Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Warum Nachrüstung? | APuZ 38/1983 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 38/1983 Artikel 1 Die Bundesrepublik Deutschland und das Nordatlantische Bündnis Vorrang für Vertragspolitik. Zum Problem von Nuklearwaffen in Europa Warum Nachrüstung? Rückblick und Ausblick auf Abschreckungspolitik

Warum Nachrüstung?

Hans Rühle

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Auf der Ebene einer Explikation des Nutzens militärischer Macht versucht der Aufsatz, noch einmal die Beweggründe des NATO-Doppelbeschlusses darzustellen und zu belegen, warum eine Durchführung seines Modernisierungsteils bei Scheitern der INF-Verhandlungen unumgänglich ist Militärische Macht wird hier zum einen als Instrument der Kriegführung gesehen, zum anderen aber als Mittel der Abschreckung und der Drohung, Erpressung und Einschüchterung sowie als politisch-psychologischer Faktor durch die öffentlich wahrgenommene Entwicklung militärischer Kräfteverhältnisse. Vor dem Hintergrund der Aufrüstung der Sowjetunion im europäischen Bereich durch die SS-20 und den Backfire-Bomber bei zugleich in SALT II vereinbarter strategischer Parität wurde eine Modernisierung der nuklearen Mittelstreckensysteme der NATO großer Reichweite (über 1 000 km) unumgänglich; denn: — Die amerikanische INF in Europa sollen dem Bündnis die Fähigkeit, Abschreckung und Verteidigung unter den veränderten strategischen Bedingungen auch in Zukunft glaubwürdig und wirksam zu erhalten, verleihen. — Zahl und Zusammensetzung der geplanten Mittelstreckensysteme sollen auch bei nuklearstrategischem Gleichgewicht das sowjetische Kriegsrisiko auf sowjetisches Gebiet ausdehnen. — Die Überlebensfähigkeit der neuen Mittelstreckenwaffen soll ihrerseits die Gefahr einer überraschenden sowjetischen Aggression vermindern und die Fähigkeit der NATO, kontrolliert zu eskalieren, verbessern. Aufgrund der Tatsache, daß seit dem NATO-Doppelbeschluß die sowjetische SS-20-Rüstung weitere wesentliche Fortschritte gemacht hat, zur Zeit aber auch schon ein erheblicher Aufwuchs von Kurzstreckensystemen festzustellen ist (die ihrerseits als Drohung benutzt werden, um zu verdeutlichen, wie die Perspektiven beschaffen sein werden, wenn die NATO den Modernisierungsteil des Doppelbeschlusses durchführt), ist es für das Bündnis unumgänglich, seine Handlungsfähigkeit beim Scheitern der Genfer Verhandlungen mit der Durchführung des Beschlusses unter Beweis zu stellen.

I. Vorbemerkungen

üblicherweise beginnen Aufsätze, in denen die Notwendigkeit der Nachrüstung der NATO mit modernen nuklearen Mittelstreckenflugkörpern begründet oder abgelehnt wird, mit einem mehr oder weniger intensiven Streitkräftevergleich. Die Tatsache, daß allein schon die bloße Gegenüberstellung nach einfachsten Kriterien geordneter nuklearer Potentiale zu drastisch divergierenden Aussagen über das bestehende Kräfteverhältnis führt, aus denen sich Zustimmung oder Ablehnung der Nachrüstung nahezu zwangsläufig ergeben, zeigt allerdings unmißverständlich, daß nicht nur die allgemeine öffentliche Debatte, sondern auch die soge-nannte Strategiediskussion der Experten längst auf einem Niveau angelangt ist, wo jeder nicht nur seine eigene Meinung, sondern auch seine eigenen Fakten hat. Und da Fakten nun einmal Fakten sind — und damit als dauerhaft richtig behauptet werden können —, ist aus dem viel zitierten sicherheitspolitischen Dialog längst das Monologisieren zweier Lager geworden. Doch es sind nicht allein die Fakten, die trennen. Auch die Begriffsinhalte haben sich inzwischen so weit auseinander entwickelt — die Beispiele reichen vom Friedensbegriff bis zu den militärtechnischen Spezifika wie dem „Erstschlag" —, daß man sich nur noch unter größten Schwierigkeiten verständigen kann. Im Grunde ist durch die sicherheitspolitische Alternativkultur der Friedensbewegung ein zweites sicherheitspolitisches Begriffs-und Faktengebäude errichtet worden, das ein totales Eigenleben führt und von „traditioneller" Kritik praktisch kaum mehr erreicht wird. Die viel zitierten „Gegenexperten" der Friedensbewegung sind allgegenwärtig und in der Gruppe, für die sie sich zuständig fühlen, in der Sache unumstritten. Insofern ist der Friedensbewegung eben doch mehr gelungen, als über eine bloße Emotionalisierung der Sicherheitspolitik den gesunden Menschenverstand partiell auszuschalten.

Dies sind heutzutage notwendige Vorbemerkungen zu einem Aufsatz über die Nachrüstung, der sich an den offiziellen Daten und den tradierten Begriffen der internationalen Politik und Militärstrategie orientiert.

Doch damit noch nicht genug der Vorbemerkungen. Die gegenwärtige Debatte über die Nachrüstung hat sich auch von der Motivlage, wie sie zur Zeit der Vorbereitung des Doppel-beschlusses und im Zeitpunkt der Beschlußfassung bestand, völlig gelöst. Aus der ursprünglich militärstrategisch und politisch-psychologisch dominierten Motivation der Urheber des Beschlusses ist die Debatte einerseits in den Bereich von Ethik und Moral überhöht worden, andererseits in eine an meist unsinnigen Szenarien orientierte militär-technische Debatte abgeglitten. Auf der Strecke geblieben ist damit die Dimension des Problems, die allein den Doppelbeschluß begründbar und verständlich macht: Die Einsicht in die vielfältige, insbesondere auch politische und psychologische Nutzung militärischer Macht. Es ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Ironie festzustellen, daß die „progressiven" Kritiker den etablierten Strategen und professionellen Militärs einstmals vehement vorwarfen, ihre Bedrohungsanalysen seien reine Zahlenspiele ohne gesamtpolitische und psychologische Einbettung. Heute mühen sich dieselben „Traditionalisten" den „Gegenexperten" der Friedensbewegung klarzumachen, daß ihre gesamte Argumentation gegen die Nuklearbewaffnung der NATO im allgemeinen und den Doppelbeschluß im besonderen die allgemeinen sicherheitspolitischen und strategischen Rahmenbedingungen völlig außer acht läßt. Das beste Beispiel hierfür ist die Behauptung der „Gegenexperten" der Friedensbewegung, im Falle einer westlichen Nachrüstung bleibe der Sowjetunion nichts anderes übrig, als durch einen nuklearen Präventivschlag gegen diese westlichen Systeme die für sie unerträgliche Bedrohung zu beseitigen. Hiermit wird eine ausschließlich aus strategischen Stabilitätskriterien abgeleitete Mechanik angenommen, die bedeutet, daß die Sowjetunion wegen einer vergleichsweise bescheidenen Zunahme des ihr gegenüberstehenden Nuklearpotentials der NATO nicht nur die nukleare Zerstörung Westeuropas einleiten würde, sondern darüber hinaus auch an mit Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den nuklearen Weltkrieg und damit ihre eigene Selbstvernichtung auslösen würde. Aus der friedlichen, defensiven, mit einem Bedrohungssyndrom behafteten und nichts sehnlicher als Rüstungskontrolle wünschenden Sowjetunion, mit der die Friedensbewegung ansonsten argumentiert, wird hier plötzlich ein gleichsam irrationales Monster — und die traditionellen Sicherheitspolitiker sehen sich insoweit plötzlich veranlaßt, die Sowjetunion gegen die politisch und militärisch unsinnigen, in letzter Konsequenz geradezu unmenschlichen Vorstellungen der Friedensbewegung in Schutz zu nehmen.

II. Vom Nutzen militärischer Macht

Militärische Macht wirkt grundsätzlich auf dreifache Weise:

— Auf der militärischen Ebene als Instrument der Kriegführung;

— auf der politischen Ebene als Mittel der Abschreckung einerseits, der Drohung, Er-. pressung und Einschüchterung andererseits; — auf der politisch-psychologischen durch die öffentlich wahrgenommene Entwicklung militärischer Kräfteverhältnisse.

Die erste Ebene beschreibt die klassische> Funktion militärischer Macht. Jahrhundertelang waren Armeen nach primärer Absichtt und in der Perzeption der Bevölkerung Kriegführungsinstrumente. Zwar wurde mit ihneni auch nach Kräften erpreßt und eingeschüchtert, da Kriege in der vornuklearen Ära aberr vergleichsweise leicht vom Zaun wurden und in ihrer tatsächlich eingetrete-. nen Regelmäßigkeit den Charakter des Au-. ßergewöhnlichen oder gar Einmaligen nie; entstehen ließen, war militärische Macht ini jener Zeit praktisch ein Synonym für tatsächlichen Einsatz zum Zwecke der Krieg-führung. Fast keine Bedeutung hatten in vor-nuklearer Zeit die Auswirkungen öffentlich wahrgenommener militärischet Trends, das heißt die Bildung militärischer Unterlegenheits-oder Überlegenheitsgefühle aus demi Wissen über die Entwicklung der schen Stärkeverhältnisse der wichtigsten Nachbarn. Weder gab es damals eine informierte Öffentlichkeit, noch hatte das Volk irgend einen Einfluß auf die Auslösung von

Kriegen. Man marschierte, wenn der Souverän es befahl.

Diese Bedingungen haben sich inzwischen grundlegend geändert. Die Existenz nuklearer Waffen in den Arsenalen der Großmächte und einiger Mittelmächte hat notwendigerweise zu einer Neubewertung der Instrumen-Ebene, militärischer Macht geführt. Zwar gibt es hinsichtlich des Verhältnisses der Sowjetunion zu Gewalt und Krieg eine umfassende Debatte, im großen und ganzen herrscht aber weitgehender Konsens darüber, — daß sich der Nutzen von militärischer Macht insgesamt verringert, weil es immer mehr Probleme gibt, die sich mit ihr nicht lösen lassen; dennoch ist militärische Macht keineswegs nutzlos; im Gegenteil, da militärigebrocheni Macht alle Mittel im internationalen Verkehr „übertrumpft" — und das auch so bleiben wird —, ist sie in entsprechender Quantität und Qualität unverzichtbar;

— daß die konkrete „Nutzbarkeit“ von miliihreni Macht sich ebenfalls verringert, da mit der Anwendung militärischer Macht immer mehr Kosten verbunden sind; dennoch bleibt militärische Macht keineswegs ungenutzt, da die Kosten der Anwendung nicht immer größer sind als der erhoffte Gewinn und auch nicht immer genau genug vorausbemilitäri--werden bzw. werden können Zusätzlich zu diesen Veränderungen haben sich nach dem Eintritt in das nukleare Zeitalter natürlich auch unterhalb der Kategorie „Nutzbarkeit militärischer Macht" die Gewichte der eingangs aufgeführten Wirkungsweisen militärischer Macht deutlich verschoben. Unabhängig davon, wie man die vielfältigen und vieldeutigen Ausführungen sowjetischer Autoren zur Legitimität des Krieges im nuklearen Zeitalter auch beurteilen mag, es läßt sich sicher nicht bestreiten, daß zwischen den Großmächten und nuklearen Mittel-mächten die Umsetzung militärischer Macht in kriegerische Aktionen eine kaum mehr vorstellbare Möglichkeit ist. Das muß natürlich auf Dauer nicht so bleiben. Es gilt nur solange, wie Kräfteverhältnisse — in diesem Falle insbesondere nukleare Kräfteverhältnisse — existieren, die bei rationaler Kalkulation die zu erwartenden Kosten unvertretbar hoch erscheinen lassen.

Komplementär zur sinkenden Anwendungsmöglichkeit militärischer Macht zum Zwecke der Kriegführung auf der Ebene nuklearer Groß-und Mittelmächte hat die Bedeutung der Nutzung militärischer Macht zu Drohungen, Erpressung und Einschüchterung deutlich zugenommen. „Diplomatie der Gewalt“ hat Thomas Schelling diese „Kunst der Nötigung unmittelbar unterhalb oder an der Schwelle des Krieges“ genannt. „Wenn die Staaten weder den Schritt zum Krieg noch aber auch den Verzicht auf diesen Schritt wagen, hängt die internationale Politik notwendigerweise weitgehend von der Drohung mit einem Krieg oder der Möglichkeit eines Krieges ab.“ Doch darin erschöpft sich die Wirkung militärischer Macht auf dieser Ebene noch nicht. In einer Zeit, da das nukleare Dilemma die potentiellen Kontrahenten an den Verhandlungstisch zwingt, gilt auch: „Die Macht, Schaden zufügen zu können, ist Verhandlungsmacht. Diese Macht auszunutzen, ist Diplomatie — nicht gerade sehr rühmliche Diplomatie, aber Diplomatie.“ Beispiele für diesen Anwendungsbereich militärischer Macht gibt es genug. Man braucht sie nicht alle zu beschreiben, weil die Bundesrepublik Deutschland selbst gegenwärtig das Objekt eines Einschüchterungsfeldzuges ist, der mit der Aufstellung der „Nötigungswaffe SS-20“ — so Helmut Schmidt — begann, seine Fortsetzung in aberwitzigen Andeutungen ihres möglichen Einsatzes gefunden hat und schließlich in täglichen Drohungen mit „Gegenmaßnahmen" gegen die westliche Nachrüstung seinem Höhepunkt zustrebt. Auch das Ergebnis ist sozusagen meßbar — eine Möglichkeit, von der Sozialwissenschaftler lange Jahre geträumt haben. Die Angst, die Kriegs-angst insbesondere, nimmt nach allen Erkenntnissen der Meinungsforschung zu — die „Nötigung unmittelbar unterhalb oder an der Schwelle des Krieges" funktioniert.

Die dritte Ebene der Wirkung militärischer Macht, die eingangs als Ergebnis der öffentlich wahrgenommenen Entwicklung militärischer Kräfteverhältnisse bezeichnet wurde, ist ein vergleichsweise junges Phänomen, da sie mindestens auf einer Seite eine gut informierte und demokratisch organisierte Öffentlichkeit zur Voraussetzung hat. Sie funktioniert dergestalt, daß sich durch allgemein wahrgenommene Verschiebungen des Kräfte-verhältnisses, insbesondere aber durch Perzeption scheinbar unabänderbarer langfristiger Trends in der Gestaltung des internationalen Kräftefelds, Überlegenheits-oder Unterlegenheitsgefühle bilden, die entsprechende Festigungs-oder Erosionsprozesse des politischen überlebens-und Gestaltungswillens zur Folge haben. Martin Kriele hat in diesem Zusammenhang einmal von der normativen Kraft des Faktischen in der internationalen Politik gesprochen. Das einfachste Beispiel ist auch hier das nächstliegende. Wenn, wie alle empirischen Unterlagen belegen, um die Jahrzehntwende 1979/80 die westdeutsche Bevölkerung auf die Frage, wer die gegenwärtig stärkste Militärmacht der Welt sei, zu 50 % die Sowjetunion und nur zu 10 % die eigene Bündnisvormacht USA nannten, dann hat sich insoweit nicht nur eine dramatische Veränderung der Einschätzung des Kräfteverhältnisses vollzogen, es wird dadurch auch vieles von dem verständlich, was sich an Angst und erkennbarer Bereitschaft zum „Frieden um jeden Preis“, zur „vorbeugenden Kapitulation" gegenwärtig zeigt. Auf dieser Ebene der Wirkung militärischer Macht ist der Westen besonders gefährdet, da das Phänomen nur einseitig wirkt. Im geschlossenen Gesellschaftssystem des Ostens gibt es keine Information, schon gar keine über eine allgemeine oder partielle Unterlegenheit. Hier ist man per definitionem immer und überall überlegen — und die Korrelation der Kräfte wird so dargestellt, daß daran kein Zweifel aufkommt.

Vor diesem Hintergrund der verschiedenen Wirkungsweisen militärischer Macht wird klar, daß im Urteil der Urheber des Doppel-beschlusses die Nachrüstung, d. h. die für den Fall des Scheiterns von Rüstungskontrollverhandlungen beabsichtigte Modernisierung des landgestützten weitreichenden Nuklear-potentials der USA in Europa nicht nur militärische, sondern auch politische und psychologische Folgen haben würde. Dementsprechend war auch die Motivstruktur zu Beginn des Entscheidungsprozesses — ein Bündel militärischer, politischer und psychologischer Absichten, die es durch den Beschluß zu verwirklichen galt.

III. Die Begründung der INF-Modernisierung

Seit seiner Gründung ist es der Zweck des NATO-Bündnisses, die Mitgliedstaaten vor äußeren Gefahren zu schützen. Diesem Zweck dient auch die Politik der Abschreckung, die ihre Aufgabe nur dann erfüllt, wenn sie sich auf eine überzeugende Verteidigungsfähigkeit stützen kann.

Strategie und Streitkräfte als militärische Instrumente einer Politik der Friedenssicherung sind kontinuierlich Veränderungen unterworfen, die sich aus notwendigen Anpassungen an die sich wandelnden politisch-strategischen Rahmenbedingungen ergeben. Verschiebungen im Kräfteverhältnis spielen dabei die entscheidende Rolle. Politisch geht es bei diesen Anpassungen stets darum, die abschreckende Wirkung der Streitkräfte zu erhalten. Aus militärischer Sicht gilt es, die Streitkräfte so zu verbessern, daß sie auch unter den veränderten Bedingungen ihren Verteidigungsauftrag erfüllen können. Politische und militärische Überlegungen sind deshalb bei jeder Streitkräftemodernisierung eng miteinander verbunden; die Übergänge sind fließend. Das gilt auch für die Begründung der INF-Modernisierung im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses. Bereits seit 1974 — im gleichen Jahr, als die USA erste Tests der neuen sowjetischen SS-20 registrierten — hatte sich die Nukleare Planungsgruppe der NATO (NPG) regelmäßig mit der Frage beschäftigt, wie und in welchem Umfang die damals noch als „TNF-Systeme" (Theatre Nuclear Forces) bezeichneten amerikanischen Nuklearkräfte in und für Europa modernisiert werden sollten. Den Anstoß dazu gab ein Bericht von Senator Sam Nunn an den Streitkräfteausschuß des amerikanischen Senats vom 2. April 1974. Dieser Bericht mit dem Titel „Policy, Troops and the NATO-Alliance" behandelte unter anderem Fragen der Gesamtkonzeption über Art und Zusammensetzung amerikanischer Nuklearwaffen in Europa. Er veranlaßte den amerikanischen Kongreß, den damaligen Verteidigungsminister Schlesinger zu beauftragen, folgende Fragen zu untersuchen: — Die Gesamtkonzeption für den Einsatz taktischer Nuklearwaffen in Europa.

— Die Auswirkung dieser Waffen auf die Abschreckung und auf eine starke konventionelle Verteidigung.

— Die zahlen-und typenmäßige Verringerung der nuklearen Gefechtsköpfe, die für die Verteidigungsstruktur Westeuropas nicht wesentlich sind.

— Die Maßnahmen, die getroffen werden können, um ein rationales und koordiniertes nukleares Dispositiv der NATO zu entwickeln, das geeignet ist, die angestrebte Stärkung der konventionellen Kampfkraft der alliierten Streitkräfte in Europa sinnvoll zu ergänzen. Der Bericht Schlesingers „The Theatre Nuclear Force Posture in Europe" vom Mai 1975 bestätigte dem amerikanischen Kongreß, daß die in Europa stationierten nuklearen Kräfte der NATO gravierende Schwächen aufwiesen, da sie weder den seit Ende der fünfziger Jahre veränderten Bedingungen des militärischen Kräfteverhältnisses zwischen NATO und Warschauer Pakt, noch den Erfordernissen der gültigen NATO-Strategie entsprachen. Der Bericht gab seinerseits den Anstoß zu einer Reihe von NATO-Studien und amerikanischen Modernisierungsvorschlägen, mit denen sich die Verteidigungsminister der NATO auf den NPG-Tagungen 1975 bis 1976 befaßten. Im Mai 1977 beschlossen die Staats-und Regierungschefs der NATO ein Langfristiges Verteidigungsprogramm (LTDP), das die NATO-Streitkräfte an die veränderten Verteidigungsbedürfnisse der achtziger Jahre anpassen sollte. Dieses Programm legte den Schwerpunkt zwar auf die Stärkung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit, 'betonte aber gleichzeitig die Notwendigkeit, Art und Zusammensetzung der nuklearen Kräfte des Bündnisses in Europa zu modernisieren. Im Oktober 1977 beauftragten die NPG-Minister eine Studiengruppe hochrangiger Experten (High Level Group — HLG) mit der Erarbeitung von Vorschlägen für die Verbesserung der nuklearen Bewaffnung der NATO. Auf besonderes deutsches Drängen unter dem Eindruck der fortschreitenden sowjetischen SS-20-Rüstung konzentrierte sich die HLG im Verlauf ihrer Untersuchungen auf die nuklearen Systeme der NATO großer Reichweite (über 1 000 km). Dieser Gruppe wurde im Frühjahr 1979 — ebenfalls auf deutsche Initiative — eine besondere Arbeitsgruppe (Special Group — SG/heute SCG) an die Seite gestellt mit dem Auftrag, Vorschläge für die Einbeziehung von nuklearen Mittelstreckenwaffen in Rüstungskontrollverhandlungen zu erarbeiten. Auf der Grundlage der Arbeitsergebnisse beider Gruppen faßten schließlich die Außen-und Verteidigungsminister aller NATO-Staaten (ohne Frankreich)

auf der gemeinsamen Sondersitzung am 12. Dezember 1979 den NATO-Doppelbeschluß.

In seinem Modernisierungsteil sieht der Beschluß die Stationierung von 108 Flugkörpern Pershing II mit einer Reichweite bis zu 1 800 km als Ersatz für 108 Pershing la der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland und von 464 lahdgestützten Marschflugkörpern (Ground Lanched Cruise Missiles — GLCM) auf 116 fahrbaren Startrampen vor, insgesamt also 572 Flugkörper mit je einem Sprengkopf. Fünf Staaten erklärten sich bereit, die Mittelstreckenwaffen auf ihrem Territorium aufzunehmen: Großbritannien 160 GLCM, die Bundesrepublik Deutschland 108 Pershing II und 96 GLCM, Italien 112 GLCM. Belgien und die Niederlande haben sich eine endgültige Zustimmung vorbehalten und machen diese vom Stand der Genfer Verhandlungen abhängig. Die Einsatzbereitschaft der ersten Einheiten ist Ende 1983 geplant die Stationierung aller Systeme soll 1988 abgeschlossen sein. Ergänzend beschlossen die Minister, 1 000 amerikanische nukleare Sprengköpfe aus Europa ohne sowjetische Gegenleistung abzuziehen und für jeden der neu zu stationierenden 572 Gefechtsköpfe einen anderen abzuziehen. Selbst bei einer vollständigen Verwirklichung des Modernisierungsteils würde sich der Gesamtbestand an nuklearen Gefechtsköpfen in Europa nicht erhöhen. Die NATO kann gegenüber der sowjetischen militärischen Supermacht in Europa nur dann eine funktionierende Abschreckung erhalten, wenn sie verhindert, daß Europa politisch oder militärisch von den USA getrennt wird. Der NATO-Doppelbeschluß soll gerade dieser Gefahr entgegenwirken. Seit 1967, dem Jahr, in dem die NATO ihre Strategie der Flexiblen Erwiderung bekanntgab, hat sich das nukleare Kräfteverhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion entscheidend verändert Damals besaßen die Vereinigten Staaten eine überwältigende nuklearstrategische Dominanz, die geeignet war, sowjetische militärische Überlegenheit in anderen Bereichen auszugleichen. Spätestens seit der Unterzeichnung des SALT-II-Vertrags haben die Vereinigten Staaten auf diese Überlegenheit verzichtet und mit der Sowjetunion Parität bei den strategischen Waffen vereinbart. Die vornehmlich für die europäischen NATO-Länder bedrohlichen sowjetischen Mittelstreckenpotentiale wurden durch den SALT-Vertrag nicht begrenzt.

Mit der Einführung der SS-20-Raketen baute die Sowjetunion ihre ohnehin schon vorhandene Überlegenheit in diesem Waffenbereich weiter aus. Vor dem Hintergrund des nuklearstrategischen Gleichgewichts erhielt diese gegen Westeuropa gerichtete nukleare Bedrohung eine neue Qualität. Dieses Waffensystem, von dem gegenwärtig über 1 000 Gefechtsköpfe Westeuropa erreichen können, das sehr treffgenau ist und dessen Raketen die Gefechtsköpfe in wenigen Minuten zum Ziel tragen können, hat die Fähigkeit der Sowjetunion zur militärischen Bedrohung und politischen Einschüchterung Westeuropas wesentlich verbessert. Mit diesem Potential unterläuft die Sowjetunion die durch SALT II zwischen den Supermächten erreichte Stabilität. Die Gefahr einer möglichen sowjetischen Fehlbeurteilung der gesamtstrategischen Lage steigt.

Die Sowjetunion könnte zu der Überzeugung gelangen, daß die Vereinigten Staaten in Anbetracht des nuklearstrategischen Gleichgewichts nicht mehr bereit sind, ihre strategischen Kernwaffen zum Schutz Europas einzusetzen. Ihre überwältigende Überlegenheit im nuklearen Mittelstreckenbereich könnte die Sowjetunion dann dazu verleiten, von den westeuropäischen Staaten außenpolitisches Wohlverhalten durch die Drohung mit einem regionalen Kernwaffeneinsatz zu erpressen.

Durch ihre SS-20-Rüstung hat die Sowjetunion das Gleichgewicht der Kräfte in einem für die NATO unerträglichen Maße verändert. Die NATO kann deshalb die Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten künftig nur garantieren, wenn sie eine abschreckungswirksame Gegendrohung zur SS-20 aufbaut. Zum Zwecke der Abschreckung muß diese Gegendrohung von Waffensystemen ausgehen, die sowjetisches Territorium erreichen können. Die Sowjetunion muß wissen, daß ein Angriff gegen Westeuropa — auch in einer Zeit nuklear-strategischer Parität — auf sie selbst zurückschlagen würde.

Aus militärischer Sicht haben die als Gegengewicht gegen die SS-20-Bedrohung'vorgesehenen Waffensysteme der NATO der Bedrohung zu entsprechen und die Implementierung der gültigen Strategie zu ermöglichen. Damit müssen sie vor allem überlebensfähig sein, um jede denkbare militärische Option zu ihrer Ausschaltung auszuschließen, überlebensfähige Systeme bieten zusätzlich die Möglichkeit, den Umfang der Nachrüstung zahlenmäßig niedrig zu halten.

Die NATO-Strategie sieht vor, einen von der Sowjetunion ausgelösten Krieg durch vorbedachte Eskalation zu beenden, wenn der Schutz der NATO-Territorien durch die Direktverteidigung nicht gelingt. Die vorbedachte Eskalation soll die Sowjetunion davon überzeugen, daß Risiken und Verluste in einem ungünstigen Verhältnis zu dem möglichen Gewinn stehen, wenn sie die Aggression fortsetzt. Die vorbedachte Eskalation muß deshalb militärisch wirksam, gleichzeitig aber so begrenzt sein, daß die eskalatorische Wirkung unter Kontrolle gehalten werden kann. Dazu sind Waffensysteme großer Treffgenauigkeit erforderlich, die gewährleisten, daß militärische Ziele vernichtet und ungewollte Kollateralschäden vermieden werden. Pershing II und GLCM erfüllen diese Voraussetzungen. Allerdings sind die GLCM aufgrund ihrer geringen Geschwindigkeit vornehmlich Waffen der Reaktion. Den Krieg aber durch vorbedachte Eskalation beenden zu wollen, erfordert Waffensysteme, mit denen schnell und überraschend gehandelt werden kann; nur derjenige besitzt eine Kriegsbeendigungsoption, der selbst initiativ werden kann und nicht nur zur reaktiven Operationsführung gezwungen ist.

Zusammenfassend stützt sich die NATO-Entscheidung zur LRINF-Modernisierung auf folgende Begründung: — Amerikanische INF in Europa verschaffen dem Bündnis die Fähigkeit, Abschreckung und Verteidigung unter den veränderten strategischen Bedingungen auch in Zukunft glaubwürdig und wirksam zu erhalten. — Zahl und Zusammensetzung der geplanten nuklearen Mittelstreckensysteme erweitern auch bei nuklearstrategischem Gleichgewicht das sowjetische Kriegsrisiko auf sowjetisches Gebiet. — Die Überlebensfähigkeit der neuen Mittelstreckenwaffen vermindert die Gefahr einer überraschenden sowjetischen Aggression und verbessert die Fähigkeit der NATO, kontrolliert zu eskalieren.

Die psychologische Dimension des Problems resultierte zur Zeit des Beschlusses aus der Tatsache, daß der Westen die Veränderung des gesamten Kräfteverhältnisses, wie sie sich in den siebziger Jahren vollzog — und insbesondere durch die erreichte Parität der Sowjetunion im nuklearstrategischen Bereich dokumentiert wird —, weitgehend ohne eigene Gegenreaktionen zur Kenntnis nahm. Das war solange vertretbar und für den öffentlichen Konsens ungefährlich, als man argumentieren konnte, daß sich durch die Veränderungen tendenziell ein globales Gleichgewicht der Kräfte einzupendeln beginne. Spätestens mit der Einführung einer neuen Kategorie sowjetischer Nuklearwaffen mit besonderem europäischen Bezug — SS-2O, aber auch der Bomber Backfire — war eine solche Beurteilung der Lage durch die Experten nicht mehr möglich und auch für die informierte Öffentlichkeit nicht mehr glaubhaft. Jetzt stellte sich im Kern eigentlich nur noch die Frage, ob der Westen die beginnende glo. bale Unterlegenheit hinnehmen und damit seine Option auf eigenständige Zukunftsgestaltung aufgeben würde oder ob er andererseits — gemäß seinen vielfältigen Äußerungen — bereit und willens war, das globale Gleichgewicht zu erhalten. Dabei war klar, daß schon das erste Indiz westlicher Hinnahme einer quantitativ und qualitativ wie auch immer ausgestatteten globalen Überlegenheit der Sowjetunion letztere nicht nur in ihrem Hegemonialstreben und in ihrem Selbstverständnis als dem programmierten Endsieger und Vollender der Weltgeschichte bestärkten mußte, sondern auch den westlichen Widerstandswillen auflösen und zur öffentlich sanktionierten Anpassungspolitik führen würde. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis erhielt eine westliche Reaktion auf die sowjetische Vorrüstung im Bereich nuklearer Mittelstreckenflugkörper ihre besondere politische und psychologische Note. Es ist daher nur zu verständlich, wenn einer der besten Kenner der Materie damals schrieb: „Es besteht kein Zweifel, daß die Beweggründe mehr politisch-psychologischer als militärischer Natur waren." 8)

IV. Nachrüstung heute

Die genannten Gründe für die Modernisierung des nuklearen Mittelstreckenpotentials der NATO gelten noch immer. Inzwischen allerdings haben die weitere Entwicklung des Kräfteverhältnisses, die offensive „Öffentlichkeitsarbeit" der Sowjetunion in Sachen Doppelbeschluß und der Verlauf der öffentlichen Debatte insbesondere in potentiellen Stationierungsländern zusätzliche Gründe geschaffen, den Nachrüstungsteil des Doppelbeschlusses in vollem Umfang aufrechtzuerhalten und die Stationierung für den Fall des Scheiterns der Genfer Verhandlungen Ende 1983 anlaufen zu lassen.

Was die Entwicklung des Kräfteverhältnisses seit 1979 anlangt, so hat die Sowjetunion, die im Zeitpunkt des Doppelbeschlusses über 126 SS-20 verfügte, ihr Potential auf über 360 Systeme ausgebaut. Außerdem hat sie inzwischen mit der Dislozierung der Systeme SS-21, SS-22 und SS-23 begonnen, wodurch das nukleare Kräfteverhältnis in Europa sich weiter zuungunsten der NATO verschlechtert. Die in diesem Zusammenhang vielfach von der Sowjetunion geäußerte Drohung, man werde im Falle westlicher Nachrüstung mit dem Ausbau des sowjetischen nuklearen Kurzstreckenpotentials beginnen, ist daher längst Wirklichkeit geworden. Im übrigen muß darauf hingewiesen werden, daß die Tatsache der bereits begonnenen Stationierung dieser neuen Kurzstreckensysteme eindeutig erweist, daß die aktive Vorbereitung für diese Systeme lange vor dem Doppelbeschluß, ja sogar erheblich vor der beginnenden Debatte über einen möglichen Beschluß begonnen ha-ben muß: Ein technologisch anspruchsvolles Waffensystem braucht heute rund zehn Jahre vom Reißbrett bis zur Stationierung. Das seit 1979 weiter zuungunsten der NATO verschlechterte nukleare Kräfteverhältnis in Europa macht eine Nachrüstung daher heute noch dringlicher, als sie 1979 war.

Hinzukommt, daß der Doppelbeschluß insgesamt, insbesondere aber eine mögliche Nachrüstung, für den Fall des Scheiterns der Genfer Verhandlungen inzwischen zum Testfall für die NATO geworden ist. Zu beweisen ist, daß die Sowjetunion sich heute nicht gleichsam als 16. NATO-Mitgliedstaat gerieren kann, der durch ein einfaches Veto notwendige Rüstungsentscheidungen der NATO verhindert. Zu beweisen ist, daß die NATO auch künftig ihre Rüstungsentscheidungen aus der konkreten Bedrohung ableitet — unabhängig davon, ob es der Sowjetunion gefällt oder nicht. Zu beweisen ist, daß die westliche Allianz noch immer über so viel Kraft, Kohärenz und Handlungswillen verfügt, daß sie sich Drohungen der Sowjetunion gegen legitime Verteidigungsmaßnahmen nicht einfach beugt. Sollten diese Beweise nicht geführt werden können, wäre der Anfang vom Ende der Atlantischen Allianz eingeläutet. Das wissen alle Experten. Das empfinden wohl auch die meisten Bürger.

Wichtig und gegenüber 1979 neu ist auch, daß die westlichen Demokratien demonstrieren müssen, daß sie sich nicht von Minderheiten in ihren eigenen Ländern vorschreiben lassen, was sicherheitspolitisch zu tun ist. Es muß angesichts der Beschlußlage klar und verbindlich sein, daß nur ein akzeptables Verhandlungsergebnis in Genf die Stationierung verhindern kann. Ob man es daher wahrhaben will oder nicht: Der Doppelbeschluß und insbesondere eine mögliche Nachrüstung sind auch zum Testfall für die Regierungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland geworden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. L. Martin, Force in Modern Societies. Its Place in International Polities, Adelphi Papers Nr. 102, London (II SS) 1973, S. 14.

  2. Vgl. hierzu: R. Legvold, Der politische Nutzen militärischer Macht in sowjetischer Perspektive, in: U. Nerlich (Hrsg.), Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfteverhältnisse, Baden-Baden 1982, S. 191.

  3. T. Schelling, Arms and Influence, New Haven 1966, S. 6.

  4. R. Osgood/R. Tucker, Force, Order and Justice, Baltimore 1967, S. 26.

  5. Ebd.

  6. T. Schelling, a. a. O. (Anm. 3), S. 2.

  7. Vgl. Kommunique der Nuklearen Planungsgruppe der 27. Ministertagung in Bodo, Norwegen, vom 4. Juni 1980.

Weitere Inhalte

Hans Rühle, Dr. jur., Dipl. -Volkswirt; Leiter des Planungsstabes des Bundesministeriums der Verteidigung ; 1971— 1974 stellvertretender Leiter des Instituts für Sicherheit und internationale Fragen in München; ab 1974 Leiter des Forschungsbereichs Außen-und Sicherheitspolitik im sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung; 1978— 1982 Leiter des sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung. Veröffentlichungen u. a.: zahlreiche Aufsätze über Fragen der Sicherheitspolitik und Militärstrategie.