I. Absolutes Führerprinzip und „völkische Ungleichheit"
Bei der Untersuchung des nationalsozialistischen Systems hat die zeitgeschichtliche Forschung ihren Schwerpunkt bisher in erster Linie auf die Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung Europas gelegt. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß diese Maßnahmen nur Beispiele und Höhepunkte eines großangelegten Verfolgungssystems allgemeiner Art sind, von dem sämtliche Gruppen der Gesellschaft betroffen waren und das fester Bestandteil der juristisch-administrativen „normalen" staatlichen Ordnung war -
Dieses System beruhte auf zwei Grundelementen der nationalsozialistischen „Weltanschauung": dem Prinzip des absoluten Führertums und dem Prinzip des Sonderrechts gegenüber den Nichtmitgliedern der deutschen „Volksgemeinschaft". Sie wurden von der deutschen Wissenschaft wie auch von Justiz und Verwaltung übernommen und zu „Rechts" -Prinzipien in der Weise umfunktioniert daß alle nach 1933 erlassenen Gesetze als Verkörperung dieser Grundelemente galten und diese Elemente zugleich als verbindliche Auslegungsmaxime gegenüber den aus der Weimarer Republik stammenden Gesetzen anerkannt waren
Beide Grundelemente beruhten auf dem Primat der „Volksgemeinschaft” deren oberster Wert die Rasse deren oberstes Ziel die Expansion der „deutschen" oder „arischen" Rasse zum Großstaat war. Die „Volksgemeinschaft" konnte daher nur aus „rassegleichen" Personen bestehen; „rasseungleiche" Personen waren ausgeschlossen Der Primat der „Volksgemeinschaft" bestimmte auch Wesen und Funktion des Staates. Diesem wurde keine originäre, eigenständige Funktion zuerkannt; er war lediglich ein Mittel zur Sicherung der „Volksgemeinschaft", d. h. zur Entwicklung einer „zu Kultur befähigten Rasse" Dieser Begriff der „Volksgemeinschaft" wurde nun durch die beiden erwähnten Grundelemente konkretisiert, ja, er fand in ihnen erst seine eigentliche Verkörperung. 1. Absolutes Führerprinzip Das nationalsozialistische Führerprinzip beruhte auf dem Grundsatz, daß das gesamte Volk von der Familie bis zu den zentralen Einrichtungen des Staates in einem Führer repräsentiert war, der unumschränkte Gewalt hatte Wesentlich dabei war, daß das Führerprinzip als solches zwar keine spezifisch nationalsozialistische Idee war, sondern wesentliches Merkmal aller hierarchischen Gebilde ist, daß es aber in einer für moderne Staaten ungewöhnlichen Weise verabsolutiert wurde. Dieser Prozeß ging anfangs fast unbemerkt vonstatten, weil auch schon vor 1933 der Idee des autoritären Führertums, vermischt mit mystischen Vorstellungen (Führertum ist „vollste Vollmacht", „grenzenloseste Kompetenz"), gehuldigt wurde. An diese Traditionen konnten die Nationalsozialisten scheinbar bruchlos anknüpfen, weil das Füh-rerprinzip romantisch-konservative Vorstellungen der nationalen und völkischen Presse und Literatur einfach zu übernehmen schien. In Wirklichkeit erfolgte jedoch eine tiefgreifende Umgestaltung des überkommenen Führerprinzips, die, obwohl in zahlreichen Reden, Verlautbarungen und Kundgebungen der führenden Nationalsozialisten immer wieder hervorgehoben, in ihrer Bedeutung kaum erkannt wurde. Diese Umgestaltung bestand, zusammenfassend formuliert, in einer offenen Absage an die Politik und an alle Regeln und Formen des staatlichen Lebens
Zwei Faktoren erleichterten diese Entwicklung erheblich. Einmal war das Führerprinzip in dem Parteiprogramm oder den amtlichen Verlautbarungen der NSDAP nirgends konkretisiert, d. h. in keiner Weise eingegrenzt. Ferner besaß der Führergedanke des Nationalsozialismus keinerlei rationale Grundlagen; er war weder ein politischer noch ein juristischer Begriff, sondern ein Gebilde der Phantasie und des Wunschdenkens. In der Ideologie des Nationalsozialismus stellte sich die Welt als „farbige(s) und fesselnde(s) Historienspiel(e)" dar in denen Mythen und Träume an die Stelle von Realitäten traten. Gerade aus diesen romhantisierenden, a-politisehen Elementen die in der Diktion einer quasi-religiösen Heilslehre („Erlösung", „Schicksal“, „Größe“, der „Allmächtige" segne „die Waffen" u. a.) verkündet wurden leitete der neue Führergedanke seine für Unzählige unwiderstehliche Faszination her
Die Legitimation der Führergewalt sah die NS-Lehre in der sogenannten Identitätslehre, wonach die „Volksgemeinschaft" in ihrem „Führer", und nur in ihm, verkörpert war. Führerprinzip und „Volksgemeinschaft" wurden von der NS-Lehre unter völliger Mißachtung der historischen Tatsachen gleichgesetzt In Wirklichkeit konnte es überhaupt keine Legitimation für den neuen Despotismus geben. Im Grunde beruhte er auf einem platten Existentialismus: Die Führergewalt rechtfertigte sich dadurch, daß sie vorhanden war. 2. „Völkische Ungleichheit" (Sonderrecht)
Das zweite, im Begriff der „Volksgemeinschaft“ wurzelnde Element war das der „völkischen Gleichheit" einerseits, der „völkischen Ungleichheit" oder des Sonderrechts andererseits Da Mitglieder der „Volksgemeinschaft" nur Personen „deutschen oder artverwandten Blutes" waren, folgte daraus notwendig, daß alle anderen Personen Nicht-Volks-genossen“ waren und damit von der Rechtsgemeinschaft, insbesondere von dem Recht auf Gleichheit, ausgeschlossen waren. Gleichheit ist demzufolge Rassen-oder „völkische Gleichheit, Ungleichheit ist Rassen-oder „völkische" Ungleichheit.
Diese Folgerungen waren wahrhaft revolutionär und radikal, da sie den Grundpfeiler der rechtsstaatlichen Tradition, die staatsbürgerliche Gleichheit, ungeachtet von Herkunft oder Rasse, stürzten. Die „völkische“ Gleichheit hatte mit einem Rechtsstatus des einzelnen nichts mehr gemein; sie war vielmehr nur eine Umschreibung für die totale Einbeziehung in die „Volksgemeinschaft" im „Handeln, Denken und Fühlen", für die damals konsequent der Begriff des „totalen Staates" im Sinne einer „Herrschaft über die Seelen" verwendet wurde. Dieses neue Prinzip der „völkischen Gleichheit" (und damit zugleich auch ihr Gegenstück, die „völkische Ungleichheit", das sonderrechtliche Prinzip) stellt somit, wie es auch die Lehre damals erkannte, das Grundproblem des nationalsozialistischen Rechts überhaupt dar
Betrachtet man das zeitgenössische Schrifttum, so scheint es jedoch paradox (oder bezeichnend), daß gerade dieses grundlegende Problem rechtstheoretisch kaum behandelt und nur vage umschrieben wurde, obwohl oder gerade weil die radikale Rassengesetzgebung in den Anfangsjahren des Dritten Rei-ches die Konsequenzen der neuen Rassen-ideen für jedermann augenfällig machten. Wollten oder konnten die Juristen diese Konsequenzen nicht näher erläutern? Mangels jeder rechtlichen Eingrenzung ist die Rechtsstellung des sogenannten Nicht-Volksgenossen daher völlig der politischen Willkür überlassen. Mit bemerkenswerter Offenheit hat jedoch die höchstrichterliche Rechtsprechung die Ungleichheit aus rassepolitischen Gründen beim Namen genannt und sich zu ihr bekannt. Das Reichsgericht nahm schon in einer verhältnismäßig frühen Entscheidung aus dem Jahr 1936 vom Prinzip der allgemeinen staatsbürgerlichen Gleichheit Abschied, indem es rassefremden Personen die Stellung als Rechtssubjekt, ja ihre Eigenschaft als menschliche Persönlichkeit überhaupt absprach:
.... Die frühere (, liberale) Vorstellung vom Rechtsinhalt der Persönlichkeit (hat) unter den Wesen mit Menschenantlitz keine grundsätzlichen Wertunterschiede nach der Gleichheit oder Verschiedenheit des Blutes" gemacht; „sie lehnte deshalb eine rechtliche Gliederung und Abstufung der Menschen nach Rassegesichtspunkten ab. Der nationalsozialistischen Weltanschauung dagegen (entspricht) es,... nur Deutschstämmige ... als rechtlich vollgültig zu behandeln. Damit (werden) grundsätzliche Abgrenzungen des früheren Fremdenrechts erneuert (und Gedanken wieder aufgenommen), die vormals durch die Unterscheidung zwischen voll Rechtsfähigen und Personen minderen Rechts anerkannt gewesen sind"
Das Reichsgericht sprach hier offen aus, daß die Ungleichheit aus rassepolitischen Gründen ein festes, quasi naturrechtliches Element auch der Rechtsordnung ist. Diese Folgerung, die keinesfalls logisch oder juristisch zwingend war, findet in Lehre und Praxis ohne Schwierigkeit Eingang, indem sie mit dem von Carl Schmitt entwickelten „konkreten Unterscheidungsdenken" zwischen „Freund" und „Feind", das Merkmal allen politischen Handelns sei verknüpft wird. Da der Begriff des „Feindes" abstrakt war und mit beliebigem Inhalt gefüllt werden konnte, war es nur ein kleiner Schritt bis zur Gleichsetzung von „Freund" mit . Artgleich" und „Feind" mit „Artfremd" und bis zur Forderung nach einem Sonderrecht für den „Feind" der „Volksgemeinschaft". Prinzipiell herrschte für die Betroffenen daher der rechtslose Zustand; die Inanspruchnahme des allgemeinen und gleichen Rechts war eine besondere Vergünstigung, die nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht kam.
Schon diese abstrakten Leerformeln von „Freund" und „Feind" zeigen, daß das sonder-rechtliche Prinzip keineswegs allein auf Personen jüdischer Abstammung beschränkt, sondern im Grunde uferlos ausdehnbar war. Die rassische oder „völkische" Komponente im Prinzip des Sonderrechts tritt damit mehr und mehr zurück, ja verliert überhaupt ihre Bedeutung, wenngleich dieser Bedeutungswandel nach wie vor mit rassischen Argumenten in der Propaganda verbrämt wurde. Dieses Prinzip konnte somit nicht nur auf Personen „nichtdeutscher" Abstammung angewendet werden, wie die Behandlung der Bevölkerung der eroberten Gebiete zeigt sondern auf alle Personen oder Gruppen, die der Hitlerdiktatur, gleichgültig aus welchem Grunde, nicht erwünscht waren. Dazu gehörten nicht nur sogenannte rassische, sondern auch politische und kirchliche „Gegner" sowie alle aus sonstigen Gründen mißliebigen Personen oder Gruppen (z. B. Kriegsdienstverweigerer, Personen, die sich im Ausland „deutschfeindlich" äußerten, „politisch Andersdenkende"), wie noch im einzelnen auszuführen ist
Diese mißliebigen Personen oder Gruppen werden entweder zu „Kriminellen", „Schädlingen" oder zu „politischen Feinden" erklärt, wobei diese Einstufung willkürlich ist: „Schädling" bzw. „Feind" und damit rechtlos war, wen die politischen Instanzen hierzu erklärten („Anderssein bei Abtrünnigen [bedeutet] immer Feindschaft" In unübertroffener Klarheit hat Carl Schmitt die Verfolgung Anders-denkender schon im Jahre 1932 als Wesens-element des Staates, als Bestandteil der „innerstaatlichen Feinderklärung" definiert 3. Die Konsequenz des sonderrechtlichen Prinzips Hatte sich die Wissenschaft nur sehr vage über die praktischen Auswirkungen des son-derrechtlichen Prinzips geäußert, so ließ die Verwaltungs-, Polizei-und Justizpraxis von Anfang an keinen Zweifel über den einzuschlagenden Weg.
Hinsichtlich der sogenannten Rassenfeinde erfolgte die Ausstoßung aus der „Volks" -und damit aus der Rechtsgemeinschaft durch diskriminierende Sonderbestimmungen, wie die Rassengesetzgebung in eindringlicher Weise zeigt, ferner — in ihrer Breitenwirkung viel bedeutsamer — durch diskriminierende Auslegung des geltenden Rechts Das einschneidendste Instrument sonderrechtlicher Praxis war jedoch die ausschließliche Herrschaft des Polizeistatuts, dem sowohl „rassefremde" wie auch sonst mißliebige Gruppen und Personen unterstellt wurden. So wurden alle ausländischen Arbeiter im Reichsgebiet (d. h. die Zwangsarbeiter), die aus sogenannten Feindstaaten stammten, nicht mehr nach den Regelungen der Ausländerpolizeiverordnung, sondern ausschließlich nach den Richtlinien des „Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei" oder der Sicherheitspolizei behandelt. Die eigentliche Domäne des Polizeistatuts, d. h.der politischen Willkür, waren jedoch die Gefängnisse und Lager der Polizei Die Polizeihaft — in den staatlichen „Konzentrationslagerh", den . „Arbeitserziehungslagern" und in den Polizeigefängnissen — verfolgte das Ziel, den Häftling körperlich und seelisch zu brechen und auf unbestimmte Zeit — wenn es die Polizei für richtig hielt, auf Lebenszeit — festzuhalten. Den „Höhepunkt" stellt jedoch das (bisher von der Wissenschaft noch nicht entdeckte) „Gemeinschaftsfremdengesetz“ dar, das 1944 vom Reichsinnenministerium vorbereitet worden war und nur infolge der Kriegsereignisse nicht mehr zu dem vorgesehenen Datum am 1. Januar 1945 in Kraft treten konnte
Nach diesem Gesetzentwurf waren alle „gemeinschaftsfremden" Personen entweder unter Polizeiüberwachung oder unter Polizeistatut (Verwahrung in „Polizeilagern" oder in „Fürsorgeanstalten“, d. h. in Konzentrationslagern oder Arbeitshäusern) zu stellen, wobei ohne richterliche Kontrolle als „gemeinschaftsfremd" jeder galt, der von den Dienststellen der Sicherheitspolizei als „asozial" oder „kriminell" eingestuft wurde. Praktisch konnte damit jeder aus beliebigem Grund zum „Schädling", „Nichtsnutz", „Taugenichts“ (so die Legaldefinitionen) erklärt und aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen werden Dieser Entwurf sollte die Praxis der Verschleppung („Schutz" -oder „Vorbeugehaft“ genannt) legalisieren und dem in formalen Kategorien denkenden Justiz-und Verwaltungsapparat eine „Rechts'-Grundlage zur Verfügung stellen.
II. Der Rückfall in die Barbarei
Zwar sind vor 1933 und nach 1945 sonder-rechtliche Diskriminierungen bestimmter Gruppierungen auch in anderen Staaten üblich gewesen (sie sind es bis heute), doch erreichten sie bei weitem nicht das Ausmaß und die Intensität der nationalsozialistischen Sonderrechtspraktiken (mit Ausnahme wohl der stalinistischen Verfolgungs-und Unter-drückungsmaßnahmen Das Sonderrechts-prinzip des Nationalsozialismus stellt demgegenüber insofern eine Besonderheit dar, als es in dem modernen westeuropäischen Industriestaat Deutschland, in der modernen Wissenschaft, Justiz und Verwaltungspraxis entwickelt wurde. Es bedeutet eine Besonderheit ferner deswegen, weil es unter diesen Voraussetzungen eine Absage an alle geistigen, kulturellen und politischen Errungenschaften der Neuzeit darstellte.
So beriefen sich, Hitler folgend die Experten in der Behörde des Reichsführers SS aber auch die Behörden der Reichsverwaltung bei den Eroberungen im Osten gerne auf die antiken Sklavenstaaten der Perser, Spartaner, Römer oder auf das Reich der Goten in Südrußland und betrachteten sich als deren legitime Nachfahren, als neue „Herrenschicht" der Welt Die unterworfenen Völker sollten als Masse von „Heloten" und „Sklaven“ den Zwecken des Reiches dienstbar sein, ohne Rücksicht auf Alter, Zahl, Geschlecht oder Lebenverhältnisse
Die Besiedlung des „Ostens“ mit deutschen Siedlern dachte man sich als „Kolonialisierung", als „Kultivierung" eines Raumes ohne eigene Kultur, ohne Staaten, so wie im Mittelalter die überschüssige Bevölkerung nach Osten gezogen sei und dort Städte, Wehrdörfer und Wehrburgen (Kreuzritter!) errichtet habe Eine andere „offiziöse" Variante wollte sich an dem britischen Empire, d. h. einem überseeischen Kolonialreich orientieren. Hitler sah im Osten ein „deutsches Indien" Niemand sagte, was für diesen Fall mit der einheimischen Bevölkerung geschehen sollte; es existierten zwar gigantische Umsiedlungspläne (z. B. „Generalplan Ost"), die aber nicht konkretisiert oder detailliert sind. Vom endgültigen Schicksal der russischen Bevölkerung gar ist in all diesen Phantastereien mit keinem Wort die Rede.
Dieser Prozeß der Barbarisierung war jedoch keineswegs auf die Eroberungskriege im Osten beschränkt oder überhaupt erst dort entstanden. Vielmehr war bei der Entwicklung sonderrechtlicher Ideen und Praktiken hinsichtlich mißliebiger Personen oder Gruppen von Anfang an auch in Verwaltung und Justiz an die Sitten und Gebräuche des (späten) Mittelalters oder der sogenannten germanischen Zeit angeknüpft und diese als Rechtfertigung für die eigene Diskriminierungspolitik verwendet worden. So forderte Helmut Nicolai, Autor der bekannten „Rassengesetzlichen Rechtslehre“ (3. Aufl. 1934), nach 1933 Ministerialdirektor im Reichsinnenministerium, die Einführung eines „Reichsbürgerrechts", das nur den „waffentragenden Männern", nicht aber Frauen, Kindern, Alten und Kranken (!) zustehen sollte Carl Schmitt, mit neuen Ideen immer an der Spitze, beschwört 1932 die „Friedloslegung", den „Bann“, die . Ächtung", die „Hors-la-loi-Setzung", die „Proskription", mit dem die Staaten seit jeher ihre „Feinde" verfolgt hätten — Außerüngen, die in der damaligen Situation nur als Aufforderung und als Rechtfertigung der Rückkehr zur Barbarei verstanden werden konnten. Jedermann in Wissenschaft und Praxis, das gebildete Bürgertum, wußte, was „Friedloslegung", Ächtung“ bedeutete: Flucht, Vermögenskonfiskation, niemand durfte den Betroffenen aufnehmen, jedermann durfte ihn töten. Er war vogelfrei. Und so kam es.
Justiz, Verwaltungs-und Polizeipraxis sind in grausiger Weise diesen „Vorbildern" gefolgt, die sogar zum Gesetz erhoben werden sollten. Die nationalsozialistische Strafrechts-„theorie" qualifizierte jede Straftat als moralisch verwerflich, als „Verrat", „Treuebruch“ gegenüber der „Gemeinschaft" und wollte als Grundbegriffe des zukünftigen Strafrechts den Tatbestand des „Ehrverrats“ oder „Volksverrats" einführen, dessen Bestrafung, wie in der „germanischen Zeit", zugleich zur „Ehrlosigkeit", d. h. zur Ausstoßung des Täters aus der „Volksgemeinschaft" führen sollte
Der amtliche Entwurf des Reichsjustizministeriums für ein Strafgesetzbuch von 1936 führte sogar ausdrücklich das „Rechts" institut der Ächtung" als strafrechtliche Sanktion wieder ein (die konkret Inhaftierung auf unbestimmte Zeit, ähnlich etwa der Sicherungsverwahrung, bedeuten sollte -Das Reichsgericht, das in der Rassenverfolgung eine füh-rende Rolle einnahm, verglich schon 1936 die jüdische Abstammung eines Prozeßbeteiligten mit dem Tode (!) und knüpfte hierfür ausdrücklich an den „bürgerlichen" oder „Klostertod“ des Mittelalters an Auch die antijüdischen Maßnahmen in der Gesetzgebung sowie das Sonderrecht gegen sonstige mißliebige Personen und Gruppen erinnern in beklemmender (und heute bei weitem noch nicht aufgehellter) Weise an die Mittel der Juden-und Ketzerverfolgungen des (späten) Mittelalters: Kennzeichnung und Absonderung von der Gemeinschaft (Judenstern, Abzeichen für Polen, Russen usw.), Einschließung in Gettos (des Ostens) oder in Zwangsarbeitslagern hatten ihre historischen Vorläufer in dem für Juden vorgeschriebenen Kennzeichnungs-und Kleiderzwang und in den „Judenordnungen" vieler mittelalterlicher Städte, die jeden freundschaftlichen Verkehr zwischen Christen und Juden untersagten, sowie in den den Juden zugewiesenen . Judenvierteln“ (meist in ungesunden Stadtvierteln und mit den schlechtesten hygienischen Bedingungen), die nachts durch Tore verschlossen wurden
Die Sondersteuern und -belastungen für Juden (und Polen) (z. B. Erhöhung der Einkommensteuer/Lohnsteuer um 50 % — sog. Sozialausgleichsabgabe Wegfall sämtlicher Steuervergünstigungen für Juden und jüdische Organisationen unter offenem Bruch des geltenden Steuerrechts und der ab 1938 staatlich betriebene Vermögensraub größten Ausmaßes an jüdischem Vermögen sowie die Konfiszierung des Vermögens von Personen, die ihre Heimat verlassen und ins Ausland flüchten mußten sowie von ausgebürgerten Personen erinnern in fataler Weise an die Verpfändung und Beschlagnahme des Judengutes“ im Mittelalter durch die immer geldhungrigen Kaiser, Landesherren oder Städte und an die „Judensteuer“ sowie sonstigen Sondersteuern und Abgaben für Juden
Das Verbot der Eheschließung oder des Erwerbs von Grundbesitz für Juden, die Vorenthaltung der wichtigsten Lebensgüter und Freiheiten (insbesondere die Beschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit durch Aufenthalts-und Betretungsverbote, gesonderte Einkaufszeiten usw. haben Parallelen in den Eheverboten und wirtschaftlichen Einschränkungen, den gesonderten Einkaufs-zeiten und Aufenthaltsverboten für öffentliche Einrichtungen gegenüber Juden im Mittelalter Die Ausschließung der Juden von den wichtigsten Berufen (z. B.freie Berufe, selbständige Gewerbeausübung, öffentlicher Dienst, leitende Positionen jeder Art hatten „Vorbilder“ in dem Ausschluß der Juden aus den mittelalterlichen Gilden und Zünften und vom gesamten Handel
Zu dieser historischen Parallelität gehört schließlich auch die Übung des NS-Regimes, den Juden für das „Normale", d. h. für das Aufenthaltsrecht besondere Pflichten und Abgaben (vgl. die obengenannte Sozialausgleichsabgabe) aufzuerlegen und unter immer neuen Vorwänden immer neue Beraubungsmethoden zu erfinden — jüdisches Leben und Eigentum galten von vornherein als „Faustpfand" und als Beutegut des Reiches —, genauso wie die Juden im Mittelalter besondere Gebühren für staatlichen Schutz entrichten mußten, weil sie sich nicht selbst verteidigen durften und bei Geldbedarf des Kaisers oder der Städte jederzeit erpreßbar (bei Gefahr für „Leib und Gut" waren, widrigenfalls Vertreibungen oder Tötungen inszeniert wurden
Die Verfolgung der politischen Gegner erinnert in schrecklicher Weise an die Ketzerverfolgung der Inquisition, an Hexenverbrennung, Aberglauben, Wahnvorstellungen, weil damals wie in der NS-Zeit Menschen verfolgt wurden, nur weil sie anders dachten. Der NS-Staatsrechtslehrer Carl Schmitt hat schon 1932 für seine These vom Freund-Feind-Schema im staatlichen Leben als Stütze Äußerungen aus den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts (!) angeführt, daß man „den Ketzer auch dann nicht im Staate dulden (darf), wenn er friedlich ist; denn Menschen wie Ketzer können (!) gar nicht friedlich sein Die Schlagworte der nationalsozialistischen wie der anderen rechtsradikalen Gruppierungen von der „jüdischen" oder „bolschewistischen" (Welt-),, Verschwörung", von der „kommunistischen Gefahr" oder der „kommunistischen Unterwanderung", mit der jedwede polizeiliche Diskriminierungsmaßnahme gerechtfertigt wurde, ähneln von ihrem Ansatz her dem Glauben des Mittelalters, daß Andersgläubige mit allen Mitteln bekämpft werden müßten und daß ihnen gegenüber die menschlichen (und göttlichen) Gesetze keine Anwendung finden dürften.
Dieser Rückfall in die Barbarei war nun nicht auf die Rechts-und Verwaltungspraxis beschränkt, sie war geistig schon längst vollzogen worden, wie dies der Schriftsteller Axel Eggebrecht in seiner Rede „Beginn und Ursachen der Barbarei“ im einzelnen dargelegt hat, indem er eine fortwährende Bereitschaft in Deutschland — damals wie heute — konstatiert, in Barbarei zu verfallen
III. Die sonderrechtliche Behandlung von Andersdenkenden und „rassenfremden" Personen
1. „Politische Gegner“
Es ist für die Stoßrichtung der nationalsozialistischen (wie jeder anderen) Diktatur kennzeichnend, daß die erste und wichtigste Gruppe der Verfolgten die „politischen Gegner" waren, während die Verfolgung der Juden (durch administrative Maßnahmen) erst viel später (in vollem Umfang erst 1938) einsetzte. Diese „Gegner" waren in erster Linie die Kommunisten sowie Sozialdemokraten und sonstige republikanische Kräfte (z. B. Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold u. a.). In dieser Zielsetzung war sich die NS-Führung mit allen bürgerlich-rechtsgerichteten Parteien und Kräften einig, insbesondere mit dem größten Teil der Führungsschichten (Bürokratie, Justiz, Wirtschaft, Teile der Wehr-macht die die deutsche Revolution von 1918 und das Ende der Monarchie wie auch die Führungsrolle der SPD, die von einer verbotenen Partei im wilhelminischen Staat zur Regierungspartei aufgestiegen war, niemals akzeptiert hatten. Trotz oder gerade wegen der beachtlichen innen-und außenpolitischen Erfolge der Weimarer Republik waren nach wie vor Begriffe wie „international", „Marxismus" usw. beliebte Negativschlagworte, um das neue politische Programm und den Konkurrenten um die Macht zu diffamieren, ihn als Staats-oder Verfassungsfeind hinzustellen
Die sonderrechtliche Behandlung der „politischen Gegner" begann damit, daß Mitglieder und Amtswalter der KPD und SPD sowie sonstiger „linker" Gruppen in der NS-Propaganda nicht nur zu Feinden der nationalsozialistischen Ideologie, sondern zu Feinden „des Staates" schlechthin abgestempelt wurden, auch wenn sie keine strafbaren Handlungen gegen „den Staat" begangen haben. Das Eigentümliche des Sonderrechts und des totalitären Freund/Feind-Schemas wird hier besonders deutlich: Verfolgt wurde nicht nur der Straftäter, sondern bereits derjenige, der anders dachte oder auch nur eventuell anders dachte Handelte es sich um Angehörige des öffentlichen Dienstes, wurden sie wegen politischer Unzuverlässigkeit nach § 4 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 entlassen. Wichtiger waren die polizeilichen Verbote jeglicher politischer Betätigung aufgrund der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar 1933 (sogenannte Reichstagsbrandverordnung), die die Grundrechte der Weimarer Republik außer Kraft gesetzt und polizeiliche Maßnahmen ohne Bindung an das Gesetz für zulässig erklärt hatte. Obwohl diese Verordnung laut Präambel nur zur „Abwehr kommunistischer Gewaltakte" erlassen war, wurde sie als Instrument verwendet, alles und jedes zu verbieten, was dem Regime in irgendeiner Weise nicht genehm war — unter dem Vorwand, daß alle Gruppen oder Aktivitäten, die nicht „gleichgeschaltet" waren, „kommunistisch" seien oder „mittelbar" eine „kommuni-stische Gefahr" darstellten Unter dieser Flagge wurde somit nicht nur die Verfolgung von politischen Gegnern, sondern auch der Kirchen und Sekten bis hin zur Vereinigung der Wandervögel und Impfgegner gerechtfertigt. Die Verordnung vom 28. Februar 1933 wurde ferner zur „Rechts" -Grundlage aller polizeilichen Verbote und Massenverhaftungen von „politischen Gegnern" erklärt, die in die staatlichen Konzentrationslager verschleppt wurden Gerechtfertigt wurden diese Verschleppungsaktionen mit dem Institut der polizeilichen „Schutzhaft", die jedoch mit einer rechtsstaatlichen Polizeihaft nichts zu tun hatte. Verwaltung und Gerichte betrachteten sie als „vorbeugende" sicherheitspolitische Maßnahme zur Bekämpfung der „Staatsfeinde", die neben der Verhängung von Strafen zulässig sei und keinerlei'rechtlichen Beschränkungen, weder strafverfahrensrechtlichen noch polizeirechtlichen, unterliege. Bis 1938 waren in den Konzentrationslagern bereits ca. 800 000 Menschen inhaftiert, nach Kriegsbeginn, als eine erbarmungslose Jagd auf Kommunisten und Sozialisten in allen Ländern anfing weit über 1 Million. Je mehr jedoch die Diktatur sich festigte, desto eher war auch eine Abstützung der polizeilichen Willkürakte auf Bestimmungen normativer Art, mochten sie auch noch so viele ufer-lose Generalklauseln enthalten, entbehrlich. Die herrschende Meinung in Rechtslehre und Rechtspraxis ging mehr und mehr dahin, daß der Sicherheitspolizei eine innenpolitische Generalzuständigkeit zur „Bekämpfung" der sogenannten Staatsfeinde zufalle, die keiner normativen Grundlage bedürfe und sich allein auf den Führerwillen stütze 2. „Weltanschauliche Gegner"
Hand in Hand mit der Diskriminierung politischer Gegner ging von Anfang an nach demselben Grundmuster und nach demselben juristisch-administrativen Instrumentarium die sonderrechtliche Diskriminierung der soge-nannten weltanschaulichen Gegner, wie der Ernsten Bibelforscher (Zeugen Jehovas) und anderer Glaubensgemeinschaften, die jede staatliche Autorität ablehnten, jede Mitarbeit im Staat verweigerten (Eid, Kriegsdienst) und für absolute Gewaltlosigkeit eintraten, gegen die die Polizei von Anfang an einen erbarmungslosen Kampf führte. Dasselbe galt für die Freimaurerlogen. 3. „Rassische Gegner“
Die radikalsten und umfassendsten Praktiken der sonderrechtlichen " Behandlung wurden gegenüber Staatsangehörigen jüdischer Religions-und Volkszugehörigkeit geübt. Anders als bei den „politischen“ oder „weltanschaulichen" „Gegnern", bei denen immerhin die Möglichkeit bestand, der Verfolgung zu entgehen, wenn sie sich zur Staatsideologie bekannten und dies glaubhaft machen konnten (d. h. wie im Mittelalter ihrer Überzeugung „abschworen"), galt die jüdische Volks-und Religionszugehörigkeit als objektive Tatsache, an der auch eine noch so loyale Gesinnung oder politische Beziehungen oder Bekenntnisse zum Nationalsozialismus nichts zu ändern vermochten.
Das Instrumentarium der sonderrechtlichen Behandlung war eine ausgeklügelte Gesetzgebung und Polizeipraxis, die nach einem bestimmten Stufenplan vorging: Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Dienst, sodann aus dem Bereich der privaten Wirtschaft durch Verlust des Arbeitsplatzes, Zwangsarbeit, staatlicher Vermögensraub, steuerliche Diskriminierung, Verbot kultureller Betätigung bis hin zur Aufenthaltsbeschränkung, öffentlichen Kennzeichnung, Verlust der Staatsangehörigkeit und Deportation in die Gettos und Vernichtungslager des Ostens. Insofern ist rückblickend eine konsequente Linie der Gesetzgebungs-und Verwaltungspolitik bis hin zur physischen Vernichtung nachzuzeichnen.
In der Justiz findet sich sowohl im Bereich des Strafrechts wie des Zivilrechts einerseits eine konsequente, ja extensive Anwendung der Rassegesetzgebung, andererseits jedoch, weit darüber hinausgehend, anfangs zögernd, ab 1938 ausgehend von der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine systematische Schlechterstellung jüdischer Bürger durch . Auslegung" geltenden Rechts, d. h. durch Nichtanwendung begünstigender Vorschriften und durch extensive Auslegung belastender Vorschriften (z. B. beim Strafmaß), aber auch durch Entscheidungen contra legem, um dem Diskriminierungsgedanken unter allen Umständen zum Sieg zu verhelfen 4. „Kirchliche Gegner“
Die sonderrechtlichen Diskriminierungen der NS-Diktatur betrafen nicht zuletzt die Kirchen. Auch ihre Verfolgung setzte jedoch erst nach der Verfolgung der „politischen“ Gegner ein. Dies ist darauf zurückzuführen, daß sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche anfangs dem nationalsozialistischen Regime nicht abwehrend, sondern in wesentlichen Punkten (z. B. in dem übersteigerten Nationalismus, der Betonung des Hierarchischen, der „Führerautorität", dem Kampf gegen „Liberalismus", „Materialismus" und Parteiendemokratie) durchaus zustimmend gegenüberstand Die katholische Kirche versuchte, sich mit dem NS-Staat durch das Reichskonkordat vom 20. August 1933 zu arrangieren die evangelischen Kirchen glaubten an eine Renaissance des Bündnisses von „Thron und Altar" wie zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1914. Die späteren Verfolgungsmaßnahmen betrafen denn auch nicht die Amtskirchen als solche, sondern einzelne Geistliche oder Gruppen.
Unter dem Vorwand unzulässiger politischer Betätigung sind zahlreiche Pfarrer und Priester in Konzentrationslager verschleppt worden — und viele kamen dort um Allein im Konzentrationslager Dachau waren ca. 2 700 Priester inhaftiert, davon der größte Teil aus Polen -Alle diese Maßnahmen standen unter dem Zeichen der Bemühungen des Staates, die Christen aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen und ihre Diener im öffentlichen Ansehen zu diffamieren Hinsichtlich der katholischen Kirche diente diesen Zwecken insbesondere die moralische Disqualifizierung der Priester und Ordensangehörigen, indem gegen sie 1936/37 Sittlichkeitsprozesse, Devisenprozesse und sonstige Strafprozesse inszeniert wurden Nicht die strafbaren Handlungen waren also Ursache dieser Prozesse, sondern die Absicht des Regimes, die Kirchen zu treffen, wie Hitler im internen Kreis ausdrücklich ausgeführt hat Höhepunkt des „Kirchenkampfes" war die Kirchenpolitik im sogenannten Warthegau, wo die Kirchen ihren Rechtsstatus verloren und zu völliger Bedeutungslosigkeit herab-sanken Ein weiteres Mittel sonderrechtlicher Diskriminierung war die Rechtsprechung der staatlichen Gerichte, die die NS-Ideologie widerstandslos rezipiert hatten und weitgehend mit den kirchenfeindlichen Zielen des Nationalsozialismus übereinstimmten
IV. Zusammenfassung
Betrachtet man die skizzierten sonderrechtlichen Praktiken des NS-Regimes, bestätigt der empirische Befund die These, daß sich das Prinzip des Sonderrechtes von seinem rassischen Kern mehr und mehr löste und zum allgemeinen „Rechts-und Verwaltungsprinzip" des Nationalsozialismus wurde, das zwar bei der Diskriminierung „fremdvölkischer“ Personen und Gruppen besonders deutlich zum Ausdruck kam, jedoch für alle „unerwünschten“ Personen unabhängig von ihrer Herkunft Geltung beanspruchte. Das Prinzip des Sonderrechts verbindet sich damit untrennbar mit der Idee der Unterdrückung, ist schlechthin Ausdruck der Mißachtung des Individuums, die jedem totalitären System eigen ist: Zwang zur vollständigen Hingabe des Individuums an den Staat verkörpert in der „Volksgemeinschaft" Absonderung all derjenigen, die der Diktatur nicht zu folgen geneigt sind und daher für den Staat nicht „nützlich " sind, nicht zu den „aufbauenden", „positiven" Kräften, sondern zu den „Mißliebigen", zu den „Randgruppen" gehören. Wie bereits ausgeführt, unterliegt dabei das Ausmaß der sonderrechtlichen Diskriminierungen prinzipiell keinerlei sachlichen und persönlichen Beschränkungen. Sie konnten nicht, wie es der offizielle Sprachgebrauch und die Propaganda, aber auch Wissenschaft und Justiz Glauben machten, bei einem geminderten Rechts-status unter Beibehaltung gewisser Rechtspositionen Halt machen, sondern bedeuteten sowohl tendenziell wie faktisch Verlust jeder Rechtsposition, verkörpert in der Unterwerfung unter das Polizeistatut. Das Prinzip des Sonderrechts wird somit zum Ausdruck der Rechtlosigkeit, des Unrechts schlechthin.
Dies führt zu der über die NS-Diktatur hinausreichenden Schlußfolgerung, daß die Einführung von Differenzierungen kraft Gesetzes und Rechtssystem, die das Maß des um der staatlichen Existenz Notwendigen überschreitet, nicht nur Ungleichheit bedingt, sondern zwingend die Aufgabe des Rechts selbst zur Folge hat. Solche Diskriminierungssysteme, gleichgültig ob sie durch Normen, „Auslegung" von Normen oder als politisches Programm intoleranter staatlicher Apparaturen etabliert werden, haben zugleich die Tendenz zur Ausweitung und zur Verfestigung auf unabsehbare Zeit, da jeder Gesetzgebung und Bürokratie die Tendenz innewohnt, an einmal existierenden Regelungen oder Verwaltungsübungen festzuhalten. Die sonderrechtliche Praxis des NS-Staates zeigt nur ein, wenn auch das extremste Beispiel, wohin es führt, wenn die staatlichen Leitbilder nicht mehr den Grundsätzen der Freiheit, Humanität und der absoluten rechtlichen Gleichheit aller Menschen verpflichtet sind.