Die aktuelle breite sicherheitspolitische Diskussion in der Öffentlichkeit rührt wesentlich daher, daß der Friede zwischen Ost und West für viele inzwischen gefährdet erscheint. Die Ansichten darüber, worauf dies zurückzuführen ist und welche Abhilfe geschaffen werden könnte, weichen jedoch stark voneinander ab und sind häufig sogar gegensätzlich. Dargestellt werden die drei grundlegenden Sicherheitsphilosophien, die sich mit den Thesen „Sicherheit durch Rüstungsstärke“, „Sicherheit durch Rüstungsgleichgewicht" und „Sicherheit durch Rüstungsabstinenz“ umreißen lassen. Wesentliche Probleme, die aus der Sicht dieser drei Denkschulen analysiert werden, sind die Frage des Rüstungsgleichgewichts im Sinne einer militärischen Parität, das Gleichgewicht als Ausgewogenheit militärischer Optionen sowie die regionale militärische Ausgewogenheit. Ausführlich werden die Positionen der Kritiker des westlichen Abschreckungssystems in Einzelfragen (z. B. Bewertung einzelner Waffensysteme) sowie zu Ansätzen zukünftiger Rüstungskontrolle dargelegt.
I. Unterschiedliche Vorstellungen über die Gefahren für Sicherheit und Frieden
In der Öffentlichkeit hat sich eine breite sicherheitspolitische Diskussion entwickelt. Der Frieden zwischen West und Ost, der als gewährleistet galt, erscheint nunmehr vielen gefährdet. Die Ansichten darüber, worauf dies zurückzuführen ist und welche Abhilfe geschaffen werden könnte, weichen stark voneinander ab und sind häufig sogar gegensätzlich. Nach verbreiteter Meinung ist der Frieden in Europa durch das Überhandnehmen des Rüstens bedroht. Der Ost-West-Konflikt, der im Zeichen der Entspannung in einen Prozeß der allmählichen Überwindung eingetreten zu sein schien, gewinne durch militärisches Drohen neuerlich an Schärfe. Es bilde sich ein Verhältnis der Konfrontation heraus, das ein kriegerisches Austragen von Streitigkeiten wahrscheinlich mache. In dem Maße, wie neue Maßnahmen die während der Entspannung festgelegten Beziehungen änderten und die Rüstungsdynamik zu einem wesentlichen Faktor der Entwicklung machten, werde das zwischenstaatliche Zusammenleben auf dem europäischen Kontinent unsicher und problematisch. Daher komme es entscheidend darauf an, ein weiteres „Drehen der Rüstungsschraube" zu vermeiden und Schritte auf Abrüstung hin zu unternehmen.
Aus entgegengesetzter Perspektive stellen sich die Dinge ganz anders dar. Der Frieden in Europa erscheint weniger durch das Rüsten als vielmehr durch militärische Un-gleichgewichte bedroht. Entscheidende Wichtigkeit wird der Tatsache beigemessen, daß die UdSSR— anders als die NATO-Staaten— seit Anfang bis Mitte der sechziger Jahre unablässig, systematisch und konsequent ihren Aufwand für militärische Zwecke um jährlich 4 bis 5 % gesteigert hat und daß angesichts der gesunkenen Militärausgaben der USA und anderer westlicher Länder in den siebziger Jahren erhebliche sowjetische Übergewichte in bestimmten Bereichen entstanden sind. Die Sorge, daß nicht mehr auszugleichende militärische Unterlegenheiten der NATO auf dem europäischen Schauplatz eine akute sicherheitspolitische Gefährdung nach sich ziehen könnten, wird durch die offensive Ausrichtung der Warschauer-Pakt-Streitkräfte, ihre Bewaffnung und Operationsgrundsätze verstärkt.
Die Frage lautet, inwieweit das westliche Bündnis noch damit rechnen könne, die Sicherheit seines Gebietes gegen einen östlichen Angreifer zu gewährleisten. Wenn aber, so meint man, dies fraglich erscheine, dann könne nur das Risiko einer kontinental-strategischen Eskalation die sowjetische Führung im Krisenfall mit hinreichender Gewißheit von einem militärischen Vorgehen gegen Westeuropa abhalten. Das euro-strategische Rüsten der UdSSR lasse jedoch deutlich die Absicht erkennen, der NATO eine Eskalationsfähigkeit in Europa zu verwehren und darüber hinaus die westeuropäischen Länder der Drohung eines entwaffnenden Kernwaffenerstschlags von selten der UdSSR auszusetzen. Eine solche Lage erscheint auch im Blick auf den Friedensfall gefährlich: Die NATO-Staaten hätten einen Krieg in Europa einseitig zu fürchten und müßten ihn dann durch „vorausschauende Anpassung“ (Alois Mertes) an Moskau zu vermeiden suchen. Von Margaret Thatcher über Helmut Kohl bis Francois Mitterrand stimmen dementsprechend die Verantwortlichen in Westeuropa darin überein, daß die UdSSR ihre Länder bedrohe und daß man dem mit einer gewissen Gegenrüstung begegnen müsse, wenn man seine politische Selbstbestimmung behaupten wolle.
II. Drei grundlegende Sicherheitsphilosophien
Abbildung 2
Tabbelle 2: Sowjetische und westliche Angaben über die Zahl der Mittelstreckenwaffen)
Tabbelle 2: Sowjetische und westliche Angaben über die Zahl der Mittelstreckenwaffen)
Die gegensätzlichen Auffassungen, die hier idealtypisch gegenübergestellt worden sind, beruhen auf unterschiedlichen prinzipiellen Vorstellungen über Frieden und Sicherheit Was stört das friedliche Zusammenleben der Staaten? Wie kann man solchen Störungen wirksam begegnen? Die Antworten, die auf diese und ähnliche Fragen gegeben werden, summieren sich zu sicherheitspolitischen Philosophien, von denen sich dann Situationseinschätzungen und Handlungsanweisungen ableiten. Die verschiedenen denkbaren Philosophien lassen sich mit drei Grundthesen kennzeichnen: „Sicherheit durch Rüstungsstärke", „Sicherheit durch Rüstungsgleichgewicht" und „Sicherheit durch Rüstungsabstinenz". Für jede dieser Philosophien gibt es eine spezifische Anschauung der politisch-militärischen Beziehungen zwischen den Staaten, d. h. eine bildhafte Vorstellung, die alle Überlegungen gemäß den zugrunde gelegten Prämissen bestimmt (Paradigma).
Die Philosophie der Sicherheit durch Rüstungsstärke, die am Paradigma des Zweikampfes orientiert ist, spielt in der jetzigen westeuropäischen Diskussion keine wesentliche Rolle. Die Philosophie der Sicherheit durch Rüstungsgleichgewicht beruht auf dem Paradigma des Gefangenendilemmas. Zwei Gefangene, die sich in Gewahrsam der Justiz befinden, sehen sich mit der Aussicht konfrontiert, daß sie durch gemeinsam-solidarische Verweigerung eines Schuldeingeständnisses die Freilassung erwirken können. Zugleich jedoch ist demjenigen von ihnen, der sich im Gegensatz zu seinem Komplizen geständig zeigen sollte, als reuigem Sünder neben der Straflosigkeit ein Lohn zugesagt. Wenn freilich beide Gefangenen den Schuld-tatbestand anerkennen, wird die Zusicherung hinfällig. Beide müssen dann mit einer Strafe rechnen, die allerdings wegen der gezeigten Geständigkeit niedriger ausfallen würde, als wenn der eine Angeklagte nur aufgrund der Belastung durch seinen „reuigen" Komplizen verurteilt werden würde. In dieser Lage (in der keiner von beiden sein Verhalten mit dem anderen absprechen kann und irgendeine Gewähr für die Einhaltung eines etwaigen Schweigeversprechens hat) ist es wahrscheinlich, daß beide ihre Aussage machen werden und damit die Chance der Freilassung verpassen: Jeder muß sich sagen, daß er, ob der andere nun schweigt oder redet, mit Geständigkeit am besten wegkommt (Belohnung statt Straflosigkeit bzw. geringeres statt höheres Strafmaß).
Das Gefangenendilemma dient als Gleichnis für die Situation, in der sich militärische Gegner im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen befinden. Jeder kann den anderen, wenn dieser ausschließlich auf Frieden setzt und demgemäß keine ausreichende Gegenrüstung betreibt, militärisch überwältigen und damit in die schlechtestmögliche Lage versetzen. Wenn aber beide dieses Risiko vermeiden und aus Sorge voreinander fortlaufend rüsten, dann begeben sie sich in die Gefahr, daß aus ihrer Konfrontation im Krisenfalle ein wechselseitig ungewollter und schädlicher Krieg entsteht. Wenn dieser für beide Seiten bedrohliche Ausgang verhindert werden soll, dann müssen Mittel und Wege gefunden werden, um dem gemeinsamen Interesse an Kriegsverhütung die Priorität zu verschaffen und einen Mißbrauch der Verständigungsbereitschaft einer Seite durch die andere auszuschließen.
Die Philosophie der Sicherheit durch Rüstungsabstinenz legt das Bild des „Chicken" -Spiels zugrunde. Bei diesem Wettstreit, der angeblich zwischen kalifornischen Halbstarken ausgetragen wird, rasen auf einem einbahnigen Fahrbahnstreifen zwei Autofahrer aufeinander zu. Das Spiel muß in einer tödlichen Carambolage enden, wenn nicht einer von beiden vor dem Zusammentreffen ausweicht. Der gilt aber dann unter seinen Kumpanen als feiges „Hühnchen" (chicken), so daß ein starker Anreiz besteht, die Katastrophe zu riskieren. Nach diesem Paradigma sind die gegeneinander rüstenden Konfliktparteien den aufeinander zurasenden Autofahrern vergleichbar. Nur dadurch, daß der eine und/oder der andere aus dem irrsinnigen Wettstreit aussteigt, erscheint ein Überleben möglich. Es gilt also nicht, die Konfrontation, die militärische Rivalität erfolgreich durchzustehen (wie die Philosophie der Sicherheit durch Rüstungsstärke gebietet) oder in Grenzen zu halten (wie es gemäß der Philosophie durch Rüstungsgleichgewicht erforderlich wäre), sondern statt dessen die militärische Rivalität durch Verweigerung der dazu nötigen Rüstung überhaupt zum Erliegen zu bringen. Nur so läßt sich, dieser Ansicht zufolge, der allein ausschlaggebende Faktor, nämlich das Kriegsrisiko, beherrschen.
III. Postulat des Rüstungsgleichgewichts im Sinne einer militärischen Parität
Die Leitvorstellung des Gleichgewichts wird weithin so verstanden, daß um der Kriegsverhütung willen ein Gleichstand der militärischen Kräfte (Parität) erforderlich sei. Wer auf dieser Basis den NATO-Doppelbeschluß kritisiert, meint, daß ein militärischer Gleichstand bestehe und daß daher die vorgesehene Neustationierung westlicher Raketen zu einer unzulässigen Überlegenheit des Westens führen würde. Er kann sich darauf berufen, daß die sowjetische Führung stets, seit Breschnew am 6. Mai 1978 in Bonn den Grundsatz der militärischen Parität mit seiner Unterschrift bekräftigt hat von der Existenz eines „annähernden Gleichgewichts" ausgegangen ist. Von der NATO freilich ist diese Darstellung des Kräfteverhältnisses ebenso dauerhaft bestritten worden. Zur Klärung muß man auf die Stärke-Angaben beider Seiten zurückgreifen. Bis Anfang 1981 lagen nur westliche Daten vor. Ab 1981 läßt Moskau verlauten, daß die UdSSR und die NATO-Staaten in Europa jeweils ca. 1 000 Systeme (Startgeräte) besäßen. Zunächst wurde diese Zahl nicht näher aufgeschlüsselt oder erläutert. Dabei hieß es gelegentlich, daß der Westen über das Eineinhalb-fache an Sprengköpfen verfüge Die amtlichen westlichen Stellen machen eine völlig andere Rechnung auf. Demnach liegt die Zahl der land-und seegestützten amerikanischen Nuklearflugzeuge in und um Europa nur wenig über 200, während die UdSSR etwa über das Dreifache verfügt. Mit rund 175 modernen SS-20-Startgeräten und 380 älteren SS-4/5-Systemen auf dem europäischen Territorium der UdSSR im Sommer 1981 besaßen sie ein vollständiges Monopol gegenüber dem westlichen Bündnis. Allerdings befinden sich im französischen Arsenal 18 landgestützte Raketensysteme, die nach amerikanisch-sowjetischem Einvernehmen bei SALT wie die sowjetischen SS-20, SS-4 und SS-5 als MittelstreckenWaffen gelten können.
Nach sowjetischer Auffassung jedoch sind in den Vergleich weitere 144 seegestützte Raketensysteme Großbritanniens und Frankreichs einzubeziehen, wofür die UdSSR ihrerseits 18 seegestützte SS-N-5 in der Ostsee— nicht aber die SS-N-5 im Eismeer — einzurechnen bereit ist. Die Regierungen der NATO-Staaten machen gegen die Einbeziehung der britischen und französischen Systeme sowohl militärische als auch politische Gründe geltend. Nach den SALT-Kriterien sind die seegestützten Systeme der beiden westeuropäischen Länder — anders als die veralteten SS-N-5, die Moskau bei SALT als unbedeutend dargestellt hat — den Interkontinentalwaffen zuzuzählen. Demzufolge haben auch die sowjetischen Führer die britischen und französischen Systeme bis 1980 ausdrücklich nicht in die Mittelstreckengleichung eingeordnet Das wird nach westlicher Ansicht den politischen Verhältnissen gerecht: Die britischen und französischen Systeme unterliegen nationaler Verfügungsgewalt und stehen dem westlichen Bündnis nicht für Zwecke der gemeinsamen Abschreckung mittels eskalatorischer Optionen zum Schutz der nichtnuklearen Mitgliedsländer zu Gebote. Wie die seitherigen sowjetischen Vorschläge bei den Genfer Verhandlungen erkennen lassen, will der Kreml durch Einrechnung der britischen und französischen Systeme den USA bzw.der NATO einseitig jede kontinental-strategische Kapazität nehmen (Verlangen nach numerischem Gleichstand zwischen britischen/französischen und sowjetischen Systemen in Europa bei Nullstand für die euro-strategischen Waffen der USA).
Strittig ist auch das Zählkriterium. Bei den Raketen gibt es drei verschiedene Meßgrößen: Startgeräte (Systeme), Raketen und Sprengköpfe. Als Startgeräte bezeichnet man die Abschußplattformen. Das sowjetische Kaltstartverfahren gestattet es u. a. bei der SS-20, nacheinander mehrere— nämlich bis zu vier — Raketen von einer Plattform abzufeuern (Nachladbarkeit). Eine Rakete wie-derum kann — was nochmals allein für das Mittelstreckensystem SS-20 zutrifft— mehrere (drei) unabhängig voneinander ins Ziel zu lenkende Sprengköpfe besitzen (MIRV = Multiple Independently Targetable Reentry Vehicle) Nach westlicher Ansicht geht es nicht an, Startgeräte mit jeweils einer Rakete und einem Sprengkopf Startgeräten mit jeweils mehreren Raketen und Sprengköpfen gleichwertig gegenüberzustellen, wie es von sowjetischer Seite geschieht In neuester Zeit hat zwar Generalsekretär Andropow die Bereitschaft ausgedrückt, auch die Sprengkopf-zahlen zu berücksichtigen, doch blieb dabei nicht nur das Nachladbarkeitsproblem unberücksichtigt, sondern es veränderte sich auch nicht die bis dahin in Moskau festgelegte Ost-West-Stärkerelation, weil für die westlichen Staaten entsprechend vergrößerte Sprengkopfzahlen in Ansatz gebracht wurden (Zählung westlicher MRV-Streusprengköpfe [MRV = Multiple Reentry Vehicle; die Sprengköpfe können nicht unabhängig verschiedene Ziele ansteuern], die nach den vereinbarten SALT-Kriterien als Einfachsprengköpfe zu gelten haben, als MIRV-Mehrfach.
Sprengköpfe; Behandlung britischer und französischer Rüstungsplanungen im MRV-Bereich als bereits eingetretene MIRV-Wirklichkeit)
Eine weitere Streitfrage ist, ob nur die im europäischen Raum stationierten oder aber die weltweit vorhandenen Mittelstreckenwaffen gegeneinander aufgerechnet werden sollen. Die sowjetische Führung fordert eine Begrenzung auf Europa. Das würde ihr die Möglichkeit verschaffen, mit einem Teil der jenseits des Uralgebiets in Sibirien stationierten, nicht-gezählten SS-20 Westeuropa zu erreichen. Außerdem dürfte die UdSSR bald die Möglichkeit haben, die SS-20 statt wie bisher in ein bis drei Wochen innerhalb von ebenso vielen Tagen über Tausende von Kilometern hinweg zuverlegen. Die westlichen Regierungen halten daher ein Abkommen über weltweite Begrenzung für notwendig.
IV. Rüstungsgleichgewicht als Ausgewogenheit der militärischen Optionen
Die Auffassung, daß militärisches Gleichgewicht ein Gleichstand der Militärpotentiale sei, ist problematisch. Strukturgleiche Streitkräfte, deren identische Komponenten man gegeneinander abzählen könnte, gibt es nicht. Unterschiedlich sind auch die Erfordernisse, die sich aus unterschiedlichen geostrategischen Positionen und militärischen Operationsdoktrinen ergeben. Viele Sicherheitsexperten leiten daraus den Schluß ab, daß es nicht so sehr auf die Waffen-und Truppenbestände schlechthin als vielmehr auf deren Angemessenheit im Blick auf die jeweils angestrebten Ziele ankomme. Welche Seite — der Angreifer oder der Verteidiger — besitzt voraussichtlich die Fähigkeit, das gesetzte Ziel zu erreichen? Die Geschichte ist voll von Beispielen, in denen Angreifer wie Verteidiger mit Kräften unterhalb des Gleichstandes erfolgreich Krieg führen konnten, weil sie durch objektive Umstände, durch ein besonders zweckentsprechendes Instrumentarium, hervorragenden Einsatz der vorhandenen Mittel oder ähnliche Faktoren begünstigt waren. Das hat viele Sicherheitsexperten davon überzeugt, man müsse das Urteil über militärische Verhältnisse auf eine Einschätzung der militärischen Optionen gründen. Die voraussichtlichen militärischen Handlungsmöglichkeiten sollten den entscheidenden Maßstab bilden: Inwieweit könne eine Seite die andere bedrohen, ohne daß diese das mit einer angemessenen Gegenbedrohung abzublocken vermöge? Eine häufig ausgesprochene Sorge lautet, daß die USA vom Konzept der wechselseitigen Abschreckung zwischen Ost und West abgerückt seien und nunmehr ihre militärischen Vorbereitungen an einer Kriegführungsstrategie orientierten. Damit verbindet sich die Vorstellung, daß das Gleichgewicht der militärischen Optionen zerstört werde, weil eine Seite gegenüber der anderen eine über Kriegsverhinderung hinausgehende Handlungsmöglichkeit für sich beanspruche und damit eine die gegnerische Kriegsverhütungsfähigkeit in Frage stellende zusätzliche Option gewinne. Hinter dieser Befürchtung steht die Logik, daß diejenige Seite, die ein Monopol an Kriegführungsfähigkeit besitze, Einschüchterung und Erzwingung ausüben könne: Die andere Seite müsse den Kriegsfall, den allein sie zu fürchten habe, unbedingt zu vermeiden suchen und daher die ihr abverlangten Zugeständnisse machen. Der Gleichgewichtsbegriff, der hier zugrunde gelegt wird, heißt wechselseitige Abschreckung durch die Fähigkeit beider Seiten, den Gegner im Kriegsfälle mit unannehmbarem Schaden zu bestrafen und/oder einander militärischen Erfolg zu versagen.
Die Ansicht, daß die USA ihr Handeln nicht mehr auf Abschreckung, sondern Kriegführung ausrichteten, wird wesentlich mit Hinweisen auf nuklearstrategische Counterforce-Konzepte begründet Seit Anfang bis Mitte der siebziger Jahre, so heißt es, seien die Amerikaner von dem Abschreckungsgrundsatz abgegangen, daß man zwar die zivile Gesellschaft, nicht aber die Vergeltungswaffen der anderen Seite physisch bedrohen müsse, um so dem potentiellen Gegner zugleich jede etwaige Lust zum Krieg zu nehmen und ihn auf seine eigene Abschreckungs-, weil Vergeltungsfähigkeit vertrauen zu lassen. „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter." Dieses Gleichgewicht der Optionen, das jeder Seite kriegerische Handlungsmöglichkeiten ohne ein begleitendes Risiko der Selbstzerstörung verwehrt, erscheint beispielsweise durch amerikanische Vorkehrungen zur Bekämpfung der sowjetischen Abschreckungs-und Vergeltungswaffen gefährdet Wenn die Kapazitäten der UdSSR durch einen Erstschlag ausgeschaltet oder stark eingeschränkt würden, hätten die USA im Unterschied zur Sowjetunion von dem folgenden Krieg nichts mehr zu befürchten.
Diese These ist nicht ohne Widerspruch ge-
blieben. Zunächst wird darauf verwiesen, die sowjetische Führung verfüge doch gegenwärtig noch weit mehr als in den fünfziger Jahren über die Gegenabschreckung, daß sie im Kriegsfälle die amerikanische Macht indirekt durch die physische Vernichtung der europäischen NATO-Verbündeten in nicht mehr akzeptabler Weise schwächen könnte. Vor allem aber wird geltend gemacht, daß die amerikanische Sicherheitsstrategie nicht richtig beurteilt werde. Zum einen handele es sich um eine Reaktion auf vorausgegangene Entwicklungen der sowjetischen Strategie. Maßgebliche amerikanische Sowjetologen, Sicherheitsexperten und Politiker sind seit Mitte der siebziger Jahre zunehmend zu der Über-zeugung gelangt, daß die politischen und militärischen Führer der UdSSR den Leitgedanken der Abschreckung niemals akzeptiert haben
In der Tat weisen sowjetische Publikationen aus, daß der Kreml die westliche Abschrekkungspolitik zwar respektiert, solange und soweit sie Realität ist, aber zugleich nach Kräften um ihre Diskreditierung und Beseitigung bemüht ist, weil als Test der Sicherheit allein der — als Möglichkeit ernst genommene — Kriegsfall erscheint. Dementsprechend gilt in Moskau eine „ausreichende Verteidigung" als entscheidendes Erfordernis: In jeder kriegerischen Situation sollen das eigene überleben, die Zurückschlagung des Gegners und dessen schließliches Niederringen so weit wie möglich gewährleistet sein — was eine Marge an einseitigem militärischen Vorteil voraussetzt Seit der Spätzeit Carters, der sein Amt als engagierter Befürworter von Konzepten militärischer Zurückhaltung angetreten hatte, wird diese Einschätzung in Washington allgemein geteilt. Die praktische Schlußfolgerung der Amerikaner lautet, daß man die militärische Herausforderung, die in dem sowjetischen Verhalten liege, nicht unbeantwortet lassen könne. Die USA müßten, wenn ihre Abschreckung gegenüber der UdSSR nicht unglaubwürdig und damit wirkungslos werden solle, der sowjetischen Kriegführungsfä-higkeit ein Gleiches entgegenstellen und so die Ausgewogenheit der sicherheitspolitischen Optionen auf beiden Seiten wiederherstellen. Gegen diese Darstellung erhebt sich der Einwand, daß in Washington schon früher amtlich von „Counterforce" die Rede gewesen sei. Mithin habe man längst vor Carter an eine Schadensbegrenzung durch Dezimierung des gegnerischen Vergeltungspotentials — also an den Erwerb einer Kriegführungsfähigkeit gegenüber der UdSSR — gedacht. Dieser These stehen die Ergebnisse einer jüngeren amerikanischen Untersuchung entgegen. Der Verfasser ist den sicherheitspolitischen Anfängen der Carter-Administration nachgegangen und hat dabei sozusagen als Nebenprodukt eine bis dahin vorhandene, nahezu totale Unvorbereitetheit der USA auf den Kernwaffenkrieg entdeckt. Carter hatte nämlich, als er die Präsidentschaft übernahm, erstmals angeordnet, die im Nuklearkriegsfalle vorgesehenen Maßnahmen praktisch durchzuspielen, um damit seine Überzeugung von dem großen Sicherheitspolster seines Landes zu belegen. Der Test erbrachte jedoch ein anderes Resultat— nämlich ein totales Desaster, das einen amerikanischen General zu der Bemerkung veranlaßte, die UdSSR hätte, wenn es ernst gewesen wäre, die nukleare Auseinandersetzung mit den USA nach allen Beurteilungskriterien militärisch gewonnen. Diese ernüchternde Erfahrung wurde in der Folgezeit zu einem entscheidenden Motiv für den Entschluß, von dem wenig reflektierten Vertrauen auf die Abschreckungswirkung des eigenen Kernwaffenarsenals Abschied zu nehmen und sich analog zu den in der UdSSR getroffenen Vorkehrungen auf die Eventualität des Kriegsfalles einzustellen. Nur wenn der sowjetischen Führung die Aussicht darauf verwehrt werde, daß ihr Land einen nuklear-strategischen Krieg im Unterschied zu den USA notfalls noch aushalten könnte, sei die wechselseitige Abschreckung weiterhin gewährleistet
Die amerikanische Hinwendung zu einer Abschreckungsstrategie, die den Hinweis auf die eigene Fähigkeit zu eventueller Kriegführung einschließt, ist nach Ansicht vieler Kritiker in den USA noch nicht folgerichtig genug vollzogen worden. Das Argument richtet sich gegen die von Präsident Carter proklamierte und von seinem Nachfolger Reagan übernommene Abschreckungsdoktrin der „entgegenwirkenden Strategie" (countervailing strategy) Theorie und Praxis gemäß dieser Doktrin, so lautet der Vorwurf, hätten das alte Dogma, daß die Abschreckung allein auf die Fähigkeit zur „Bestrafung" der anderen Seite mit unannehmbarem Schaden zu gründen sei, nur sehr unvollkommen überwunden. Man habe zwar neben der Bestrafung des potentiellen Gegners auch die Verwehrung militärischer Erfolge von seiner Seite in das Instrumentarium der Abschreckung aufgenommen. Es fehle jedoch das erforderliche dritte Element — nämlich die Konfrontation der anderen Seite mit der Aussicht, daß man, wenn es zum Kriege käme, diesen auch durchstehen könne. Erst wenn man diese Fähigkeit besitze, stehe man auf der gleichen Ebene mit der UdSSR und sei vor der Gefahr sowjetischer Kriegsandrohungen und Einschüchterungsmanöver geschützt. Diese Konsequenz ist freilich vom amtlichen Washington bisher nicht vollzogen worden: Die nach wie vor gültige Doktrin sieht keine gewährleistete amerikanische Fähigkeit zum überleben in einem weltweiten Kernwaffenkrieg vor ,
V. Besorgnisse hinsichtlich der militärischen Ausgewogenheit im regionalen Rahmen
Seit das Stationierungsvorhaben der NATO vom Dezember 1979 in der westeuropäischen Öffentlichkeit diskutiert wird, ist immer wieder die Befürchtung laut geworden, die Amerikaner könnten auf dieser Grundlage einen auf Europa begrenzten Nuklearkrieg erwägen bzw. riskieren. Dahinter steht die Vorstellung, daß die USA, solange sie auf dem europäischen Schauplatz kontinental-strategisch in der Hinterhand seien, automatisch mit ihrem interkontinental-strategischen Arsenal zum Schutz ihrer Verbündeten engagiert seien. Sobald aber Washington in Europa über ausreichende Gegenpotentiale zur sowjetischen Mittelstreckenrüstung verfüge, könne es an eine regional begrenzte Kriegführung denken und demgemäß eine „Europäisierung des nuklearen Risikos" ins Auge fassen. Das würde auf eine sicherheitspolitische Abkopplung der westeuropäischen Länder von den USA hinauslaufen: Eine wechselseitige Abschrekkung gäbe es nur noch im Verhältnis zwischen den beiden Weltmächten, während ein Ost-West-Krieg, der das nordamerikanische Territorium aussparen würde, für die USA mit keinem unnannehmbaren Risiko verknüpft wäre. Die auf Westeuropa erweiterte Abschreckung der Vereinigten Staaten wäre aufgehoben. Beide Weltmächte könnten ungestraft einen konventionellen und nuklearen Krieg in Europa führen. Als die einzige europäische Macht, die den Krieg nicht zu fürchten hätte, könnte dann die UdSSR mit militärischen Drohungen Druck auf die anderen Länder ausüben.
Eine derartige Annahme steht zu den Absichten im Widerspruch, die sich mit dem NATO-Beschluß vom Dezember 1979 verbinden. Bereits seit Anfang der siebziger Jahre zeichnete sich ab, daß die in Großbritannien stationierten amerikanischen Mittelstreckenflugzeuge wegen der zunehmend vervollkommneten Luftabwehr des Warschauer Pakts eine ständig abnehmende Chance zum Eindringen bis über sowjetisches Gebiet haben. Die westliche Fähigkeit, im Kriegsfälle die Bedrohung Westeuropas durch vorrückende östliche Streitkräfte mit Nuklearschlägen gegen die UdSSR zu beantworten und damit im vorangehenden Krisenfalle die sowjetische Führung überhaupt vom möglichen Entschluß zum Krieg abzuschrecken, ist demnach im Schwinden begriffen. Das jedoch führte, als nie NATO 1974 mit der Beratung von Gegenmaßnahmen zur wachsenden sowjetischen Rüstung begann, zunächst nicht zu euro-strategischen Überlegungen. Der entscheidende Anstoß kam im Oktober 1977 von Bundeskanzler Schmidt. In einer vielbeachteten Rede vor dem Londoner Institut für strategische Studien wies er auf das Problem hin, das unter der Bedingung einer interkontinental-strategischen Parität durch einseitiges sowjetisches Rüsten auf den darunter liegenden Ebenen entstanden sei. Eine solche „Grauzone" sei auch bei den Mittelstreckenwaffen zu erkennen. In der Öffentlichkeit wurde Schmidts These wesentlich durch Hinweise auf den Aufwuchs sowjetischer „Backfire“ -Bomber und SS-20-Raketen illustriert. Worum es dem Bundeskanzler ging, machte er in Gesprächen mit der amerikanischen Regierung deutlich: Die Mittelstreckenrüstungen sollten nicht außerhalb der wechselseitigen SALT-Begrenzung bleiben; das zwischen den beiden Weltmächten zu vereinbarende strategische Gleichgewicht sollte auch die regionalen Potentiale einschließen und so die UdSSR in Europa auf ein erträgliches Maß beschränken.
Präsident Carter war jedoch nicht willens, SALT unnötigerweise (wie er meinte) zu komplizieren. Nach langem Zögern war er auf westeuropäisches Drängen hin bereit, eine Gegengewichtslösung in Form zusätzlicher amerikanischer Stationierungen auf westeuropäischem Boden zu akzeptieren. Seit dem ausgehenden Winter 1979 beriet die NATO über die Einzelheiten. Anregungen amerikanischer Militärs, dem sowjetischen Mittelstreckenpotential ein gleich starkes Arsenal entgegenzusetzen, scheiterten am Widerspruch sowohl der Westeuropäer als auch der zivilen Instanzen in Washington. Die Entscheidung, ein zwar substantielles, gleichwohl aber unterlegenes Potential aufzubauen, war wesentlich durch die Erwägung motiviert, daß man nicht die Option eines auf Europa begrenzbaren Nuklearkrieges schaffen dürfe. Es gehe darum, der sowjetischen Führung zu demonstrieren, daß im Falle einer militärischen Bedrohung Westeuropas an Ort und Stelle amerikanische Systeme bereitstünden und daher aller Wahrscheinlichkeit nach in die Auseinandersetzungen hineingezogen werden würden. Im Blick auf Moskau solle die Kopplung zwischen der westeuropäischen Sicherheit und dem amerikanischen Interkontinentalarsenal verstärkt werden. Die im NATO-Beschluß vorgesehenen Maßnahmen wurden auf diese Logik abgestimmt. 572 Flugkörpersysteme der NATO mit ebenso vielen Sprengköpfen können kein kontinental-strategisches Duell mit den sowjetischen Raketen gleicher Reichweiten aufnehmen, weil diese ein Mehrfaches an Sprengköpfen haben. Die westliche Seite würde sich damit auf eine Auseinandersetzung einlassen, bei der sie in jedem Fall den kürzeren ziehen würde. Sinnvoll ist die vorgesehene Stationierung von 108 Pershing 2 und 464 Marschflugkörper in Westeuropa nur, wenn die sowjetische Führung mit ihnen die Gefahr eines weltweiten nuklearen Schlagabtauschs verbunden sieht und daher Situationen ihres möglichen Einsatzes zu vermeiden sucht. Dies ist die beabsichtigte Wirkung, die nach Ansicht der Stationierungsbefürworter den Kopplungseffekt ausmacht, der den Frieden auch angesichts eines überlegenen militärischen Potentials der UdSSR in Europa zu sichern geeignet ist.
In dieser Sicht können die Westeuropäer schwerlich auf ein Zwischenglied verzichten, das die Lücke zwischen dem konventionellen bzw. taktisch-nuklearen Gefechtsfeld einerseits und der Abschreckungsebene der amerikanischen und sowjetischen Interkontinental-waffen andererseits schließt. Denn das Engagement der USA auch bei äußerstem Risiko für sich selbst die eigene Abschreckungsmacht zur Abwendung von Existenzbedrohungen der westeuropäischen Verbündeten einzusetzen, ist nach dieser Ansicht nicht automatisch gewährleistet: Die „entgegenwirkende Strategie" sieht keine Alles-oder-Nichts-Eskalation vom konventionellen oder taktisch-nuklearen Gefechtsfeld auf die interkontinentale Ebene vor, sondern setzt ein lückenloses Instrumentarium selektiver Eskalationsmöglichkeiten voraus. Aufmerksame Beobachter der inneramerikanischen Szene weisen zudem darauf hin, wie außerordentlich gewagt es sei, unter allen Umständen und ohne konkrete Unterpfänder mit einem „vermeintlichen heiligen und stets vernünftigen Egoismus Amerikas" zu rechnen, der, was immer auch komme, Westeuropa als Gegengewicht zur UdSSR mit allen Mitteln zu stützen genötigt sei
Das gelte um so mehr, als die sowjetische Politik auf Abkopplung Westeuropas von Nordamerika abziele Dieser Trend werde unter anderem von der sowjetischen Mittelstreckenrüstung vorangetrieben. Die amerikanischen Nuklearflugzeuge in Großbritannien könnten ihren Auftrag, einen etwaigen Krieg in Mittel-und Westeuropa auf sowjetisches Territorium zurückschlagen zu lassen, in absehbarer Zeit nicht mehr erfüllen. Sie bedürfen eines Ersatzes durch weniger abschußgefährdete Systeme. Auch müsse man die stark angewachsene Gefechtsfeld-Überlegenheit des Warschauer Pakts durch verbesserte westliche Fähigkeiten zur Bekämpfung der den östlichen Angriffsspitzen folgenden Truppenverbände in Frage stellen, um Moskau jeden eventuellen Entschluß zu Krieg und Offensive von vornherein zu verleiden. Schließlich komme es darauf an, die durch die SS-20 geschaffene sowjetische Fähigkeit zu einem Entwaffnungserstschlag gegen Westeuropa wieder mit einem langfristig glaubwürdigen Risiko für die UdSSR zu belasten. Nur wenn die USA der von der Sowjetunion in Aussicht gestellten Bedrohung ihrer westeuropäischen Verbündeten ein wirksames Abschreckungshemmnis in Gestalt moderner Flugkörper auf westeuropäischem Boden entgegenstellen könnten, sei Europa vor der Gefahr sowohl einer kriegerischen Versuchung als auch politischer Druckausübung auf seifen Moskaus dauerhaft und zuverlässig geschützt.
VI. Westliche Bedrohungsoptionen gegenüber der UdSSR als Thema der westeuropäischen Friedensdiskussion
Es ist eine auffallende Erscheinung der gegenwärtigen Diskussion, daß die Frage, ob die UdSSR durch die vorgesehene westliche Flugkörperstationierung einer unzumutbaren Bedrohung ausgesetzt werde, eine wichtige Rolle spielt. Teile der westeuropäischen Öffentlichkeit folgen der sowjetischen Darstellung, daß Pershing 2 und Marschflugkörper die östliche Weltmacht mit der Gefahr eines westlichen Erstschlags konfrontierten. In aller Regel wird dies mit Hinweisen auf die kurze Flugzeit der Pershing 2 begründet: Nach dem Abschuß der Rakete würde der UdSSR eine Warnzeit von drei, fünf oder sechs Minuten bis zum Einschlag verbleiben, so daß es zu keinerlei Gegenmaßnahmen mehr kommen könne. Die westliche Waffe würde ihre Ziele erreichen, ohne daß man sich dort vorher irgendwie zu schützen vermöchte und Vergeltungsschläge auszulösen in der Lage sei. Diese Argumentation läuft auf die These hinaus, die Sowjetunion unterliege damit der Drohung einseitig-augenblicklichen Ausgeschaltetwerdens. Die sowjetische Fähigkeit zum Vergeltungsschlag — mithin zur Abschreckung der NATO — erscheint in Frage gestellt. Diese These ist nacheinander in verschiedenen Variationen geltend gemacht worden. Zuerst hieß es, der UdSSR drohe von Westeuropa eine schlagartige Zerstörung ihrer Interkontinentalwaffen, mit denen der amerikanische Urheber getroffen werden könne. Als die Befürworter der amtlichen westlichen Sicherheitspolitik einwandten, 108 Pershing 2 mit einer Reichweite von nur 1 800 km könnten unmöglich die weiträumig bis zur Beringstraße verteilten ca. 2 400 interkontinentalen Abschußplattformen der UdSSR oder auch nur die reichlich halb so vielen landgestützten Interkontinentalraketenstartgeräte (die zu ca. 90% östlich von Moskau stationiert sind) vernichten, änderte sich die Argumentation. Nunmehr erschienen die — weniger zahlreichen — sowjetischen Kommando-, Kontroll-und Kommunikationszentralen (K 3) bedroht, die den Einsatz der nuklearstrategischen Systeme (einschließlich des „Backfire" und der SS-20) steuern. Auch das erwies sich als unhaltbar: Die K 3-Zentralen der UdSSR sind, wie sich herausstellte, nur zum geringen Teil in den westlichen Militärbezirken untergebracht und befinden sich in regionaler Zuordnung zu den entsprechenen Systemen überwiegend östlich der Wolga und des Ural. Da kommt die Pershing 2 von vornherein gar nicht hin. Im übrigen betonen maßgebliche Militärexperten, daß aller Grund zu der Annahme bestehe, daß nicht nur die see-, sondern auch die landgestützten Raketen der UdSSR mit Zielprogrammen ausgestattet seien, auf die bei unterbrochener Verbindung zu den Leitzentralen zurückgegriffen werden könne. Die von ihnen ausgehende Gefahr wäre daher keineswegs gebannt, falls die Leitzentralen tatsächlich ausgeschaltet werden könnten.
Dieses Diskussionsergebnis hat eine nochmals veränderte Darstellung ausgelöst. Ausgangspunkt der Argumentation ist die These, daß die USA — im Gegensatz zur UdSSR — eine Strategie und Technik des nuklearstrategischen Erstschlags entwickelt hätten. Die kommende Generation der amerikanischen Interkontinentalraketen sei dazu bestimmt, einen Kernwaffenüberfall auf die Sowjetunion zu ermöglichen und diese dann mit einem Schlag nuklear wehrlos zu machen. In der Zwischenzeit, die bis dahin noch bleibe, wolle Washington diese Mission den Pershing 2 in Westeuropa übertragen. Dieses Waffensystem sei wegen seiner Verwundbarkeit im Kriegsfälle kaum zu gebrauchen und biete sich daher nur für den Zweck eines plötzlichen Schlages gegen die sowjetischen Herr-Schafts-und Verwaltungszentralen mitten im Frieden an. Mit 108 Sprengköpfen, bei deren Abschuß der anderen Seite keinerlei Reaktionszeit verbleibe, lasse sich das mühelos bewerkstelligen. Das amerikanische Kalkül (das freilich nur mit dem Hinweis auf eine vielleicht so deutbare kurze Artikel-Äußerung eines „Consultant“ — also ein gelegentlich um Stellungnahmen und Kommentare gebetener Außenstehender — einer zweitrangigen Washingtoner Behörde belegt wird) sei, den Vielvölkerstaat UdSSR mittels „Enthauptung“ in seine Bestandteile zu zerlegen und so politisch wie militärisch zu paralysieren. Gegen diese Darlegung sind zahlreiche Einwände erhoben worden. Die Erstschlagsdrohung, die im Falle der UdSSR beklagt werde, bestehe längst umgekehrt für Westeuropa. Die Pershing 2, so heißt es weiter unter Berufung auf die amtlichen Planungen der NATO, ist im Gegensatz zu den nur als Zweitschlagswaffe brauchbaren langsamen Marschflugkörpern auf eine die sowjetische Hauptstadt ausschließende Reichweite begrenzt worden. Es erscheint auch allen Kennern der zwischenstaatlichen Szene gleichermaßen unvorstellbar, daß irgendeine Führung — sei es nun die der USA, der UdSSR oder eines anderen Landes — einen nuklearstrategischen Schlagabtausch aus völlig heiterem Himmel (d. h. ohne vorangegangene Spannung und Krise) einleiten könnte. Ein Null-Risiko hätte niemand zu erwarten: Selbst wenn die Spitze einer Seite tatsächlich abgeschlagen wäre, bliebe eine umfangreiche nukleare Vergeltung nachgeordneter Stellen (die überdies nachfolgende Kernwaffenschläge befürchten müßten) sehr wahrscheinlich. Im sowjetischen Falle würde das um so eher zu erwarten sein, als sich die Neue Klasse der Nomenklatura beim Zerbrechen ihrer inneren Herrschaft unmittelbar physisch bedroht sähe und daher keinen Anlaß zu nuklearer Zurückhaltung gegenüber dem Westen im Interesse gemeinsamen überlebens mehr hätte. Gerade die Amerikaner, so wird weiter geltend gemacht, hätten seit jeher in besonderem Maße das Erfordernis betont, einen Gegner niemals bis zur Verzweiflung zu treiben und zugleich dessen politische Führungsinstitutionen als die allein friedensfähige Autorität auf der anderen Seite zu schonen.
VII. Rüstungsabstinenz als Alternative zum Rüstungsgleichgewicht
Die Befürworter des Rüstungsgleichgewichts haben darauf hingewiesen, daß nur dort, wo die beiden Weltmächte und ihre Verbündeten ohne eine Option risikoloser Kriegführung einander unmittelbar gegenüberstehen, e Frieden erhalten geblieben ist. Das zeige sich besonders deutlich in Europa. In allen anderen Regionen (d. h. in der Dritten Welt) hätten sich weder die Weltmächte und ihre Verbündeten noch andere Staaten als friedlich erwiesen. Auch der Umstand, daß die sowjetische Führung die Gebote der „friedlichen Koexistenz" ausschließlich auf-die Bereiche der wechselseitigen Abschreckung zwischen Ost und West anzuwenden bereit sei, erweist nach dieser Ansicht die Richtigkeit der These vom Frieden durch Rüstungsgleichgewicht Derartige Hinweise auf geschichtliche Erfahrungen erscheinen einem wachsenden Teil der westdeutschen Öffentlichkeit nicht mehr überzeugend. Die paradoxe Logik, daß die für den Krieg bestimmten Waffen unter bestimmten Bedingungen auch den Krieg verhüten können, widerspricht dem unmittelbaren Gefühl und gilt daher als problematisch. „Die Versicherung, die Atomwaffen würden nie eingesetzt, ist unglaubwürdig: Zwar erfüllt die Bombe ihre Aufgabe nicht, wenn sie fällt, jedoch auch nicht, wenn es unmöglich ist, daß sie fällt, denn dann ist die Drohung leer. Sie erfüllt ihre Aufgabe nur dann, wenn die Katastrophe stets möglich ist, aber nie wirklich wird. Das ist keine verläßliche Grundlage für eine künftige Menschheitsgeschichte.“ Gefordert wird eine Friedenssicherung, welche die Möglichkeit des Krieges nicht voraussetzt, sondern von vornherein ausschließt.
Der Gedanke des Rüstungsgleichgewichts erscheint weiterhin vielfach mit Konfrontation und Verfeindung gleichbedeutend. Denn Gleichgewicht setzt die Definition eines Gegensatzpaares voraus, weil nur Gegenüberstehendes zu einem Verhältnis des Gleichgewichts gelangen kann. Auf diese Weise würden die antagonistischen Größen von Ost und West geradezu erst geschaffen oder zumindest verfestigt. Sie erklärten sich, um ihr jeweiliges Rüsten zu legitimieren, wechelseitig zu Quellen der Bedrohung und drängten sich damit in eine laufend zunehmende Konfrontation. Die Idee des Gleichgewichts scheint demnach auf der Idee der Gegnerschaft zu beruhen und die Grundlage einer Konfliktdynamik zu sein. Außerdem sei das Verhältnis wechselseitiger Abschreckung durch wettrüstensbedingte Instabilität gefährdet. Schließlich müsse man jedes — auch das geringste — Versagensrisiko der Kriegsverhütung im Einzelfalle auf die Länge der Zeit kumulieren — und da ergebe sich unter jeder Kriegswahrscheinlichkeitsannahme schließlich ein großes Risiko. Abschreckung könne daher nur eine „Gnadenfrist“ schaffen, nicht aber das Problem dauerhaft lösen.
Unverkennbar liegt dem Widerspruch gegen das Abschreckungssystem bei vielen — vor allem bei christlichen Kritikern wie Carl Friedrich von Weizsäcker oder Erhard Eppler — ein starkes ethisches Motiv zugrunde. Man müsse sich dem „Wahnsinn des Rüstens" entziehen, dem verketzerten Feind mit menschlichem Verständnis begegnen und nach allem, was das deutsche Volk früher getan habe, eine neuerliche Mitschuld an Krieg und Vernichtung vermeiden. Dabei wird — in begreiflicher Abscheu gegen die Furchtbarkeit der modernen Waffenarsenale — vorausgesetzt daß ein Abbau der Rüstung schlechthin vom Krieg weg-und zum Frieden hinführe. Jedes Rüsten erscheint als ein unproduktives Bemühen, weil es weder wirtschaftlich wertvolle Güter hervorbringt noch der ökologischen Sicherung menschlicher Daseinsvoraussetzungen dient.
Die Argumente gegen die „Unsinnigkeit“ jedes Rüstens können nur dann Gültigkeit beanspruchen, wenn es eine praktikable Alternative gibt. In den radikalen Kreisen der Friedensbewegung ist man davon überzeugt, man könne getrost einseitig abrüsten, weil selbstverständlich alle Staaten und Regierungen an einer Befreiung von den Rüstungslasten interessiert seien und lediglich aus Furcht vor dem Risiko einseitiger Schritte bisher am Rüsten festgehalten hätten. Wenn einer die Initiative ergreife, werde das alle animieren. Andere Abrüstungsbefürworter sind vorsichtiger. Sie glauben nicht, daß man nach der Devise . Alles oder Nichts" handeln könne, und betrachten das Abrüsten als einen längerdauernden Prozeß, den man gleichwohl jetzt vorbereiten und in Gang setzen solle. Man müsse gegenüber der anderen Seite die eigene Zurückhaltung beim Rüsten glaubhaft machen und deutliche Zeichen der Bereitschaft zu einem wachsenden Waffenverzicht setzen. Als richtiger Weg dazu erscheinen Rüstungsstopps und Teilverzichte, über deren Art und Umfang es freilich stark abweichende Auffassungen gibt.
Den Konzepten der Rüstungsabstinenz liegt eine gemeinsame Überzeugung zugrunde: Wer andere militärisch nicht bedroht, wird sich auch keiner militärischen Bedrohung ausgesetzt sehen. Die Auffassungsunterschiede betreffen nur die Frage, ob man den Übergang vom alten Abschreckungssystem zur neuen Sicherheitsordnung mit einem Schritt oder in differenzierterer Stufenfolge erreichen könne. Die grundsätzliche Zuversicht, daß es eine praktikable Alternative zum Rüstungsgleichgewicht gebe, nimmt unter den Abrüstungsbefürwortern mit zunehmen-B der Nähe zur politischen Praxis ab. Carl Friedrich von Weizsäcker wendet sich zwar gegen das Abschreckungskonzept, macht aber zugleich seine Übereinstimmung mit dem Grundgedanken der Abschreckungslogik deutlich, daß Fähigkeiten zur militärischen Bedrohung der Paralysierung durch damit gekoppelte Fähigkeiten zur Gegenbedrohung bedürften. Man müsse mit dem Interesse der. anderen Seite rechnen, „durch Drohung ihre Überlegenheit festzuschreiben“, so daß eigene Rüstungszurückhaltung keinen Verzicht der anderen Seite auf militärische Überlegenheit und auf offensive Versuchungen herbeiführen würde. Abrüstungsangebote hätten daher nur so weit eine Chance, ernsthaft gewürdigt zu werden, wie die Alternative dazu eine vom anderen „als bedrohlich empfundene militärische Verstärkung" sei
Erhard Eppler bekundet die Überzeugung, die Bundesrepublik Deutschland könne Selbst dann, wenn sie ihre Neutralität erkläre und damit auf jede Bedrohungskapazität verzichte, nicht mit Freiheit von Bedrohung rechnen Die Autoren des Palme-Berichts gehen zum einen davon aus, daß das Rüsten an sich eine Gefahr darstelle und daß der Frieden nur mittels Abrüstung zu erreichen sei, und fordern daher eine Wende zu konstruktivem Handeln in diesem Sinne, um „einen irreversiblen Prozeß zu initiieren, der, einmal in Gang gekommen, alle Nationen mitreißt, ihren Beitrag zum gemeinsamen überleben zu leisten". Zum anderen aber sind sie der Ansicht, daß die Existenz der Kernwaffen und das daraus für die Kriegführenden folgende unannehmbare Risiko es ausschließen, den Krieg „als ein Mittel zur Verfolgung nationaler politischer Ziele in Betracht zu ziehen". Der Widerspruch zwischen beiden Auffassungen steht augenscheinlich in einem ursächlichen Zusammenhang mit der ausdrücklich erklärten Unfähigkeit der Palme-Kommission, die zentrale Frage nach den Gründen des nuklearen Wettrüstens zu entscheiden Wenn nicht klar ist, daß das Rüsten schlechthin die Kriegsgefahr nach sich zieht, dann bleibt offen, ob Kriegsverhütung durch Abrüsten oder durch anderes Verhalten zu erreichen ist.
Diese Einschätzungsunsicherheit findet auch in den Aussagen des westdeutschen Kommissionsmitgliedes Egon Bahr deutlichen Ausdruck. Zwischen Ost und West soll ein Verhältnis „gemeinsamer Sicherheit" entstehen, damit die Aufrüstung aufhört und der Gegner zum Partner wird. Dieses neuartige System beruht jedoch auf der durch die Abschrekkung geschaffenen Gewißheit, daß es eine „gesicherte gegenseitige Vernichtung" gibt und daß daher jeder seine „Sicherheit nicht vor dem Gegner, sondern nur noch mit ihm zu erreichen" imstande ist Wovon ist demnach die Friedens-und Sicherheitswirkung zu erwarten — von einer weiterhin aufrechtzuerhaltenden Abschreckung oder von einem diese ablösenden neuen Verhältnis gemeinsamer Sicherheit? Im ersten Fall würde es sich um eine Fortsetzung der bisherigen Sicherheitsbeziehung handeln. Das würde aber auch im zweiten Fall gelten — oder die vorgesehene Gemeinsamkeit des sicherheitspolitischen Bemühens würde gefährdet, weil die zu einem friedlichen Zusammenleben zwingende Grundlage, die wechselseitige Unannehmbarkeit des Kriegsfalles, erschüttert wäre.
Die Auffassung, daß der Frieden in Europa durch Kopplung mit den sich wechselseitig abschreckenden Weltmächten USA und UdSSR gefördert werde, war bis in die siebziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland weithin unbestritten. Dann bildete sich jedoch die gegensätzliche Ansicht heraus, daß die Ankopplung der Klein-und Mittelmächte an die beiden Großen ein erhöhtes Kriegsrisiko nach sich ziehe. Den Weltmächten wird dann, weil sie das größte Militärpotential besitzen, auch die größte Kriegsneigung zugeschrieben. Als Beweis dafür deuten die Vertreter dieser Auffassung die militärischen Verwicklungen der Weltmächte in der Dritten Welt. Hier habe sich eine Spannungsregion entwikkelt, die sich deutlich von dem Entspannungsgebiet Europa (wo die Klein-und Mittelmächte einen stärkeren Einfluß hätten) abhebe. Demnach müssen die Europäer in West und Ost eine größere Distanz zu ihren jeweiligen Führungsmächten anstreben, um nicht in die Gefahr zu geraten, in nahöstliche oder andere kriegerische . Abenteuer" der Großen hineingezogen zu werden. Die sowjetische Militärintervention in Afghanistan wird oft als augenfälliges Exempel bemüht. Diese Sicht ist mit einem inneren Widerspruch behaftet. Egon Bahr sieht das Heil Europas und vor allem Deutschlands in einer allmählichen Ablösung von den USA und der UdSSR, baut aber gleichwohl auf ein unerschütterliches Engagement der amerikanischen Abschrekkungsmacht für die Sicherheit Westeuropas -
Die Philosophie der Rüstungsabstinenz besitzt eine große Variationsbreite. In den meisten Fällen gilt das Streben nicht generell der Abschaffung aller Waffen. Nur die Überschreitung bestimmter Rüstungsstände oder das Vorhandensein bestimmter Waffentypen erscheinen friedensgefährdend. Vor allem die nuklearen Arsenale werden als bedrohlich angesehen. Sie sollen entweder zur Verschrottung kommen oder aber durch die Schaffung entnuklearisierter Zonen an der Ost-West-Scheidelinie bzw. durch Verträge über den wechselseitigen Verzicht auf nuklearen Ersteinsatz entschärft werden. Derartige Empfehlungen werden oft — so von Egon Bahr und Gerard Smith — mit der Konsequenz einer konventionellen Mehrrüstung verbunden, damit ein militärisches Ungleich-gewicht, das bislang durch die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung kompensiert worden ist, künftig auf dem weniger gefährlich erscheinenden Feld der konventionellen Streitkräfte ausgeglichen wird. Die Überzeugung, daß man vor allem die Kernwaffen bekämpfen müsse, erscheint unmittelbar plausibel. Es handelt sich dabei um die fürchterlichsten Vernichtungsinstrumente, die bisher eingesetzt worden sind.
Wenn die Kernwaffenarsenale und die darauf beruhende Abschreckung aufgegeben würden, könnte ein Krieg in Europa wieder führbar erscheinen. Dieser Konsequenz ist sich vor allem die Denkschule um Carl Friedrich von Weizsäcker bewußt. Weizsäcker-Schüler wie Horst Afheldt, Jochen Löser und Alfred Mechtersheimer haben dementsprechend für eine konventionelle Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland plädiert. In Überein-stimmung mit den friedensethischen Forderungen Carl Friedrich von Weizsäckers bekennen sie sich dazu, daß die militärischen Vorbereitungen und Planungen niemandem die Perspektive eines unannehmbaren Schadens zumuten dürften. Das ist logisch stimmig: Sobald man sich nicht mehr an dem Ziel der Kriegsverhütung, sondern an der Eventualität der Kriegführung orientiert, muß die Minimierung statt der Maximierung des Risikos das oberste Gebot sein. Das Ergebnis dieser Vorgaben sind Entwürfe für eine „alternative Verteidigung", bei der unter Verzicht auf jede offensiv verwendbare Technologie dem angreifenden Gegner ortsfester Widerstand entgegengesetzt werden soll. Diese Überlegungen sind wesentlich als Ausdruck einer „neuen sicherheitspolitischen Moral" zu werten.
Einen noch weiterreichenden Verzicht auf eine militärische Gegenbedrohung der UdSSR bietet das Modell der „sozialen Verteidigung“ an, das seit den sechziger Jahren von Theodor Ebert propagiert wird. Allerdings hat sich seither die Funktion, die ihm zugewiesen wird, weithin gewandelt. Ursprünglich handelte es sich um ein Konzept, das erklärter-maßen im Falle eines östlichen Angriffs die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gewährleisten sollte. Dementsprechend hieß es, der eindringende Gegner solle auf dem einhelligen gewaltfreien Widerstand einer dafür vorbereiteten Bevölkerung treffen. Kritiker stellten unter anderem die Prämisse einer monolithischen Geschlossenheit gegenüber einer rücksichtslos handelnden Besatzungsmacht in Frage und hoben die Kontrollmöglichkeiten der Besetzer angesichts einer von wenigen zentralen Versorgungseinrichtungen abhängigen Bevölkerung hervor Daraufhin ist mittlerweile meist davon die Rede, daß die Strategie der sozialen Verteidigung gegebenenfalls gegen die Amerikaner anzuwenden sei oder daß sie als erfolgversprechende Verhaltensweise bei Straßenauseinandersetzungen mit landeseigenen Polizeikräften gelten könne.
VII. Die öffentliche Auseinandersetzung mit den Rüstungsabstinenzthesen
Der Widerspruch gegen das Abschreckungs-System beruht auf der Voraussetzung, daß man sich in einer Periode mehr oder minder wahrscheinlicher Kriegführung befinde und daher nach der Anwendungsmöglichkeit der laufend perfektionierten Waffen fragen müsse. Nach Ansicht der Rüstungsgleichgewichtsbefürworter ist diese Perspektive der entscheidende Irrtum der Abrüstungsverfechter: Nicht die Waffen brächten die Konflikte hervor, sondern bestehende Konflikte zögen Rüstung nach sich. Man zäume das Pferd vom Schwänze her auf, wenn man das Bewirkte zum Bewirkenden erkläre. Auf diese Weise mache man sich in einem Konflikt, welcher der Bedingung möglichen Waffengebrauchs unterliege, einseitig wehrlos. Die Argumentation, die Risiken aufeinanderfolgender Kriegsverhütungen summierten sich und führten schließlich zum Kriegsausbruch im xten Falle, trifft auf doppelten Widerspruch. Zum einen heißt es, was könne man denn tun, als den — in jedem System konfliktgetrennter Staaten grundsätzlich möglichen — Krieg zu verhüten? Ein System, das die Möglichkeit des Krieges selbst zur Austragung von Konflikten zuverlässig ausschließe, gebe es nicht. Zum anderen aber gehe es nicht um den immer wieder erneuerten Austausch von Akten der Bedrohung und Gegenbedrohung (manifeste Abschreckung), sondern um eine Beziehungsstruktur wechselseitig sich lahmlegender Bedrohungsoptionen (latente Abschrekkung). Dies sei ein System, das den Entschluß zum Krieg so wirksam wie möglich bremse und demgemäß friedliche Konfliktaustragung nahelege.
Die Vorstellung, daß Abrüstung stets gleichermaßen dem Interesse aller Seiten entspreche, betrachten die Gleichgewichtsbefürworter als zweifelhaft. Nur defensive Bedrohungsabwehr, nicht aber Machtbehauptung und Machtdurchsetzung auf Kosten anderer fänden in diesem Weltbild Platz. Dementsprechend fehle jede Überlegung, inwieweit die Existenz bestimmter Risiken mäßigend auf das Verhalten einer Seite wirken könnte. Ebenso bleibe unberücksichtigt, daß es Bedrohungsvorstellungen geben könne, die nicht durch Militärpotentiale verursacht seien. Dieser Überlegung scheint gerade im Verhältnis zur UdSSR große Wichtigkeit zuzukommen:
ie westlichen Staaten bilden wegen ihrer attraktiveren Herrschafts-, Wirtschafts-und Sozialordnung für die Gesellschaften der sowjet-kommunistischen Länder auch dann eine latende Gefahr, wenn man die militärischen Faktoren außer Betracht läßt. Die sowjetischen Aussagen über die Rolle des Ideologischen in der Politik und über ein umfassend zu verstehendes Kräfteverhältnis werden als Belege für die These zitiert. Des weiteren gilt die Erfahrung der siebziger Jahre, als die meisten NATO-Staaten, vor allem die USA, den Verteidigungsaufwand senkten, während die UdSSR unbeirrt ca. 5 Prozent jährlich zulegte, als schlagender Beweis dafür, daß ein Abgehen von eigenem Rüsten keineswegs zur Nachahmung auf der anderen Seite führe. Eher sei das Gegenteil der Fall: Wer dem anderen durch Rüstungsverzicht die Möglichkeit biete, mühe-und risikolos militärische Überlegenheit zu gewinnen, schaffe einen besonderen Anreiz zur Fortsetzung des Rüstens.
Eine allmähliche Dämpfung und schließliche Beendigung der Rüstungsprozesse wird von der demonstrierten eigenen Fähigkeit erwartet, die militärische Rivalität mit der anderen Seite auszuhalten und zu bestehen. Erst wenn die sowjetische Führung erkenne, daß alle ihre Rüstungsbemühungen gleichwertig erwidert werden und daher niemals zu Vorteilen für die UdSSR führen können, werde ihr das Streben nach militärischer Überlegenheit und sicherheitspolitischer Abkopplung in Europa aussichtslos erscheinen. Dann könnten die NATO-Staaten damit rechnen, daß die wirtschaftlichen Knappheitsgesichtspunkte in Moskau den Vorrang erhielten und demgemäß das Wettrüsten zum Abschluß komme. Die Idee, daß die westliche Seite im geeigneten Augenblick die UdSSR mit Abrüstungsvorgaben locken könnte, wird bei diesem Konzept keineswegs ausgeschlossen. Allerdings erscheinen zwei Voraussetzungen erforderlich: Die andere Seite müsse zunächst einmal vom Willen und der Fähigkeit des Westens überzeugt sein, einen Rüstungswettlauf notfalls mitzumachen, und die westlichen Abrüstungsvorgaben müßten sich darauf beschränken, symbolisch eine Bereitschaft zu militärischer Mäßigung gegenüber der UdSSR zu signalisieren, ohne wirkliche Sicherheitseinbußen nach sich zu ziehen und damit so-33 wjetische Hoffnungen auf einseitige westliche Abrüstung zu nähren.
Die Veröffentlichungen, auf die sich die Entkopplungsbefürworter berufen, erscheinen den Vertretern der Gleichgewichtsphilosophie in einem ganz anderen Licht. Wenn die Dritte Welt zu einer Region besonderer politischer und militärischer Spannungen geworden sei, so lasse sich dies nicht auf eine spezielle Unfriedlichkeit der beiden Weltmächte zurückführen. Vielmehr spiegele sich darin die kriegsverhindernde Wirksamkeit des Abschreckungssystems. Bei Ausbruch des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre sei der Ost-West-Konflikt eindeutig das explosivste Spannungsfeld gewesen und jedermann habe infolgedessen einen Krieg in diesem Bereich für am wahrscheinlichsten erachtet. Diese Einschätzung sei auch insoweit richtig gewesen, als es auf dem Schauplatz der unmittelbaren Ost-West-Spannung, in Europa, mehrfach zu akuten Krisen gekommen sei, die um Haaresbreite in den Krieg hineingeführt hätten. Aber nur um Haaresbreite. Wie sich beispielsweise an der Berliner Blockade von 1948 bis 1949 zeigen lasse, seien beide Seiten zwar bereit gewesen, bis an den Rand des Krieges zu gehen, hätten aber zugleich sorgfältig jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß der Krieg tatsächlich ausbreche. Dementsprechend sei es seither in allen Teilen der Welt, nur nicht auf den Feldern unmittelbarer Ost-West-Berührung, zu Kriegen gekommen. Die Logik der Mäßigung an denjenigen Stellen, an denen sich die USA und die UdSSR direkt gegenüberstehen, sei durch die Modus-vivendi-Regelungen Anfang der siebziger Jahre politisch bestätigt worden. Beide Weltmächte legten größten Wert darauf, Situationen potentieller Direktspannung zwischen sich zu entschärfen.
Die kriegsverhütende Abschreckung, welche die Befürworter des Rüstungsgleichgewichts für den entscheidenden Friedensfaktor halten, setzt die Existenz nuklearstrategischer Instrumentarien voraus. Nur weitreichende Waffen mit unannehmbar großer Wirkung erscheinen zuverlässig und dauerhaft geeignet, allen beteiligten Seiten den Eindruck zu vermitteln, daß im Krieg alle Kosten-Nutzen-bzw. Risiko-Chance-Kalküle nicht aufgehen werden und daß daher der Krieg in jedem Falle zu vermeiden ist. Die nuklearstrategischen Arsenale sind insbesondere geeignet, die kriegsentscheidenden Weltmächte in den Holocaust der Vernichtung miteinzubeziehen, den ein mit ihrem Willen zustande kommender Ost-West-Konflikt nach sich ziehen würde. Aus diesen Gründen wäre es nach Ansicht der Gleichgewichtsbefürworter für den Frieden gefährlich, wenn man die Kernwaffen aus Europa verbannen wollte. Das Ergebnis wäre, daß die zwar weniger zerstörerischen, zur Vernichtung der europäischen Gesellschaften aber immer noch ausreichenden anderen Waffensystemen wieder anwendbar würden.
Die von Dieter Senghaas aufgestellte und später von anderen variierte These, daß Rüstung Rüstungsdynamik bedeute und zu wachsender Verfeindung führe, stößt bei den Gleichgewichtsbefürwortern auf Einwände. Die Entwicklung seit den sechziger Jahren, so heißt es, zeige das genaue Gegenteil. Nachdem den beiden Weltmächten in der Kuba-Krise die Gefährlichkeit ihres politischen Konfrontationsverhältnisses voll bewußt geworden sei, hätten sie sich in wachsendem Maße um krisen-und kriegsvorbeugende Konfliktentschärfung bemüht. Die Entspannung, die zu Beginn der siebziger Jahre zur Entfaltung gelangt sei, lasse sich als direkte Konsequenz des Bestrebens verstehen, den durch wechselseitige Abschreckung geschaffenen Zustand der Kriegsverhütung im Ost-West-Verhältnis umfassend zu sichern. Diese Maxime gelte auch heute noch; Reagan und Andropow seien gemäß den im Vier-Mächte-Abkommen getroffenen Regelungen nach wie vor an der Ruhe in Berlin interessiert und seien in diesem Sinne Entspannungspolitiker.
Allerdings sei seit Mitte der siebziger Jahre ein neuer Faktor in die Ost-West-Beziehungen eingetreten. Die sowjetische Führung suche der Abschreckung zwischen beiden Weltmächten die Wirkung für den europäischen Schauplatz zu nehmen. Der Kreml lasse den Grundsatz der gleichen Sicherheit für die USA und die UdSSR gelten, weil er wisse, daß in der global-strategischen Beziehung zu den Amerikanern keine militärische Überlegenheit zu gewinnen sei. Der Versuch, das Gleichgewicht der Abschreckung auszuhebeln, werde daher auf Europa beschränkt, weil da einer militärischen Überlegenheit der UdSSR nur die sicherheitspolitische Kopplung zwischen den USA und den westeuropäischen Staaten im Wege stehe. Folgerichtig gelte das sowjetische Bemühen dem Versuch, eine Entkopplung zwischen Nordamerika und Westeuropa — etwa durch Ausschaltung einer koppelnden euro-strategischen Kapazität der USA — zu erreichen. In der Sicht der Gleichgewichtsbefürworter ist es natürlich, daß die sowjetische Attacke gegen ein wesentliches Element des Abschreckungssy-stems notwendig auch die auf der Basis der Abschreckung erreichte Entspannung in Mit-leidenschaft zieht.
VIII. Fazit
In der gegenwärtigen Diskussion geht es um die Frage nach den konzeptionellen Grundlagen der Sicherheitspolitik. Plädoyers für Rüstungsgleichgewicht und Rüstungsabstinenz stehen einander gegenüber. Was die eine Seite unter dem Gesichtspunkt, daß der Ost-West-Krieg in dem gegebenen Kontext politischer und militärischer Rivalität verhindert werden soll und verhindert werden kann, für notwendig erklärt, sieht die andere Seite gemäß der Prämisse einer unmittelbar drohenden Kriegsgefahr als unerträglich an: die Bereitstellung weiterer kriegsverwendungsfähiger Mittel. Dahinter stehen zwei unterschiedliche Vorstellungen über die primäre Bedrohung. Besteht die entscheidende Gefahr für Westeuropa in einer von den militärischen Vernichtungsmitteln ausgehenden Dynamik oder in einer durch einseitige militärische Schwäche bedingten Unfähigkeit zur Selbstbehauptung gegenüber der UdSSR?
Die Befürworter des Rüstungsgleichgewichts wenden an diesem Punkt normalerweise ein, daß die beiden gegensätzlichen Ansichten sich nicht wechselseitig ausschlössen. Der Gedanke des Rüstungsgleichgewichts setze — anders als der Gedanke der Rüstungsstärke — ein Ernstnehmen beider Gesichtspunkte voraus. Der Sozialwissenschaftler Robert Jervis hat dargelegt, daß die Abschrekkungstheorie und ihr Gegenteil, die Aufschaukelungstheorie, nebeneinander bestehen können und müssen. Von dem Ausnah-mefall abgesehen, daß man sich auf ein nur antagonistisches Verhältnis einzustellen habe, sei es sinnvoll, Herausforderungen mit einer Mischung von risikoschaffender Macht und chancenbietender Kooperationsbereitschaft zu beantworten
Politische Praktiker haben es immer wieder für notwendig gehalten, die Gefahren sowohl eines ungebremsten Rüstens als auch eines Verlustes an Selbstbehauptungsfähigkeit zu meistern. Helmut Schmidt hat es zur Pflicht des Staatsmannes erklärt, sein Land und dessen Bewohner „vor einer Lage zu bewahren, in der man nur noch zu wählen hätte zwischen , rof oder , tot', will heißen zwischen Unterwerfung oder Verteidigung". Wenn man dies erreichen wolle, dürfe man die geschichtliche Erfahrung mit den Imperialismen eines Hitler oder eines Stalin nicht beiseite lassen. Man habe daher für ein Gegengewicht zu bedrohender Macht zu sorgen. Zugleich aber müsse man „die Interessen des anderen verstehen, mit ihm Zusammenarbeiten und sich mit ihm auf dem Wege des Kompromisses ... verständigen" In gleichem Sinne hat sein Nachfolger, Helmut Kohl, für eine verantwortungsethisch motivierte Gleichgewichtspolitik plädiert, welche die Bereitschaft zur Gegenrüstung und Selbstbeschränkung gleichermaßen in sich schließe
Gerhard Wettig, Dr. phil, geb. 1934; Wissenschaftlicher Direktor und stellv. Leiter des Forschungsbereichs Außenpolitik am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943— 1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, München 1967; Politik im Rampenlicht. Aktionsweisen moderner Außenpolitik, Frankfurt (Main) 1967; (zus. mit Ernst Deuerlein, Alexander Fischer und Eberhard Menzel) Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970; Europäische Sicherheit, Düsseldorf 1972; Frieden und Sicherheit in Europa. Probleme der KSZE und der MBFR, Stuttgart 1975; Die Sowjetunion, die DDR und die Deutschland-Frage 1965— 1976, Stuttgart 19772; Der Kampf um die freie Nachricht (in der UNO und auf der KSZE), Zürich 1977; Die sowjetischen Sicherheitsvorstellungen und die Möglichkeiten eines Ost-West-Einvernehmens, Baden-Baden 1981; Das Vier-Mächte-Abkommen in der Bewährungsprobe. Berlin im Spannungsfeld von Ost und West, Berlin (West) 1981; Konflikt und Kooperation zwischen Ost und West. Entspannung in Theorie und Praxis, Bonn 1981; Umstrittene Sicherheit Friedenswahrung und Rüstungsbegrenzung in Europa, Berlin (West) 1982.
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