problem auf: Da es der Freiheit elementar widersprechen würde, daß die eine Position die andere gleichsam abzuschaffen versucht, sie vernichtet — das ist die totalitäre Lösung —, beide untereinander aber nicht direkt vereinbar sind, müssen sie sich auf ein Verfahren der gegenseitigen Anerkennung einlassen, das auch unabhängig von den strittigen und unvereinbaren Positionen gilt. Der Widerspruch kann nur dann politisch ertragen werden, wenn es daneben und unabhängig davon eine Übereinstimmung darüber gibt, wie mit gegenseitigen Widersprüchen umgegangen werden soll. Das ist eine eminent politische und zugleich sozialethische Aufgabe. Im persönlichen Leben kann man Leuten, mit denen man nicht übereinstimmt, aus dem Weg gehen. Im politischen Gemeinwesen geht das nicht so einfach.
Hier muß jede Position für ihre Überzeugung werben, und daraus entwickelt sich der Prozeß der Mehrheits-und Minderheitsbildung. Die Mehrheit muß anerkennen, daß sie nicht das Ganze ist, sie muß die Minderheit berücksichtigen, sie muß auch berücksichtigen, daß sich die Mehrheitsverhältnisse ändern können. Die Minderheit muß anerkennen, daß sie eben die Minderheit ist und insofern auch nicht im Namen der Mehrheit handeln kann. Aber sie wird versuchen, für ihre Position eine Mehrheit zu erlangen. Gilt dieses Verfahren auch in Fällen, in denen es um „Lebensfragen" geht? Sind „Lebensfragen“ eine Sache von Mehrheitsentscheidungen? Die Gegner der Nachrüstung sagen, es gehe hier um das überleben der Menschheit, mit der nuklearen Aufrüstung werde die Zerstörung allen Lebens geplant oder doch bewußt in Kauf genommen. Auf der anderen Seite tönt es ganz anders. Ihr geht es um die Sicherung des Friedens durch militärisch relatives Gleichgewicht, also gerade um die Verhinderung eines Krieges und zugleich um die Wahrung der Unabhängigkeit und Freiheit des Lebens im Frieden. Jede Seite bestreitet, was die andere ihr vorwirft. Und zugleich halten sich beide Seiten gegenseitig vor, daß es gefährlich und ruinös sei, was sie zu tun beabsichtigen oder zu tun Vorschlägen: Einseitige Abrüstung führe mit Sicherheit zur Unterwerfung unter den Ostblock, Nachrüstung führe mit Sicherheit zu einem nuklearen Holocaust. Dies ist jetzt bewußt sehr holzschnittartig formuliert, denn natürlich gibt es hier eine Vielzahl sehr wichtiger Differenzierungen und eine intelligente Debatte, die sich nicht in wenigen Worten wiedergeben läßt. Worauf es bei diesem Argument ankommt, ist auch etwas anderes: Wer entscheidet nun eigentlich, welches die vorrangigen Lebensfragen sind? Wer entscheidet, in welcher Situation wir uns befinden, welches die wirkliche Gefahr ist? Politisch kann das wieder nur auf demokratischem Wege geschehen, wenn die Beurteilung der Situation selbst strittig ist.
III. Ziviler Ungehorsam und Gewissen
Wenn politisch entschieden ist, was getan werden soll, dann ist das wiederum nicht das Ende des Widerspruchs. Niemand kann gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln. Damit kommen wir jetzt zu dem „Ernstfall", der auch unter Bedingungen des demokratischen „Normalfalls" auftreten kann und auftritt. Es geht um das ethische Recht, ja um die Pflicht, eine Forderung — auch wenn sie gesetzlich und demokratisch legitimiert ist — nicht zu befolgen, wenn sie dem Gewissensanspruch widerspricht. Das ist der Kern des sogenannten zivilen Ungehorsams, aber auch eine Verweigerung, wie sie z. B. ausdrücklich bei der Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen im Grundgesetz anerkannt ist. Die Regel, die hier — im christlichen Kontext — gilt, ist die aus der Apostelgeschichte 2, 29: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen". Entsprechend hat etwa Martin Luther gesagt: „Wenn ein Fürst unrecht hat, ist sein Volk ihm auch schuldig, ihm zu folgen? Nein! Denn gegen das Recht gebührt niemand zu handeln. Sondern man muß Gott, der das Recht haben will, mehr gehorchen als den Menschen." Die Grenze, um die es hier geht, kann allerdings nicht mit einer ebenso einfachen Regel angegeben werden. Der Staat — und das gilt für eine parlamentarische Demokratie genauso wie das in der Tradition für Fürsten und andere Machthaber gesagt worden ist — kann Gehorsam nur für Gesetze verlangen, die dem Recht in einem sittlichen Sinne gemäß sind. Offenkundiges Unrecht, auch wenn es in Ge-setzesform gegossen ist, kann keinen freiwilligen Gehorsam der Bürger verlangen.
„Nach dem Grundsatz, daß niemand gezwungen werden darf, gegen sein sicheres Gewissen zu handeln, hat die theologische Tradition immer das Recht und die Pflicht zum bürgerlichen Ungehorsam verteidigt. Das bedeutet, daß ein Bürger gegebenenfalls sittlich berechtigt und verpflichtet ist, eine gesetzlich legitimierte Forderung nicht zu befolgen, wenn diese seinem sicheren Gewissensspruch widerspricht" (Franz Böckle, Christ und Welt, Nr. 29, S. 3). Wann dieser Fall gegeben ist, ist nur für das individuelle Gewissen des einzelnen auszumachen und kann keiner kollektiven Regel unterliegen. An dieser Grenze aber muß es dem einzelnen Bürger und Christen möglich sein, sich der Teilnahme an einer Handlung zu verweigern, auch wenn sie vom Mehrheitswillen getragen oder gesetzesmäßig begründet ist. Es geht also um das sittliche Recht des einzelnen, etwas nicht zu tun, was allgemein gefordert ist. So kann niemand gegen sein Gewissen gezwungen werden, bestimmte politische Überzeugungen öffentlich zu bekennen, die er ablehnt. Die frühe Christenheit z. B. übte solchen bürgerlichen Ungehorsam, indem sie die Beteiligung am öffentlichen Kaiserkult verweigerte.
Allerdings kann nicht jeder Fall einer politischen Auseinandersetzung in einen solchen Gewissenskonflikt übertragen werden. Aber es kann doch daran erinnert werden, daß es eine solche Grenze im Zusammenhang mit der Neufassung des § 218 über die Strafbarkeit bzw. Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs gegeben hat und nach wie vor gibt. Trotz der veränderten rechtlichen Lage können z. B. Ärzte nicht gezwungen werden, einen solchen Abbruch, der eine Tötung werdenden Lebens bedeutet, durchzuführen, wenn sie das mit ihrem Gewissen nicht vereinen können.
Nun würde man die Schutzfunktion dieses ethischen Rechts zum bürgerlichen Ungehorsam völlig in das Gegenteil verkehren, wenn man jede Einschränkung der Selbstbestimmung durch gesetzlich geforderte soziale Pflichten, sofern sie eine Beeinträchtigung der eigenen Ziele enthält, zum Ausgangspunkt für eine solche Verweigerung machen würde. Damit ein solcher ethischer Grundsatz die Menschen vor Unrecht und Willkür schützen kann, muß er also zwei Bedingungen in Anspruch nehmen. Die Bürger müssen bejahen, daß das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft von jedem bestimmte Rücksichten und Verbindlichkeiten verlangt. Und Staat und Gesetzgebung müssen sorgsam darauf achten, von den Bürgern nur solchen Gehorsam zu verlangen, der im Rahmen des allgemeinen ethischen Bewußtseins auch akzeptabel ist. Eine gute politische Ordnung ist darum eine solche, in der es möglichst wenige Gewissenskonflikte gibt und die Anlässe für bürgerlichen Ungehorsam gering sind. Während sich die Tradition der moralischen Lehre und Urteile zumeist nur mit der Frage befaßt hat, wann Menschen als Bürger das Recht zu solcher Verweigerung haben, ist die andere Frage sozialethisch genauso wichtig, nämlich die Verpflichtung des Staates, eine solche gute Ordnung zu wahren und zu entwickeln, die möglichst breiter und allgemeiner Zustimmung fähig ist.
IV. „Demonstrativer Widerstand"?
Die heutige Widerstandsdiskussion ist, wie schon in den Auseinandersetzungen um die Kernkraftwerke, noch einmal wieder anders geartet. Man hört von einem „demonstrativen Widerstand“. In den Gruppen und Bewegungen, die unter dem Sammelnamen „Friedensbewegung“ auftreten, sind zwar sehr verschiedene und auch teilweise gegensätzliche Meinungen und Auffassungen vertreten, wie die langandauernde Diskussion um „gewaltfreien Widerstand" zeigt. Aber der Begriff des „demonstrativen Widerstandes" faßt doch gut zusammen, was zumindest ein wichtiger Aspekt dabei ist. „Widerstand“ richtet sich hier nicht gegen den demokratischen Staat als solchen. „Widerstand" ist der Ausdruck für alle Aktionsformen, mit denen auf die allgemeine öffentliche Meinungsbildung, auf das „Bewußtsein" der Bevölkerung Einfluß genommen werden soll. Diesem Zweck dienen in erster Linie die verschiedenen und wechselnden Aktionsformen, von denen immer wieder auch zu hören ist, daß sie „symbolischen" Charakter haben. Dem liegt die ganz zutreffende Einsicht zugrunde, daß politisches Handeln in der Demokratie von Mehrheiten abhängig ist und daß politische Mehrheiten von der Bevölkerung gebildet werden. Wer nun davon überzeugt ist, daß das, was die politisch Verantwortlichen tun oder zu tun beabsichtigen, grundfalsch ist, zugleich aber nicht daran vorbei kann, daß Regierung und Parlament sich auf Mehrheiten stützen, insofern also demokratisch legitimiert sind, muß versuchen, das Bewußtsein der Mehrheit zu ändern. Für nahezu die meisten Aktionen, die die heutige Auseinandersetzung bestimmen, gilt darum, daß ihre Initiatoren damit das Bewußtsein anderer verändern oder beeinflussen wollen. Im Blick auf die Politiker sollen diese Aktionen bewirken, daß sie ihr Handeln aus Sorge um den Erhalt oder den Gewinn von Mehrheiten veränderten Tendenzen der Meinungsbildung anpassen. Im Blick auf die „anderen", die Bevölkerung, sollen die Aktionen die Zustimmungsbereitschaft verändern.
So gesehen handelt es sich um die, teilweise exzessive, Ausübung und Ausnutzung des Demonstrationsrechtes. Das hat nun mit Widerstand in dem eingangs erwähnten Sinne gar nichts zu tun. Denn es ist ja gerade die öffentliche Aufmerksamkeit, die öffentliche Darstellung und Wirksamkeit das entscheidende Element für den „demonstrativen Widerstand", d. h. also eine politische Ordnung, die das weitgehend toleriert, sofern dabei keine Gewalt angewendet wird. Wenn man so will, handelt es sich dabei um eine bestimmte Art der, durchaus legitimen, Wahlbeeinflussung als Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Deswegen ist auch die Entstehung einer entsprechenden Partei wie die „Grünen" eine logische Konsequenz aus dieser Form des „demonstrativen Widerstandes" geworden. Gewisse demagogische Züge derart, daß allein hier, in solchen Bewegungen und Gruppen, „das Volk", das „wahre Volk“ sich zu Worte meldet, gehören zu den elitären Ansprüchen, ohne die für solche Bewegungen auch die nötige Motivik fehlen würde. Hier entscheidet, langfristig wie kurzfristig, der Gang der öffentlichen Auseinandersetzung, an der sich zu beteiligen deswegen alle veranlaßt sind, die politisch Einfluß erlangen wollen. In gewisser Weise ist es der Preis politischer Freiheit, daß sich die Gesellschaft gleichsam permanent in einer Art Wahlkampf befindet.
Allerdings gibt es eine andere Variante des „demonstrativen Widerstandes", die gleichwohl zu sozialethischen Konflikten führen muß und führt. Wenn durch demonstrative Aktionen auf Gefahren z. B. bei der Errichtung von Kernkraftwerken oder, was in diesem Herbst aktuell ist, der nuklearen Bewaffnung aufmerksam gemacht werden soll, dann geschieht das ja aus der Überzeugung heraus, daß das, was hier geplant oder unternommen wird, eine solche Gefahr heraufbeschwört, die in jedem Falle verhindert werden muß. Die Beschwörung der Gefahren eines Atomkrieges verbindet sich dann mit der nachdrücklichen Behauptung, die sogenannte Nachrüstung diene der Vorbereitung des Völkermordes oder sei eine unmittelbare Maßnahme der Kriegsvorbereitung. Die mit großem Nachdruck und Ernst öffentlich geführte Diskussion, ob das bei der Strategie der nuklearen Abschreckung mitenthaltene Risiko noch in einem verantwortbaren Verhältnis zu dem Ziel der Abschreckung, der Verhinderung eines kriegerischen Konflikts steht, wird dabei in gewisser Weise beendet: Die Gefahr ist größer, das Risiko kann nicht mehr hingenommen werden. Darum muß diese oder eine vergleichbare Maßnahme verhindert werden.
Der „demonstrative Widerstand", der auf diese Gefahren öffentlich aufmerksam machen will, steht dabei an der Grenze, mehr sein zu wollen, nämlich tatsächliche, konkrete und erfolgreiche Verhinderung auf jeden Fall. Das aber ist der Schritt von der möglichst spektakulären, wirksamen Beeinflussung der öffentlichen Meinung zum direkten, widersetzlichen Handeln.
Das Ineinander von demonstrativer, symbolischer Aktion und direkter praktischer Verhinderung politisch legitimierten Handelns ist die Eigentümlichkeit der heutigen Lage in bestimmten Aktionen. Es ist auch im Kern das Problem in dem Streit um gewaltfreie und Gewalt anwendende Aktion. Denn Gewalt bedeutet, in einem politischen und in einem sozialethischen Sinne jemanden gegen dessen erklärten Willen daran zu hindern, das zu tun, was er für richtig ansieht und was zu tun er auch voll legitimiert ist. Man muß das ganz nüchtern ins Auge fassen. Denn dieser politisch und sozialethisch sehr wichtige Sachverhalt liegt nicht auf der Hand, d. h. ist nicht eine Sache des bloßen Augenscheins. Damit ist gemeint, es geht nicht nur darum, ob Demonstrationen gewaltfrei verlaufen, d. h. keine Personen verletzt oder tätlich angegriffen werden. Das ist zwar außerordentlich wichtig. Und insofern ist es ein großer Gewinn der öffentlichen Debatte, daß gegenwärtig die als Friedensbewegung bezeichneten Gruppen und Organisationen einerseits und die für die Ordnungskräfte Verantwortlichen andererseits sich um eine differenzierte Verständigung bemühen, um einen in diesem Sinne gewaltfreien Ablauf der für diesen Herbst geplanten demonstrativen Aktionen sicherzustellen. Dennoch zielt ein Teil dieser Aktionen in einem anderen Sinne auf Gewaltanwendung, weil er eben zum Ziel hat, die verantwortlichen Politiker und den Staat gegen den politisch und rechtlich klar legitimierten Willen daran zu hindern, zu tun, was sie bekanntermaßen tun wollen. Sie sollen mit allen legalen wie widerrechtlichen Mitteln an der Ausführung der Nachrüstung gehindert werden. Der Staat muß darauf, solange es nicht einen anderen politischen Willen gibt und die verantwortlichen Politiker ihre Absichten nicht ändern, mit der Anwendung staatlicher Gewalt antworten. Das bedeutet nun alles gar nicht, daß hier eine Art Bürgerkrieg ausbricht. Mit Widerstand in diesem gewichtigen Sinne hat diese Auseinandersetzung nichts zu tun, auch wenn das von Vertretern der Friedensbewegung immer wieder behauptet wird. Zu erwarten ist, daß entsprechende widerrechtliche Verstöße gegen die allgemeine und für alle verbindliche Rechtsordnung geahndet werden und darüber hinaus der staatliche Auftrag sich gegen seine Verhinderung zur Wehr setzt; dann wird in der Folge der inhaltliche Streit um die Politik der Abschreckung unter anderem vor den Gerichten fortgesetzt und also wieder, auf anderer Ebene, um die Beeinflussung der öffentlichen politischen Meinungsbildung gerungen werden. Soweit man das generell beurteilen kann, ist deswegen der Einsatz auch der Gewalt im Sinne der versuchten Behinderung des Staates in seinem beabsichtigten Handeln noch ein bewußt gewähltes Mittel am Rande des „demonstrativen Widerstandes".
Wenn diese Beurteilung richtig ist, dann besteht allerdings für den Staat und die Regierung auch kein Anlaß, diesen Aktionen den Rang eines „Widerstandes" gegen den Staat in ernsthaftem Sinne zuzulegen. Im Gegenteil: Die Stärke und die Glaubwürdigkeit unserer Demokratie wird sehr viel genauer dadurch unter Beweis gestellt, wenn alle diese Auseinandersetzungen mit rechtsstaatlicher Besonnenheit geführt werden. Es wäre fatal, wenn sich die Mehrheit der Bevölkerung oder gar die verantwortlichen Politiker in eine Widerstandssituation hineinreden ließen. Das Gewaltmonopol des Staates, wichtigste Errungenschaft des modernen Rechtsstaates, wird nicht dadurch unter Beweis gestellt, daß diese Gewalt rücksichtslos gegen auch den Staat provozierende Kritiker der herrschenden Politik eingesetzt wird, sondern allein dadurch, daß er sich eben nicht provozieren läßt. Das sozialethische Gebot, den Frieden des gemeinsamen Lebens zu wahren und zu fördern, schließt auch ein, daß die Überlegenheit der staatlichen Gewalt sich als fähig erweist, einen solchen Konflikt in die Bahnen des Rechts zurückzulenken. Friede durch Recht ist die oberste Aufgabe des Staates nach innen wie nach außen. Denn die großen inhaltlichen Probleme, die den Grund und Anlaß der heutigen Auseinandersetzung bilden, sind damit ja weder so noch so aus der Welt geschaffen.
V. Nukleare Hochrüstung als Gefährdung der Demokratie
über die bisher diskutierten Fragen zur Begründung und zu den Konsequenzen von Widerstand und Widerspruch hinaus geht die Auffassung, daß Bürger als Christen auf der Grundlage ihres Bekenntnisses zu Entscheidungen kommen können, die allein in ihrem Glauben begründet sind und die deswegen auch nicht vor den Grenzen politischer Legitimation haltmachen. In den Kirchen wird diese Frage heute lebhaft, ja leidenschaftlich diskutiert. Es gibt die Auffassung, daß das christliche Bekenntnis ein „Nein ohne jedes Ja zu den Massenvernichtungswaffen" fordert und dem Christen deswegen jede direkte oder indirekte Beteiligung an einer Verteidigung, die auf nuklearen Waffen beruht, verboten sei. Die katholische Kirche und die evangelische Kirche in Deutschland vertreten nicht diese Auffassung. Sie haben die Über-zeugung formuliert, daß ein Krieg mit nuklearen Waffen in keinem Falle ethisch gerechtfertigt werden kann, so wie Krieg überhaupt auch nicht ernsthaft ethisch gerechtfertigt werden kann. Die Verhinderung eines kriegerischen Konfliktes aber durch eine auf nukleare Abschreckung abgestützte Politik, die dem Ziele dient, den Frieden zu wahren, liegt nach ihrer Überzeugung im Rahmen der, allerdings äußerst prekären, politischen Verantwortung. Sie appellieren deswegen in erster Linie an eine Politik, die auf Verständigung, Verminderung von Spannung und gewaltfreie Lösung internationaler Konflikte zielt In dieser Situation kann darum auch nicht davon gesprochen werden, daß es ein unbedingtes christliches Widerstandsgebot gäbe, das ohne Rücksicht auf die politischen Zusammenhänge ausgeübt werden müßte.
Aber gerade in den Kirchen ist das Bewußtsein dafür in steigendem Maße lebendig, daß die nukleare Abschreckung nicht auf Dauer die Grundlage verantwortlicher internationaler Politik ist und sein darf.
Deswegen wehren sich die Kirchen auch dagegen, daß Christen sich unter Berufung auf eine geistliche Autorität, die jeder politischen Legitimation enthoben ist und auf den rechtsstaatlichen Zusammenhang keine Rücksicht nimmt, zum Anwalt einer bestimmten Politik machen. Die Kirchen wissen, daß es Christen in allen politischen Lagern gibt. Vor allem aber haben sie aus ihrer eigenen Vergangenheit gelernt, daß die Kirchen der Demokratie eine durchaus konstruktive Loyalität schuldig sind. Wenn darum heute gelegentlich argumentiert wird, die Kirchen hätten 1933 am Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft zu spät und zu schwach erkannt, daß sie hätten Widerstand leisten müssen, dann ist das eine irreführende Perspektive. Die Kirchen wie überhaupt viele Deutsche sind deswegen in die Mitschuld am Nationalsozialismus hineingeraten, weil sie zuvor gering von der Weimarer Demokratie gedacht haben und diese nicht genügend und nicht wirklich mit Überzeugung unterstützt und verteidigt haben. So gesehen, ist es gerade für das Selbstverständnis der Kirchen sehr wichtig, daß sie die heutige Friedensdiskussion auch und gerade als eine Demokratiediskussion erkennen und vertreten. Dennoch ist es ebenso richtig und wichtig, daß gerade in den Kirchen das Bewußtsein in steigendem Maße dafür lebendig ist, daß die nukleare Abschreckung nicht auf Dauer die Grundlage verantwortlicher internationaler Politik sein kann und darf. Der Konflikt, in dem wir uns heute befinden, läßt sich ja nicht einfach als ein Gegensatz von Befürwortern und Gegnern der Nachrüstung oder als der Streit zwischen Anhängern und Kritikern von Atombomben beschreiben. Das wäre und ist eine leichtsinnige Verzerrung des tatsächlichen Konfliktes.
Die weit überwiegende Mehrheit der Bürger und Christen in unserem Lande lehnt die atomare Bewaffnung als solche ab. Sie kann ja überhaupt nur als Instrument der Verhinderung des Krieges verantwortlich in Betracht kommen. Nur politische Dummköpfe können einen atomaren Krieg wollen. Darum wäre es eine üble Propaganda, wenn irgendwie der Anschein geltend gemacht würde, die Frontlinien in diesem Konflikt liefen anders, nämlich zwischen Gegnern und Anhängern von Krieg und Atomwaffen.
Der Konflikt, der alle betrifft, ist vielmehr ein anderer: Das Selbstverständnis von Gesellschaften, die auf Freiheit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit sowie auf den Schutz des Lebens des einzelnen Menschen gegründet sind, ist auf Dauer im Grunde unvereinbar mit einem Zwang zu permanenter Hochrüstung. Noch nie hat es eine Periode von Jahrzehnten gegeben, in der der äußere Friede durch ein solches Maß an Rüstung aufrechterhalten worden ist, eine Rüstung, deren Qualität zudem furchterregend ist und sein muß. Dieser Konflikt ist aber unlösbar mit dem weltpolitischen Konflikt zwischen den Großmächten, und d. h. zwischen den gegensätzlichen Systemen der Gesellschaft in Ost und West, verknüpft. Die Fortsetzung der militärischen Konfrontation zwischen Ost und West ist der Ausdruck einer tiefen Verlegenheit darüber, wie denn anders die Beziehungen politisch gestaltet und entwickelt werden können und sollen. Sie ist Ausdruck einer tiefreichenden politischen Krise.
In einer solchen Situation ist die Ausrufung des Widerstandes gegen den Staat sicher kein hilfreicher Beitrag. Sie ist ja auch anders gemeint, als — politisch wohl hilfloser, aber drängender — Appell, nach Wegen einer Überwindung dieser Krise zu suchen und den gegenwärtigen Status quo nicht einfach hinzunehmen. Die sozialethische — und d. h. alle verpflichtende — Aufgabe liegt in dieser Richtung. Darum ist es aber auch wichtig, über der aktuellen und punktuellen Auseinandersetzung um den Doppelbeschluß der NATO und um den Protest dagegen dieses weiterreichende politische Ziel nicht aus den Augen zu verlieren oder gar, so oder so, verdächtig zu machen. Die verantwortlichen Politiker können in dieser Situation ihrem Auftrag einen guten Dienst tun, wenn sie sich nicht an der Niederringung des „Widerstandes" und des öffentlichen Protestes festbeißen, sondern Perspektiven und Schritte der Politik entwerfen, die aus der politischen Krise herausführen könnten.