I. Einleitung
Kritik und Protest der Bürger sind Elemente demokratischer Öffentlichkeit und als solche unverzichtbare Bestandteile der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Demonstrationen einer Personenmehrheit sind Ausdruck kollektiver Meinungsäußerungen, die grundsätzlich durch Art. 8 GG geschützt sind, Demonstrationen von Einzelpersonen werden durch die individuelle Meinungsfreiheit des Art 5 Abs. 1 GG gewährleistet.
Kritik hat in vielfältigen Formen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, von Anfang an den öffentlichen Willensbildungsprozeß in der Bundesrepublik begleitet, während Bürgerproteste in Form von Demonstrationen in nennenswertem Umfang erst seit den späten sechziger Jahren zum Erscheinungsbild demokratischer Willensäußerung gehören: 1968 fanden 2059, 1969 sogar 2253 Demonstrationen statt; ihre Zahl nahm in den folgenden Jahren rasch ab, schwoll erst wieder 1975 mit 2551 stärker an und betrug — ständig ansteigend — im Jahre 1981: 5772 und 1982: 5313
Arten, Formen und Umfang dieser Bürgerproteste variieren außerordentlich; in ihnen spiegelt sich ein Stück der politischen Kultur der Bundesrepublik wider. Am häufigsten sind Protestmärsche, Kundgebungen, Umzüge und Plakataktionen; in jüngster Zeit nehmen die verschiedenartigsten „Aktionen" zu, mit denen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erreicht werden soll. Demonstrationen sind vor allem politische Kampfmittel, um politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen, um auf Mißstände oder Mißbräuche öffentlich hinzuweisen, an politischen Entscheidungen Kritik zu üben und Protest gegen sie zu erheben, für Minderheitsmeinungen zu werben, aber auch um die Regierungspolitik zu unterstützen, kurz um öffentlich auf den Prozeß politischer Meinungs-und Willensbildung einzuwirken. Der Kreis der möglichen Zielsetzungen ist nicht begrenzt.
Während die Mehrzahl aller Demonstrationen friedlich verläuft, ist es in den letzten Jahren wiederholt zu Gewaltsamkeiten gekommen. Besonders hoch war die Gewalttätigkeit im Jahre 1968 mit 533 und 1969 mit 813 unfriedlichen Demonstrationen; ihre Zahl sank in den folgenden Jahren stark ab, um dann 1981 — im Vergleich zum Vorjahr mit 143 — sprunghaft anzusteigen auf 357; 1982 war sie mit 229 wieder etwas geringer Die sich hier offenbarende Radikalität des Protestes hat Verwirrung und Unruhe gestiftet. Nicht wenige Bürger sehen in den unfriedlich verlaufenden Demonstrationen mit Ausschreitungen, Körperverletzungen, Sachbeschädigungen und anderen Gewalttätigkeiten, bei denen zum Teil in einer Art von „Feierabend-Terrorismus“ ganze Schlägertrupps von Demonstrationsort zu Demonstrationsort ziehen, die Gefahr der Diskreditierung des Bürgerprotestes schlechthin. Es ist sicherlich nicht nur Sache der Polizei, sich über unfriedlich verlaufende Demonstrationen Gedanken zu machen; jeder Bürger muß befürchten, daß angesichts dieser Radikalität die üblichen Formen des Bürgerprotestes an Wirkung verlieren und damit entwertet werden. Die Folgen sind auf lange Sicht fatal.
Nicht weniger beunruhigend ist die sich in den letzten Jahren ausbreitende „Grauzone“ des Protestes, bei der die Übergänge von friedlichen zu unfriedlichen Demonstrationen fließend werden: Großdemonstrationen, die zu regelrechten Verkehrsblockaden führen, Protestzüge, bei denen Polizeiketten weggedrängt werden, um hier nur zwei Beispiele zu nennen. Die um sich greifende Verunsicherung der Bürger darüber, ob und inwieweit Arten und Formen des Protestes vom Grundgesetz geschützt sind oder nicht, fordert zu einer Besinnung über Inhalt und Grenzen der Demonstrationsfreiheit nach dem Grundgesetz heraus, um so mehr, als auch unter Fachleuten über einzelne Protestformen keine einheitliche Auffassung besteht. Die folgende Darstellung gibt in einer Grundskizze die Rechtslage wieder und soll zur Klärung strittiger Fragen beitragen: Im folgenden Abschnitt sind Inhalt, Einzelmerkmale und Grenzen der Demonstrationsfreiheit im Über-blick darzulegen (II). Daraufhin ist in gebotener Kürze auf neuere Lehren einzugehen, die einer Ausweitung des Demonstrationsrechts das Wort reden (III). Abschließend sind neuere Arten und Formen des Bürgerprotestes im Lichte der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der staatsrechtlichen Literatur zu würdigen (IV).
Auf Fragen des Demonstrationsstrafrechts, des Demonstrationsschadens-und des De. monstrationskostenrechts kann im Rahmen dieses kurzen Beitrags nicht eingegangen werden; entsprechend muß auch die Diskussion über künftige Gesetzesänderungen im Strafrecht hier unterbleiben
II. Die Demonstrationsfreiheit nach dem Grundgesetz
In Art. 8 umschreibt das Grundgesetz die Versammlungsfreiheit als das „Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln" Diese Gewährleistung für alle Arten von Zusammenkünften kann für Versammlungen unter freiem Himmel, zu denen Demonstrationen in aller Regel zählen, nach Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden. Solche Regelungen sind in erster Linie im Versammlungsgesetz vom 24. Juli 1953 erlassen worden, das für alle Versammlungen unter freiem Himmel eine Anmeldungspflicht in § 14 vorsieht und damit die Demonstrationsfreiheit nicht unwesentlich beschränkt. Das ist, um Mißverständnissen vorzubeugen, bereits an dieser Stelle hervorzuheben. Zunächst sind Inhalt und Schutzbereich der Demonstrationsfreiheit zu erörtern. 1. Inhalt und Schutzbereich der Demonstrationsfreiheit Die von der Demonstrationsfreiheit als Teil der allgemeinen Versammlungsfreiheit geschützten Versammlungen sind örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zu einem gemeinsamen Zweck, zu dessen Erreichung sie sich innerlich untereinander zusammenschließen Davon sind bloße Ansammlungen von Personen zu unterscheiden, z. B. Passanten, die sich an einem Informationsstand einer politischen Partei einfinden und von dem einseitigen Informationsangebot Gebrauch machen; hier handelt es sich nicht um eine grundrechtlich geschützte Versammlung Wohl aber kann aus einer solchen Ansammlung eine Demonstration werden, wenn die spezifischen Merkmale der Versammlung nachträglich hinzutreten, z. B. wenn sich die Menschenmenge zu einem Demonstrationszug zu einem bestimmten gemeinsamen Zweck formiert.
Keine Voraussetzung einer Demonstration sind vorherige Planung und Organisierung der Versammlung, was zwar für den Regelfall der Demonstration typisch ist. Den Schutz des Art. 8 GG genießen auch „Spontan-Versamnilungen“, die sich aufgrund eines aktuellen, unvorhergesehenen Ereignisses von großem Interesse bilden, etwa nach einem politischen Mord oder einer Invasion fremder Truppen Diese Auffassung hat sich heute durchgesetzt; Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung zu bloß vorgetäuschten Spontan-Ver Sammlungen, die als solche geplant und vorbereitet werden.
Grundrechtlich geschützt ist sowohl die Demonstration als Veranstaltung als auch die Beteiligung daran. In den Schutzbereich des Art. 8 GG fallen auch die Vorbereitung der Demonstration sowie alle Maßnahmen zu deren Schutz, z. B. die Einweisung ehrenamtlicher Ordner (§§ 18, 19 Abs. 1 des Versamm lungsgesetzes 9), im folgenden VG abgekürzt) Grundrechtsträger sind nach Art. 8 GG . alleDeutschen“. Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vetriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat Auch Mindeq'ährige sind als Demonstrationsteilnehmer geschützt, soweit sie den gemeinsamen Demonstrationszweck mit verfolgen und die erforderliche Grundrechtsmündigkeit, d. h. eine bestimmte geistige Reife besitzen
Besonderheiten gelten für Beamte und Soldaten insofern, als sie sich während ihres Dienstes politischer Betätigung zu enthalten haben außerhalb ihres Dienstes haben sie prinzipiell die gleichen Rechte wie alle Staatsbürger, haben jedoch bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus ihrer Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten ihres Amtes ergeben Der Soldat darf bei politischen Veranstaltungen keine Uniform tragen
Ausländer, die ihren Aufenthalts-oder Wohnort in der Bundesrepublik haben, sind durch § 1 VG befugt, das Versammlungsrecht als Veranstalter oder Teilnehmer in Anspruch zu nehmen; freilich genießen sie nicht den erhöhten verfassungsrechtlichen Schutz, wie er allen Deutschen garantiert ist. 2. Begrenzungen der Demonstrationsfreiheit Das Grundgesetz schränkt den Schutz der Demonstrationsfreiheit auf das friedliche Ver-sammeln ohne Waffen ein. Die hier ihren Niederschlag findende Friedenspflicht der Bürger ist nicht allein auf die Ausübung dieses Grundrechts begrenzt, sondern sie ist Ausdruck eines grundlegenden Verfassungsprinzips Der moderne Verfassungsstaat setzt die Friedenspflicht zwingend voraus; sie ist apriorische Pflicht eines jeden Bürgers im demokratischen Rechtsstaat Denn dieser kann den optimalen Grad an Rechtssicherheit für alle Bürger nur vermöge des staatlichen Monopols des legalen physischen Zwanges und damit des generellen Ausschlusses individueller Selbsthilfe gewährleisten
Die Friedlichkeit wird mißachtet, wenn die Demonstration einen „gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf'nimmt (§§ 5 Nr. 3; 13 Abs. 1 Nr. 2 VG) der von dem Leiter oder einer Mehrheit von Teilnehmern ausgehen kann. Vereinzelte Ausschreitungen weniger Teilnehmer machen eine Demonstration noch nicht zu einer unfriedlichen, namentlich dann nicht, wenn der Leiter Maßnahmen zum ordnungsmäßigen Ablauf der Veranstaltung ergreift. Entscheidend ist, ob sich die Mehrzahl der Demonstrationsteilnehmer von den verübten Gewalttätigkeiten distanziert oder nicht. Tut sie es nicht, sondern solidarisiert sich mit ihnen, wird die Veranstaltung zu einer unfriedlichen. In einem solchen Falle ist der Leiter verpflichtet, die Demonstration für beendet zu erklären (§ 19 Abs. 3 VG).
Gewalttätigkeit liegt vor, wenn ein gezielter und unmittelbar angewendeter Zwang ausgeübt wird. Es ist dabei gleichgültig, ob sich die Gewalt gegen Personen oder gegen Sachen richtet. Der Ausschluß jeglicher Gewalttätigkeit bei Demonstrationen findet seine Rechtfertigung darin, daß die Demonstrationsfreiheit — ebenso wie die Meinungsfreiheit — allein auf eine geistige Auseinandersetzung in der Demokratie angelegt ist. Nur solche Äußerungsformen werden von den Freiheitsrechten gedeckt, die geeignet und dazu bestimmt sind, geistige Wirkungen herbeizuführen. Gewährleistet ist ferner nur das Sich-Versammeln ohne Waffen. Der Begriff „Waffe" ist nicht nur im technischen Sinne zu verstehen, sondern erfaßt auch solche Gegenstände, welche von ihrem Benutzer zur Angriffs-oder Verteidigungswaffe bestimmt sind. Die Beurteilung kann im Einzelfall schwierig sein. Eindeutig ist das Verhalten von Demonstrationsteilnehmern, die Lattenzäune abbrechen, Pflastersteine herausreißen oder Taschenmesser zücken. Nicht zu den Waffen im Sinne des Art. 8 GG zählt die sogenannte passive Bewaffnung, d. h. das Mitführen von Schutzhelmen, Schutzbrillen oder Gasmasken. Mit Recht wird indessen in dem Mitbringen dieser Gegenstände ein Indiz für beabsichtigte Gewalttätigkeit gesehen und damit für eine Unfriedlichkeit
Während Versammlungen in geschlossenen Räumen ohne Anmeldung stattfinden können, ist — wie eingangs schon kurz erwähnt — für alle Versammlungen unter freiem Himmel und damit auch für Demonstrationen als weitere Begrenzung eine Anmeldungspflicht vorgeschrieben (§ 14 VG), die sich auf die Ermächtigung des Art. 8 Abs. 2 GG zur gesetzlichen Einschränkung der Versammlungsfreiheit stützt. Demonstrationen sind demnach grundsätzlich spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der Veranstaltung der zuständigen Polizeibehörde formlos anzumelden.
Eine Ausnahme von der Anmeldepflicht besteht nach der vorherrschenden Auffassung im Schrifttum bei „Spontan-Demonstrationen“, die ohne planmäßige Vorbereitung aus aktuellem politischen Anlaß entstehen Nicht zulässig ist es, um die Anmeldungspflicht zu umgehen, eine vorgeplante Demonstration zur „Spontan-Versammlung" zu erklären. In diesem Falle ist die Polizeibehörde berechtigt, die Versammlung nach § 15 Abs. 2 VG aufzulösen.
Weitere Einschränkungen des Demonstrationsrechts ergeben sich aus § 16 des Versammlungsgesetzes: öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge sind innerhalb des befriedeten Bannkreises der Gesetzgebungsorgane des Bundes oder der Länder sowie des Bundesverfassungsgerichts verboten 3. Verbot und Auflösung von Demonstrationen Von besonderem Interesse ist die Frage, wann die zuständigen Polizeibehörden eine Demonstration vor deren Beginn verbieten und nach deren Beginn auflösen dürfen. Vorweg ist festzustellen, daß ein Verbot einer Demonstration jederzeit zulässig ist, wenn aufgrund grundgesetzlicher Regelung das Versammlungsrecht nicht besteht. Diese Fälle faßt § 1 Abs. 2 des Versammlungsgesetzes zusammen: Dieses Recht hat nicht, „(1) wer das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gemäß Artikel 8 des Grundgesetzes verwirkt hat, (2) wer mit der Durchführung oder Teilnahme an einer solchen Veranstaltung die Ziele einer nach Artikel 21 Abs. 2 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Partei oder Teil-oder Ersatzorganisationen einer Partei fördern will, (3) eine Partei, die nach Artikel 21 Abs. 2 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden ist, (4) eine Vereinigung, die nach Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes verboten ist.“
Im übrigen ist für die Beurteilung der eben gestellten Frage die Regelung des § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes maßgebend: „Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist."
Danach besteht für die Polizei nur eine begrenzte Eingriffsermächtigung.
Zum Verbot einer Demonstration genügt nicht jedwede Gefahr für die Rechtsgüter öffentliche Sicherheit oder Ordnung, sondern nur eine unmittelbare Gefahr. Es kommt daher auf eine besonders sorgfältige konkrete Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter und Interessen an, bei der die Polizeibehörde die grundlegende Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit in der rechtsstaatlichen Demokratie zu berücksichtigen hat Von einer unmittelbaren Gefahr kann nur dann gesprochen werden, wenn eine mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretende Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung vorliegt Das dürfte in den Fällen eindeutig zu bejahen sein, in denen der Veranstalter oder Leiter der Demonstration Teilnehmern Zutritt gewährt, die Waffen mit sich führen, oder wenn Tatsachen festgestellt sind, aus denen sich ergibt, daß die Demonstration einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nehmen wird oder daß der Veranstalter oder sein Anhang Ansichten vertreten oder Äußerungen dulden werden, die ein Verbrechen oder ein von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen zum Gegenstand haben
Hingegen reichen in der Regel gewisse Erschwerungen oder vorübergehende Störungen des Straßenverkehrs für ein Verbot einer Demonstration nicht aus, es sei denn, daß die Blockade von Straßenfahrzeugen oder die Stillegung des Autoverkehrs eigentliches Ziel der Demonstration ist
Zur Auflösung von Demonstrationen ermächtigt § 15 Abs. 2 des Versammlungsgesetzes die zuständigen Polizeibehörden, wenn keine Anmeldung vorliegt (ausgenommen sind lediglich „Spontan-Demonstrationen"), wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder den Auflagen der Polizei zuwidergehandelt wird oder wenn die Voraussetzungen zum Verbot der Veranstaltung gegeben sind. § 15 Abs. 3 des Gesetzes stellt klar, daß eine verbotswidrig stattfindende Demonstration aufzulösen ist.
III. Theoretische Ansätze zur Ausuferung der Demonstrationsfreiheit
In den letzten beiden Jahrzehnten hat es nicht an Versuchen gefehlt, die dargelegten Grundlagen der Demonstrationsfreiheit aufzuweichen, um dieses Grundrecht weiter auszudehnen. Die Gründe dafür können hier auf sich beruhen. Von den einzelnen Neuinterpretationen dieses Grundrechts treten jene Bemühungen besonders hervor, die von neueren theoretischen Ansätzen her die bisherige Auslegung der Demonstrationsfreiheit in Frage stellen. Hier sind insbesondere drei zu nennen: das funktional-demokratische Grundrechtsverständnis, die Lehre von der „strukturellen Gewalt“ und die Lehre vom „zivilen Ungehorsam“. Auf sie ist in gebotener Kürze einzugehen. 1. Das funktional-demokratische Grundrechtsverständnis Das heutige funktional-demokratische Grundrechtsverständnis basiert auf der Vorstellung Rudolf Smends, daß die Grundrechte in erster Linie politische Rechte im Dienste der Erneuerung und Fortbildung der staatlichen Einheit sowie der Richtungsbestimmung des staatlichen Willens sind Helmut Ridderhat, darauf aufbauend, als erster in seinem Aufsatz über die Meinungsfreiheit im Handbuch „Die Grundrechte“ den Versuch unternommen, die Entscheidung des Grundgesetzes für die Demokratie bei der Grundrechts-auslegung fruchtbar zu machen. Die Pressefreiheit sei nicht eine individuell oder kollektiv negatorische, sondern in erster Linie eine von der öffentlichen Aufgabe der Presse her bestimmte Freiheit Auch die nicht final individuellen Freiheitsrechte seien in einer Verfassung, die vom Staatsbürger ein positives Mitwirken an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung erwarte und verlange, in freilich unterschiedlicher Intensität „sozial überformt"
Die Grundrechte werden hier unter Vernachlässigung ihrer privaten Seite von ihrer politischen Aufgabe als konstituierende Faktoren eines demokratischen Willensbildungsprozesses her begriffen. Die Freiheitsgewährleistung wird auf politische Ziele und Zwecke spezifisch eingeengt Damit wird einer unterschiedlichen Bewertung des individuellen Freiheitsgebrauchs nach seiner Zielsetzung und seiner Motivation das Wort geredet. Schutzwürdig erscheint nur der politisch orientierte Freiheitsgebrauch, der vor jedem nicht politisch ausgerichteten rechtlich favorisiert, ja privilegiert wird Die in der funktional-demokratischen Grundrechtstheorie angelegte Diskriminierung des andersgerichteten Freiheitsgebrauchs bedeutet eine Schmälerung des Vollgehalts individueller Freiheit; sie führt unvermeidlich auch zu einer Entsubjektivierung zugunsten öffentlicher politischer Prozesse an denen der Einzelne nur noch teilhat.
Es liegt auf der Hand, daß von diesem Grundrechtsverständnis her die Bedeutung der Demonstrationsfreiheit eine beträchtliche Aufwertung erfährt mit bemerkenswerten Folgen für die Interpretation von Inhalt und Grenzen dieses Freiheitsrechts. 2. Die Lehre von der „strukturellen Gewalt"
Ein nachhaltiger Einfluß auf die Auslegung der Grenzen der Demonstrationsfreiheit, insbesondere auf die Deutung des Begriffs der Friedlichkeit, geht von der Lehre von der „strukturellen Gewalt" aus. Sie negiert den traditionellen Grundkonsens über den Friedens-und Gewaltbegriff, auf dem der moderne Verfassungsstaat und seine Rechtsordnung beruhen: Frieden ist für sie nicht mehr bestimmt durch Abwesenheit von Gewalt; und Gewalt ist nicht länger nur der gezielt und unmittelbar angewendete Zwang. Statt im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung den Frieden zu bewahren, will diese neue Lehre — orientiert an einer utopischen Friedensvorstellung — eine qualitativ andere, weil vermeintlich bessere Ordnung herbeiführen. Frieden dürfe nicht länger mit den bestehenden Zuständen in Verbindung gebracht werden, die zutiefst ungerecht und daher in jedem Fall zu verändern seien. Ebenso erfährt der Gewaltbegriff eine grundstürzende Umdeutung und grenzenlose Ausdehnung. Nach der richtungsweisenden Definition des Norwegers Johann Galtung liegt Gewalt immer bereits vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre tatsächliche und geistige Selbstverwirklichung hinter ihrer möglichen Selbstverwirklichung zurück-bleibt" Damit wird jedes aus der subjektiven Perspektive der Einzelnen empfundene Hemmnis der Selbstverwirklichung zur „strukturellen Gewalt“, der mit „Gegen-Gewalt" zu begegnen sei.
Der Begriff „strukturelle Gewalt" erweist sich als polemische Formel, ja als „Kriegs-und Revolutionsbegriff" mit dem jede politische und soziale Ordnungsform als gewaltsam disqualifiziert werden kann. Er wird zum Schlüssel für jedwede Gewalttätigkeit gegenüber dem Staat und seiner Rechtsordnung. „Rechtsstaat ist demnach immer Gewaltstaat“; im Grunde ist es jeder wie auch immer geartete Staat. „Die Grenze zwischen Recht und Gewalt fällt, eine Grenze, der humane Ordnung und zivilisatorischer Fortschritt seit je zu verdanken sind." Durch diesen radikalen Bruch mit dem traditionellen Grundkonsens über den Friedens-und Gewaltbegriff wird bezweckt, die Legitimität der geltenden Ordnung durch ein Konzept selbsternannter revolutionärer Eliten zu verdrängen, die sich selbst eine neue Legitimität zu schaffen suchen. Durch die Unterstellung einer allgegenwärtigen „strukturellen Gewalt" im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich, gegen die private „Gegen-Gewalt" legitim sei, wird suggeriert daß der Staat und die staatliche Rechtsordnung Ursprung aller Gewalt seien. Das Gegenteil ist der Fall: Allein der Staat vermag durch seine Rechtsordnung und die ihm verfassungsmäßig zugewiesenen Durchsetzungsbefugnisse Gewähr dafür zu bieten, daß der rechtlich verfaßte Frieden im Gemeinwesen erhalten bleibt, daß Freiheit und Rechte der Bürger gewahrt, Konflikte durch rechtlich geregelte Austragsverfahren gelöst und Schwächere vor Unterdrückung durch Stärkere geschützt werden. Jeder Versuch von einzelnen oder Minderheiten, nach eigenem Gutdünken sich selbst Rechte zu verschaffen und Gewalt auszuüben, geht unvermeidlich zu Lasten anderer Bürger und muß letztlich in Chaos und Bürgerkrieg enden. „Erst wenn die physische Gewalt aus der Gesellschaft verbannt ist, wird der demokratische Diskurs über die gerechte politische und soziale Ordnung möglich“ deren Schutz und Garantie allein Sache des Staates sein kann. 3. Die Lehre vom „zivilen Ungehorsam“
Zur Ausuferung der Demonstrationsfreiheit hat in nicht geringem Maße auch die Lehre vom „zivilen Ungehorsam" beigetragen. Erst kürzlich ist der Versuch unternommen worden, ein Recht auf „zivilen Ungehorsam" nach dem Grundgesetz, gestützt auf die Grundrechte der Meinungs-und der Versammlungsfreiheit, zu begründen Danach sei „ziviler Ungehorsam" gerechtfertigt, wenn Grundrechtsträger der Überzeugung seien, daß staatliche Normen ein schwerwiegendes Unrecht schüfen, und eine Güterabwägung im Einzelfall ergäbe, daß die durch die Normen geschützten Rechte und Interessen, im Lichte des in Anspruch genommenen Grundrechts interpretiert, hinter dieses zurückzutreten hätten. Positiv gewendet: Jeder hat das Recht, allein oder gemeinsam mit anderen öffentlich, gewaltlos und aus politisch-moralischen Gründen den Tatbestand von Verbots-normen zu verletzen, wenn er dadurch gegen schwerwiegendes Unrecht protestiert und sein Protest verhältnismäßig ist.“
Die Bezeichnung dieses vermeintlichen Rechts auf „zivilen Ungehorsam" als „kleines Widerstandsrecht der Normallage" zeigt bereits die bedenkliche Verwischung und gleitende Ineinssetzung von Grundrechtsausübung und Inanspruchnahme des Widerstandsrechts des Art. 20 Abs. 4 GG was mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist Zudem würde durch ein Recht auf „zivilen Ungehorsam" nicht nur Bedeutung und Tragweite der Friedenspflicht des Bürgers in bedrohlicher Weise minimalisiert und der innere Rechtsfrieden schwersten Gefahren ausgesetzt, sondern auch das staatliche Gewaltmonopol ausgehöhlt und jede demokratische Mehrheitsentscheidung der Aushebelung durch eine entschlossene Minderheit preisgegeben. Politisch-moralische Bedenken einzelner Bürger gegen ordnungsgemäß zustande gekommene staatliche Entscheidungen — mögen sie auch von noch so hohen ethischen Anforderungen getragen sein — schaffen keinen Rechtstitel für über das individuelle Notwehrrecht hinausgehende Ausnahmen vom staatlichen Gewaltmonopol.
Auch die Befürwortung einer gewaltlosen Verletzung von Verbotsnormen ist nicht unproblematisch. Abgesehen davon, daß die Übergänge von gewaltlosen zu gewaltsamen Aktionen unter Umständen fließend sind, bleiben selbst „gewaltfreie“ Mißachtungen von Rechtsnormen in aller Regel von der Rechtsordnung mißbilligte Unrechtshandlungen. Unklar und zudem schwer wägbar sind schließlich die Kriterien dafür, wann ein vermeintliches Unrecht „schwerwiegend" und wann der zu erhebende Protest „verhältnismäßig“ ist und wann nicht.
IV. Zur Beurteilung neuerer Arten und Formen des Bürgerprotestes
In den letzten Jahren hat es eine Fülle neuerer Arten und Formen des Bürgerprotestes gegeben, die von den bis dahin allein üblichen, wie Protestmärschen, Kundgebungen, Umzügen und Plakataktionen, vielfältig abweichen. Einzelne dieser neueren Beispiele sollen hier im Lichte der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der Literatur mit dem Ziel erörtert werden, die Grenze zwischen rechtmäßigen und nichtrechtmäßigen Protest-formen herauszuarbeiten und zu verdeutlichen. Natürlich ist die konkrete Entscheidung des Einzelfalles nicht vorwegnehmbar, wohl aber lassen sich einige generelle Orientierungspunkte herausstellen, die dazu beitragen können, bestehende Ungewißheiten und Unsicherheiten zu zerstreuen.
Die Verwirrung bei der Interpretation der Grenzen der Demonstrationsfreiheit geht zu einem nicht geringen Teil auf die dargestellten Lehren von der „strukturellen Gewalt“ und vom „zivilen Ungehorsam" zurück. Die zuerst genannte Theorie stellt den herkömmlichen Friedens-und Gewaltbegriff radikal in Frage und verunsichert eine Vielzahl von Bürgern durch die revolutionäre Aufforderung zur „Gegen-Gewalt", wodurch alle Gren-zen zwischen Recht und Gewalt gesprengt werden. Die Lehre vom „zivilen Ungehorsam" hingegen verwischt die Grenzen zwischen Grundrechtsausübung und Inanspruchnahme des Widerstandsrechts mit dem strategischen Ziel, die Hemmungen der Bürger gegen eine Grundrechtsbetätigung mit radikalen Mitteln und in verletzenden Formen abzubauen. Demgegenüber gilt es, die Demonstrationsfreiheit und ihre Grenzen ausschließlich vom Boden des geltenden Rechts aus zu beleuchten und wieder stärker ins Bewußtsein zu rücken.
Der hohe Stellenwert, welcher der Demonstrationsfreiheit in der parlamentarischen Demokratie der Gegenwart zukommt, ist in Rechtsprechung und Literatur unbestritten. Die kollektive Meinungskundgabe und über sie auch die kollektive Meinungsbildung sind für die öffentliche Diskussion im demokratischen Willensbildungsverfahren unverzichtbar. Eine freie geistige Auseinandersetzung, wie sie das Grundgesetz intendiert, ist allerdings nur gewährleistet, wenn Gewalt und Zwang als Mittel des Meinungskampfes ausgeschlossenbleiben. Der Bundesgerichtshof hat dies besonders eindringlich herausgestellt: „Sinn und Zweck der Demonstrationsfreiheit werden ... jedenfalls dann verfehlt, wenn die kollektive Meinungs-oder Willensäußerung ihr Ziel mit Hilfe eines auf Unterlassung fremder Meinungsäußerung gerichteten unmittelbaren Zwanges zu erreichen sucht." Und noch entschiedener: „Der strikte Ausschluß jeder Form von Gewalt im Raume des öffentlichen Lebens bei der Austragung von Meinungsverschiedenheiten ist ein elementarer Verfassungsgrundsatz."
Daraus ergibt sich, daß alle Arten von Gegen-demonstrationen mit dem erklärten Ziel, die gegnerische Veranstaltung zu stören, um dieser die Möglichkeit zur Einwirkung auf das Publikum zu nehmen oder zu erschweren, von der Demonstrationsfreiheit des Grundgesetzes nicht gedeckt sind. So hat der Bundesgerichtshof z. B. die Berufung auf Art. 8 GG für eine Demonstration zur Verhinderung der Auslieferung einer Zeitung ausdrücklich ausgeschlossen
Als zentrales Abgrenzungskriterium der grundgesetzlich geschützten von den nichtgeschützten Demonstrationen erweist sich dei Begriff der Friedlichkeit, noch genauer: der der Gewalt. Dieser wird nach heute überwiegender Auffassung als gezielter und unmittelbar angewendeter Zwang verstanden, der sowohl von physischer Gewalt ausgehen kann als auch von psychischem Druck, der für die Bedrohten als unwiderstehlich erscheint Unfriedlich sind daher in der Regel alle Arten von Blockaden von Straßen, Plätzen, Schienenwegen und Häfen, die Umzingelungen von Gebäuden und Grundstücken sowie die Besetzungen von Häusern, Plätzen und Grundstücken, weil diese Aktionen mit physischer Gewalt oder mit psychischem Zwang verbunden sind. Daran ändern auch die Beteuerungen von Demonstrationsveranstaltern nichts, es handele sich um „gewaltfreie Aktionen". Diese den wahren Sachverhalt vernebelnde Bezeichnung, die auf Vorstellungen der Lehren von der „strukturellen Gewalt" und vom „zivilen Ungehorsam“ fußt ignoriert den Gewaltbegriff der geltenden Rechtsordnung und ist deshalb für eine rechtliche Betrachtung unbrauchbar. Was sich hinter der Bezeichnung „gewaltfreie Aktionen'wirklich verbirgt, dokumentiert — stellvertretend für andere Belegstellen — in frappanter Offenheit das Landesprogramm der Hessischen „Grünen" „Gewaltfreiheit bedeutet keineswegs die Passivität der Betroffenen, sondern einen aktiven Einsatz gegen Gewalt-strukturen und eine sich verselbständigende Herrschaftsordnung, wobei unter Umständen auch Widerstand gegen staatliche Maßnahmen nicht nur legitim, sondern auch erforderlich sein kann. Gewaltfreiheit schließt in jedem Fall die Verletzung von Personen aus.“ Besser läßt sich kaum beweisen, daß „gewaltfreie Aktionen" nicht auf Gewaltanwendung, jedenfalls gegen Sachen, verzichten. Andererseits gibt es eine Reihe neuerer Demonstrationsformen, die grundsätzlich friedlichen Charakter tragen, soweit nicht durch Besonderheiten des Einzelfalles, etwa durch Mitführen von Waffen oder durch einen aufrührerischen oder gewalttätigen Verlauf der Veranstaltung, die Friedlichkeit ausgeschlossen wird und damit der Schutz des Art 8 GG entfällt. So sind Fastenaktionen und Mahnm- chen, soweit damit keine Blockaden verbunden sind, grundsätzlich ebenso durch die Demonstrationsfreiheit geschützt wie Menschenketten von einem Ort zu einem anderen, sofern von ihnen keine physische Gewalt und kein unmittelbarer psychischer Druck auf andere ausgeht. Vorführungen, z. B. einer imitierten Waffenübergabe oder einer simulierten Lage nach einem Atomangriff, können durchaus friedlich dargeboten werden und genießen insoweit den Schutz der Demonstrationsfreiheit. Von der zur Zeit viel erörterten passiven Bewaffnung von Demonstrationstejlnehmern ist schon kurz die Rede gewesen Wer Schutz-helme, Schutzbrillen oder Gasmasken mit sich führt, trägt noch keine Waffen im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG, wohl aber kann darin ein Indiz für beabsichtigte Gewalttätigkeiten und damit für eine unfriedlich verlaufende Demonstration gesehen werden. Gleiches gilt für die umstrittenen Vermummungen von Demonstranten. Ergibt sich in diesen Fällen nach den konkreten Umständen, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit risikofreie Rechtsbrüche ermöglicht werden sollen, so ist die Demonstration bei drohender Gewalttätigkeit von vornherein nicht friedlich und damit durch Art. 8 GG nicht geschützt. In anderen Fällen kann die Polizei nur eingreifen, wenn es im Laufe der Demonstration zu Gewalttätigkeiten kommt
Die Beurteilung der neueren Arten und Formen des Bürgerprotestes kann nur — entsprechend dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz — für alle Bürger gleich sein, das heißt ohne Ansehen der Person erfolgen. Es mutet daher merkwürdig an, wenn in jüngster Zeit einzelne Gruppen der gegenwärtigen Protestbewegung sich darum bemühen, mit Polizeidienststellen darüber zu „verhandeln", wie weit geplante Protestaktionen von der Polizei toleriert würden und wie weit sich die „Grauzone gewaltfreier Aktionen" ausdehnen ließe. Hier sollen offenbar klare Aufträge des Gesetzes im „Verhandlungswege" interpretiert, wenn nicht in Teilen zur Disposition gestellt werden um eines fragwürdigen Erfolges vermeintlicher Befriedigung wegen. Bei der Sicherung der Rechtsordnung darf niemand für sich Sonderkonditionen beanspruchen; der Rechtsstaat muß um seiner Glaubhaftigkeit willen allen diesen Versuchen mit Entschiedenheit entgegentreten. Die staatliche Friedensbewahrung ist und bleibt die Grundlage dauerhafter Freiheit aller Bürger.