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Rückblick und Ausblick auf Abschreckungspolitik | APuZ 38/1983 | bpb.de

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APuZ 38/1983 Artikel 1 Die Bundesrepublik Deutschland und das Nordatlantische Bündnis Vorrang für Vertragspolitik. Zum Problem von Nuklearwaffen in Europa Warum Nachrüstung? Rückblick und Ausblick auf Abschreckungspolitik

Rückblick und Ausblick auf Abschreckungspolitik

Dieter Senghaas

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Abschreckungspolitik auf der Grundlage von Massenvernichtungsmitteln enthält ein hohes Eskalations-und Selbstvernichtungsrisiko. Auf Grund ihrer denkbaren Folgewirkungen führt sie in der Regel zu einem erheblichen Maß an Selbstabschreckung. Um glaubwürdig wirksam sein zu können, stellt sich deshalb das Problem, wie diese Selbstabschrekkung bewältigt werden kann. In der Entwicklungsgeschichte der Abschreckungspolitik führte diese Problematik zur Herausbildung abgestufter Einsatzoptionen und damit zu Planungen über begrenzte und gezielte Einsätze von Nuklearwaffen als Mittel der Abschreckung. Es werden langfristige Entwicklungstrends der Abschreckungspolitik nach-gezeichnet: die Herausbildung der vielfältigen Doktrinen über den abgestuften Gebrauch der Gewalt und entsprechender Waffenpotentiale. Weiterhin wird nach den Chancen einer sogenannten minimalen Abschreckung gefragt (Vergeltungs-Abschreckung). Prognostiziert wird eine weitere Entwicklung in Richtung auf verfeinerte und abgestufte Einsatzoptionen. Damit scheint die weitere Militarisierung des Ost-West-Konfliktes vorgezeichnet zu sein; die Chancen einer wirksamen Rüstungskontrolle werden skeptisch beurteilt. Es ist unwahrscheinlich, daß Abschreckungspolitik die Rolle einer „Übergangsstrategie" annehmen wird.

I. Abschreckung — Selbstabschreckung — Kriegführungsoptionen

In der Abschreckungspolitik wird von denkbaren und für wahrscheinlich gehaltenen Aggressionsabsichten eines potentiellen Gegners ausgegangen; durch die Androhung empfindlicher, nicht kalkulierbarer und tendenziell schnell eskalierender Vergeltungsmaßnahmen mit Nuklearwaffen sollen solche Absichten von vornherein durchkreuzt werden. In Abschreckungsdoktrinen werden deshalb das hohe Eskalationsrisiko und die Verringerung der Wahrscheinlichkeit eines großen Krieges in einen direkten Zusammenhang gebracht Im übrigen — so wird argumentiert — verbiete die kaum vorstellbare Zerstörungswirkung von nuklearen Abschreckungswaffen ihren Einsatz als militärische Instrumente, mit denen Kriege geführt und ggf. gewonnen werden könnten. Ihr einziger Nutzen bestünde eben im Nichteinsatz, weshalb Nuklearwaffen „politische Waffen" seien. Darin läge ein der Öffentlichkeit nur schwer zu vermittelndes Paradoxon, zumal es keine moralische Rechtfertigung für den tatsächlichen Einsatz von nuklearen Massenvernichtungsmitteln gäbe, während die Androhung des Einsatzes solcher Zerstörungspotentiale als Mittel der Kriegsverhütung (noch) ethisch zu rechtfertigen sei.

In einer der ersten Abhandlungen zur Abschreckungsproblematik ist in diesem Sinne schon 1946 nachzulesen: „Thus far the chief purpose of our military establishment has been to win wars. From now on its chief pur-pose must be to avert them. It can have almost no other useful purpose.“

Und 1982 schrieb ein langjähriger Verfechter von Abschreckungspolitik im selben Sinne: „Die Atomwaffen sind politische Waffen. Ost und West sind sich einig, daß sie nicht eingesetzt werden dürfen. Man kann nur mit ihrem Einsatz drohen. Und diese Drohung hat abschreckende Kraft. Sie ist beinahe eine mythi-sehe Macht. Die These von der unfehlbaren Wirkung der atomaren Drohung ist eine Hypothese, eine erdachte Vorstellung, eine konstruierte Idee. Niemand kann beweisen, daß sie vor der Wirklichkeit bestehen wird. Aber der Gedanke, daß man einen Gegner mit der nuklearen Drohung daran hindern kann, anzugreifen, hat Verführungskraft. Hier werden sowohl das Gefühl als auch der Verstand angesprochen. Atomstrategie ist deshalb so etwas wie die Dialektik zwischen dem Verstand und dem Irrationalen, ein Wettkampf zwischen Vernunft und Unvernunft, bei dem die Chance, vernünftig zu reagieren, groß ist.“ Die Drohung mit dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln aus Gründen der Kriegs-verhütung führt in der Abschreckungspolitik jedoch zu einem grundlegenden Dilemma. In einer asymmetrischen Abschreckungssituation, in der eine Seite über vernichtende Vergeltungswaffen verfügt, die andere nicht, setzt die Androhung des Einsatzes massenmörderischer Zerstörungspotentiale eine historisch beispiellose moralische Skrupellosigkeit voraus, die eigentlich nur bei terroristischen Regimen unterstellt werden kann. Und in einer symmetrischen Ausgangslage, in der beide Seiten die Fähigkeit zur Vergeltung besitzen, enthält die Eskalationsdrohung immer auch ein hohes Selbstvernichtungsrisiko. Denn sollte unter dieser Bedingung Abschreckung fehlschlagen, würden militärische Vergeltungsschläge zu selbstmörderischen Strafaktionen ausarten — oder aber zuvor die Bereitschaft zur Kapitulation wecken. Von Grenzfällen terroristischer Regime abgesehen, dürfte im Regelfall von den technischen Fähigkeiten zur Abschreckung mit Massenvernichtungsmitteln ein politischer und psychologischer Effekt der Selbstabschreckung ausgehen, weshalb die „Glaubwürdigkeitslücke von Abschreckungspolitik von praktischer Bedeutung ist , Seit der Existenz der „absoluten Waffe" blieb dieser Sachverhalt Theoretikern und Praktikern der internationalen Politik nicht verborgen. Schon in den späten fünfziger Jahren hatte Kissinger in seiner klassischen Studie über Kernwaffen und auswärtige Politik, in der eine mehrjährige grundlegende Debatte aufgearbeitet wurde, dazu folgendes geschrieben: „Je unheilvoller die Folgen des totalen Krieges sein müssen, desto mehr werden die verantwortlichen politischen Führer vor Gewaltmaßnahmen zurückschrecken. Sie werden sich vielleicht zwecks Abschreckung auf unsere totale Einsatzfähigkeit berufen, als Strategie für die Kriegführung aber vor ihr zurückscheuen."

Und 1970 hieß es im „Foreign Policy Report" des amerikanischen Präsidenten Nixon, deutlich die Handschrift Kissingers verratend: „Soll einem Präsidenten im Falle eines nuklearen Angriffs als einzige Wahl der Befehl zur Massenvernichtung der Zivilbevölkerung des Gegners bleiben, angesichts der Gewißheit, daß darauf ein Massenschlag der Amerikaner folgen würde? Sollte die Konzeption von einer garantierten Vernichtung im engsten begrifflichen Sinne verstanden werden, und sollte sie der einzige Maßstab für unsere Fähigkeit sein, vor der Vielfalt der Bedrohungen, denen wir uns gegenübersehen können, abzuschrecken?"

Und wiederum wird dieselbe Problematik, wie übrigens zu vielen anderen Gelegenheiten seit 1945, im „Foreign Policy Report" von 1971 angesprochen: „Die unterschiedslose Massenvernichtung von Zivilisten auf der Gegenseite darf mir und meinen Nachfolgern nicht als die einzige mögliche Antwort auf Herausforderungen verbleiben. Das gilt besonders für den Fall, daß eine solche Antwort die Wahrscheinlichkeit in sich birgt, einen nuklearen Angriff auf unsere eigene Bevölkerung auszulösen."

Nuklearwaffen vermitteln also den über sie verfügbaren politischen Instanzen nicht nur Machtfülle und eine historisch beispiellose Vernichtungskraft; die Größe und Ungeheuerlichkeit des Zerstörungspotentials wirken sich auf Willensbildungs-und Entscheidungsprozesse lähmend aus; ein Einsatz von Nuklearwaffen erscheint auf Grund aller voraussehbaren abträglichen Folgen als unwahrscheinlich. So kann die Existenz von Massenvernichtungsmitteln dazu führen, daß die über sie verfügenden politischen Instanzen in eine Lage der politischen Ohnmacht hineinmanövriert werden: Sie werden dann, insofern der Militärapparat nicht mehr als Druckmittel und als einsetzbares Instrument benutzt werden kann, eines ihrer klassischen Instrumente zur Durchsetzung eigener Interessen beraubt. Und damit wird, trotz anhaltender internationaler Konflikte und Herausforderungen unterschiedlichen Intensitätsgrades, das traditionelle Verhältnis von auswärtiger Politik und militärischer Gewalt in Frage gestellt. Denn vor der Existenz von Nuklearwaffen ließen sich ggf. begrenzte politische Ziele durch begrenzte kriegerische Aktionen bei einem begrenzten Mittelaufwand erfolgreich durchsetzen. Da trotz Nuklearwaffen die internationale Politik weiterhin von Interessenkonflikten durchsetzt ist und Staaten auf die gewaltsame Durchsetzung eigener Interessen nicht verzichten wollen, stellt sich in Theorie und Praxis die entscheidende Frage: „Ist es möglich, sich eine Anwendung von Gewalt vorzustellen, die weniger katastrophal ist als ein thermonuklearer Krieg?"

Nicht nur das traditionelle Verständnis von Politik und militärischer Gewalt führte zu dieser Frage; sie drängte sich auch aus dem Blickwinkel traditioneller Ethik auf; zu deren herkömmlichen Prinzipien gehört die Beachtung der Verhältnismäßigkeit der Mittel bei der Durchsetzung politischer Zwecke sowie im Falle unausweichlicher kriegerischer Auseinandersetzungen die Unterscheidbarkeit von Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Der durch Abschreckungspolitik angedrohte Massenmord widerspricht in jeder Hinsicht den Prinzipien traditioneller Ethik, die auf eine Eingrenzung und Eindämmung kriegeri-scher Gewalt ausgerichtet sind, so wie nukleare Vergeltungs-Abschreckung auch den mühsam erkämpften Errungenschaften des Kriegsvölkerrechts widerspricht, solange nicht ausgeschlossen werden kann, daß Abschreckung fehlschlägt. Von letzterer Möglichkeit muß eine verantwortungsbewußte Politik ausgehen, denn einen möglichen Fehlschlag von Abschreckungspolitik zu leugnen, wäre eine rein gesinnungsethische Haltung, da niemand den Nachweis führen kann, daß Abschreckungspolitik unter allen Umständen auch in Zukunft anhaltend kriegsverhütend wirken wird.

Mögen ethische und völkerrechtliche Skrupel in der politischen Praxis nicht immer von ausschlaggebender Bedeutung sein, so wurde gerade unter realpolitischen Gesichtspunkten nach 1945 das Problem der Selbstabschrekkung immer wieder als äußerst ernst dargelegt Das hat dazu geführt, Pläne über Waffen-potentiale zu entwickeln, die es ermöglichen, „einen mittleren Gebrauch von Gewalt erneut gebührend in Betracht zu ziehen" sei es vermittels eines glaubwürdigen militärischen Drohpotentials, sei es vermittels eines ggf. wirklich in kriegerischen Auseinandersetzungen einsetzbaren Militärapparates.

So gibt es einen zweifachen sachlogischen Zusammenhang: einmal den zwischen Abschreckung mit Massenvernichtungsmitteln und Selbstabschreckung, zum anderen denjenigen zwischen den Bemühungen zur Bewältigung von Selbstabschreckung und den planerischen und praktischen Vorbereitungen für Optionen abgestufter nuklearer und nicht-nuklearer Kriegführung. Mit solchen Bemühungen allerdings entsteht in der Abschrekkungspolitik ein neues Dilemma, da durch die Aufgliederung und Abstufung des nuklearen Militärpotentials möglicherweise der den Nuklearwaffen zugeschriebene allgemeine Abschreckungseffekt verlorengeht, weil bei einer Verringerung des Eskalationsrisikos und bei einer Abschwächung des Selbstvernichtungsrisikos aus „politischen Waffen" erneut Instrumente der Kriegführung, jetzt allerdings der nuklearen Kriegführung, zu werden drohen.

Auf dem Hintergrund der aufgezeigten Pr blematik wird verständlich, warum in der Al schreckungsdiskussion von Anfang an, wen ‘auch zu verschiedenen Zeiten unterschiec lieh intensiv, nach Möglichkeiten des milita risch begrenzten und gezielten Einsatzes vo Nuklearwaffen gesucht wurde. Ohne Berück sichtigung der vielfältigen Versuche, Selbst abschreckung zu bewältigen, ist weder di langfristige Entwicklungsdynamik der At schreckungspolitik noch die Auseinanderset zung über einzelne Varianten von Abschrek kungsmaßnahmen verständlich. Der Such nach abgestuften und begrenzten Formei nuklearer (und auch nicht-nuklearer) Krieg führung mußte in der Abschreckungspolitil eine hohe Priorität zukommen, weil es nacl vorherrschendem realpolitischem Verstand nis galt, politischen Manövrierraum zu gewin nen. „Die Seite, die ihre Interessen nur durd die Drohung, die gegenseitige Vernichtun von Zivilisten einzuleiten, verteidigen kann wird nach und nach auf eine strategische unc deshalb geopolitische Lähmung zuschlit tern."

Dem entgegenzuwirken, gilt die Ausdifferenzierung und qualitative Weiterentwicklung des nuklearen Zerstörungspotentials. Und die Suche nach plausiblen Szenarien abgestufter nuklearer Kriegführung wird solange die weitere Entwicklung von Abschreckungspolitik bestimmen, als in ihr mit dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln gedroht wird.

Diese Aussage gilt gerade auch unter den Bedingungen wechselseitig unzerstörbarer Zweitschlagskapazitäten, die, weil sie sich gegenseitig neutralisieren, besondere Anreize für einen Rüstungswettlauf hinsichtlich von Kriegführungsoptionen entstehen lassen.

Die Vorstellung, der Trend zu nuklearen Kriegführungsoptionen sei ein Spätprodukt von Abschreckungspolitik, gehört zu den zumindest in der breiten Öffentlichkeit kaum auflösbaren Mythen von Abschreckungspolitik. Wenngleich in den siebziger und achtziger Jahren eine deutlichere Akzentuierung in Richtung auf Kriegführungs-Abschreckung zu beobachten ist, wurde Abschreckungspolitik in den fünfziger und sechziger Jahren keines- von den Prinzipien einer auf massen-hafte Vernichtung angelegten Vergeltungswegs geprägt

II. Von der „Konventionalisierung" der Nuklearstrategie zur Sieg-Perspektive

Im Westen ist in der Abschreckungsdiskussion und in den entsprechenden Einsatzplanungen eine klare Stufenfolge in der Ausdifferenzierung der Doktrinen über den abgestuften Gebrauch von Nuklearwaffen zu beobachten

1. Schon vor der Doktrin der massiven Vergeltung (1954), mit der gewöhnlich die Vorstellung einer reinen Vergeltungs-Abschrekkung assoziiert wird, hat es Pläne über „begrenzte Nuklear-Schläge zu Demonstrationszwecken" gegeben, und selbst einer der Väter der Abschreckungsdoktrin, der seit 1945 relativ beharrlich die These vertreten hat, der Nutzen von Nuklearwaffen würde in ihrem Nicht-Einsatz bestehen, also in ihrer Funktion als politische Waffen, sah sich in den frühen fünfziger Jahren veranlaßt, gegebenenfalls kleine Nuklear-Schläge als Mittel zur frühzeitigen Beendigung konventioneller Kriege zu empfehlen Seine Überlegung widersprach der damals vorherrschenden Meinung, Nu-klearwaffen müßten schnell, auf breiter Front und massiv eingesetzt werden, um den potentiellen Gegner als eine lebensfähige Gesellschaft auszuschalten.

2. Es ist nicht zufällig, daß die Diskussion über die Rolle und Funktion taktischer Nuklearwaffen innerhalb des Abschreckungsspektrums an Boden gewann, als das Konzept massiver Vergeltung zur Direktive der Nuklear-Strategieerhoben wurde (1954). Denn diese Doktrin war hinsichtlich begrenzter Konfliktfälle wenig überzeugend und kaum glaubwürdig.

Mit der Einführung von taktischen Nuklearwaffen in das Abschreckungsspektrum gegen Ende der fünfziger Jahre wurde auch die Vorstellung, der Nuklearkrieg sei nur als ein einziger großer Vernichtungsschlag vorstellbar, ad acta gelegt. Damit wurden Entwicklungen verstärkt, die auf der nuklearstrategischen Ebene schon angelegt waren und die auf dieser Ebene an der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren eine deutliche Reakzentuierung erfuhren.

3. In Nachfolge der frühen Szenarien über begrenzte Nuklear-Schläge („limited strike strategy")

der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre müssen die in der wissenschaftlichen Diskussion schon in den fünfziger Jahren und in der politischen Selbstdarstellung seit den frühen sechziger Jahren artikulierten counter-force-Doktrinen gesehen werden, d. h. jene Doktrinen, die den abgestuften Einsatz von nuklearstrategischen Potentialen gegen militärische Ziele des potentiellen Gegners vorsahen. Solche Doktrinen, die seit den frühen sechziger Jahren in vielen Varianten formuliert worden sind, lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Ihr Ziel ist es, „begrenzte nukleare Einsatzoptionen" gegen militärisch relevante Objekte außerhalb der urban-industriellen Bevölkerungszentren ausfindig zu machen Zwischenzeitlich wurden auch große industrielle Anlagen als wichtige Ziele von nuklearstrategischen Einsätzen benannt (counter-recovery). über Zeit betrachtet waren die Zielplanungen weit konstanter, als es eine wechselhafte Abschreckungsrhetorik gerade hinsichtlich von counter-force-Optionen vermuten läßt. Den Auftakt zu einer ganzen Reihe von unterschiedlich akzentuierten counter-forceDoktrinen bildeten zu Beginn der sechziger Jahre nuklearstrategische Einsatzpläne, deren Ziel es war, durch die Beseitigung eines möglichst großen Teils der gegnerischen Vergeltungsstreitkräfte den Schaden zu begrenzen, der bei einem unvermeidbar gewordenen Nuklearkrieg auf der eigenen Seite entstehen würde (damage limitation) Schon damals war klar, daß eine solche defensiv gemeinte, aber nur offensiv verwendbare counter-forceOption letzten Endes in der Herausbildung einer Erstschlagskapazität enden würde und daß allein schon der Trend in eine solche Richtung zu einem endlosen Rüstungswettlauf beider Seiten führen würde Um einer solchen Ausweitung von nuklearen Potentialen, die damals schon unzweifelhaft als Instrumente der nuklearen Kriegführung verstanden wurden, entgegenzuwirken, sollten um die Mitte der sechziger Jahre mit Hilfe der Doktrin der gesicherten Zweitschlagskapazität Kriterien für sinnvolle Obergrenzen von Rüstungsvorhaben festgelegt werden So kam es zu numerischen Plafonds bei den Trägersystemen, die dann mit geringen Veränderungen im SALT-I-Abkommen festgeschrieben wurden. Tatsächlich zeigt aber die Entwicklung der nuklearstrategischen Potentiale seit Mitte der sechziger Jahre, daß die weitere Suche nach Ausdifferenzierungen eines für einsetzbar gehaltenen Nuklearpotentials ununterbrochen weiterging und schließlich auch im waffentechnologischen Durchbruch zur Mehrfach-Sprengkopf-Technologie (MIRV) zu einem folgenschweren Ergebnis führte.

Die mit dieser Waffentechnologie einsetzende Vervielfältigung der nuklearen Sprengköpfe (allein zwischen 1972 und 1974 handelte es sich um einen Zuwachs von 2 000 Sprengköpfen) zwang zu einer Korrektur der Einsatzplanungen, die neu formuliert als sogenannt Schlesinger-Doktrin bekannt wurden. Unter den Prämissen der alten Einsatzplanung bestand nämlich bei vermehrter Zahl von Sprengköpfen die Gefahr, daß jeder als begrenzt beabsichtigte Einsatz als Eröffnung eines allgemeinen Nuklearkrieges mißverstanden werden konnte So kam es zu einer Einsatzplanung, auf Grund derer die Chance eines selektiven Einsatzes von Nukearsyste. men erhöht und die Wahrscheinlichkeit einer unkontrollierten Eskalation begrenzt werden sollten. Dabei gewann auch die aus den frühen sechziger Jahren stammende Idee einer „intra-war deterrence" erneut an Boden; ihr zufolge sollte es möglich werden, durch den geschickten Einsatz von Nuklearpotentialen während des Kampfgeschehens mit dem Gegner zu kommunizieren.

So wie die Schlesinger-Doktrin als eine Fortschreibung der counter-force-Doktrin der sechziger Jahre verstanden werden kann, so läßt sich die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre formulierte counter-vailing-Strategie (Strategie des Gegengewichts) ihrerseits als eine weitere Fortschreibung der Doktrin ausführbarer und begrenzter Nuklearoptionen („limited nuclear options") begreifen Noch einmal wurde das generelle Ziel dargelegt, für den Fall eines Nuklearkrieges durch die jeweilige Art eines begrenzten und geschickten Einsatzes der eigenen Nuklearwaffen der Gegenseite Signale und Anreize zu vermitteln, ihrerseits die weitere Eskalation eher zu begrenzen als zu intensivieren; aber nach der erklärten Zielsetzung ging es auch darum, ein spezifisches Verhalten auf der Gegenseite zu erzwingen und zu einigermaßen akzeptablen Bedingungen frühzeitig zu einer Beendigung des Krieges zu gelangen. Inwieweit eine solche Kommunikation mit dem Gegner während des Kampfgeschehens überhaupt möglich und eine Erzwingungsstrategieohne weitere dramatische Eskalation durchführbar wäre, blieb in dieser Doktrin, nicht anders als bei ihren Vorläufern, im dunkeln. Und wie sollte es zum Abbruch der Kriegs-handlungen bei einseitig akzeptablen Bedingungen kommen?

4. Auf die in diesen Fragen angesprochenen Schwächen und Inkonsequenzen der verschiedenen Doktrinen „begrenzter Nuklearoptionen" haben neuere Beiträge zur nuklearstrategischen Diskussion aufmerksam gemacht die dabei artikulierte Kritik führte nicht ohne Konsequenz zu der Doktrin eines „führbaren, lang anhaltenden und gewinnbaren Nuklearkrieges" Erst in dieser letzten Phase der Abschreckungsdiskussion ist es zu einer Politisierung der öffentlichen Diskussion über die Nuklearstrategie gekommen, wobei nicht so sehr überraschend ist, daß nunmehr militärstrategische Überlegungen und Planungen in Richtung auf einen führbaren, lang anhaltenden und gewinnbaren Nuklearkrieg hinzielen, sondern daß die Öffentlichkeit in den vergangenen dreißig Jahren Abschreckung offensichtlich immer als „Vernichtungs-oder Vergeltungs-Abschreckung" begriffen und damit den eigentlichen Entwicklungstrend von Abschreckungspolitik, die schrittweise Ausdifferenzierung der nuklearen Kriegführungs-Optionen, nicht wahrgenommen hat.

Alle Versuche, abgestufte Einsatzmöglichkeiten für Nuklearwaffen ausfindig zu machen sowie entsprechende Planungen und Beschaffungsprogramme zu verwirklichen, gehen von bestimmten gemeisamen Prinzipien aus

1. Von der Annahme der selektiven Verwendbarkeit von Nuklearwaffen. Diese Annahme kommt allein schon durch die häufige Verwendung spezifischer Begriffe in der einschlägigen militärstrategischen und politischen Diksussion zum Ausdruck. Danach sollen Nuklearwaffen „maßgeschneidert" (tailored), „chirurgisch“ (surgical), „flexibel", „diskriminierend", „gezielt" verwendet werden können.

2. Von der Proportionalität von politischem Ziel und militärischem Aufwand. Die Doktrinen der „begrenzten Nuklearoptionen" haben zum Ziel, ein breites Spektrum von Eventualfällen abzudecken, ganz begrenzte Auseinandersetzungen ebensosehr wie solche mittlerer oder höherer Intensität.

3. Von der Annahme der Begrenzbarkeit der Eskalationsdynamik und damit von einer als realistisch unterstellten Chance der Eskalationskontrolle. Sie soll es ermöglichen, durch geschickten Einsatz der Waffensysteme die militärischen Zielsetzungen des Gegners und seine Erfolgsaussichten zu durchkreuzen („denial"), aber auch unverhältnismäßige Bestrafungs-und Vergeltungsaktionen („indiscriminate punishment", „retaliation") zu vermeiden. 4. Von, der Annahme, daß eine geschickte Inszenierung eines abgestuft eingesetzten Nuklearpotentials nicht nur Eskalationskontrolle, sondern auch eine Eskalationsdominanz, d. h. eine erfolgreiche Beendigung kriegerischer Auseinandersetzungen nach eigenen Bedingungen und zu eigenen Gunsten ermöglicht, was voraussetzt, daß sich weitere Handlungsoptionen der Gegenseite durchkreuzen lassen.

Es muß betont werden, daß diese Prinzipien für begrenzte Nuklearoptionen und begrenzte Nuklearoperationen nicht ein Ergebnis nur der allerneuesten nuklearstrategischen Diskussion sind, sondern schon in den sicherheitspolitischen Debatten der fünziger und sechziger Jahre eine zentrale Rolle spielten. Genau besehen, sind seit der Mitte der sechziger Jahre in der nuklearstrategischen Diskussion, ja in der Militärstrategie insgesamt, keine grundlegend neuen Ideen aufgekommen. Die verschiedenen denkmöglichen Varianten von counter-force-Optionen für strategische und taktische Nuklearwaffen waren ohne Ausnahme in der nuklearstrategischen Diskussion zwischen 1955 und 1965 schritt-weise erarbeitet worden. Manche offiziellen Dokumente sind hierfür ein beredtes Zeugnis; noch mehr gilt dies für die damalige, in einem engen Zusammenhang mit politischen Entscheidungsprozessen stehende akademische Diskussion über Nuklearstrategie und einige aus ihr hervorgegangene grundlegende Veröffentlichungen So thematisierte schon 1965 Herman Kahn in seiner Studie über die Eskalation 23 nach Umfang und Intensität abgestufte Szenarien f nach Umfang und Intensität abgestufte Szenarien für die Verwendung nuklearer Zerstörungspotentiale innerhalb einer insgesamt 44sprossigen Eskalationsleiter 22). Seine Darstellung faßte eine zehnjährige militärstrategische Diskussion zusammen, in der folgenschwer der Nuklearkrieg immer weniger als Holocaust und immer mehr als Krieg, in dem man verlieren oder auch’ obsiegen konnte, verstanden wurde 23).

Dieser Trend, einen Nuklearkrieg wie jeden bisherigen Krieg zu begreifen und damit das „Undenkbare zu denken" (Kahn), kann auch als „Konventionalisierung“ der Nuklearstrategie interpretiert werden. Schon 1962 hieß es in einem offziellen Statement: „Die USA sind zu dem Schluß gekommen, daß, soweit möglich, die grundlegende Militärstrategie in einem möglichen allgemeinen Nuklearkrieg auf dieselbe Weise gehandhabt werden sollte, wie eher konventionelle militärische Operationen in der Vergangenheit betrachtet worden sind. D. h., die erstrangigen militärischen Ziele sollten für den Fall eines Nuklearkrieges, der aus einem Angriff auf die Allianz resultiert, in der Zerstörung der militärischen Streitkräfte des Feindes und nicht seiner Zivilbevölkerung liegen."

Eine Konventionalisierung der Nuklearstrategie beinhaltet, herkömmliche militärische Kategorien, mit denen konventionelle Kriege betrachtet, geplant und durchgeführt wurden, auf den Nuklearkrieg zu übertragen. Eine solche Orientierung mußte langfristig zu einer von den Prämissen einer Vergeltungsabschreckung nicht ableitbaren Renaissance von Konzeptionen wie militärisches Gleichgewicht, Überlegenheit oder Unterlegenheit führen. Und sie hat auch dazu beigetragen, daß militärischer Sieg und militärische Niederlage wieder zu für relevant gehaltenen operativen Kategorien wurden

Als Amerika zeitweilig ein Monopol an Nuklearwaffen und weitreichenden Trägersystemen besaß, auch als es für kurze Zeit allein über eine relativ gesicherte Zweitschlagskapazität plus counter-force-Potentialen verfügte, lag eine solche Konventionalisierung der Nuklearstrategie nahe. Bemerkenswerterweise hat aber die wirkliche Konventionalisierung des nuklearstrategischen Denkens erst mit der Existenz von wechselseitig gesicherten Zweitschlagskapazitäten einen enormen Aufschwung genommen, ging es doch nunmehr darum, in den militärischen Planungen die Möglichkeit und die Gefahren eines auf landgebundene Nuklearsysteme konzentrierten Schlagabtausches zu berücksichtigen. Mögen einschlägige Erstschlagsszenarien als politisch wahnwitzig und unwahrscheinlich und als militärisch bizarr anmuten, so hindert das nicht daran, daß sie den neuesten Militär-planungen, insbesondere den forcierten counter-force-Aufrüstungsschüben, zugrunde liegen.

Bei aller erheblichen Kontinuität in den Grundzügen der Abschreckungspolitik, die an früherer Stelle betont wurde, wurden erst in neueren Beiträgen die Implikationen einer offensiv auf Kriegführungs-Abschreckung angelegten Nuklearstrategie offen artikuliert Noch McNamara warnte zu Beginn der sechziger Jahre in einem inzwischen veröffentlichen Geheimdokument den damaligen amerikanischen Präsidenten vor den Wünschen der amerikanischen Luftwaffe, sich eine Erstschlagsfähigkeit zuzulegen (McNamara: „Ich fürchte mich heute, das verdammte Ding auch nur zu lesen") Die Schlesinger-Doktrin und die Doktrin des Gegengewichts (counter-vailing strategy, PD 59-Dokument) betonen noch den reaktiv-defensiven Charakter der begrenzten Nuklearoperationen für den Fall eines Nuklearkrieges bzw. die Selbstkontrolle und Selbstbegrenzungen für den Fall eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen Aber auch eine auf die teilweise Vernichtung der gegnerischen Nuklearwaffen und Einsatzsysteme gerichtete counter-force-Strategie führte zwangsläufig dazu, eigene Systeme gegen die gegnerischen Militärprotentiale einzusetzen, ehe diese die eigenen auslöschen könnten. Auch wenn keine Absichten für einen Praventivschlag vorliegen sollten, muß doch unter den Bedingungen einer sich zuspitzenden weltpolitischen Krise bei entsprechenden counter-force-Planungen die Gefahr eines Präventivschlages in Rechnung gestellt werden, wodurch bei Existenz verwundbarer Systeme ein fast automatisch sich einstellender Zwang zu einem vorwegnehmenden Schlag entsteht (Präemptiv-Schlag)

„Counter-force und nuklearer Erstschlag hängen wechselseitig voneinander ab. Ein Erst-schlag impliziert eine counter-force-Zielfestlegung, denn der einzige anfängliche Angriff, welcher Sinn macht, besteht in einem schadenbegrenzenden Schlag, nämlich der Zerstörung eines größtmöglichen Teils der nuklearen Streitmacht des Gegners. Und die counter-force-Zielvorgabe impliziert ihrerseits einen Erstschlag, nämlich einen präemptiven Schlag, weil ein Zweitschlag gegen die Raketen des Gegners in dem Maße nutzlos ist, als die eigenen Raketen leere Löcher treffen würden."

Wenn also bei counter-force-Optionen Kriterien für Obergrenzen unbestimmt bleiben, muß der Aufbau einer Erstschlagskapazität befürchtet werden, und schon diese Furcht allein reicht aus, neue Rüstungsschübe auszulösen.

Hinzu kommt, daß — wie in neueren Abhandlungen über Kriegführungs-Abschreckung betont wurde — begrenzte nukleare Optionen nur bei strategischer Überlegenheit praktisch sinnvoll sind Denn anderenfalls müßten sich die beiden Kontrahenten auf gemeinsame „Spielregeln" einlassen, weil nur dann Begrenzungen vorstellbar seien. Unter strategischer Überlegenheit wird dabei verstanden, einen Krieg auf jeglicher Intensitätsstufe führen und den Gegner besiegen zu können oder aus einer solchen Auseinandersetzung mit einer großen Chance des schnellen Wiederaufbaus („recovery") hervorzugehen. Die bisherigen Doktrinen und Planungen über begrenzte Nuklearoptionen und begrenzte Nuklearoperationen werden als bloße Anhängsel an Pläne interpretiert, in denen keine Vision darüber entwickelt worden sei, welche politischen Ziele mit einem Nuklearkrieg als Krieg tatsächlich erreicht werden sollten. Was in den früheren Versionen solcher Doktrinen euphemistisch als Eskalations-Dominanz umschrieben wurde, wird hier als ein Problem „kompetitiver Eskalation“ begriffen und damit als eine Angelegenheit von Sieg oder Niederlage. Werden begrenzte Einsätze von Nuklearwaffen bei nicht gegebener strategischer Überlegenheit als sicherer Weg in die Niederlage interpretiert, so führt die Überlegung, daß der begrenzte Einsatz von Nuklearwaffen nur aus einer Position der Stärke heraus sinnvoll ist, unter den Bedingungen weiterhin gesicherter Zweitschlagskapazitäten nicht ohne Konsequenz zum Plädoyer, die politischen Machtzentren des Gegners zu lähmen, ja sie durch gezielte Schläge auszuschalten, das gegnerische System also zu enthaupten („decapitation") und zu zerrütten

Mit solchen Überlegungen wurde die Doktrin der Kriegführungs-Abschreckung auf die Spitze getrieben, und wie häufig in der nuklearstrategischen Diskussion lassen solche Zuspitzungen langfristige Entwicklungstrends des Abschreckungssystems früher und besser erkennen als Verlautbarungen, die aus diplomatischen Gründen Sachverhalte beschönigen

Der dargelegte Entwicklungstrend von der Vernichtungs-Abschreckung zur Kriegführungs-Abschreckung kommt nicht nur in offiziellen Äußerungen und in wissenschaftlichen Darlegungen zum Ausdruck; dem Entwicklungstrend der Abschreckungsdoktrin entsprechen handfeste Entwicklungen in den Militärapparaten. Vier von ihnen sind in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert: — die Vervielfältigung der nuklearstrategischen Trägersysteme und daran anschließend der Waffenköpfe-, — die waffentechnologische Entwicklung in Richtung auf höhere Verläßlichkeit und Genauigkeit der Waffensysteme (Trend zur „absoluten Zielgenauigkeit");

— die Tatsache, daß die nukleare Zielplanung und die Beschaffungsprogramme zu keiner Zeit mit den öffentlich ausgesprochenen deklamatorischen Leitlinien der Abschrekkungspolitik voll übereinstimmten. Die tatsächlichen Zielplanungen waren in erheblichem Maße auf militärische und auch politische Objekte gerichtet, keineswegs — wie eigentlich von der Doktrin gesicherter Zweitschlagskapazität erwartbar — zu allererst auf städtische Zentren;

— die Planungen über neue Beschaffungsvorhaben in den achtziger und frühen neunziger Jahren, die unmißverständlich auf eine weitere Differenzierung und einen weiteren Ausbau der Kriegführungs-Abschreckung hindeuten (weitere Vermehrung der Sprengköpfe; neue ballistische Abwehrsysteme ohne Aufgabe der Offensivsysteme; Ausbau der Potentiale zur Bekämpfung feindlicher U-Boote; Weltraumsysteme; etc.).

III. Läßt sich eine reine Vergeltungs-Abschreckung verwirklichen?

Der Trend zur Kriegführungs-Abschreckung blieb in der strategischen Diskussion nicht unwidersprochen, und jeder neue Rüstungsschub in diese Richtung hat in den vergangenen Jahren eine Grundsatzdiskussion ausgelöst Dieser Sachverhalt kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Wettstreit zwischen der Doktrin gesicherter Zweitschlagskapazitäten (MAD) und counter-forcePositionen in der Praxis zugunsten der Kriegführungs-Abschreckung entschieden wurde. Die wesentlichen Kritikpunkte der Vertreter einer Vergeltungs-Abschreckung (MAD) ge-gen Vorstellungen nuklearer Kriegführung lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Begrenzte nukleare Einsatzoptionen ändern an den grundlegenden Bedingungen wechselseitiger Zerstörungsfähigkeit nichts. Das Selbstvernichtungsrisiko bleibt auf Grund der Größe der Zerstörungspotentiale, ihrer Überfülle (Redundanz) und der nicht zu eliminierenden Eskalationsgefahr bestehen. Durch das Zusammenspiel dieser Faktoren werde der Krieg eher verhindert als durch „Verteidigungsfähigkeiten". Daß kein Nuklearkrieg gewonnen werden könne, sei die entscheidende Ausgangslage, während das Gerede über die Führbarkeit und Gewinnbarkeit des Nuklearkrieges gefährliche Illusionen wecke und Abschreckung entstabilisieren würde.

2. Die Vorstellungen über Eskalationskontrolle und Eskalationsdominanz erschienen zwar logisch und plausibel, in Wirklichkeit seien sie jedoch abstrakt und apolitisch, weil die mit einer effektiven Eskalationskontrolle und Eskalationsdominanz verbundenen praktischen Probleme rhetorisch überspielt würden. Schon der Versuch einer Eskalationskontrolle bei beabsichtigter Eskalationsdominanz sei ein Widerspruch in sich selbst; es gäbe gute Gründe anzunehmen, daß begrenzt beabsichtigte Einsätze vom potentiellen Opfer als der Beginn des allgemeinen Nuklearkrieges interpretiert würden. Auch seien die Kommando-, Kontroll-und Kommunikationssysteme weit weniger verläßlich und widerstandsfähig, als in militärischen Szenarien unterstellt würde; und für völlig abwegig könnten die Annahmen über rationale Willensbildung und Entscheidungsfindung gelten, die den Eskalations-und Deeskalationsszenarien zugrunde liegen. Im übrigen bleibe unerfindlich, warum die Kommunikation zwischen den Gegnern nach Ausbruch des Nuklear-krieges eher möglich sein solle als vor Beginn des Kampfgeschehens — eine Unterstellung, die implizit Eskalationsdoktrinen zugrunde liegt, insbesondere denjenigen, die von der Möglichkeit eines „intra-war bargaining" ausgehen.

3. Betont wird, daß auch mit den gesicherten Zweitschlagskapazitäten Optionen für begrenzte Nukleareinsätze möglich seien, allerdings nur in einem beschränkten Ausmaße, weil ein Übergang zu einer sich ausweitenden counter-force-Position Erstschlagsoptionen impliziere, das Kriegsrisiko erhöhe und Rüstungsschübe ohne plausible Grenzen auslöse. Dadurch würde mehr Verunsicherung geschaffen als Sicherheit.

4. Angesichts dieser Bedingungen sei die Verwirklichung einer „high quality deterrence" so aufwendig wie sinnlos, denn trotz aller entsprechenden Planungen und Vorbereitungen sei nicht auszuschließen, daß in existentiell zugespitzten Situationen, wo weitreichende Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen wären, begrenzte nukleare Optionen und entsprechende Einsatzpotentiale die gleichen Selbstabschreckungseffekte zeitigen würden wie einfache MAD-Potentiale. Dann wäre man aber wieder bei der Ausgangslage angelangt; zurück bliebe ein politischer Scherben-haufen, weil alle konstruktiven Ansätze zu einer polnischen Verständigung (Entspannung, Rüstungskontrolle, ökonomische Kooperation und wissenschaftliche Kommunikation etc.)

zunichte gemacht worden wären.

Trotz dieser Kritik ist die Hinwendung der Abschreckungspolitik zu einer Position der „reinen und simplen Abschreckung" (pure and simple) unwahrscheinlich, weil ihr politische und waffentechnologische Trends zuwiderlaufen, und weil, wie dargelegt, aus immanenten Gründen die Dynamik der Abschrekkungspolitik immer schon über die denkbare Position einer minimalen Abschreckung hin-ausgewiesen hat.

Unwahrscheinlich ist eine Hinwendung der Abschreckungsstrategie zu einer reinen und kräftemäßig drastisch verringerten Zweitschlagskapazität auch, weil beide weltpolitischen Gegenspieler, USA und SU, bei der Konzipierung der Abschreckungspolitik vor denselben grundlegenden Problemen stehen.

Die vorangegangene Analyse hat die amerikanische Diskussion ins Zentrum gestellt, einmal, weil die wesentlichen militärstrategischen Innovationen aus den USA stammen und Amerika auch darin eine Vorreiterfunktion hatte, zum anderen, weil diese Diskussion sich dort in aller Öffentlichkeit entwikkelt. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß sich die Sowjetunion frühzeitig an counter-force-Optionen orientierte und entsprechende Waffensysteme zulegte, wenngleich ihre öffentlichen Äußerungen immer eher darauf abzielten, die Idee einer Begrenzbarkeit des Nuklearkrieges abzulehnen. Das galt insbesondere in Zeiten der nukearstrategischen Unterlegenheit, als die Betonung des hohen Eskalationsrisikos und der Unkontrollierbarkeit der Eskalationsspirale als ein Abschreckungsmittel verstanden wurde. Auch im Falle der Sowjetunion ist es wichtig, die öffentlichen Deklamationen über Abschrekkung als Mittel der Sicherheitspolitik von den konkreten Zielplanungen und den tatsächlichen Beschaffungsprogrammen zu unterscheiden Vor allem in den siebziger Jahren hat die Sowjetunion ihre counter-force-Potentiale erheblich ausgeweitet und qualitativ verbessert Schneller als erwartet ist ihr der Durchbruch zur Mehrfachsprengkopf-Technologie (MIRV) gelungen. Die Treffgenauigkeit der neu eingeführten Systeme (SS-17, SS-18, SS-19, SS-20) wurde erheblich gesteigert. Nur von diesem Hintergrund her sind die Horrorvisionen eines sowjetischen Erstschlages gegen die landgebundenen Interkontinentalraketen der USA zu verstehen. Die USA ließen diesen Vorgang nicht auf sich beruhen. Aktiviert wurden seit Ende der siebziger Jahre Rüstungsvorhaben, von denen die meisten seit langem im Gespräch waren und einige — qua Modernisierungsvorhaben — auch ohne den sowjetischen Rüstungsschub auf den Weg gebracht worden wären.

Auf dem Hintergrund eines neu belebten Konfrontationskurses steht demnach einer Hochschaukelung von counter-force-Rüstungsvorhaben kaum etwas im Wege, wie es scheint nicht einmal ihre schwieriger gewordene Finanzierbarkeit.

IV. Einige Folgerungen

Aus den vorangegangenen Überlegungen lassen sich einige Schlußfolgerungen ziehen: 1. Die aufgezeigten Entwicklungstrends in der Abschreckungspolitik weisen auf eine weitere Militarisierung des Ost-West-Konfliktes hin. Die militärische Dimension des Konfliktes ist aber durch ein erhebliches Maß an Eigendynamik gekennzeichnet. Dadurch wird es in Zukunft möglicherweise noch schwieriger, den politischen Gehalt des Konfliktes offenzulegen und zu thematisieren. Doch nur auf diesem Wege könnten politische Konfliktlösungsstrategien erarbeitet werden 2. Die Chancen wirksamer internationaler Rüstungskontrolle werden sich wahrscheinlich nicht erhöhen, sondern eher verringern. Heute wäre vor allem eine präventiv wirkende Rüstungskontrolle erforderlich, um weiteren Rüstungsschüben zu neuen counterforce-Potentialen entgegenzuarbeiten. Doch der langfristige waffentechnologische Trend läuft dem Ansatz einer präventiven Rüstungskontrolle entgegen. Es bedürfte ganz besonderer Anstrengungen, um sie trotzdem wirk-sam werden zu lassen. Hierzu fehlen jedoch zur Zeit die erforderlichen Ausgangsbedingungen in der internationalen Politik 37).

3. Mit der Abschreckungspolitik war immer schon die Vorstellung einer friedenspolitischen „Übergangsstrategie" verbunden. Vorgesehen war der Übergang vom Kalten Krieg und Rüstungswettlauf zu einer sich selbst stabilisierenden Abschreckungs-Konstellation; diese sollte dazu beitragen, Bedrohtheitsvorstellungen abbauen zu helfen, Rüstungskontrolle zu ermöglichen und gegebenenfalls erste Schritte zur Abrüstung einzuleiten. Bis heute kann davon keine Rede sein, und es ist durchaus fraglich, ob im Zusammenhang von Abschreckung sich jemals eine solche Perspektive praktisch eröffnet — eine Perspektive, die schon durch eine gegenteilige Praxis überollt wurde, als sie in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren formuliert wurde (frühe Rüstungskontroll-Schule, sog. „Heidelberger Thesen" der Evangelischen Kirche Deutschlands, etc.).

Fussnoten

Fußnoten

  1. B. Brodie (Ed.), The Absolute Weapon, New York 1946, S. 76.

  2. A. Weinstein, Verwirrung in der Allianz. Die NATO und das Atom, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 4. 1982.

  3. H. Kissinger, Kernwaffen und auswärtige Politik, München 1959, S. 110.

  4. Zitiert in: U. F. J. Mies, Destabilisierungsfaktoren des gegenwärtigen Abschreckungssystems, Frankfurt 1979, S 23

  5. Ebd.

  6. H. Kissinger, a. a. O. (Anm. 3), S. 111.

  7. Ebd„ S. 5.

  8. So Henry Kissingers Aussage vor einem amerikanischen Kongreßausschuß, zitiert in: Militärpol tik. Dokumentation, (1981) 20, S. 119.

  9. Eine frühe Analyse des Trends zur Kriegfüh-rungs-Abschreckung findet sich in meinem zuerst • 969 und jetzt in Neuauflage greifbaren Buch: Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organi-sierter Friedlosigkeit, Frankfurt 1981'.

  10. Zum folgenden s. L Freedman, The Evolution of Nuclear Strategy, London 1981; A. L Friedberg, A History of the US Strategie Doctrine, 1945 to 1980, >n: Journal of Strategie Studies, 3 (1980) 1, S. 37— 71; Brodie, The Development of Nuclear Strategy, in: international Security, 2 (1978) 4, S. 65— 83; F. Kap-an, Strategie Thinkers, in: Bulletin of Atomic rcientists, (1982) 12, S. 51— 56; sowie jetzt I. Clark, Limited Nuclear War, Princeton 1982.

  11. Siehe den Bericht über B. Brodie, in: F. Kaplan, a a-0. (Anm. 10), S. 52.

  12. K. Knorr/T. Read (Eds.), Limited Strategie War, New York 1962.

  13. Siehe u. a. M. H. Halperin, Contemporary Military Strategy, Boston 1967, Kapitel 7.

  14. Als Beispiel einer frühen (1964) und immer noch triftigen Kritik siehe H. J. Morgenthau, Vier Paradoxien der Nuklearstrategie, in: D. Senghaas (Hrsg.), Zur Pathologie des Rüstungswettlaufs, Freiburg 1970, S. 47— 78.

  15. Der Vorgang wird dokumentiert von D. Ball, Politics and Force Levels. The Strategie Missile Program of the Kennedy Administration, London 1980.

  16. A. H. Cordesman, American Strategie Forces and Extended Deterrence, in: Adelphi Papers Nr. 175, London 1982, S. 13.

  17. D. M. Snow, Nuclear Strategy in a Dynamit World, Tuscaloosa 1981; ders., Current Nuclear Deterrence Thinking, in: International Studies Quarterly, 23 (1979) 3, S. 445— 486; L. R. Beres, Mimicking Sisyphus. Americas Countervailing Nuclear Strategy, Lexington 1982; ders., Tilting Towards Thanatos. Americas Countervailing Nuclear Strategy, in: World Politics, 34 (1981) 1, S. 45— 46.

  18. So insbes. C. S. Gray, Strategie Studies. A Critical Assessment, London 1982.

  19. Zum politischen Hintergrund in den USA siehe R Scheer, Und brennend stürzen Vögel vom Himmel. Reagan und der . begrenzte'Atomkrieg, München 1983, sowie C. Paine, Nuclear Combat, The rive Year Defence Plan, in: Bulletin of Atomic scientists, (1982) 11, S. 5— 11.

  20. Wichtig in diesem Zusammenhang L. E. Davis, Limited Nuclear Options. Deterrence and New American Doctrine, in: C. Bertram (Ed.), Strategie Deterrence in a Changing Environment, Osmun • 981, sowie E. Lübkemeier, PD 59 und LRTNF-Modernisierung: Militärstrategische und sicherheitspolitische Implikationen der erweiterten Abschrekkung für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn (Friedrich-Ebert-Stiftung), September 1981.

  21. Siehe zusammenfassend M. H. Halperin, Defense Strategies for the Seventies, Boston 1971.

  22. H. Kahn, On Thermonuclear War, Princeton 1960.

  23. Das Zitat entstammt McNamaras berühmter Rede an der University of Michigan in Ann Arbor (Juni 1962), zitiert in D. Ball, a. a. O. (Anm. 15), S. 197.

  24. Siehe hierzu C. S. Gray, Nuclear Strategy. The Case for a Theory of Victory, in: International Security, 3(1979) 1, S. 54— 87; C. S. Gray und K. Payne, Victory is Possible, in: Foreign Policy, Nr. 39, Sommer 1980, S. 14— 27.

  25. Siehe hierüber das Interview mit McNamara im August 1982 in der Washington Post; auf deutsch R S. McNamara, Wie wir die Sowjets in die Aufrüstung trieben, in: Nachrichten und Stellungnahmen der Katholischen Sozialakademie Österreichs Nr. 20 vom 20. 11. 1982, S. 3 ff. Das Dokument stammt vom 21. 11. 1962 (ein Monat nach der KubaKrise), und in ihm heißt es: „Es ist mir klar geworden, daß die Air Force-Vorschläge auf dem Ziel beruhen, eine Erstschlagskapazität aufzubauen. Nach dem Wortlaut dieses an mich gerichteten Air Force-Berichts: Die Air Force hat eher die Entwicklung eines Waffenpotentials unterstützt, das den Vereinigten Staaten eine Erstschlagskapazität sichert'“

  26. W. Slocombe, The Countervailing Strategy, in: International Security, 5 (1981) 4, S. 18— 27.

  27. A Mechtersheimer, Rüstung und Frieden. Der Widersinn der Sicherheitspolitik, München 1982, Kapitel 1.

  28. E. C. Ravenal, Counterforce and Alliance. The Uitimate Connection, in: International Security, 6 (1982) 4, S. 26— 43, Zitat S. 31.

  29. Siehe hierzu die Beiträge von C. S. Gray, zitiert in Anm. 25.

  30. So explizit C. S. Gray, a. a. O. (Anm. 25), sowie problematisierend J. D. Steinbruner, Nuclear Decapitation, in: Foreign Policy, Nr. 45, Winter 1981/82, S. 16— 28.

  31. Diese These glaube ich auf dem Hintergrund meines Abschreckungsbuches vom Jahre 1969, a. a. O. (Anm. 9), mit Recht vertreten zu können.

  32. S. M. Keeny und W. K. H. Panofsky, MAD vs. NUTS, in: Foreign Affairs, 60 (1981) 2, S. 287— 304; sowie die beiden, von einer Position der Minimal-abschreckung argumentierenden Artikel von T. Draper, How not to Think about Nuclear War, in: New York Review of Books vom 15. Juli 1982; ders., Dear Mr. Weinberger. An Open Reply to an Open Letter, in: New York Review of Books vom 4. November 1982.

  33. „Deterrence, Pre and Simple” ist das Ziel von T. Draper, a. a. O. (Anm. 33).

  34. Zu einer nicht unter alarmistischen und gar propagandistischen Vorzeichen stehenden Diskussion über diesen Sachverhalt siehe D. Holloway, The Soviet Union and the Arms Race, London 1982; J. Erickson, The Soviet View of Deterrence. A General Survey, in: Survival, (1982) 6, S. 242— 252.

  35. Siehe hierzu E. O. Czempiel, Nachrüstung und Systemwandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1982) 5, S. 22— 46.

Weitere Inhalte

Dieter Senghaas, Dr. phil., geb. 1940; Professor für Sozialwissenschaft an der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: Abschreckung und Frieden, Frankfurt 19813; Aggressivität und kollektive Gewalt, Stuttgart 19722; Rüstung und Militarismus, Frankfurt 19822; Aufrüstung durch Rüstungskontrolle, Stuttgart 1972; Gewalt — Konflikt — Frieden, Hamburg 1974; Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik, Frankfurt 19833; Von Europa lernen, Frankfurt 1982. Herausgeber zahlreicher Sammelwerke über Politikwissenschaft, Friedensforschung, Internationale Politik, Rüstungs-, Rüstungskontroll-und Abrüstungsprobleme, Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik sowie zur Technokratie-Problematik.