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Die Rechtfertigungsmodelle des Widerstands | APuZ 39/1983 | bpb.de

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APuZ 39/1983 Bürgerprotest im demokratischen Staat Die Rechtfertigungsmodelle des Widerstands Widerstand heute? Sozialethische Bemerkungen zu einer aktuellen Diskussion Bürger oder Rebell? Zum Widerstandsrecht im Grundgesetz GemeinWirtschaft Gemeinwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland, B 24/83, S. 3— 17

Die Rechtfertigungsmodelle des Widerstands

Martin Kriele

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Widerstand gegen die Nachrüstung läßt sich weder aus den Gesichtspunkten der Tyrannis noch der Fremdherrschaft rechtfertigen. Eine Rechtfertigung aus dem Menschenrecht auf Leben käme in Betracht, wenn der Widerstand geeignet wäre, die Friedenssicherheit zu erhöhen; er wirkt jedoch, politisch gesehen, kontraproduktiv. Eine metapolitische Moralität, die durch Widerstand „Zeichen setzt", riskiert politische Folgen, die sie nicht verantworten kann. Die Berufung auf die Bergpredigt ist gekennzeichnet durch eine eigentümliche Indifferenz gegenüber Recht und Wahrheit. Diese Indifferenz beruht auf einem übersteigerten Ich-Gefühl, das die intellektuelle „Werte-Elite" ganz allgemein zu einer Geringschätzung der bürgerlichen und demokratischen Rechte anderer und zu einem Machtkampf gegen die demokratische „Formal-Elite" verleitet. Die neomarxistischen „Befreiungs'-Theorien der Studentenbewegung haben diesem Machtkampf die theoretische Grundlage nachgeliefert und eine Erziehung zu Legitimitätszweifeln an der demokratischen Verfassung eingeleitet. Die an sich ernst zu nehmende ökologische Opposition bedient sich dieser Legitimitätszweifel und steigert sie zu selbstgewissem Fanatismus. Der Legitimitätsanspruch der demokratischen Legalität gerät dadurch grundsätzlich ins Zwielicht; seine Behauptung ist aber Voraussetzung des Bestands der Demokratie und der friedenssichernden Handlungsfähigkeit ihrer Regierungen.

Mit „Widerstand", „bürgerlichem Ungehorsam", „Regelverletzung“ meint man heute vor allem die bewußte Verletzung der Rechte anderer zu Zwecken einer politischen Demonstration, die von den Grundrechten der Meinungs-und Versammlungsfreiheit nicht mehr gedeckt ist. Die Gesetze sind im Lichte der Grundrechte verfassungskonform auszulegen; was danach legales Handeln ist, ist nicht Widerstand. Widerstand ist auch nicht die Berufung auf die Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 3 GG, die in bestimmten Fällen erlaubt, ein an sich gesetzlich vorgeschriebenes eigenhändiges Tun zu verweigern. — Der Widerstand wird als „gewaltfrei" bezeichnet, wenn er auf Tötung und Körperverletzung, eventuell auch auf Sachbeschädigung verzichtet. Er beschränkt sich dann z. B. auf Freiheitsberaubung oder Nötigung anderer: Diese werden gehindert, von ihren gesetzlichen oder sogar verfassungsmäßigen Rechten auf Fortbewegung, auf Ausübung ihres Berufs, auf Wahrnehmung ihrer Amtspflichten oder ihres Feierabends, auf Nutzung ihres Eigentums oder anderer Rechte Gebrauch zu machen. Der Widerstand kann im Rahmen der Gewaltfreiheit bis zum Versuch der Nötigung von Verfassungsorganen gesteigert werden: Diese sollen gezwungen werden, anders zu handeln, als es ihre gesetz-oder verfassungsmäßigen Amtspflichten gebieten oder als sie es nach ihrer politischen und rechtlichen Überzeugung für richtig halten, Ist solcher gewaltfreier Widerstand in der Bundesrepublik heute durch ein Widerstandsrecht gerechtfertigt, insbesondere der Widerstand gegen den NATO-Doppelbe-Schluß?

I. Die klassischen Kriterien des Widerstandsrechts

So umstritten die Frage nach Existenz, Inhalt und Umfang eines Widerstandsrechts stets war, über eine Mindestvoraussetzung bestand zu allen Zeiten Einigkeit: Ein Widerstands-recht kommt, wenn überhaupt, nur in Betracht, wenn es geeignet ist, schweres Unrecht abzuwenden. Die Naturrechtslehre kannte drei Ansätze zur Rechtfertigung von Widerstand:

1. Die Herrschaft verliert ihre Legitimität durch Entartung zur Tyrannis. Dem entspricht in der modernen, von der Aufklärung geprägten Staatslehre der Ausbruch aus der demokratischen Verfassungsordnung durch Staatsstreich oder Rebellion. Für diesen Fall sieht auch das Grundgesetz ein Widerstandsrecht vor -Hingegen ist der Widerstand in Despotien aller Art — in absolutistischen Systemen, Führerdiktaturen, Militärdiktaturen, Partei-diktaturen usw. — ohne weiteres legitim, wenn er auf Herstellung eines Rechtszustands gerichtet und erfolgversprechend ist. Selbst der Tyrannenmord gilt als naturrechtlich gerechtfertigt. 2. Die Herrschaft ist usurpiert und deshalb von vorherein ohne Legitimation. Dem Begriff der Usurpation entspricht heute die Fremdherrschaft, insbesondere also: die Kolonialherrschaft, die militärische Unterwerfung, die auf Dauer etablierte Besatzungsmacht, das Satellitensystem und andere Formen der Vorenthaltung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. 3. Eine (legitime oder illegitime) Herrschaft verletzt elementare Menschenrechte. Der Ansatz bei den Menschenrechten erlaubt eine naturrechtliche Rechtfertigung von Widerstand ausnahmsweise auch in demokratischen Verfassungsstaaten, z. B. gegen Sklaverei, die es früher in den USA noch gab, oder gegen andere Formen der Rechtlosigkeit Wer aber am Rechtszustand teilhat, kann sich im demokratischen Verfassungsstaat auch bei Eingriffen in seine Grundrechte nicht auf ein Widerstandsrecht berufen, sondern ist auf die in diesem Staatstypus zur Verfügung stehenden legalen Mittel verwiesen: auf Anrufung der Gerichte, auf Protest und Demonstration, I auf Mitwirkung in Parteien und Vereinigungen mit dem Ziel der Rechtsreform, auf Information der Medien und andere Mittel der rechtlichen und politischen Einflußnahme. In Despotien und Fremdherrschaften gibt der Ansatz bei den Menschenrechten einen zusätzlichen Legitimationsgrund für den Widerstand, insbesondere bei Mißachtung der aller-elementarsten Menschenrechte, wie des Habeaskorpusprinzips, des Rechts auf freie Wahlen, der Rede-und Religionsfreiheit, der Auswanderungsfreiheit.

Bei Anwendung dieser klassischen Kriterien scheidet eine Rechtfertigung des Widerstands gegen die Nachrüstung aus dem Gesichtspunkt der Tyrannis von vornherein aus. Es gab zwar gelegentliche Versuche, der Regierung zu unterstellen, sie wolle die verfassungsmäßige Ordnung beseitigen; die Situation von 1983 sei der von 1933 vergleichbar, als die Demokratie durch eine Diktatur ersetzt wurde. Aber diese Versuche sind so offenkundig abwegig, daß sie von der Widerstandsbewegung selbst nicht mehr wiederholt werden. Diese will vielmehr die verfassungsmäßige Regierung unter Druck setzen, um sie zu einer anderen Regierungspolitik zu veranlassen.

Nicht besser steht es mit der Behauptung, der Widerstand richte sich gegen „amerikanische Fremdherrschaft", insbesondere im Hinblick auf unsere Mitgliedschaft in der NATO. Es gibt zwar aus der Zeit der Besatzung noch einen gemeinsamen Souveränitätsvorbehalt der vier ehemaligen Besatzungsmächte USA, Großbritannien, Frankreich und UdSSR in Fragen, die „Deutschland als Ganzes und Berlin" betreffen. Aber der Widerstand richtet sich nicht hiergegen, sondern gegen vertraglich eingeräumte Rechte der USA in der Bundesrepublik. Diese Rechte beruhen auf souveränen Entscheidungen einer frei gewählten Bundesregierung mit Zustimmung eines frei gewählten Bundestages. Ihre unveränderte Fortgeltung beruht darauf, daß alle seitherigen Bundesregierungen und die sie jeweils tragenden Mehrheiten diese aus politischen Gründen gewollt haben und nach wie vor wollen. Die Bestrebungen zum . Austritt aus der NATO" (z. B. Lafontaine) bestätigen, daß eine andere Politik prinzipiell in unserer Souveränität läge.

Könnte sich der Widerstand aber aus dem Gesichtspunkt der Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit rechtfertigen?

II. Rechtfertigung des Widerstands aus dem Recht auf Leben

Dieses Recht wird weder von den Genfer Verhandlungen noch von der westlichen Nachrüstung bedroht, sondern von dem sowjetischen Vernichtungspotential. Könnte man aber nicht argumentieren, der NATO-Doppelbeschluß mache den Einsatz dieses Potentials wahrscheinlicher und gefährde deshalb unser Leben wenigstens mittelbar? Führte die Regierung Schmidt mit ihrer Zustimmung zum NATO-Doppelbeschluß und führt die Regierung Kohl mit ihrer Bereitschaft zu seiner Ausführung unser Volk dem Untergang entgegen? Wäre dies offenkundig und wäre der Widerstand gegen den Nachrüstungsteil des Doppelbeschlusses ein geeigneter Weg zu unserer Rettung, dann wäre dieser Widerstand gewiß gerechtfertigt.

Mit diesem Satz sind zwei Kriterien gegeben. Zunächst die Frage, ob die frühere und die jetzige Bundesregierung unser Volk dem Untergang entgegenführen. Die Leichtfertigkeit, mit der eine dahin gehende Behauptung auch in unserer heutigen Demokratie wieder auf-gestellt, verbreitet und ohne weiteres geglaubt wird, hat etwas Ungeheuerliches und Bestürzendes. Wir brauchen aber das Für und Wider des NATO-Doppelbeschlusses in unserem Zusammenhang nicht zu erörtern. Nehmen wir einmal an, er sei ein politischer Fehler gewesen, der uns der Atomkriegsgefahr näher brächte; alle gegen ihn vorgebrachten Einwände seien stichhaltig. Dann folgt noch nicht ohne weiteres, daß der Widerstand gerechtfertigt wäre. Denn es bleibt noch das zweite Kriterium zu erörtern: Ist der Widerstand geeignet, den Atomkrieg unwahrscheinlicher zu machen? Die Antwort auf diese Frage ist mit der Antwort auf die erste keineswegs mitgegeben, wie man es in der Widerstandsbewegung ohne weiteres voraus-zusetzen scheint. Denn wenn der Widerstand die Nachrüstung verhindert, ist das nicht dasselbe, als wäre der Nachrüstungsbeschluß nie gefaßt oder wenigstens als wäre er von der NATO aus freier eigener Einsicht rückgängig gemacht worden. Der Widerstand setzt vielmehr ein ganz neues politisches Faktum in die Welt: Die westlichen Regierungen geraten unter innenpolitischen Druck und können die von ihnen getroffenen Entscheidungen womöglich nicht mehr durchsetzen. Sie büßen nicht nur innenpolitische Autorität, sondern auch ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit ein:

Ihre Absichtserklärungen und ihre Verhandlungspositionen werden jetzt und für die Zukunft unglaubwürdig. Die entscheidende Frage ist, wie sich dieses neue Faktum auswirken kann: Macht es den Frieden sicherer?

Wenn nämlich der Widerstand die Atomkriegsgefahr nicht vermindert, so ist er nicht geeignet, das Menschenrecht auf Leben zu schützen. Dann aber kann er sich nicht auf ein Widerstandsrecht berufen. Das gilt erst recht, wenn der Widerstand kontraproduktiv wirkt, wenn er also die Gefahren, die er abwenden will, erst herbeiführt oder erhöht. Man muß sich erinnern, mit welchem Gewissensernst die Großen des Widerstands in unserer Geschichte, etwa die Männer des 20. Juli 1944, die Chancen und Risiken erwogen haben, die ihr Handeln für andere mit sich bringen könnte, und muß darum bitten, daß wenigstens ein schwacher Abglanz davon die folgenden Erwägungen begleitet.

1. Schon die bloße Ankündigung des Widerstands gegen die Nachrüstung birgt das Risiko, der Sowjetunion das Motiv zu substantiellen Zugeständnissen bei den Genfer Verhandlungen zu nehmen. Sie könnte sich vielmehr motiviert sehen, zunächst einmal abzuwarten und zuzusehen, ob die Nachrüstung wirklich durchsetzbar ist. Macht sie aber keine ausreichenden Zugeständnisse, so zwingt sie eben dadurch die NATO, die nun einmal angedrohte Nachrüstung tatsächlich zu vollziehen. Die Ankündigung des Widerstands hätte dann also herbeigeführt, was sie abwenden wollte.

2. Auch die Ankündigung, den Widerstand gegen die Nachrüstung davon abhängig zu machen, ob die Amerikaner ernsthafte Verhandlungs-und Kompromißbereitschaft gezeigt haben, könnte die Sowjetunion zu einer Verhärtung ihrer Verhandlungsposition verleiten und sie hoffen lassen, die Verantwortung für das Scheitern der Verhandlungen werde dann den Amerikanern angelastet. Auch wenn es zur Nachrüstung kommt, hätte sie dann den Vorteil einer schweren Belastung des westlichen Bündnisses.

3. Die Sowjetunion droht für den Fall der Nachrüstung mit einer weiteren Steigerung ihrer Rüstung, um damit die Widerstandsbewegung zu stärken und zu verbreitern. Aber sie verstrickt zugleich ihr Prestige und könnte sich später, wenn die Nachrüstung vollzogen ist, um ihrer politischen Glaubwürdigkeit willen gezwungen sehen, ihre Drohung wahr zu machen, zumal sie hoffen darf, daß die westlichen Regierungen sich nicht noch einmal den gleichen Schwierigkeiten aussetzen wollen und lieber ein überlegenes Druck-und Erpressungspotential der Sowjetunion in Kauf nehmen. Das würde das Ende erfolgversprechender Rüstungsverhandlungen bedeuten.

4. Angenommen, der Widerstandsbewegung gelänge es tatsächlich, die Nachrüstung zu verhindern. Müßte die Sowjetunion dann nicht überzeugt sein, daß sie den Westen politisch-psychologisch im Griff hat, daß die westlichen Regierungen in ihrer Handlungsfreiheit gelähmt und nicht mehr in der Lage sind, Forderungen der Sowjetunion zu widerstehen, wenn diese auch nur andeutungsweise mit Drohungen verknüpft sind? Etwas Gefährlicheres für den Weltfrieden läßt sich kaum denken. Drohungen, Ultimaten, Prestigeverstrickungen auf der einen Seite, Nachgiebigkeit, zweifelhaft gewordene moralische Verteidigungsbereitschaft und politische Handlungsfähigkeit auf der anderen Seite erzeugen mit einer gewissen Zwangsläufigkeit hochexplosive Situationen. Wenn die Geschichte irgend etwas lehrt, dann dieses. Das politische Friedenskonzept der westlichen Regierungen beruht auf einer Mischung von Festigkeit und Flexibilität, von Rüstung und Verhandlung, von Unnachgiebigkeit und Entspannungsbereitschaft. Es will der Sowjetunion jede Hoffnung nehmen, durch die Steigerung ihres Druckpotentials Machtvorteile zu gewinnen, weil erst, wenn bei ihr diese Hoffnung endgültig geschwunden ist, mit einer ernsthaften und substantiellen Verhandlungsbereitschaft zu rechnen ist. Indem die Widerstandsbewegung also dieses politische Konzept zu durchkreuzen versucht, riskiert sie, in der Sowjetunion Hoffnungen zu wek ken, die ihre Bereitschaft zu friedensstabilisierenden Verhandlungen verzögern oder gar blockieren können.

So schwerwiegend dieses Risiko ist, die Wi; derstandsbewegung geht es ein und hofft auf die Wirksamkeit eines Gegenkonzepts: Danach soll ein freundlicher Akt des Rüstungsverzichts im Westen eine freundliche Reaktion des Rüstungsverzichts im Osten auslösen, so daß es schließlich zu einem Abrüstungswettbewerb kommt. Dieses Konzept setzt auf die moralische Wirkung einer moralischen Handlungsweise. Wenn der Rüstungsverzicht des Westens aber nicht auf freier moralischer Einsicht beruht, sondern unter dem nötigenden Druck der Widerstandsbewegung aus Schwäche erfolgt, so kann er die moralische Gegenwirkung eines östlichen Rüstungsverzichts nicht auslösen, sondern verlockt im Gegenteil zur Ausnutzung der vorgefundenen Schwäche. Angenommen also, dieses Friedenskonzept hätte überhaupt eine realistische Chance, dann würde die Widerstandsbewegung die Grundlage zerstören, auf der allein es funktionieren könnte.

Aus allen diesen Gründen ist der Widerstand gegen die Nachrüstung kein geeigneter Weg, um die Gefahr eines Kriegsausbruchs zu vermindern; er ist im Gegenteil geeignet, diese Gefahr erheblich zu erhöhen. Deshalb könnte sich der Widerstand selbst dann, wenn der NATO-Doppelbeschluß als politischer Fehler anzusehen wäre, unmöglich auf ein natur-rechtliches Widerstandsrecht berufen.

III. Widerstand als „Zeichen"

Die politischen Mechanismen, die entstehen, wenn man Glaubwürdigkeit und Verhandlungsfähigkeit der demokratischen Regierungen in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion zu zerstören versucht, sind offenkundig, einfach und zwingend. Die Repräsentanten der Widerstandsbewegung, jedenfalls die Nobleren und Klügeren unter ihnen, bestreiten sie auch gar nicht, sie gestehen den westlichen Regierungen zu, daß „auch sie" den Frieden wollen und daß sie gute politische Argumente haben. Wenn sie mit einem „Trotzdem" antworten, so deshalb, weil sie der Ebene des politischen Argumentierens grundsätzlich mißtrauen: Diese habe bisher zu Konfrontation und Rüstungswettlauf geführt und soll auch jetzt die Bereitschaft zur Nachrüstung begründen. Dem stellen sie ein unbedingtes „Nein“ zur Atomdrohung gegenüber, das „Zeichen setzen" und die dialektischen Knoten des Politischen durchschlagen soll.

Zwar ist jedes politische Argument, das dieses „Nein" zu stützen vermag, als zusätzliches Hilfsmittel willkommen. Aber letztlich kommt es nicht darauf an, das „Nein" politisch zu begründen, sondern die gesamte Ebene politischer Argumentation zu verlassen und die Welt des Politischen von einer Meta-Ebene aus zu beurteilen, von der höheren Ebene einer unmittelbaren, human oder christlich begründeten Moralität. Zwar ist auch politisches Handeln moralisch, aber seine Moralität ist vermittelt, sowohl durch die Gesetze des Rechts als auch durch die Gesetze der Realbedingungen des Politischen. Unmittelbare Moralität aber läßt sich durch das bloß politische Gegenargument von vornherein nicht relativieren oder gar in Frage stellen.

Sie beansprucht Unbedingtheit, und zwar nicht nur als die individuelle Gewissensentscheidung dessen, der sich aus dem tödlichen Kreislauf des Politischen heraushält, sondern auch als das letzte Wort der politischen Entscheidung, die gegebenenfalls durch nötigenden Widerstand durchzusetzen sei.

Da dies ein Faktum unserer geistigen und politischen Landschaft ist, müssen wir versuchen, es zu verstehen. Gehen wir aus vom Kernproblem der Widerstandsbewegung. Die Atombombe verkörpert in sich etwas Dämonisches. Sie macht keine Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten; sie ist also völkerrechtswidrig. Sie vernichtet nicht nur Mensch und Natur, nicht nur ganze Kontinente und vielleicht die Erde überhaupt, sie zerstört auch Moralität und Humanität. Auch unangewendet wirkt sie auf den zurück, der sie hat und mit ihr droht. In ihr kommen die Fehlentwicklungen der wissenschaftlich-technischen Industrialisierung zu ihrer letzten Konsequenz. Sie ist eine Offenbarung des Bösen schlechthin.

Wenn man die Ungeheuerlichkeit der Atombombe auf sich wirken läßt und von ihr zutiefst betroffen ist, dann gewinnt die Verhütung der atomaren Weltzerstörung einen Absolutheitsanspruch, der alle anderen Gesichtspunkte verdrängt und hinter sich läßt. Bis hierhin denken Anhänger und Gegner der Widerstandsbewegung gleich. Jetzt erst scheiden sich die Geister. Es gibt aus dieser Betroffenheit heraus zwei denkbare Reaktionen:

Entweder man sagt sich: Friedenssicherung ist ein politisches Problem; ich muß also ler15 nen, die Realbedingungen und Gesetze des Politischen bis in ihre letzten Konsequenzen hinein zu verstehen und zu handhaben. Wie anders kann man die Atomgefahr eindämmen als durch Verhandlungen? Also muß ich die Verhandlungen stützen und darf sie nicht hintertreiben. Nur so kann ich dazu beitragen, daß die Menschheit den Weg vom Rande des Abgrunds weg zu einer wirklichen Friedens-gemeinschaft hin findet.

Oder man sagt sich: Die Politik hat die Menschheit immer näher an den Rand des Abgrunds herangeführt. Folgen wir ihrer Führung weiter, so ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Katastrophe eintritt. Also müssen wir „aussteigen", der Politik mit ihren Eigengesetzlichkeiten entsagen, das Politische transzendieren, ihr gegenüber einen Metastandpunkt einnehmen. Welche politischen Gründe immer für den NATO-Doppelbe-Schluß sprechen mögen: wir sagen dazu „nein ohne jedes ja".

Es geht also nicht um eine bloße Meinungsverschiedenheit, um einen Gegensatz von Argumenten, sondern um einen Gegensatz der Haltung, der geistig-moralischen Grundeinstellung, die in der Konfrontation des Widerstands zum Ausdruck kommt. Die gegenseitigen Argumente können den jeweils anderen nicht erreichen. Die politischen Argumente des einen sind für den anderen allesamt Ausdruck der politischen Grundeinstellung, die er zurückweist. Umgekehrt kann man vom Standpunkt politischen Denkens aus die metapolitischen Aktionen zwar akzeptieren, solange es sich z. B. um Demonstration und Opposition, nicht aber um Nötigung von Verfassungsorganen handelt. Eine Demonstration, die sich aus Anlaß und bei Gelegenheit der Nachrüstung gegen Atomwaffen überhaupt und gegen den Rüstungswettlauf zwischen Ost und West insgesamt wendet, ist Ausdruck eines moralischen Entsetzens über den gegenwärtigen Zustand der Welt, das jeder politisch Denkende teilt, so daß er die Demonstration als Mittel der Bewußtmachung akzeptieren kann.

Nötigender Widerstand hingegen, der die Kriegsgefahr, politisch gesehen, erhöht, dieses Risiko aber um des moralischen „Zeichens“ willen in Kauf nimmt, muß dem politisch Denkenden nicht nur als unverantwortlich, sondern auch als undurchdacht erscheinen. Denn er beruht auf einer Kategorienverwirrung. So wie man z. B. wissenschaftliche Fragen nicht ästhetisch entscheiden kann, künstlerische Fragen nicht juristisch, rechtliche Fragen nicht religiös, Glaubensfragen nicht politisch usw., ebenso kann man auch politische Fragen nicht vom Standpunkt inetapolitischer Moralität aus entscheiden. Versucht man es doch, so handelt man nicht metapolitisch, sondern politisch, löst verhängnisvolle politische Konsequenzen aus und ist für diese verantwortlich. Wer in die Politik hineinwirkt, muß sich politischen Argumenten stellen und kann sich nicht durch Rückzug auf eine metapolitische Grundeinstellung aus der politischen Verantwortung flüchten. Gegen unpolitisches Denken ist an sich nichts einzuwenden, wohl aber gegen unpolitisches Denken in der Politik.

IV. Die Rechtfertigung des Widerstands aus der Bergpredigt

Das Problem der Spannung zwischen politischer Realität und metapolitischer Moralität pflegt man theologisch unter dem Stichwort der „Zwei-Reiche-Lehre" zu erörtern: Es gibt das ideale Reich der Gemeinschaft von Christen, die in Liebe und gegenseitigem Dienst miteinander Frieden haben, und das vorläufig auf Erden noch dominante Reich, in dem der „Fürst dieser Welt regiert“ und in dem der Christ deshalb Staatsgewalt und Staatsverteidigung bejahen muß, um dem Unrecht zu wehren und den Frieden der Schwachen zu schützen. Die Versuche, die beiden Reiche zu vermischen, also das Reich der Bergpredigt als politische Realität auf Erden zu errichten, bezeichnet man gemeinhin als „Schwärmertum". Schwärmertum bedeutet: Die Bergpredigt als aktuelle politische Handlungsanleitung zu verstehen. Das metapolitische Ideal wird dann zwar mit politischen Mitteln und politischen Argumenten vertreten; man beansprucht aber für das politische Handeln zugleich die Autorität einer höheren, metapolitischen Moralität und leiht sich dazu noch die Autorität Christi, um diesen Anspruch zu verstärken und zu legitimieren. — Das Schwärmertum wurde sowohl von der Katholischen Kirche als auch von Luther als ketzerisch zurückgewiesen, weil es das „Regiment des Fürsten dieser Welt“ leugnet, während es doch da ist, und dadurch die Menschen wehrlos dem Bösen ausliefert. Ein aktuelles Beispiel bietet die Schrift von Franz Alt „Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt" (München 1983), das den Grundgedanken entwickelt: Eine neue Friedenspolitik aus dem Geist der Bergpredigt wäre keineswegs unpolitisch, sondern im Gegenteil eine realistische, weitsichtige und erfolgversprechende Politik: „Das folgenschwerste Schisma des Christentums ist ... die Trennung von Religion und Politik" (S. 9). Das Buch hat erstaunlich hohe Auflagen erzielt und dem Autor Lob und Preise eingebracht. Man darf also annehmen, daß es eine verbreitete Grundstimmung widerspiegelt und daß man in ihm einige charakteristische Züge unserer Widerstandsbewegung erfassen kann. Denn es geht im Grunde um die Rechtfertigung von Widerstand.

Im Frühjahr dieses Jahres zeigte Alt in der Fernsehsendung „Report" Szenen aus dem Film „Ghandi": Widerstandsaktionen gegen die Rassendiskriminierung in Südafrika und die Kolonialherrschaft in Indien, die von der Polizei brutal niedergeknüppelt wurden. Alt erinnerte auch an die Niederschlagung des polnischen Widerstands durch das Kriegsrecht. Er zog alsdann die Parallele zur Bundesrepublik. Wenn diese sich gegen den Widerstand wehrt, so steht sie danach auf demselben Niveau wie ein System der Rassenunterdrückung, der Kolonialherrschaft und des Kriegsrechts, während der Widerstand hier die gleiche Legitimation besitze wie dort Das Buch begründet, warum dies so sei. Sein Gedankengang läßt sich in drei Thesen zusammenfassen: These 1: Der Systemgegensatz zwischen Ost und West „ist unwichtig geworden" (S. 99), Antikommunismus sei „eine Art Nebenreligion“, Feindesliebe müsse sich heute auf die Kommunisten richten (S. 99). Wer meint, der Westen sei gut, der Osten sei schlecht, dem „fehlt jede Selbsterkenntnis" (S. 78); er leidet an „moralischer Überheblichkeit gegenüber Andersdenkenden" (S. 65). Einen demokratischen Antikommunisten scheint Alt auf der moralischen Stufe eines Nazi anzusiedeln: . Was damals die Juden waren, das sind heute die Kommunisten" (S. 87).

Man muß sich vorstellen, solche Sätze fielen in die Hände verfolgter rumänischer oder litauischer Priester, vietnamesischer Lagerinsassen, polnischer Gewerkschafter, afghanischer Freiheitskämpfer, sowjetischer Bürger-rechtler, die in ihrem Kampf für bürgerliche und politische Rechte auf die moralische Solidarität des Westens hoffen. Kann eine solche Verirrung des Denkens andere Reaktionen auslösen als Erstaunen, Empörung, Verzweiflung? These 2: Wir müssen bedingungslos anfangen, mit dem Wettrüsten aufzuhören. Denn: „Es ist ein psychologisches Grundgesetz: Wer einen anderen für etwas gewinnen will, muß es zuerst selbst tun" (S. 81).

Ist das richtig? Ja, es ist nach unserer persönlichen Lebenserfahrung richtig: Wenn ich z. B. will, daß meine Kollegen und meine Nachbarn mir freundlich entgegenkommen, muß ich meinerseits freundlich auf sie zugehen. Läßt sich diese Erfahrung politisch verallgemeinern? Wären die Juden freundlich auf Hitler zugegangen, hätte er sie dann freundlich als gleichberechtigte Staatsbürger behandelt? Wären die osteuropäischen Völker freundlich auf die sowjetische Vormacht zugegangen, hätte sich diese dann längst zurückgezogen und ihnen das demokratische Selbstbestimmungsrecht gewährt? Soweit brauchen wir die Indifferenz gegenüber Wahrheit und Recht im Namen der Bergpredigt vielleicht nicht zu treiben. Wie aber steht es mit der Frage: Warum eigentlich hat die Sowjetunion auf unsere Entspannungspolitik mit so enormer Rüstungssteigerung reagiert? Schließt die Bergpredigt naheliegende und realistische Antworten aus, fordert sie statt dessen die Antwort: Weil wir noch nicht genug entspannungsbereit waren? Verlangt die Bergpredigt, daß wir endlich aufhören, an der Mißachtung der Bürgerrechte und der Unterjochung fremder Völker moralischen Anstoß zu nehmen? Solche Forderungen stehen bei Rudolf Augstein im „Spiegel" aber nicht in der Bergpredigt. Wenn wir ihnen folgen: Dürfen wir dann erwarten, daß sich die Sowjetunion zu wirklich friedensstabilisierenden Vereinbarungen bereit findet — oder beschwören wir die gegenteilige Gefahr herauf? Ist eine durchdringende, um Wahrheitserkenntnis bemühte Analyse dieser Frage für einen Christen tabu?

These 3: „Es ist ein historisches Gesetz: Wenn zu viele Gewehre zusammenkommen, hat es noch immer geknallt. Das ist die Lehre der Geschichte. Es ist aber nicht unsere Aufgabe, Geschichte zu vergessen oder zu verdrängen, sondern sich der Geschichte zu erinnern“ (S. 42).

Ist es 1939 zum Ausbruch des Krieges gekommen, weil die Engländer und die Franzosen auf die deutsche Rüstung mit Nachrüstung reagiert hatten? War es nicht vielmehr umgekehrt so, daß mangelnde westliche Rüstung und Abwehrbereitschaft die den Polen gegebene Garantie unglaubwürdig hat erscheinen lassen? Und was den Ersten Weltkrieg betrifft: Geht die ganze Diskussion der Historiker über Kriegsschuld und Kriegsursachen am Kernproblem vorbei, das einfach im Rüstungswettlauf zu suchen sei? Ist die Diskussion um die Emser Depesche 1870 nur eine Chimäre? Hat Napoleon Europa infolge eines Rüstungswettlaufs erobert? Ist der Dreißigjährige Krieg aus einem Rüstungswettlauf entstanden? Haben die Spanier das Inka-Reich wegen dessen Rüstung erobert? Man kann in die Geschichte zurückgehen soweit man will: Hat Cäsar Gallien erobert, weil Gallien gegen Rom gerüstet hatte? Die Geschichte ist voll von Gegenbeispielen, und es fällt schwer, überhaupt irgendein Beispiel für Franz Alts „historisches Gesetz“ zu finden.

Der tiefere Grund, warum die Kirchen einer solchen „Politik der Bergpredigt“, also dem Schwärmertum stets ablehnend gegenüberstanden, liegt wohl in folgendem: Die Wahrnehmungsfähigkeit für politische Realitäten beruht auf der Liebe zur Wahrheit, die Liebe zur Wahrheit aber ist Ausdruck der Ehrfurcht vor Gott. Denn wer die Welt als eine göttlich geschaffene ansieht, für den sind die Stufen der Wahrnehmung der Welt, wie sie wirklich ist, Stufen der mittelbaren Erkenntnis Gottes. Erkenntnisverweigerung hingegen beruht auf dem Hochmut des Ichs, das sich zwischen Gott und Welt schiebt und aus seiner Subjektivität heraus eine andere Welt vorspiegelt — eine bessere, als Gott sie geschaffen hat. Das aber heißt nichts anderes, als daß die Selbst-liebe die Liebe zu Gott überstrahlt: Man genießt sich selbst in seinem schönen Schein auf die Gefahr hin, Täuschungen über die Wirklichkeit der Welt zu erliegen.

Die Selbstliebe überstrahlt aber auch die Liebe zum Mitmenschen. Indem man statt in der wirklichen Welt in dieser Scheinwelt agiert, bringt man sich um die Möglichkeit, auf die wirkliche Welt positiv gestaltend Einfluß zu nehmen und sie besser zu machen. Ja, man kann Unheil heraufbeschwören, weil gute Absichten dann kontraproduktiv wirken können. Denn die Indifferenz gegenüber der Frage, wie die Dinge wirklich sind, schafft den Raum für ein anderes Wahrheitskriterium: die Akklamation im Milieu der Schwärmergemeinschaft; z. B. tritt an die Stelle wirklichen Dienstes am Frieden die Demonstration der Friedensgesinnung. Einer bestätigt den anderen und steigert damit noch das Selbstgefühl, während die Außenstehenden der Verachtung anheimfallen. Es ist kein Zufall, daß in Franz Alts Buch das Wörtchen „Ich“ auffallend häufig in Verbindung mit bedeutenden Männern vorkommt, z. B.: „Das hat mir Helmut Kohl ... geschrieben" (S. 9), der „Dalai Lama erklärte mir ... (S. 83), „Ich weiß, daß auch bei einigen führenden Unionspolitikern meine These ... Nachdenklichkeit bewirkt hat" (S. 93) usw. Diesem „Ich" stehen die Repräsentanten der Demokratie gegenüber, die Jesus zum Deppen erklären“ (S. 10), die von „moralischer Überheblichkeit gegenüber Anders-denkenden" geprägt sind (S. 87), die „unter dem Druck von Militärs und Rüstungsindustrie" handeln (S. 88), die von „blindem Vertrauen in die Politik“ (S. 89) erfüllt sind. Sie stehen da als Befürworter todbringender Atomraketen und bilden den düsteren Hintergrund, vor dem die Erlösungstat der Friedensretter um so heller strahlt. Theologisch gesprochen ist Schwärmertum ein Beispiel luziferischer Verführung.

V. Das Recht der Werte-Elite

Was hier an einem besonderen Beispiel erörtert wurde, vermag zu einem tieferen Verständnis der Widerstandsbewegung im allgemeinen zu führen. Der Widerstand beschränkt sich ja nicht auf die Nachrüstung. Es gab Widerstand gegen das Ordnungsrecht an den Hochschulen, gegen Fahrpreiserhöhungen städtischer Verkehrsbetriebe, gegen die Beamtengesetze, gegen den Bau von Kernkraftwerken und Startbahnen, gegen die Städtesanierung, gegen die Eigentumsrechte von Hausbesitzern. Geplant war und sind Widerstand gegen die Volksbefragung sowie gegen den fälschungssicheren Personalausweis — und so soll es weitergehen, mit immer neuen Themen und immer steigender Intensität. Der gemeinsame Nenner, die Wurzel, aus der alle diese verschiedenen Widerstandsaktionen emporgesprossen sind, ist ein eigentümliches Unverständnis für die Bedeutung des Rechts in der Demokratie. Dieses Unverständnis ist die Kehrseite eines übersteigerten Ich-Gefühls. Denn das Eintreten für das Recht bedeutet: Eintreten für das Recht des anderen, der genauso viel Anspruch auf Schutz seiner Freiheit und Würde und genauso viel Recht auf demokratische Mitwirkung hat wie man selbst. Ob das Unverständnis für das Recht der Demokratie die Lücke ist, in die hinein sich das Ich-Gefühl aufblähen kann, oder ob das übersteigerte Ich-Gefühl den Sinn für das Recht verdrängt, oder ob sich beides wechselseitig bedingt und steigert, mag offenbleiben. Gleichgültig ist auch, ob das übersteigerte Ich-Gefühl Folge überragender Begabung und Leistung ist, wie bei den großen Schriftstellern und Künstlern, oder Kompensation von Selbstwertzweifeln. Jedenfalls gehören Unverständnis für das Recht der Demokratie und Übersteigerung des Ich-Gefühls als zwei Seiten ein und derselben Sache zusammen.

Die Konsequenz des übersteigerten Ich-Gefühls ist die Geringschätzung des normalen, durchschnittlichen, typischen Menschen, des Menschen, „wie er geht und steht" (Karl Marx), insbesondere des Bürgers, der seinem Gewerbe, seinem Handwerk, seinem Geschäft, seinem Beruf nachgeht, der abends Unterhaltungsfilme sehen oder seinen Schrebergarten bestellen will, der in erster Linie für seine Familie sorgt, der am Leben der Kirche teilhat, der in Vereinen aktiv ist, der Recht und Ordnung, Sitte und Brauchtum schätzt, der die Heimat liebt und Lieder singt, der Karneval feiert und das Schützenfest, der am Stammtisch politisiert, und der die Mittel erwirtschaftet, mit denen u. a. auch die Institutionen des intellektuellen Lebens finanziert werden: die Schulen und Hochschulen, die Rundfunk-und Fernsehanstalten, der Presse-und Büchermarkt, das Theater und die Kirchen. Die Demokratie mutet dem Intellektuellen zu, keine größeren Rechte zu haben als dieser Normalbürger, dem er sich doch an moralischer Sensibilität und politischer Bewußtheit überlegen fühlt — und es in der einen oder anderen Hinsicht auch sein mag. Zwar hat der Inhaber intellektueller Berufe erheblich größeren politischen Einfluß als der Normalbürger, weil er über die Instrumente der Information, der Meinungsbildung und der Erziehung verfügt. Dies ist aber nur ein faktisches Privileg, das aus der Natur der Dinge folgt. Das Recht in der Demokratie gewährt ihm keine politischen Privilegien und verlangt trotz seiner Geringschätzung des Normalbürgers von ihm die Achtung von dessen gleichen bürgerlichen Rechten.

Infolgedessen ist sein Verhältnis zur Demokratie zwiespältig: Wo jeder Bürger gleiches Wahlrecht hat, haben die Normalbürger eine Mehrheit; infolgedessen kommt es in seinen Augen zu falschen Wahlentscheidungen und zu einer vom Standpunkt höherer Werte nicht eigentlich legitimen Führungselite. So hat das Volk z. B. die Marktwirtschaft gewählt, während doch die intellektuelle Elite für eine sozialistische Wirtschaftsform plädiert hatte. Das Volk scheint materialistisch gesonnen zu sein, anstatt sich den höheren Werten zu erschließen. Auch wenn man nicht genau weiß, wie die sozialistische Wirtschaftsform funktionieren soll und warum sie dort, wo sie geübt wird, mehr Schaden als Nutzen stiftet: Jedenfalls steckt im Wort „sozialistisch" der Wortkern „sozial“, der an „brüderlich" erinnert, also an etwas Gutes. Wenn aber die Mehrheit der Wähler das Gute verwirft, so führt das demokratische Mehrheitsprinzip nicht zum Guten. Einige Intellektuelle, die darüber schon in den fünfziger Jahren verbittert waren, präsentieren sich heute als die „zornigen alten Männer" und propagieren den Widerstand.

Ein fast untrügliches Kennzeichen für dieses zwiespältige Verhältnis zur Demokratie ist die Antwort auf die Frage, ob einer „Antikommunist“ sei. Die Gegenelite ist größtenteils natürlich nicht kommunistisch, sondern demokratisch; sie kann schließlich nur in der Demokratie wirken und Einfluß gewinnen. Aber sie will unter keinen Umständen als „antikommunistisch" gelten. Denn sie kann sich mit der Staatsform der Demokratie auch nicht soweit identifizieren, daß sie die Mehrheitsentscheidung der Normalbürger voll respektieren könnte und hat ein gewisses Verständnis für den absoluten Herrschaftsanspruch der kommunistischen Parteioligarchie, um so mehr, als diese auf Grund des marxistischen Wissenschaftlichkeitsanspruchs eine gewisse Intellektualität vorspiegelt und sich zum „Sozialismus" bekennt. „Nicht antikommunistisch“ sein heißt: Nicht unbedingt dagegen sein, die Normalbürger ihrer bürgerlichen und politischen Rechte zu berauben.

Damit erhebt sich die Gegenelite zugleich über den Systemgegensatz zwischen Ost und West. Sie nimmt einen Metastandpunkt ein, von dem sie glaubt, daß seine Ausbreitung und Durchsetzung den Frieden fördert. Sie versucht, das moralische Gefälle zwischen den politischen Systemen in Ost und West, an dem sie in der Wirklichkeit nichts ändern kann, wenigstens im öffentlichen Bewußtsein einzuebnen, indem sie Mißstände im Westen ins öffentliche Bewußtsein rückt und solche im Osten herunterspielt. Es soll der Eindruck entstehen, die Mißachtung von Menschenrechten sei „systemunabhängig“. Sie will im Osten „Feindbilder abbauen" und baut im gleichen Maße Feindbilder im Westen auf, jwie wenn eine Wippe umschlägt. In dem Maße, in dem sie nach Osten hin Vertrauen entwickelt, auch wenn dies unbegründet ist, entwickelt sie Mißtrauen nach Westen hin, auch wenn dies ebenfalls unbegründet ist. Sie kann nicht verstehen, daß und warum sie damit die Chancen für eine wirkliche Friedens-gestaltung auf der Grundlage allgemeiner Achtung des Völkerrechts verschlechtert, weil sie die Bedeutung des Rechts überhaupt verkennt. Daß dieser sich über das Recht erhebende Metastandpunkt in Widerstand aus-mündet, ist folgerichtig und zwangsläufig.

Der Widerstand gegen die Nachrüstung ist nur Ausdruck und vorläufiger Höhepunkt ei‘nes lang schwelenden Machtkampfes zwischen den beiden Eliten:

Auf der einen Seite stehen die Organe des Bundes und der Länder, die aus demokratischen Wahlen hervorgegangen (und insofern „Elite" im Wortsinn) sind und die ihre Kompetenzen der Verfassung verdanken. Auf der anderen Seite steht eine Elite vorwiegend aus Intellektuellen (Journalisten, Pädagogen, Theologen, Schriftsteller, Künstler, Studenten usw.). Die erste ist durch formale Gesichtspunkte definiert: durch verfassungs-und gesetzmäßige Wahlen und Ernennungsverfahren. Die andere definiert sich selbst durch materiale Kriterien, insbesondere durch höhere moralische und politische Bewußtheit Die eine verdankt sich dem Recht und damit mittelbar den in die Rechtsordnung eingegangenen Werten, die andere beruft sich auf Werte unmittelbar. Die eine repräsentiert das Gesamtvolk, die andere ist ein Teil, der das Ganze selbst dann nicht zu repräsentieren vermag, wenn Meinungsumfragen in einzelnen Sachmaterien Übereinstimmung mit der Mehrheitsmeinung erweisen. Die eine ist genau umgrenzt, die zu ihr Gehörigen sind namentlich feststellbar, sie ist lokalisiert in den Hauptstädten des Bundes und der Länder. Die andere prägt sich aus im intellektuellen Milieu, das kein Zentrum und keine Führung hat, aber durch Publikationsmittel angeregt und angeleitet wird. Die eine ist eine demokratische, die andere eine oligarchische Elite. Die eine ist für ihr Tun und Reden verantwortlich, sie muß vor den Wählern, vor politischen und juristischen Gremien dafür einstehen. Die andere genießt die Freiheit dessen, der kein Amt hat und dem die Folgen seines Redens und Handelns nicht unmittelbar zugerechnet werden.

Die eine verfügt über die Machtmittel des Staates, die andere über die Medien der Publizistik, Erziehung und Kultur: Sie bestimmt weitgehend, welche Informationen gewährt und vorenthalten werden und welche Wertungen Öffentlichkeitswirksamkeit erlangen. Die eine besorgt die laufenden Staatsgeschäfte; die andere beurteilt und kritisiert diese nicht nur, sie beansprucht auch die Entscheidung darüber, ob die beschlossenen Gesetze über die juristische Geltung hinaus auch soziale Wirksamkeit erlangen und ob die Regierungsbeschlüsse ausgeführt oder durch Widerstand blockiert werden.

Sie rechtfertigt den Widerstand aus dem Anspruch einer priviligierten Rechtsposition der „Werte-Elite" gegenüber der demokratischen „Formal-Elite", aus der Überlegenheit der substantiellen Qualität über die bloße Quantität der demokratischen Mehrheit. Daß Verfassung und Gesetze ihr in der Demokratie keine höheren Rechte zubilligen, empfindet sie als eine unzumutbare Ungerechtigkeit, die sie durch die Inanspruchnahme eines natur-rechtlichen Widerstandsrechts korrigiert. >>VI. Die Rechtfertigung des Widerstands aus der Idee der Befreiung

Der Verdruß über diese unzumutbare Ungerechtigkeit erzeugte die psychologische Aufnahmebereitschaft für die neomarxistische Demokratiekritik, die seit 1968 dem Recht auf Widerstand die bis dahin noch fehlende theoretische Rechtfertigung nachlieferte: das Recht der Demokratie als ideologischer über-bau über die bürgerlichen Kapital-und Ausbeutungsinteressen; die Studenten als die Elite, die die politischen Zusammenhänge durchschaut; jede Regelverletzung ein Schritt auf dem Weg zur Befreiung der Menschheit von diesem System und seinen ungerechten Rechts-und Moralvorstellungen, eine antizipierte Demonstration des aufrechten Ganges des künftigen befreiten Menschen

Die 1968 25jährigen sind heute 40: Sie hatten inzwischen Gelegenheit, in Zentren der Publizistik, der Politik und vor allem des Bildungssystems einzurücken. In den Richtlinien für den politischen Unterricht, erlassen vom Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen 1973, lautete z. B. die „Qualifikation Nr. 1" (also wohl die wichtigste Qualifikation): „Fähigkeit und Bereitschaft, gesellschaftliche Zwänge und Herrschaftsverhältnisse nicht ungeprüft hinzunehmen, sondern sie auf ihre Zwecke und Notwendigkeiten hin zu befragen und die ihnen zugrundeliegenden Interessen, Normen und Wertvorstellungen kritisch zu überprüfen." Und das zugehörige . Lernziel" lautete: „Fähigkeit zum Widerstand gegen nicht akzeptierbare Herschaftsverhältnisse und gesellschaftliche Zwänge ... die Kenntnis oder Entwicklung von Innovationsverfahren oder Widerstandstechniken".

Bemerkenswert hieran ist: Das Einüben von Widerstand war nicht etwa auf bestimmte Ziele gerichtet. An Friedenssicherung war damals am wenigsten gedacht, eher an ungleiche Vermögensverteilung, wie sie sich in der Marktwirtschaft herausbildet. Es handelt sich um eine Blankettformel: Widerstand gegen irgend etwas, das Thema wird sich schon finden. — Die Richtlinien wurden später etwas abgeschwächt, aber die Pädagogik ist gleichwohl weitgehend in diesem Geiste geübt worden, und keineswegs nur in Nordrhein-Westfalen. Die Gegenelite hat sich der Kinder bemächtigt, um ihre natürliche Unerfahrenheit und Unwissenheit auszunutzen und für die Zukunft ein breites Widerstandspotential aufzubauen. Diese Zielrichtung der Pädagogik wird laufend begleitet und unterstützt durch speziell für Kinder und Jugendliche eingerichtete Sendungen in Funk und Fernsehen und durch eine auf das jugendliche Engagement-bedürfnis spekulierende Presse. Auf diese Weise entsteht eine Armee von jungen Widerstandskämpfern, die für die meist im Hintergrund bleibenden Generäle des Widerstands die Risiken gesetzlicher Sanktionen auf sich nehmen sollen.

Der Verfasser hält von Zeit zu Zeit Lehrveranstaltungen über Allgemeine Staatslehre für Erstsemester und kann aus einem reichen Anschauungs-und Erfahrungsmaterial die These wagen: Der Schule gelingt es selten, die Grundlagen für das Verständnis der Demokratie zu legen. Das Gewaltmonopol des Staates, die Gewaltenteilung, die parlamentarische Repräsentation, die Verbindlichkeit der demokratischen Gesetze, der demokratischen Verfahren, Formen und Kompetenzen, das Mehrheitsprinzip, die Bedeutung freier Wahlen, das Amtsethos, die Verfassungstreue und die Achtung vor den Rechten anderer — alles dies sind Begriffe, deren Sinn und Bedeutung vielen Schülern verschlossen geblieben ist, mit denen sie nicht selten abstruse Vorstellungen von Faschismus und struktureller Gewalt verbinden. Die Bundesrepublik erscheint als ein Monstrum der Inhumanität, Unfreiheit und Ungerechtigkeit. Der Widerstand gegen sie gilt nicht als undemokratisch, sondern geradezu als Essenz der Demokratie. Denn „Demokratie" wird abweichend von der Verfassung interpretiert: z. B. basisdemokratisch, plebiszitär, unmittelbar, imperativ usw. Widerstand erscheint dann als Befreiungskampf aus den Fesseln eines Rechts, das die Entstehung wahrer Demokratie noch behindert.

VII. Die ökologische Rechtfertigung des Widerstands

Im Laufe der siebziger Jahre wurde diese an sich für die marxistische Unterwanderung gedachte Widerstandsmoral zunehmend für den ökologischen Protest nutzbar gemacht. Dessen zunehmende Breitenwirkung erklärt sich einmal aus der unmittelbaren regionalen Betroffenheit vieler Bürger durch technologische Projekte, zum anderen aber auch aus der Ernsthaftigkeit und tatsächlichen Berechtigung vieler Anliegen. Man kann Probleme von so grundsätzlicher und globaler Bedeutung geltend machen, daß auch die Steigerung der Radikalität verständlich wird: Sorge um die natürlichen Lebensgrundlagen künftiger Generationen und um die Irreversibilität getroffener Fehlentscheidungen. Die ökologische Bewegung knüpft an frühere konservative Zivilisationskritik an, die dem Protest und sogar dem Widerstand neue Potentiale tief ins „Normalbürgertum''hinein erschließt. Aber sie wiederholt zugleich den Grundfehler der frühen Jugendbewegung: Sie richtet ihren Protest gegen die Nebenfolgen der wissenschaftlich-technischen Industrialisierung zugleich gegen die Rechtsordnung, als ob diese dafür verantwortlich wäre. So wie in der Weimarer Zeit die Dreiheit „Republik", „wissenschaftlich-technische Industriewelt" und „Kapitalismus" zum Begriff des „Systems" verschmolzen, so auch heute. Die von der damaligen Jugendbewegung geprägten Bürger waren großenteils anfällig für die Verführung zur „Befreiung aus dem System". Auch wenn sie keine Nazis waren, so wollten sie keinesfalls als Antinazis gelten, weil sie sich andererseits auch nicht mit der Weimarer Demokratie identifizieren konnten. Mit Liedern, Lauten, Wanderungen, Lagerfeuern usw. ließen sie sich von der Hitlerjugend übernehmen und glaubten, mit der Befreiung aus dem Recht der Demokratie sei irgend etwas für die Verbundenheit des Menschen mit der Natur gewonnen. So trugen sie dazu bei, die Menschen erst recht einer perfektionierten technischen Großorganisation zu unterwerfen — und hatten sich mit den demokratischen Rechtsinstitutionen zugleich aller Möglichkeiten der Korrektur begeben. Sie hatten nicht verstanden, daß sie nur auf der Grundlage gleicher Bürgerrechte, die durch eine gewaltenteilende Verfassung gesichert sind, ein politisches Programm hätten entwickeln und durchsetzen können.

Heute wirken nicht nur die alten deutschen Traditionen der Rechtsfremdheit nach. Die ökologische Bewegung integriert auch die neuen bundesrepublikanischen Traditionen der Distanz zum Recht: den Privilegienan-Spruch der Intellektuellen und die Ideologie der „Befreiung", für die die ökologischen Argumente vielfach nur Schutzschild und Vorwand sind. Dadurch verliert die ökologische Bewegung an Glaubwürdigkeit, politischer Breitenwirkung und Durchschlagskraft und wird gerade dadurch in immer größere Distanz zum Recht in der Demokratie getrieben. Auf diese Weise steigert sich ihr Anspruch auf ein privilegierendes Recht zum Widerstand in Fanatismus, im Extremfall in Bürgerkriegsmentalität. So warnt z. B. Bernd Guggenberger es sei „gleichsam der Hobbes’sche Naturzustand wiederhergestellt" (S. 272). Die Mehrheitsregel setze voraus: „Das Vorhandensein einer öffentlichen Kultur, die Existenz eines Fundaments an vorpolitischer Bürgergemeinsamkeit ..., die es ... als lohnend erscheinen lassen, auch im Falle einer unwillkommenen Entscheidung innerhalb der Rechtsgemeinschaft zu verbleiben" (S. 277 f), doch daran fehle es. Es drohe eine „Deinstitutionalisierung der politischen Entscheidungsprozesse, ja eine Dekomposition des Politischen überhaupt" (S. 277). Denn in der Demokratie werden die Stimmen „gezählt, nicht gewogen“, so daß „apathische, schlecht informierte und... völlig desinteressierte Menschen engagierten, sachkundigen und hochgradig betroffenen Minderheiten gegenüberstehen" (S. 276). Die Folge sei, daß sich die „isolierten Widersetzlichkeiten ... zur organisierten Systemopposition gegen die herrschende Mehrheit bündeln" (S. 279). Guggenberger gibt zwar zu: „Wir haben ... keine akzeptablere und effektivere Methode der Entscheidungsfindung als den Mehrheitsentscheid" (S. 272). Aus dieser Einsicht folge aber keine demokratische Bürgergesinnung; vielmehr liegt die Verantwortung für das Scheitern der Demokratie ausschließlich bei der Mehrheit und der von ihr getragenen Regierung. Ihr bleibe nur eine Rettungschance: „Selbstbescheidung, Mäßigung, auch rechtzeitiges Ausklammern (S. 280) — mit anderen Worten: konsequente Nachgiebigkeit: Parlament und Regierung dürfen sich nicht damit begnügen, die Argumente der ökologischen Bewegung in ihren Abwägungsprozeß einzubeziehen, sondern haben sich dem jeweiligen Willen der jeweiligen Minderheit unverzüglich und kompromißlos zu beugen.

VIII. Legitimität gegen Legalität

X Es liegt in der Konsequenz dieser Grundeinstellung, wenn sich der Widerstand nicht mehr nur auf eine privilegierte Rechtsposition innerhalb der Demokratie beruft und auch nicht mehr nur einen Kampf zur Befreiung aus den Fesseln der verfaßten Demokratie zugunsten einer besseren Demokratie führen will, sondern einen Monopolanspruch auf den Begriff „demokratisch" erhebt Der demokratische Verfassungsstaat mit seinen Institutionen des repräsentativen Parlamentarismus, der Gleichberechtigung und des Mehrheitsprinzips verliert den Anspruch, sich überhaupt noch „demokratisch" zu nennen. So meint ein aus lauter Zelebritäten bestehendes „Komitee für Grundrechte und Demokratie", demokratisch sei nur noch der Widerstand; denn er ist „legitim, wo ein neuer Absolutismus der parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen die demokratische Substanz einer Gesellschaft gänzlich aufzuzehren droht". Unsere Demokratie beruht auf einem Recht, das ein in der Welt seltenes Maß an Freiheit gewährt. In Diktaturen und Fremdherrschaften, wo Widerstand legitim ist, erfordert er Ernst und Martyriumsbereitschaft in aussichtsloser Situation. In der Sowjetunion z. B. wäre Widerstand ganz unmöglich. Hier, wo er nicht legitim ist, erfordert er kaum Zivilcourage. Er bringt nur geringe Risiken mit sich, die durch Publizität, Akklamation und durch das beglückende Gemeinschaftserlebnis mehr als ausgeglichen werden. Er ist eine Massenbewegung, von den Medien öffentlich angeleitet und wohlwollend kommentiert, ständig auf der Suche nach Konfrontationen mit der Polizei, frustriert, wenn diese ausbleibt, geschult auf Umgehung ihrer Anweisungen und auf Nichtbeachtung gerichtlicher Entscheidungen. Widerstand als Gaudi für die Beteiligten, als vanity fair für die Zelebritäten, als Volks-spektakel für die Fernsehzuschauer. Wenn er sich dann noch auf das Vorbild der Geschwister Scholl beruft, vermag das nicht einmal ein bitteres Lachen zu entlocken, weil der Verlust an Urteilskraft und Rechtsgesinnung ein so beängstigendes Ausmaß angenommen hat.

Zur Freiheit gehört die Inkaufnahme des Mißbrauchs der Freiheit. Unter einem über-maßan Mißbrauch aber kann ein freiheitliches System zusammenbrechen. Freiheitliche Demokratien brauchen eine genügende Anzahl von Demokraten, die die Noblesse haben, die Schwäche des Staates, die in seiner Freiheitlichkeit und Rechtsstaatlichkeit begründet ist, nicht als verächtlich anzusehen und bis zum Äußersten auszunutzen, die vielmehr das Recht, das die Freiheit des anderen begründet, achten, und die — wenn es schon keine Vaterlandsliebe mehr gibt — ihrem Staat ein Mindestmaß an Schonung, Respekt und Dankbarkeit entgegenbringen. Was unsere Demokratie gefährdet, sind nicht schwache Institutionen an sich, sondern ist der Mangel an demokratischem Bewußtsein, das in erster Linie von der Rechtsgesinnung abhängt. Das Machtinstrument der Gegenelite ist die Zerstörung der Rechtsgesinnung. Diese ist schon soweit fortgeschritten, daß eine gewisse Zahl von Amtsträgern in Behörden, Gerichten und Rechtswissenschaft den Verführungen der Akklamationsgemeinschaft erliegen und willfährige Entscheidungen treffen oder befürworten. Da die Initiatoren des Widerstands über mächtige Medien verfügen, vermögen sie Schwächen der Urteilsfähigkeit des Charakters auszunutzen und Repräsentanten des demokratischen Staates in ihren Entscheidungen zu beeinflussen. Man stellt dann der „bloß formalen Legalität“ der Demokratie eine höhere „Legitimität" der Widerstand leistenden Gegenelite gegenüber, also eine privilegierte Rechtsposition, und gibt dies als eigentlich demokratische Legitimität aus. In Wirklichkeit bedeutet Achtung vor dem Recht der Demokratie Achtung vor der Demokratie und Mißachtung des Rechts Mißachtung der Demokratie. Es gibt hier und heute keine höhere Legitimität als die Legalität.

Die demokratischen Gesetze sind u. a. gerade deshalb legitim, weil sie für jeden gleich verbindlich sind. Sie bewahren deshalb ihre Legitimität auch nur solange, wie sie gegen jeden Bürger gleich angewendet werden. Den Privilegierungsansprüchen der Gegenelite nachzugeben, bedeutet, die Gesetzesanwendung moralisch zu korrumpieren, sie zu einem In-23 strument der jeweiligen Machtkonstellation zu degradieren, insbesondere sie von Lob und Tadel in den kämpferischen Medien abhängig zu machen. Dies bedeutet, die Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers zu unterlaufen, die Rechtssicherheit zu zerstören, der Gerechtigkeit die Grundlage zu entziehen, das Vertrauen des Bürgers in Recht und Gesetz zu erschüttern, demokratische Verfahren und Kompetenzen als zweitrangig anzusehen und gleichgültig erscheinen zu lassen, die freiheitlichen Institutionen in ihrer Schwäche offenbar und verächtlich zu machen und die Identifikation der Staatsbürger mit der Demokratie aufzulösen. Der Einwand der Gegenelite läuft darauf hinaus: In der willfährigen Gesetzesanwendung mit zweierlei Maß bewähre sich die höhere Legitimität derGegenelite, und gerade nur auf diese Weise sei die Legitimität der Demokratie zu retten. Wenn sich dieses Argument auch in der Rechtsanwendung durchsetzen sollte, dann wäre der Machtkampf entschieden: dann wäre die innen-und außenpolitische Handlungsfähigkeit der demokratischen Regierungen ernstlich beeinträchtigt. Nicht nur Recht und Freiheit wären aufs äußerste gefährdet, sondern auch der Frieden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Art. 20 Abs. 4 GG: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese (die verfassungsmäßige) Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich

  2. Ein Beispiel für eine vergleichbare Argumenta-uon in der Weimarer Republik: „Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkstum dem Untergang entgegengeführt wird, ist Rebellion eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht ... Menschenrecht bricht Staatsrecht" (A. Hitler, Mein Kampf, S. 204 f.; hierzu J. Isensee, Der verspätete Widerstands-kampf in: Die neue Ordnung, 1 (1983) 2,'S. 84ff„ 91).

  3. Diesen Gedanken hat Alt in seiner späteren Sendung widerrufen.

  4. Z. B.: „Warum moralisch werden, wenn es gegen die in der Tat unzivilisierte Sowjet-Union geht ...?“ „Um uns am Leben zu erhalten, können wir nicht oft genug darauf hinweisen, daß nach dem Verständnis der christlich-abendländischen Kultur

  5. dazu: M. Kriele, Befreiung und politische Aufklärung, Freiburg 1980, besonders Kapitel 5 und 6.

  6. B. Guggenberger, An den Grenzen der Mehr heitsdemokratie? Gesellschaftliche Fundamental-konflikte und mehrheitliche Entscheidungsregeln, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 1983, S. 257"

Weitere Inhalte

Martin Kriele, Dr. jur., geb. 1931; Professor für Allgemeine Staatslehre und öffentliches Recht, Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik der Universität zu Köln. Zugleich Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen und Mitherausgeber der „Zeitschrift für Rechtspolitik". Veröffentlichungen u. a.: Hobbes und englische Juristen, 1970; Einführung in die Staatslehre, 19802; Legitimitätsprobleme der Bundesrepublik, 1977; Die Menschenrechte zwischen Ost und West, 1979-; Recht und praktische Vernunft, 1979; Befreiung und politische Aufklärung, Plädoyer für die Würde des Menschen, 1980.