Einleitung
In der öffentlichen Diskussion über die Realisierung des Nachrüstungsteils im sogenannten NATO-Doppelbeschluß wird häufig eine Parallele zu den Debatten über die Wiederaufrüstung in den frühen fünfziger Jahren beschworen Auch vor 30 Jahren sei die Mehrzahl der Bundesbürger gegen die „Wiederbewaffnung“ gewesen; ein wirksamer Widerstand habe sich aber zu spät formiert.
Es erscheint angebracht, die sicherheitspolitischen Auseinandersetzungen in den Anfangs-jähren der Bundesrepublik zu rekapitulieren. Dabei sollen nicht die Aktivitäten der Bundesregierung und ihre politischen Begründungen im Mittelpunkt stehen vielmehr sollen einige Aspekte der in den Parteien von 1949 bis 1954/55 geführten Diskussionen und deren sicherheitspolitische Qualität erörtert werden. Es herrscht zwar in der zeitgeschicht-liehen Forschung Einvernehmen darüber, daß kaum ein anderes politisches Problem während der Anfangsjahre der Bundesrepublik die Öffentlichkeit so sehr beschäftigt habe wie die Wiederbewaffnungsfrage Doch bis heute macht es Mühe, Antworten auf die Frage zu finden, wie denn diese Debatte geführt worden ist und wie die politischen Parteien und ihre Unterorganisationen, Arbeitsgruppen etc. Einfluß auf die Entscheidungen im Parlament und in der Regierung genommen haben. Nach wie vor fehlt eine umfassende Untersuchung über die Rolle der öffentlichen Meinung zur Wiederbewaffnungsfrage Nicht einmal für alle Parteien liegen entsprechende Forschungsergebnisse vor. Der folgende Überblick soll die bisherigen Ergebnisse zeitgeschichtlicher Bemühungen referieren und dabei an einzelnen Stellen einige neue Beobachtungen einflechten.
I. Die Diskussion über Wiederbewaffnung und Westintegration in der CDU/CSU
Die CDU selbst betont in ihren historisch geprägten Selbstdarstellungen, daß ihre „frühen sicherheitspolitischen Ziele (...) als verwirk-licht angesehen werden können, daß die Konzeption Adenauers . aufgegangen'" sei. Ganz selbstverständlich „steht Adenauer für CDU" Daß dieses Urteil gerade mit Blick auf die Sicherheitspolitik den Realitäten entsprach, hat Arnulf Baring eindrucksvoll ge-schildert Konrad Adenauer besaß bereits ein Jahr nach Übernahme der Kanzlerschaft in seiner Partei (und darüber hinaus) eine nahezu unangegriffene Autorität in Fragen der Außen-und Sicherheitspolitik, zu einer Zeit also, da bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, Hessen, Württemberg-Baden und Bayern die CDU bzw. CSU erhebliche Verluste hinnehmen mußte, die in der Presse überwiegend als Beweis für die ablehnende Haltung der Bevölkerung in der Wiederbewaffnungsfrage interpretiert wurden Dagegen stehen allerdings Meinungsumfragen, die ein deutliches Ansteigen der Befürworter einer Europa-Armee mit deutscher Beteiligung nach Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 (auf 40%) ergaben. Der Trend zur Ablehnung einer Aufrüstung überwog zwar, doch zeigen die vorgebrachten Argumente, daß hinter der Ablehnung kaum politisch-moralischer Rigorismus stand: Am häufigsten wurde genannt, daß an eine Aufrüstung nicht zu denken sei, solange der deutsche Soldat noch als Kriegsverbrecher angesehen werde, kein Friedensvertrag unterzeichnet und Deutschland noch geteilt sei.
Bis zum Ausbruch des Korea-Krieges waren die von alliierter Seite und in verschiedenen Interviews des Bundeskanzlers vorgetragenen Argumente für eine Verstärkung des militärischen Schutzes für die Bundesrepublik und in diesem Zusammenhang auch Hinweise auf eine eventuelle Heranziehung deutscher Kontingente mehr auf Desinteresse denn auf empörte Ablehnung gestoßen. Die Gegensätzlichkeit in der Deutschlandpolitik der westlichen Siegermächte, die seit 1948 immer deutlicher wurde, hatte nicht unwesentlich zur „Ohne-uns-Haltung" der Bundesbürger beigetragen. Wie konnte Einsicht in die Notwendigkeit einer deutschen Beteiligung an den Maßnahmen zur militärischen Stärkung Westeuropas geweckt werden, wenn am selben Tag (16. 12. 1949) ein Gesetz der Alliierten Hohen Kommission zur Verhütung des Militarismus in Deutschland, das jeglichen Waffenbesitz verbot, verkündigt wurde, sich in der ersten sicherheitspolitischen Debatte des Bundestages alle Parteien gegen eine Wiederaufrüstung aussprachen und die „New York Times“ Überlegungen amerikanischer Stabsoffiziere veröffentlichte, in denen die Aufstellung von 5 Divisionen zur Verteidigung Westeuropas befürwortet wurde
Die Bundesregierung hatte sich bemüht schon 1949 ein Ende der Demontagen (im Rahmen der deutschen Entmilitarisierung) aus wirtschaftlichen Gründen herbeizuführen. Adenauers Vorstoß beim Britischen Hoch-kommissar, General Robertson, war aber ohne Erfolg. Im Protokoll der Kabinettssitzung vom 2. November 1949 heißt es lapidar: „Robertson hat erklärt: Demontage ist Frage des Sicherheitsbedürfnisses. Alle wirtschaftlichen Argumente greifen daher nicht durch.“ Die in sich widersprüchliche Deutschlandpolitik — Orientierung an den Beschlüssen von Potsdam einerseits und Durchsetzung neuer strategischer Konzeptionen der USA andererseits — setzte sich bis Ende 1950 fort, so daß sich die alte Politik der Entmilitarisierung und die neue der Wiederbewaffnung überkreuzten Der Bundeskanzler hatte in dieser schwierigen Phase, in der eine eigene Außenpolitik der Bundesrepublik gar nicht vorgesehen war (Besatzungsstatut), kaum Rücksicht auf seine Partei zu nehmen. Über seine Verhandlungen mit den Hohen Kommissaren und über diese mit den Westmächten informierte er kaum sein Kabinett, geschweige denn die Fraktion der CDU oder gar die Gremien der Partei. Da die CDU als Bundespartei erst im Oktober 1950 gegründet wurde, konnte in der ersten Phase von einem Einfluß der Partei auf Bundesangelegenheiten, besonders auf außen-und sicherheitspolitische Fragen, nicht die Rede sein. Hier waren Konrad Adenauer und die CDU in der Tat identisch. Und doch gab es auch in den einzelnen Landesverbänden abweichende Positionen, die dann von CDU-Spitzenpolitikern in der Bundestagsfraktion oder auch im Kabinett repräsentiert wurden. Hier gilt es vor allem drei Beispiele anzuführen. Jakob Kaiser, der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, hat am klarsten und grundsätzlichsten die Zielkonflikte zwischen der Adenauerschen Westintegrationspolitik und der u. a. in der Regierungserklärung proklamierten Priorität der Wiedervereinigung artikuliert. Er blieb zwei Legislaturperioden lang bei seiner skeptischen Haltung, beugte sich aber nach Ausbruch des Korea-Krieges den Entscheidungen Adenauers Kaisers Auffassungen, die sich zeitweilig von denen der SPD kaum unterscheiden ließen, wurden von vielen CDU-Mitgiedern geteilt Nach dem 26. Juni 1950 forcierte Konrad Adenauer seine Bemühungen, eine Entscheidung der Alliierten in der Frage der Wiederbewaffnung herbeizuführen. Die New Yorker Außenministerkonferenz im September sollte zum entscheidenden Forum werden Deshalb wurde Adenauer nicht müde, auf die militärische Gefährdung der Bundesrepublik hinzuweisen. Auch in diesem Zusammenhang ist eine abweichende Beurteilung in der CDU-Fraktion festzustellen. Am 22. August 1950 legte Heinrich v. Brentano, der Fraktionsvorsitzende, seine Beurteilung der sicherheitspolitischen Lage in einem Brief an den Bundeskanzler dar. Darin hob er folgende Punkte besonders hervor, die auch mit Blick auf die Haltung der Opposition von Interesse sind:
— Solange die westlichen Alliierten mit ihren Truppen in der Bundesrepublik präsent seien, sei auch ein Angriff der Volkspolizei auf das Territorium Westdeutschlands nicht zu befürchten. — Die Errichtung einer westdeutschen „Polizeimacht''als Gegenpol zur ostdeutschen Volkspolizei würde in der Bevölkerung auf schwersten Widerstand stoßen, „denn man würde darin die Vorbereitung auf einen möglichen Bürgerkrieg sehen“.
— Vor allem aber seien die Reaktionen der westlichen Nachbarn, besonders Frankreichs, zu fürchten. Der Widerstand gegen eine Bewaffnung (West-) Deutschlands sei so groß, daß negative Rückwirkungen auf die Westintegration unausbleiblich seien. Ein Beitrag zur Verteidigung Europas sei nur im „Rahmen einer europäischen Armee und unter bewußtem Verzicht auf jede nationale deutsche Wehrmacht“ zu erwägen.
— Man müsse alles unterlassen, was die westlichen Alliierten von ihrer Verpflichtung, die Sicherheit Deutschlands gegen jeden Angriff zu schützen, entbinden könnte.
— Schließlich warnte Brentano davor, daß unvorsichtige Äußerungen der Regierung dazu beitragen könnten, daß reaktionäre Kräfte Morgenluft wittern und hoffen könnten, „wieder in den Sattel steigen zu können“
Brentano führte hier Argumente an, die sonst vor allem von Politikern der SPD geäußert wurden. Er machte aber deutlich, daß auch innerhalb der CDU alternative Konzeptionen diskutiert wurden. Brentano erwog sogar, sein Amt niederzulegen, weil er in den zentralen politischen Fragen keine klare, entschlossene und einheitliche Linie zu erkennen vermochte Daß sich in der Fraktion sogar eine Art „Fronde" gegen den Regierungschef (unter der Führung von F. J. Strauß) gebildet habe, wie Adenauers Erster Sicherheitsbeauftragter, Gerhard Graf v. Schwerin, behauptet hat, darf allerdings bezweifelt werden
Am konsequentesten opponierte Innenminister Gustav Heinemann gegen die Wiederbewaffnungspolitik und den Regierungsstil Adenauers. Er trat als Bundesminister zurück und versuchte, durch verschiedene Aktionen in der Öffentlichkeit bis hin zur Gründung einer eigenen Partei (Gesamtdeutsche Volkspartei) einen Kurswechsel in der westdeutschen Außen-und Sicherheitspolitik herbeizuführen Adenauer hatte Heinemann nicht zuletzt deshalb in sein Kabinett berufen, weil ihm als Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) eine große Bedeutung für die Integration der evangelischen Christen in die CDU zukam. Die Opposition gegen die Wiederbewaffnungspolitik Adenauers aus den Reihen der evangelischen Kirche, am rigorosesten von Kirchenpräsident Martin Niemöller vorgebracht und theologisch mitgetragen von dem in der Schweiz lehrenden Karl Barth gewann durch die Kabinettskrise noch an Aufmerksamkeit im In-und Ausland. Adenauer mußte befürchten, daß sich die Opposition aus den Reihen des Protestantismus auch auf den Gründungsparteitag der Bundes-CDU (20. /22. Oktober 1950) in Goslar negativ auswirken würde. Aber letztlich kamen sowohl Heinemann als auch vor allem Niemöller dem Bundeskanzler zu Hilfe: Heine-mann, indem er dem Parteitag fernblieb, anstatt seine Haltung dort offensiv vorzutragen und möglicherweise Bundesgenossen zu gewinnen, und Niemöller, indem er seine Attakken gegen Adenauer maßlos übersteigerte und u. a. ankündigte, daß sich „evangelische Christen jeder Remilitarisierung praktisch widersetzen" würden
Adenauer wurde es jetzt leichtgemacht, selbst zur Offensive überzugehen, wobei er sich in seiner Rede in Goslar darauf konzentrierte, als einzige Alternative zur Westintegration den Untergang der Freiheit in der Bundesrepublik zu beschwören. Der Sache der Freiheit und dem deutschen Volk seien durch Niemöllers Attacken großer Schaden erwachsen. Von eigenmächtigen Schritten der Regierung zur Remilitarisierung könne nicht die Rede sein. Vielmehr werde der Bundestag über alle Schritte zu befinden haben. Adenauers Rede wurde mit Begeisterung aufgenommen Von einer Kritik aus dem protestantischen Lager an der Außenpolitik des Bundeskanzlers konnte nicht mehr die Rede sein. Im Gegenteil: „Die augenfälligste und bedeutsamste Ernte der Goslarer Tage ist, daß die-evangelischen Delegierten aus ihrer von Heinemann und Niemöller in absentia erzwungenen Konklave mit einem klaren Bekenntnis zur Politik des Kanzlers und zur Idee der Union zurückkehrten.“
Mit der Entschließung des evangelischen Arbeitskreises der CDU für die Politik Adenauers, für die sich besonders Hermann Ehlers eingesetzt hatte, war eine wichtige potentielle Oppositionsquelle zum Versiegen gebracht worden. Der Parteitag hatte der Übernahme von Verteidigungslasten ausdrücklich zugestimmt.
Obgleich seit dem Goslarer Parteitag eine Bundes-CDU bestand, blieb die Bundestagsfraktion die gewichtigste Institution in der Parteihierarchie, nicht zuletzt, weil der größte Teil der Parteiführungsorgane der Fraktion angehörte Am weitgehend förderalistisehen Charakter der CDU änderte sich auch in den kommenden Jahren wenig. Die Bundesspitze blieb verhältnismäßig schwach und war kaum geeignet, die Entscheidungen der Regierung und der Fraktion einer Kritik oder Kontrolle zu unterwerfen.
Fast gleichzeitig mit dem Parteitag in Goslar begann die Diskussion um eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft konkretere Formen anzunehmen. Die Ernennung Theodor Blanks zum „Beauftragten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen“ und die Schaffung des sogenannten Amtes Blank (dem Bundeskanzler unterstellt) signalisierten den Beginn einer neuen Phase in der Wiederbewaffnungsdebatte. Der Bundeskanzler verfügte jetzt über einen Apparat, durch den die EVG-Verhandlungen gesteuert werden konnten, der sich aber auch für begrenzte propagandistische Aktivitäten eignete. Damit begann auch die von Heinrich v. Brentano so sehr beklagte „Geheimpolitik der Bürokratie" Eine Kontrolle der von Adenauer und seinen Beauftragten geführten Verhandlungen auf dem Petersberg und in Paris war nicht einmal dem Fraktionsvorsitzenden möglich, geschweige denn den Organen der Partei. Zwar wurde während der Jahre 1951 bis 1954 auch aus Unionskreisen immer wieder die Sorge geäußert, daß die EVG-Politik negative Auswirkungen auf die Wiedervereinigung haben könnte, doch hat sich darum nie ein eigentlicher Widerstand gegen den Kanzler-Kurs ergeben. Zu Konflikten kam es nur in prozeduraler Hinsicht
Bis 1952 legte Adenauer keinen Wert auf die Unterstützung der Öffentlichkeit für seine Politik. Deshalb brauchte er auch nicht den Rückhalt durch die Partei. Sein Amt als Parteivorsitzender konnte er stets als Anhängsel begreifen. Dies änderte sich erst, als es darum ging, der erfolgreichen Mobilisation der öffentlichen Meinung gegen die Wiederbewaffnungspolitik, die von der SPD, den Gewerkschaften und zahlreichen Organisationen betrieben wurde, zu begegnen. Hier nun zeigte sich, daß die Bundes-CDU nicht über geeignete Instrumente verfügte, um in der Bevölkerung für die Westintegration und die EVG-Politik der Regierung zu werben. Jetzt mußte der Kanzler persönlich an die Landesverbände appellieren, stärker als zuvor auf der untersten Ebene die Ziele der Bundesregierung zu erläutern und darauf hinzuweisen, daß es keine vernünftige Alternative zum eingeschlagenen Kurs gebe, daß die Politik der SPD auf gefährlichen Illusionen beruhe Auch diesmal gelang es dem Bundeskanzler, die Partei in seinem Sinne zu beeinflussen. Die Rolle der Jungen Union (JU) ist bisher nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung gewesen. Aus ihren Selbstdarstellungen wird aber erkennbar, daß die Frage der Wiederbewaffnung sehr kontrovers behandelt worden sein muß. Wie bei den Jugendorganisationen der anderen Parteien auch war die Mehrzahl der führenden JU-Mitglieder Kriegsteilnehmer und tendierte deshalb dazu, die Wiederbewaffnung abzulehnen. Dies wurde beim Deutschlandtag der JU in Bonn (September 1951) überdeutlich. „Nur durch den engagierten Einsatz von Konrad Adenauer und Kurt-Georg Kiesinger" konnte ein ablehnendes Votum der JU verhindert werden
Der Appell Adenauers an die JU, die Regierungspolitik zu unterstützen, war offenbar erfolgreich. Auf dem Hamburger Parteitag (18. /23. April 1953) konnte der Bundesvorsitzende, Ernst Majonica, mit Stolz darauf hinweisen, daß sich die Junge Union maßgeblich dafür eingesetzt habe, „im deutschen Volk das Bewußtsein der geschichtlichen Notwendigkeit der Verteidigung zu wecken“. Daraus könne die JU aber auch das Recht ableiten, Einfluß zu nehmen auf die Gestaltung der künftigen Streitkräfte; es gelte, sich von den „ewig Gestrigen" und deren Auffassung vom deutschen Soldatentum zu distanzieren
Der Hamburger Parteitag, der ja mit Blick auf die Bundestagswahl am 6. September 1953 stattfand, brachte den bisher breitesten Konsens in der sicherheitspolitischen Diskussion. Indem Hermann Ehlers, Bundestagspräsident und Vorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises, den frühen Zeitpunkt einer Wieder-bewaffnung zwar bedauerte, aber zugleich die Notwendigkeit einer auch militärischen Westintegration zur gemeinsamen europäischen Friedenssicherung betonte, setzte er einen endgültigen Schlußstrich unter die latente Widerstandshaltung gegenüber der EVG-Politik des Bundeskanzlers. Die Partei beschloß mit dem „Hamburger Programm" auch die Aufnahme des Bereiches Sicherheitspolitik in ihre programmatischen Aussagen, indem sie sich ausdrücklich zur EVG und damit zur Wiederbewaffnung bekannte.
Im Erfolg der CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1953 muß auch ein erhebliches Maß an Zustimmung zur Außen-und Sicherheitspolitik Adenauers gesehen werden, so daß der Vorwurf vieler Wiederbewaffnungsgegner, die Regierung habe den westdeutschen Sicherheitsbeitrag gegen die öffentliche Meinung durchgesetzt, kaum haltbar sein dürfte.
Das Scheitern der EVG in der französischen Nationalversammlung (30. August 1954) war für weite Kreise der CDU, die in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft den entscheidenden Schritt zur europäischen Einigung gesehen hatten und die in . nationalen deutschen Streitkräften ein größeres Hindernis für die Wiedervereinigung sahen, eine herbe Enttäuschung. Aber die NATO-Mitgliedschaft und die Erlangung der Souveränität wurden als Entschädigung durchweg akzeptiert.
II. Die Betonung der „Wehrpolitik" bei den Freien Demokraten
Die Freie Demokratische Partei (FDP) unterschied sich in ihrer Haltung zur Wiederbewaffnung von Anfang an von den meisten anderen Parteien. Aus der liberalen Tradition heraus betonten Vertreter der FDP bereits im Parlamentarischen Rat, daß Demokratie und Wehrhaftigkeit nicht zu trennen seien, oder — wie Theodor Heuss es ausdrückte — „die* allgemeine Wehrpflicht das legitime Kind der Demokratie“ sei. Deshalb müsse dringend davon abgeraten werden, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht zu begreifen.
Daß Theodor Heuss sich mit seiner Auffassung nicht durchsetzen konnte, hat er als „erschütternde parlamentarische Niederlage"
empfunden 27). Mit dieser Grundüberzeugung vertrug es sich nicht, der politischen und sozialen Diffamierung der ehemaligen Soldaten tatenlos zuzusehen. Dabei ging die FDP einen doppelten Weg: Innenpolitisch trat sie für die soziale Sicherung und Rehabilitierung ehemaliger Soldaten ein, außenpolitisch versuchte sie, die Bedingungen des Besatzungsstatuts zu lockern und die Kluft zwischen Siegern und Besiegten zu überwinden. Ein deutscher Militarismus existiere nicht mehr. Ehemalige Soldaten müßten ohne Einschränkung zum Aufbau des neuen Staates herangezogen werden. Mit derartigen Forderungen, seit 1948 erhoben, zog die FDP zahlreiche „Betroffene“ an. In ihren Reihen war also „militärischer Sachverstand" in besonderem Maße vorhanden.
Neben einer angemessenen Versorgung ehemaliger Soldaten sowie deren Angehörigen waren die Kriegsgefangenenfrage und das Problem der Kriegsverbrecher Schwerpunkte der politischen Arbeit. Hierbei ergaben sich naturgemäß enge Verbindungen zu den Soldatenverbänden, die von den anderen Parteien zunächst eher gemieden und erst zu Bündnispartnern, vor allem der CDU/CSU, wurden, als die Vorbereitung für die Aufstellung deutscher Kontingente im EVG-Rahmen begann. Die Propagierung der Wehrhaftigkeit erfolgte seitens der Wehrexperten der Partei oft in Formen und in einer Sprache, die sich von der extremen Rechten kaum unterschied. Am bekanntesten wurden die Auftritte des Generals a. D. Hasso von Manteuffel, der 1952 den Vorsitz des Sicherheitsausschusses der Bundespartei übernahm und nach 1953 als Bundestagsabgeordneter wichtiger wehrpolitischer Sprecher war. Der national-liberale Kurs der FDP in der Wehrfrage wurde vor allem getragen durch führende Politiker des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen: wie Franz Blücher, der dem Bundeskabinett als Vizekanzler angehörte, und die ehemaligen Generale K. Brennecke, H. Lanz, H. v. Manteuffel, sowie Erich Mende, der als „Vertreter der jüngeren Generation“, gefördert von den Jungdemokraten, bereits 1949 als eines der jüngsten Mitglieder und zugleich als erster ehemaliger aktiver Offizier ein Bundestags-mandat erlangte
Die FDP verfügte bereits 1952 über ein gut gegliedertes Netz von Organisationen für die wehrpolitische Debatte. An der Spitze stand der „Ausschuß für Sicherheitsfragen", der sich mit Problemen der äußeren und inneren Sicherheit zu befassen hatte: EVG-Vertrag, Wehrpolitik, Wehrpflicht, Wehrersatz, Inneres Gefüge des künftigen deutschen Kontingents, Wehrstrafrecht, Wehrwirtschaft sowie Bundesgrenzschutz, Bereitschaftspolizei und Technisches Hilfswerk.
Bei aller grundsätzlichen Befürwortung der Adenauerschen Sicherheitspolitik machte die FDP ihre endgültige Zustimmung von der Voraussetzung abhängig, daß die politische und militärische Gleichstellung der Bundesrepublik mit den anderen Mitgliedern der EVG gesichert sei und daß die Restriktionen des Besatzungsstatuts abgebaut würden. Nur so sei es möglich, einen Zusammenschluß der europäischen Völker herbeizuführen und einen „Wall gegen die Flut des anstürmenden Bolschewismus" zu bilden
Nachdem die Verhandlungen über die EVG begonnen hatten, drängten besonders Politiker der FDP auf eine rasche Verwirklichung. In den sich hinschleppenden Pariser Verhandlungen sahen sie eine Gefahr, weil sich darin Schwäche offenbare. Den Krieg könne man nur vermeiden, wenn man „einen ungeheuren Beweis der Geschlossenheit des Willens und Einigkeit seiner Stärke" zeige Die Frage nach dem „Ob" im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung stellte sich für die Liberalen nur ausnahmsweise; von Anfang an beschäftigten sie sich mit dem „Wie". Zu den wenigen Ausnahmen gehörten Reinhold Maier, der Ministerpräsident von Württemberg-Baden (mit einer Koalitionsregierung aus FDP, SPD und BHE), und der Abgeordnete Karl Georg Pfleiderer. Maier bezweifelte, daß die deutsche Beteiligung an der EVG zu einer Gleichberechtigung und zur Souveränität führen würde; die Adenauersche Politik der Stärke stelle vielmehr eine Provokation der Sowjetunion gegenüber dar. Maier lehnte die Wiederaufrüstung und die Pariser Verträge ab. Als er den Versuch unternahm, das Vertragswerk im Bundesrat scheitern zu lassen, wurde er von seiner Partei unter Druck gesetzt (ihm drohte sogar der Parteiausschluß) bis er am Ende nachgab.
Als noch größerer Außenseiter erwies sich Karl Georg Pfleiderer, der die Stalin-Note vom 10. März 1952 aufgriff und einen eigenen Plan zur Überwindung der deutschen Teilung, bei Verzicht auf eine Westintegration, entwickelte. Pfleiderer distanzierte sich zwar von den Neutralisten, sah aber wie diese ein Deutsches Reich als Brücke zwischen West und Ost. Seine Vorschläge stießen auf Ablehnung; nicht nur seine eigene Partei, sondern auch CDU und SPD lehnten sie ab. Auch mit dem Konzept eines blockfreien „Kleineuropa" blieb Pfleiderer allein.
Die FDP verfolgte von allen Parteien den konsequentesten wehrpolitischen Kurs. Dieser wurde auch getragen von den Jungdemokraten und dem Liberalen Studentenbund (LSD). Der LSD beschäftigte sich bereits 1952 mit Fragen der künftigen Wehrverfassung und veröffentlichte seine Forderungen Die Vorstellungen und Postulate der liberalen Studenten deckten sich zumeist mit dem, was von der Dienststelle Blank bereits als reformiertes „Inneres Gefüge" zur Diskussion gestellt worden war, gepaart mit altliberalen Vorstellungen vom „Bürgersoldaten". Die politische Bedeutung der LSD-Forderungen ist deshalb nicht so sehr in ihrem Inhalt selbst zu sehen als vielmehr in der Tatsache, daß hier das „Wie“ der künftigen Streitkräfte das „Ob“ eines deutschen Wehrbeitrags determinierte
Dietrich Wagner kommt in seiner Untersuchung über die wehrpolitische Orientierung der FDP von 1949 bis 1955 zu folgendem sehr kritischen Ergebnis (dem hier nur zugestimmt werden kann): Trotz der zahlreichen eigenständigen Forderungen und Aktivitäten habe die FDP „nur geringen Einfluß auf die Entscheidungen der westdeutschen Sicherheitspolitik" gehabt. Da sie vom Bundeskanzler zumeist vor vollendete Tatsachen gestellt worden sei, habe sie nur die Möglichkeit gehabt, Ansprüche anzumelden, im übrigen aber der vorgegebenen Grundsatzpolitik zuzustimmen. Dies habe dazu geführt, daß sich die FDP auf eher taktische Maßnahmen in der Wehrpolitik konzentriert habe, „die aber sachlich ohne große Auswirkungen blieben und ein eigenständiges gesamtpolitisches Konzept vermissen ließen"
III. Die kleineren Parteien
1. Die Deutsche Partei (DP)
Die Deutsche Partei, für zwei Legislaturperioden Koalitionspartner in der Regierung Adenauer, hatte noch weniger Einfluß auf den sicherheitspolitischen Kurs des Bundeskanzlers als die FDP. Sie verstand sich als national-konservativ und wollte ein Sammelbekken für die Demokraten auf dem äußersten rechten Flügel sein. Daraus ergab sich das uneingeschränkte Eintreten für die diskriminierten ehemaligen Soldaten (auch die der Waffen-SS), die durch die Entnazifizierungsverfahren Betroffenen und die Kriegsverbrecher. In der Außen-und Sicherheitspolitik (nicht in der „Wehrpolitik"!) stand sie vorbehaltlos hinter der Politik des Bundeskanzlers; auf eigene Initiativen verzichtete sie völlig Sie trat konsequent für die Westorientierung und für die deutsche Mitgliedschaft in der EVG ein, sofern Gleichberechtigung und ein volles Mitspracherecht der Bundesrepublik gewährleistet seien
Im Wahlkampf 1953 vertrat die DP den Standpunkt, „daß kein deutscher Soldat eine neue Uniform anziehen darf, bevor nicht der letzte Kriegsverurteilte, auf dessen Verurteilung auch nur ein Schein des Unrechts fällt, sich in Freiheit befindet". Der Fahne Schwarz-Weiß-Rot, „die vielen Deutschen teuer ist", müsse wieder Achtung entgegengebracht werden
Bei der DP wurde der Feldzug gegen die „pauschale Diffamierung" ehemaliger Soldaten und Nationalsozialisten zu einem Feldzug für die „pauschale Rehabilitierung" der in seiner nationalistischen Überspanntheit nur von den Parolen der radikalen Rechtsparteien Überboten wurde. Die Rechtsradikalen — DRP und SRP — konnten bei Wahlen regional überraschende Erfolge erringen (Bremen und Niedersachsen). Ihrem Programm, als „nationale Opposition" aufzutreten und die Reichseinheit und die Unabhängigkeit Deutschlands von den Besatzungsmächten zu fordern und damit die Westintegrationspolitik der Bundesregierung radikal abzulehnen kommt insofern eine gewisse Bedeutung zu, als sich aus ihm ein negativer Effekt für andere — originär demokratische — Parteien ergibt: Ein Bekenntnis zum Neutralismus brachte ungewünschte Bundesgenossen, deren Negativ-Image sich nachteilig auf die eigenen Aktivitäten auswirkte. Die gleiche Beobachtung kann im Zusammenhang mit der KPD gemacht werden. 2. Der „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE)
Der BHE, der sich nach großen Erfolgen bei Landtagswahlen 1952 auf Bundesebene organisierte und bei den Bundestagswahlen 1953 5, 9 % der Stimmen gewann, hatte sich, als er Koalitionspartner im zweiten Kabinett Adenauer wurde, bereits überlebt. Ihm gelang es nicht, aus der Rolle der reinen Interessenpartei herauszukommen, so daß ein nennenswerter Einfluß auf die Regierungspolitik ausbleiben mußte Auch der BHE machte seine Zustimmung zur Wiederbewaffnung von verschiedenen Voraussetzungen abhängig; so wurde verlangt, daß die „soziale Befriedigung" (worunter vor allem die volle wirtschaftliche und soziale Eingliederung der Vertriebenen zu verstehen war) Vorrang vor den Kosten für die Bewaffnung haben und daß die Anerkennung des „Rechts auf Heimat" auch im Rahmen der Verträge mit den Westmächten einen Niederschlag finden müsse. Der Sinn eines Verteidigungsbeitrags der Bundesrepublik könne nur dann begreifbar gemacht werden, wenn die Zusage gegeben sei, daß der „deutsche Anspruch auf die angestammte Heimat der Vertriebenen“ bei der „künftigen Neuordnung der europäischen Verhältnisse" berücksichtigt werde Auch in den Reihen des BHE gab es Kräfte, die sich mit ihren radikalen Forderungen, wie jener, daß die deutschen Truppen „für die deutsche Politik einsatzfähig" sein müßten, in enger Nachbarschaft zur extremen Rechten befanden. Andere sympathisierten mit neutralistischen Tendenzen 3. Die Gesamtdeutsche Volkspartei (GDP)
Die eigentliche politische Heimat der Neutralisten sollte die GDP sein, die im November 1952 gegründet wurde, nachdem die Bemühungen Gustav Heinemanns, Helene Wessels u. a., aus einer überparteilichen Sammlungsbewegung, der „Notgemeinschaft für den Frieden Europas", heraus eine wirkungsvolle Opposition gegen den Wiederbewaffnungskurs der Regierung > zu organisieren, gescheitert waren. Das außenpolitische Programm der Partei, das als Abschluß der Entwicklung neutralistischer Theorien gelten kann zielte auf ein unabhängiges, wiedervereinigtes und neutrales Deutschland ohne Waffen, das zu schaffen auch im Interesse der beiden Weltmächte läge. Die politische Landschaft des Jahres 1953 war allerdings für eine Politik des Neutralismus und des Pazifismus äußerst ungünstig. Die Initiatoren der Partei hatten mit allen Kräften vermeiden wollen, daß die GDP zu einer wirkungslosen Splitterpartei würde. Das Ergebnis der Bundestagswahl wies ihr aber genau diesen Platz zu; sie erhielt nur 1, 2 % der Stimmen. Die Ursachen für das Scheitern der GDP sind vielschichtig. Ein Grund liegt sicherlich darin, daß sich für den Bürger der Bundesrepublik viele Argumente der GDP nur schwer von solchen der KPD und deren Tarnorganisationen unterscheiden ließen. 4. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)
Den rigorosesten Kurs gegen die Adenauer-sehe Sicherheitspolitik steuerte naturgemäß die KPD. Ihre ideologische Position war eindeutig: In einem kapitalistischen Staat konnte nur eine Klassenkampfarmee gegen den Sozialismus aufgebaut werden. Daß die Propagierung dieses Standpunktes kaum auf Resonanz bei der Bevölkerung stieß, machten die Wahlergebnisse deutlich. Deshalb versuchte die KPD, Einfluß auf die verschiedenen außer-parlamentarischen Vereinigungen (zeitweilig mehr als 150), in denen der Protest gegen die Remilitarisierung organisiert war, zu gewinnen. Aufrufe zur Aktionseinheit von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern, besonders im Zusammenhang mit dem Verlangen nach einer Volksbefragung zur Wiederbewaffnung, waren ebenfalls Ausdruck dieser Taktik Der Erfolg der unterschiedlichen Aktionen, die zeitweilig ein hohes Maß an Publizität erreichten, ist schwer meßbar. Sicher ist, daß die KPD ihr Hauptziel, einen breiten „Volkswiderstand" zu mobilisieren, nicht erreichte, nicht zuletzt, weil sich die SPD und die Gewerkschaften bewußt waren, wie begrenzt die Interessenidentität mit den Kommunisten war.
IV. Die sozialdemokratische Sicherheits-und Wehrpolitik aus der Sicht des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS)
Die Sicherheits-und Wehrpolitik der SPD von 1949 bis 1955 ist gekennzeichnet durch die Ausbildung und begrenzte Modifizierung bestimmter Grundpositionen und durch die sich aus der Rolle der Opposition im Bundestag ergebende Notwendigkeit zu taktieren. Die von Kurt Schumacher schon vor der Gründung der Bundesrepublik mit Vehemenz vorgetragenen Grundpositionen waren vor allem: a) Das deutsche Reich muß als staatliches und soziales Ganzes erhalten bleiben (später: wiederhergestellt werden); den Deutschen obliegt es, ihre politischen Aktivitäten daran zu orientieren.
b) Sozialdemokratische Politik ist antibolschewistisch. Gerade im Antibolschewismus Schumachers liegt begründet, daß er einen westdeutschen Wehrbeitrag nicht grundsätzlich ausschloß und deshalb den in seiner Partei weit verbreiteten pazifistischen Strömungen entgegentrat
Obgleich die Sicherheitspolitik der SPD sich dadurch auszeichnet, daß sie sehr verzweigt ist und durch tatsächliche oder scheinbare Widersprüche charakterisiert wird, ist sie gründlicher erforscht worden als die aller anderen Parteien Dabei stehen naturgemäß die Konzeptionen, Argumente und Methoden der Parteiführung und der Bundestagsfraktion im Mittelpunkt. Wie an der „Basis" auf die Politik der Führungsorgane reagiert und/oder wie ggf. versucht wurde, auf die „Generallinie" der Partei einzuwirken, ist bisher kaum untersucht worden. Im folgenden soll deshalb — dabei bewußt von der für die anderen Parteien gewählten Darstellungweise abweichend — die sozialdemokratische Sicherheitspolitik aus der Perspektive einer Jugendorganisation betrachtet werden. Da die Jungsozialisten während der fünfziger Jahre nur eine Hilfstruppe der Partei darstellten, die keinerlei eigenes politisches Gewicht beanspruchen konnte erscheint der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) als der bei weitem geeignetere Verband. Ungeachtet seiner organisatorischen Selbständigkeit soll der SDS im folgenden als Studentenverband (wenn nicht unter, so doch bis 1955 in der Nähe) der SPD begriffen werden
Die ersten öffentlichen Diskussionen über eine Wiederbewaffnung empfanden vor allem jene Studenten als Provokation, die noch als Soldaten am Krieg teilgenommen, oft genug erst nach längerer Gefangenschaft zurückgekehrt und davon überzeugt waren, daß Deutschlands Zukunft nur in einer Abkehr von allem Militärischen liegen könne. Andere reagierten in dieser Frage nicht so sehr als Studenten, sondern als potentiell Betroffene, die fürchteten, von der Wehrpflicht eingeholt zu werden. Im SDS hatten sich besonders jene Studenten zusammengefunden, bei denen sich der Antifaschismus, der allen gemeinsam war, mit Antimilitarismus paarte. Diese Gruppe stellte sich neben jene der Pazifisten, und beide zusammen bildeten in einigen Orten zeitweilig die Mehrheit Ihnen wurde es besonders schwer, den von Kurt Schumacher eingeschlagenen Kurs, der durchaus kein pazifistischer war, loyal zu unterstützen. Wo die SPD-Führung taktierte, waren diese Teile des SDS grundsätzlich.
Zu einer ersten konkreten politischen Stellungnahme sah sich der SDS auf einer Delegiertenkonferenz im September 1950, also kurz nach Ausbruch des Korea-Krieges, veranlaßt. Die Delegierten empfanden zwar — wie in der Bundesrepublik ganz allgemein — die Bedrohung durch den Osten. Dennoch lehnten sie in einem Beschluß die Remilitarisierung" Westdeutschlands ab, stellten aber zugleich fest, „daß eine Verteidigung nur durch die vereinten Kräfte der Weltdemokratien" möglich sei; dabei könne Deutschland als gleichberechtigter Partner „bestimmte Aufgaben" übernehmen Dieser Beschluß deckte sich nahezu wörtlich mit der von Kurt Schumacher entwickelten Konzeption, die in einem Geflecht nationalpolitischer, militärischer und sozialer Elemente bestand und auf der Forderung nach politischer und strategischer Gleichberechtigung der Deutschen basierte Da die Westmächte Deutschland nur unter Vorbehalten und keineswegs als gleichberechtigten Partner bei den Bemühungen um einen europäischen Zusammenschluß betrachteten, hatte die SPD hier einen Oppositionskurs eingeschlagen, der — vor allem in Schumachers Äußerungen — nicht frei war von nationalistischen Tönen. Hier nun wich der SDS von der Parteilinie ab. Den studentischen Sozialisten eröffnete sich gerade in der Europa-Bewegung eine Chance, aus der Isolierung und Bevormundung durch die Besatzungsmächte herauszukommen. Die Europa-Begeisterung des SDS erreichte 1951 ihren Höhepunkt. In diesem Jahr bestand auch für die meisten Mitglieder kaum noch ein Zweifel daran, daß Westdeutschland in absehbarer Zeit einen Wehrbeitrag leisten werde. Die Beiträge in dem von der Berliner Gruppe herausgegebenen Bundesorgan des SDS, „Unser Standpunkt", sprechen eine eindeutige Sprache. Besonders die Sondernummer „Freiheit als Aufgabe", deren Grundlage die Referate bildeten, die anläßlich der Ostertagung des SDS in Berlin gehalten worden waren und für die deshalb der Bundesvorstand verantwortlich zeichnete, kann dies belegen. Im Mittelpunkt der Ausführungen stand die Bedrohung Deutschlands durch die Sowjetunion; diese wurde in den düstersten Farben geschildert, um daraus die Notwendigkeit eines deutschen Beitrages im Rahmen der europäischen Verteidigung zu begründen. Otto Bach, der Berliner Senator für Sozialwesen, führte in seinem Referat „Deutschland in der europäischen Verteidigung" u. a. aus: „Die Sowjets erkennen erst dann ihre Grenzen, wenn man ihnen einen entschiedenen Widerstand leistet; deshalb muß Europa gerüstet sein (...) Wir haben heute keine Zeit mehr zu warten, denn wir sind in Europa und in der Atlantischen Gemeinschaft nicht mehr Herren der Zeit, sondern haben nur die Zeit, die uns der Kreml läßt. Wir müssen alle politischen und materiellen Kräfte zusammenfassen. Europa ist nicht schwach, ist nicht krank; es ist müde."
Von diesen Tönen blieben auch die Studenten des SDS nicht unbeeindruckt. Im September heft des „Standpunkt", das zur Vorbereitung der Braunschweiger Delegiertenkonferenz (15. — 17. September 1951) erschien, faßte Herbert Haenke die Stimmung zusammen. Unter dem Titel „Mit offenen Augen" schrieb er: „In einigen Wochen wird der Bundestag in Bonn die Frage des deutschen Beitrages zur westeuropäischen Verteidigung anpacken müssen. Mit Nüchternheit und Skepsis verfolgen wir seit längerer Zeit diesen Entwicklungsgang. (...) Wir können einer Entscheidung nicht aus dem Wege gehen, wir sitzen alle in einem Boot (...) Jetzt kommt es darauf an, auf das Wie der Aufrüstung entscheidenden Einfluß zu gewinnen.“
Es mag für die SPD-Führung ein schwerwiegendes Problem gewesen sein, sich zur eigenen, in der Arbeiterbewegung und damit auch im Marxismus wurzelnden Tradition zu bekennen und sich gleichzeitig radikal von den ideologischen Positionen des SED-Staates zu distanzieren; für die meisten SDS-Studenten war dies kein Anlaß für Grundsatzdiskussionen. Der Antikommunismus war im SDS so allgemein verbreitet, daß er einer Reflexion nicht zu bedürfen schien; er war so selbstverständlich gemeinsame Grundlage wie der Antifaschismus und die Verpflichtung, gegen neonazistische und andere „reaktionäre" Tendenzen zu kämpfen. Letztere trat auch in Verbindung mit der Wehrfrage zutage. In diesem Zusammenhang hatte Claus Arndt, der spätere mehrmalige stellvertretende Vorsitzende des SDS, seinen ersten weithin beachteten öffentlichen Auftritt. Am 15. Februar 1951 sprachen die FDP-Politiker Friedrich Middelhauve und Hasso v. Manteuffel in der überfüllten Bonner Mensa zum Thema „Bundesrepublik — Niemandsland zwischen Ost und West“. Dabei wurden zwar keine neuen Gedanken vorgetragen, aber die alten in einer Form, die Widerspruch herausforderte. So meinte Middelhauve u. a.: „Deutschland ist eine belagerte Stadt, die alle, die sie nicht verteidigen wollen, schleunigst nach Osten verlassen mögen“. Zu einem Tumult kam es, als Arndt, der erst 1949 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und gerade mit dem Studium begonnen hatte, verlangte, daß man die „Leute besonders prüfen müsse, die im Dritten Reich eine führende politische, wirtschaftliche und militärische Stellung innegehabt hatten". Herr von Manteuffel scheine nicht die geeignete Person zu sein, um vor Studenten zu sprechen. „Bei einer Identifizierung mit diesen Leuten steht hinter allem das Unheil von Auschwitz und Buchenwald." Dieser Hinweis (der auch dreißig Jahre später, inzwischen von geschichtswissenschaftlicher Seite unterstrichen, noch zu heftigen Kontroversen geführt hat) wurde vom größten Teil des Auditoriums mit Ablehnung quittiert; in ihm wurde eine „Beleidigung der Kommilitonen" gesehen.
Der Manteuffel-Zwischenfall ist insofern signifikant für die Haltung einer großen Zahl von SDS-Mitgliedern, als in ihm die Ablehnung der restaurierten Tendenzen in der Bundesrepublik und zugleich der Wunsch sichtbar wird, aus dem westdeutschen Staat eine Republik der „neuen" Generation werden zu lassen, und zwar in allen Lebensbereichen, also auch beim Militär — wenn es denn schon nicht zu verhindern war.
Bis 1952 blieb der SDS in der Wehrfrage ablehnend und offen zugleich, doch überwog eine Haltung attentistischer Konstruktivität:
Zwar gab es innerhalb des SDS beachtens-werte Stimmen, die jeden (west-) deutschen Wehrbeitrag (unter welchen Konditionen auch immer) ablehnten; doch hatte (vorübergehend) jene Auffassung die Oberhand gewonnen, die eine deutsche Beteiligung an einer westeuropäischen Verteidigungsorganisation für unvermeidbar hielt und deshalb bereit war, sich darauf einzustellen; schließlich war im SDS eine Gruppe erkennbar, die bereits in einer Dimension dachte, die erst später sozialdemokratischer, Grundsatz wurde: Für den Fall, daß es zu einem deutschen Verteidigungsbeitrag kommen sollte, müsse darauf geachtet werden, daß Elemente sozialistischer Wehrtradition Eingang in die Planung fänden.
In dem Maße, wie im Jahre 1952 die Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und den Westmächten über die europäischen Verträge konkrete Formen annahmen und dabei die verschiedenen Modelle einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft erörtert wurden, zog sich Oppositionsführer Schumacher aus dem europäischen Engagement zurück, ja er ließ keine Gelegenheit aus, gegen die Pläne der Regierung zu polemisieren und die angestrebten Ziele, auch die Erfolge, zu diffamieren. Das wirkte sich auf die SPD-Politik insgesamt aus und hatte schließlich auch beim SDS eine Abkühlung der Europa-Begeisterung zur Folge. Die Konzentration auf Argumente gegen den Adenauer-Kurs zog eine Vernachlässigung der Arbeit an den eigenen strategischen und wehrpolitischen Konzeptionen nach sich. Das ursprüngliche Ja mit Vorbehalten zum deutschen Verteidigungsbeitrag verblaßte zunehmend hinter der totalen Ablehnung der von der Regierung mit den Westmächten ausgehandelten Schritte und mußte am Ende nicht nur für die politischen Gegner wie ein Nein wirken.
Die SPD lehnte die Pariser Verträge vom 26. und 27. Mai 1952 mit Entschiedenheit ab. Sie richtete sich darauf ein, dem bestehenden Bundestag die Kompetenz abzusprechen, in der Frage des Wehrbeitrages eine Entscheidung zu treffen, indem sie die Auffassung vertrat, das Grundgesetz gestatte nicht die Einführung einer Wehrverfassung. In diesem Sinne leitete sie eine Feststellungsklage beim Bundesverfassungsgericht ein.
Der Kampf gegen die Verträge wurde von den Sozialdemokraten überwiegend emotional geführt; der Parteiführung gelang es nur mit Mühe, deutlich zu machen, daß die Frage des Verteidigungsbeitrages gänzlich ungeeig13 net sei, „aus dem Elementaren, aus dem Gefühlsmäßigen beantwortet zu werden“
In der Debatte um die Ratifizierung der Verträge wurde zwar betont, daß es über das Prinzip der Verteidigung der Freiheit und der Demokratie keine Meinungsverschiedenheiten gebe, doch der von der Regierung eingeschlagene Weg sei abzulehnen, weil auf ihm eine „effektive, auf dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Deutschen begründete deutsche Position nicht geschaffen“ werden könne Die Opposition lehnte deshalb nicht nur den EVG-Vertrag ab, sondern kündigte zugleich eine Ablehnung aller daraus folgenden Verträge und Gesetze an. Eine Alternative hatte sie aber nicht anzubieten. Der Hinweis Schumachers, daß die Alternative in einer anderen Außenpolitik liege, konnte den Mangel an Klarheit in der sozialdemokratischen Sicherheitspolitik nicht verdecken.
Das Jahr 1952 stellt für die Außen-und Sicherheitspolitik der SPD eine Periode der Umorientierung dar. Der Tod Kurt Schumachers (20. August 1952) zwang seine Nachfolger zur Bestandsaufnahme und zur Überprüfung programmatischer und taktischer Positionen. In dieser Phase propagierten verschiedene, teilweise einander widersprechende Denkschulen ihre Konzeptionen als sozialdemokratische Sicherheitspolitik: vom deutschen Wehrbeitrag ohne deutsche Soldaten über einen revidierten und mit Vorbehalts-klauseln (Wiedervereinigung) versehenen EVG-Vertrag und das kollektive Sicherheitssystem, das Carlo Schmid erneut in die Debatte brachte und das zeitweilig (oft genug auch mißverstanden) von der Parteiführung favorisiert wurde, bis hin zum kollektiven " Ohne-mich". Am Ende überlagerte die Sorge um die Wiedervereinigung alle anderen Aspekte, auch im Hinblick auf die Wehrfrage.
Der Bundesvorstand des SDS hatte Anfang 1952 alle Gruppen aufgefordert, zur Frage der Wiederbewaffnung und den sich daraus ergebenden Problemen Stellung zu nehmen Ein besonderer Ausschuß sollte die Resolutionen sichten und der Delegiertenkonferenz, die im September 1952 in Münster zusammentrat, Bericht erstatten.
Nur acht Gruppen (ein Drittel also) hatten überhaupt eine Erklärung abgegeben. Die Ablehnung des Wehrbeitrages unter den gegebenen politischen Voraussetzungen war einhellig; zentrales Argument war, die Einbeziehung der Bundesrepublik in die EVG gefährde die Wiedervereinigung. Im übrigen wurde die ganze Bandbreite sozialdemokratischer Argumente zum Wehrbeitrag mit geringen Nuancen wiederholt. Aber auch der Entschließungsantrag des Ausschusses geriet zu einem Dokument der Orientierungslosigkeit Ratlos beschloß man, alle Materialien zu den Akten zu legen, „um Material zu haben, falls eine öffentliche Stellungnahme notwendig werden sollte“
Der neue Bundesvorstand mit Ulrich Lohmar und Claus Arndt beschloß noch in Münster, das Bundessekretariat nach Hamburg zu verlegen. An der ersten Vorstandssitzung am 1. Februar 1953 nahm als Referent (Thema: „Die Sozialdemokratie und die Wehrfrage") auch ein altes Hamburger SDS-Mitglied teil, Dr. Friedrich Beermann.
Beermann, Jahrgang 1912 hatte sein Jura-Studium erst nach einigen Verzögerungen aufnehmen können, weil er als Oberstleutnant der Wehrmacht zu jenem Personenkreis gehörte, dem die britische Militärregierung ein Studium verweigerte. Als er dann doch in Hamburg immatrikuliert wurde, fand er schnell Anschluß an den SDS, was ihn aber nicht hinderte, sich für die soziale Reintegration ehemaliger Berufssoldaten einzusetzen Seit Beginn der Wehrdiskussion in der Bundesrepublik beschäftigte ihn das Problem des Verhältnisses zwischen Arbeiterbewegung und bewaffneter Macht. Er führte das Scheitern der Weimarer Republik wesentlich darauf zurück, daß eine Versöhnung der Gegensätze zwischen den Sozialdemokraten und der Reichswehr verhindert worden sei. Für Beermann kam es darauf an, daß sich die verhängnisvolle Entwicklung der zwanziger Jahre nicht in der Bundesrepublik wiederhole; auch deshalb wandte er sich, wie viele SDS-Mitglieder, mit großer Leidenschaft gegen das Auftreten von exponierten ehemaligen Nazioffizieren. Sein Engagement für so-zialdemokratisch -orientierte Sicherheitspolitik brachte den Rechtsanwalt Beermann schließlich, auf Empfehlung von Helmut Schmidt, in die Position eines sicherheitspolitischen Assistenten der SPD-Bundestagsfraktion, womit er zu einem engen Mitarbeiter Fritz Erlers wurde.
Die Verbindung zum SDS-Bundesvorstand suchte Beermann, um seine Vorstellungen mit jungen Leuten zu diskutieren, aber auch, um Einfluß nehmen zu können. Noch im Sommer 1953 beschloß der SDS-Bundesvorstand, Beermann zu seinem wehrpolitischen Berater zu berufen -
Je konkreter die Pläne für den künftigen deutschen Verteidigungsbeitrag wurden, desto kräftiger lebte in der sozialdemokratischen Partei die Tradition des Antimilitarismus wieder auf, und in diesem Zusammenhang mehrten sich die Stimmen, in denen die mit dem Militär immanent verbundenen Gefahren für die Demokratie betont wurden. Heinz Kühn erklärte noch 1954 auf dem Berliner Parteitag, daß er nicht an die „Möglichkeit einer demokratischen Armee in Deutschland" glaube; die Zeit, um die dafür erforderlichen Maßnahmen zu treffen, sei in der gegenwärtigen politischen Situation nicht vorhanden Einer der ersten, die die Bedeutung des künftigen militärischen Faktors für die innenpolitischen Machtverhältnisse in der Bundesrepublik in das wehrpolitische Kalkül der SPD einzubeziehen suchten, war Fritz Erler. Er diskutierte seit Anfang 1952 bereits über das „Wie" eines deutschen Wehrbeitrages, das er für ebenso wichtig hielt wie die Frage des „Ob" Er hielt Kontakt zu Theodor Blank und dessen Mitarbeitern und war somit, anders als die meisten sozialdemokratischen Abgeordneten, über den Fortgang der Planungen informiert. Nach der für die Sozialdemokraten enttäuschenden Bundestagswahl von 1953 verstärkte sich in den Reihen der SPD-Fraktion der Eindruck, daß eigene Vorschläge für die zukünftige Wehrverfassung erarbeitet werden müßten. Adolf Arndt und Herbert Wehner versuchten gemeinsam mit Fritz Erler und Helmut Schmidt, die Mitglieder der engeren Parteiführung zu einem Kurswechsel in ihrer wehrpolitischen Konzeption zu veranlassen. Doch es dauerte noch ein Jahr, bis auf dem Berliner Parteitag die Formel „für den Fall, daß ... gefunden und damit der Weg für eine offene Mitarbeit an der Wehrverfassung freigemacht wurde. Bis dahin wurden Aktivitäten auf dem Felde als Abweichung von der offiziellen Parteilinie empfunden und deshalb bestenfalls in Grenzen geduldet, nicht aber unterstützt.
Vor diesem Hintergrund muß die vom Liberalen Studentenbund (LSD) initiierte Konferenz „Bürger — Armee — Staat" betrachtet werden, zu der Vertreter aller politischen Studentenvereinigungen für Anfang Juni 1953 eingeladen waren. Auf der Basis einer vom LSD erarbeiteten und bereits Anfang 1952 veröffentlichten Broschüre („Bürger — Armee — Staat") sollte „eine gemeinsame Stellungnahme aller Studentenverbände" zu der Frage der zukünftigen Wehrverfassung erarbeitet werden.
Wie der LSD kam auch der RCDS mit einer bereits im Vorjahr beschlossenen Konzeption nach Bonn. Die einzige erkennbare Vorbereitung des SDS bestand in der wohl-durchdachten Auswahl der Delegation. Claus Arndt sollte die Rolle des „Delegationschefs" übernehmen, um — falls erforderlich — für eine einheitliche Stellungnahme des SDS zu sorgen. Ferner wurden Friedrich Beermann, Günther Bantzer und Hans Tietgens benannt. Alle waren — darauf hatte man Wert gelegt — „kriegsgedient" (Beermann: Oberstleutnant, Bantzer: Oberleutnant, Tietgens: Obergefreiter und Arndt: Gefreiter). Die Frage, ob es angesichts der bisherigen Beschlüsse des SDS zur Wehrfrage opportun sei, überhaupt an der Tagung teilzunehmen, wurde im Vorstand gar nicht erst gestellt. Die Debatte darüber fand erst im nachhinein statt und hätte fast zur Spaltung des Bundes geführt.
Im Verlauf der Bonner Tagung wurden zahlreiche Änderungen beschlossen. Unangetastet blieb die Aussage zur allgemeinen Wehrpflicht: „Wir fordern die allgemeine Wehrpflicht als die demokratischste Form des Wehrdienstes. Sie ist ein Bestandteil der den staatsbürgerlichen Rechten entsprechenden Pflichten."
Welche Änderungen an der vom LSD eingebrachten Vorlage auf SDS-Anträge zurückzuführen sind, läßt sich im einzelnen nicht mehr feststellen. Sicher ist, daß die „Präambel" von Vorstellungen der SDS-Delegation beeinflußt ist; sie trägt ganz eindeutig die Handschrift Friedrich Beermanns.
Die SDS-Mitgliedschaft erfuhr von der Beteiligung ihrer Organisation aus der Presse, zumeist unter der Schlagzeile: „Studenten fordern allgemeine Wehrpflicht".
Zwar hatte Claus Arndt bei der Pressekonferenz am 7. Juni betont, daß die Beteiligung des SDS an der Diskussion über eine künftige Wehrverfassung nicht bedeuten könne, daß sein Verband die EVG unterstütze, doch war diese Erklärung nur ausnahmsweise in den Zeitungen verbreitet worden. Während Arndt in Briefen noch stolz auf das „außerordentlich gute Presseecho" hinwies, begann sich in den Gruppen bereits die Opposition zu formieren. Der Bundesvorstand geriet jetzt in eine schwierige Lage. Während Lohmar, Arndt und andere daran interessiert waren, die begonnene Diskussion fortzusetzen und sich als Bundesvorsitzende dafür auch legitimiert glaubten, wurde dieser Auffassung von zahlreichen Gruppen widersprochen.
Dem Vorstand wurde vorgeworfen, er habe sich mit Details des Wehrbeitrages befaßt, bevor noch über das „Ob“ entschieden sei. Damit sei er den deutschen Sozialisten in den Rükken gefallen. Ulrich Lohmar gelang es nur mit Mühe, die Wogen zu glätten. Am Ende zeigte sich, daß sich im SDS zwei etwa gleich starke Gruppen gebildet hatten, die zwar beide den vorgesehenen Wehrbeitrag ablehnten, vor allem weil durch ihn die Wiedervereinigung gefährdet wurde, die aber in der Frage, ob diese Ablehnung auch eine Abstinenz von Diskussionen über die Wehrverfassung gebiete, gegensätzliche Auffassungen vertraten.
Eine endgültige Klärung sollte die Hamburger Bundesdelegiertenkonferenz vom 3. bis 6. Oktober 1953 bringen, der eine Arbeitstagung „Haltung des SDS zur Wiederbewaffnung Deutschlands und zur Wehrverfassung“ vom 30. September bis 3. Oktober vorangehen sollte
Beide Veranstaltungen waren vom Bundes-vorstand sorgfältig vorbereitet worden, doch hatte der Ausgang der Bundestagswahl den Oppositionsgeist der Delegierten mehr gezügelt, als die beste Planung es vermocht hätte. Mit Verwunderung hatte der Vorstand zu registrieren, daß zur Hamburger Delegierten-konferenz — entgegen allen Erwartungen — weniger Anträge der Gruppen vorgelegt worden waren als in den zurückliegenden Jahren. Ulrich Lohmar betonte in seinem „Stand. punkt'-Beitrag für die Hamburger Delegiertenkonferenz, daß gerade der wehrpolitischen Tagung große Bedeutung zukomme, weil es gelte, die nach der Bundestagswahl „geschwächte parlamentarische Position des Sozialismus in Deutschland" durch geeignete Maßnahmen zu stützen. Adenauers „Politik der Stärke“ müsse eine wirksame Alternative gegenübergestellt werden. Der Bundesvorsitzende wiederholte noch einmal seine Auffassung, daß es wichtig sei, an einer Wehrverfassung in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat mitzuarbeiten. Die während der Bonner Tagung ausgearbeiteten Thesen müßten überprüft und weiterentwickelt werden — auch in der Bundeskonferenz Tatsächlich ergab sich nach z. T. stürmischen Debatten über die Einzelheiten eines zu verabschiedenden Memorandums eine Positionsbestimmung des SDS, die es dem Vorstand erlaubte, bei künftigen Verhandlungen und Konferenzen mit anderen Studentenverbänden, aber auch mit der SPD, mehrheitlich beschlossene Auffassungen zu vertreten. Konsens wurde in folgenden Punkten erreicht: Die expansionistischen Tendenzen der sowjetischen Außenpolitik seien friedensbedrohend und gefährdeten die Arbeit für den Sozialismus. Weil Sozialismus ohne politische Freiheit nicht denkbar sei, gehöre die Bewahrung der Demokratie zu den Grundforderungen. „Die demokratischen Sozialisten achten die Überzeugung und Beweggründe derer, die sich zu einem absoluten Pazifismus bekennen, aber sie sind der Überzeugung, daß auf absehbare Zeit die demokratischen Staaten bereit sein müssen, ihre Existenz auch militärisch zu sichern.“
Da wirksame Verteidigungsmaßnahmen die Einzelstaaten überforderten, müsse für den Ausbau eines „kollektiven Sicherheitssystems unter Berücksichtigung des Sicherheitsbedürfnisses der Sowjetunion, soweit es legitim ist", plädiert werden. Im übrigen schloß sich der SDS den Argumenten der SPD gegen eine westdeutsche Mitgliedschaft in der EVG ausdrücklich an: Diese gefährde die Wiedervereinigung, belaste durch Schaffung eines militärischen Machtapparates die Existenzfähigkeit der noch wenig gefestigten Demokratie, führe dazu, daß deutsche Truppen dem NATO-Kommando unterstellt würden, ohne daß die Bundesregierung Einfluß auf die Entscheidung des Paktes nehmen könne, und bedeute schließlich die „Konsolidierung Klein-europas und damit die Verstärkung seiner restaurativen Entwicklungstendenzen“. Nach einer Ratifizierung des EVG-Vertrages müsse die SPD allerdings an der Wehrverfassung mitarbeiten und darauf hinwirken, daß die deutschen Streitkräfte zu einem zuverlässigen Bestandteil der demokratischen Staatsordnung würden.
Die bei der Bonner Konferenz über die künftige Wehrverfassung beschlossenen Forderungen wurden gründlich überarbeitet und dabei erheblich gestrafft und präzisiert. In der revidierten Form sollte der Text die „Mindestanforderungen des SDS an jede Form einer Wehrverfassung zu jedem Zeitpunkt darstellen. Als solche werden sie der SPD zur Verfügung gestellt."
Der Bundesvorstand hatte jetzt ein eindeutiges Mandat, sich an den weiteren Beratungen über die Wehrverfassung aktiv zu beteiligen. Davon machte er in einem weit stärkeren Maß Gebrauch, als vielen Delegierten lieb gewesen sein dürfte.
Der SDS nahm u. a. an der Wehrtagung teil, die der „Ring politischer und freier Studentenverbände und Gemeinschaften" vom 8. bis 10. Januar 1954 in Bonn veranstaltete, und bei der die Endfassung des Papiers zur Wehrverfassung beraten und beschlossen wurde. Dabei konnten nicht alle Änderungsvorschläge durchgebracht, ein Substanzverlust aber vermieden werden. Der „Ring" richtete an die Opposition im Bundestag die Bitte, „sich einer Mitwirkung bei der Schaffung geeigneter Grundlagen zur Sicherung der Demokratie nicht zu verschließen"
Es war sicher nicht dieser Appell, der Fritz Erler veranlaßte, bei der zweiten Lesung der Grundgesetzänderung Ende Februar 1954 im Bundestag für die SPD in die Bresche zu springen und erstmals öffentlich Elemente einer Wehrverfassung zu skizzieren. Dabei stand für ihn der Oberbefehl im Vordergrund, aber auch die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte durch einen Parlamentsausschuß und einen Wehrbeauftragten und die Einsetzung eines Personalausschusses für die Einstellung ehemaliger Offiziere wurden dabei gefordert. Erler fand zwar in der Fraktion Zustimmung, doch übte sich die Parteiführung nach wie vor in Zurückhaltung, weil sie Konflikte mit der Mitgliedschaft fürchtete Der Abgeordnete Helmut Schmidt machte Anfang März 1954 den Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer in einem Brief darauf aufmerksam, daß sich in der Haltung der Partei zur Wehrverfassung eine Tendenz zeige, die fürchten lasse, daß sich die Fehlentscheidungen von 1919 wiederholen könnten. Er fand es bestürzend, daß im Jugendpolitischen Ausschuß der SPD, im SDS, in der katholischen Jugend und im VDS sehr viel differenziertere und konzisere Vorstellungen vorhanden seien, als das im Durchschnitt bei den Mitgliedern der Fraktionen und anderen sozialdemokratischen Politikern der Fall sei Tatsächlich hatte Ulrich Lohmar sowohl im Jugendpolitischen Ausschuß als auch im SPD-Sicherheitsausschuß Gelegenheit, die vom SDS und vom „Ring“ erarbeiteten Vorstellungen zu propagieren.
Ohne, daß es im einzelnen möglich ist, den Einfluß des SDS auf die Meinungsbildung über Einzelheiten der Wehrverfassung und der Wehrgesetzgebung in der SPD (Partei und Fraktion) auszumachen, kann festgestellt werden, daß in der Zeit von 1952 bis Mitte 1954 wichtige Impulse von dieser Organisation, vertreten durch den Bundesvorstand, ausgegangen sind.
Das Scheitern der EVG in der französischen Nationalversammlung und die Beschlüsse der Londoner Neunmächtekonferenz (28. September bis 3. Oktober 1954), die den NATO-Beitritt der Bundesrepublik zur Folge hatten, bewirkten beim SDS eine Abkehr von der „konstruktiven" Mitarbeit und eine Konzentration auf den Kampf gegen die Londoner Verträge und für eine aktivere Wiedervereinigungspolitik.
Auf der Marburger Delegiertenkonferenz (27. bis 29. Oktober 1954) wurde Ulrich Lohmar zwar als Bundesvorsitzender wiedergewählt und Claus Arndt, der ein Jahr lang dem Vorstand ferngeblieben war, erneut zum Stellvertreter gekürt, womit der Verband eine gewisse Kontinuität, auch im Hinblick auf die verhältnismäßig guten Beziehungen zur SPD anzustreben schien, doch sind Ansätze für eine Entfremdung bereits zu diesem Zeitpunkt zu erkennen. Wenn der SDS sich bemühte, auch außerhalb des Parlamentes eine breite Widerstandsfront gegen die Londoner Verträge und die Wehrgesetze zu mobilisieren dann sind dies Anzeichen für einen Wandel, der auch als Generationswechsel verstanden werden kann.
Claus Arndt und Ulrich Lohmar nahmen zwar weiterhin an Sitzungen des Sicherheits-oder des Jugendausschusses der Partei teil und bemühten sich darum, Fritz Erler bei seinen Bestrebungen zu unterstützen, eine genuin sozialdemokratische Wehrverfassung und entsprechende Wehrgesetze zu erarbeiten, doch konnten sie dabei schon nicht mehr mit der Unterstützung durch die „Basis" ihres Verbandes rechnen.
Mit der Delegiertenkonferenz von 1955, die in Göttingen stattfand, war nicht nur die „Ära Lohmar/Arndt“ zu Ende, sondern auch der Abschnitt der Geschichte des SDS, in dem dieser sein Selbstverständnis in enger Anlehnung an die Sozialdemokratische Partei suchte. Jetzt begann mit dem harten antimilitaristischen Kurs und der eindeutigen Favorisierung der Kriegsdienstverweigerung der Schwenk hin zur Bewegung „Kampf dem Atomtod", der zwar auch noch von der SPD getragen wurde, der aber gleichzeitig schon eine Anlehnung an Kräfte der außerparlamentarischen Opposition bedeutete.