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Antisemitismusforschung als Wissenschaft | APuZ 30/1983 | bpb.de

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APuZ 30/1983 Antisemitismusforschung als Wissenschaft „Rechts" -Prinzipien des nationalsozialistischen Staates am Beispiel der Verfolgung Andersdenkender Die nationalsozialistische Kirchenpolitik im neuen Licht der Goebbels-Tagebücher

Antisemitismusforschung als Wissenschaft

Herbert A. Strauss

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Zusammenfassung

Die Antrittsvorlesung des neuen Leiters des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin beleuchtet den geistigen und wissenschaftlichen Hintergrund, aus dem die Planung für die praktische Arbeit des neu gegründeten Zentrums erwächst. Antisemitismus, ein trotz seiner wissenschaftlichen Fragwürdigkeit rezipierter Begriff, muß im Zusammenhang der Gesamtgeschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses verstanden und darf nicht isoliert werden. Die Forschung läßt drei Grundformen erkennen: Antisemitismus als Idee, Theologie, Ideologie oder Meinung; Antisemitismus als politische und soziale Bewegung; Antisemitismus als Teil der Politik einer Regierung (Sondergesetzgebung, Diskriminierung, Verfolgung, Massenmord). Für jede dieser Formen haben verschiedene Wissenschaften seit Jahrzehnten Analysen bereitgestellt. Die Forschungslage bildet den Ausgangspunkt der Arbeit des Zentrums. Diese Arbeit ist im wesentlichen kon-disziplinär und auf die Grundlagen des Antisemitismus, also seine Natur, wie er sich in den verschiedenen Forschungsansätzen darstellt, seine Ursachen, historisch und systematisch, und seine Folgen, bis in die Gegenwart ausgerichtet. Sie besteht aus Forschung und Lehre, Archiverstellung, Bibliothek, Stipendien-programm und Offentlichkeits-wie Auskunftsarbeit und Zusammenarbeit mit bundesdeutschen und internationalen Institutionen verschiedener Art. Die Forschung soll die kon-disziplinären Vorhaben in einem Projekt und in der Berufungspolitik verwirklichen, vor allem in der Zusammenarbeit von empirischen Sozialforschern. Lehrveranstaltungen historischer und grundsätzlicher Art sowie ein aktives Konferenz- und internationales Zusammenarbeitsprogramm sollen diese Anstöße weiter fördern. Eine durch die Technische Universität erworbene, in Europa einzigartige Bibliothek von etwa 3 500 Titeln antisemitischer Literatur (Schwerpunkt: 19. und frühes 20. Jahrhundert) erlaubt die Entwicklung eines Forschungsschwerpunktes. Das Archiv dient der Entwicklung eines Interview-Programms mit Naziopfern, auch nichtjüdischer Religion, und in Berlin mit besonderem Schwerpunkt ihren Helfern. Für den internationalen Austausch von Studenten und Lehrern ist mit dem Center for Antisemitism Research der Hebrew University Jerusalem ein Kooperationsabkommen geschlossen worden. Ein Austauschabkommen besteht für Studenten mit der City University of New York (Graduate Center). Im Laufe des Jahres 1983 sollen zwei Studenten als interns in New York Minoritätsprobleme studieren und bei einer Bürgerrechtsorganisation hospitieren. Schließlich versteht das Zentrum ein Anwachsen antisemitischer Strömungen als ein Warnsignal für soziale Probleme, die nicht erkannt oder nicht gelöst sind. Eine Studien-gruppe soll das von dem Zentrum zu sammelnde Material zu Gegenwartsfragen auf seine praktische Bedeutung untersuchen.

I.

Zeitgenossen und Betroffene, die das Dritte Reich noch aus eigenem Mitleben und Mitleiden kannten, nähern sich dem biblischen Alter, „und wenn es hoch kommt, siebzig". Die Eule der Minerva, die in Hegels bekanntem Gleichnis für die Geschichtsphilosophie erst in der Dämmerung ausfliegt, wenn eine Epoche ihrem Ende zugeht, streicht über eine veränderte Landschaft. Aber auch in dieser Landschaft findet sich noch und wieder die uralte Plage der Gruppenvorurteile und Gruppenspannungen, der Stereotypen und der Aggression, bis zum Terror hin. Kollektivschuld ist eine jener vielen archaischen Irrationalismen, die auch das Schicksal des jüdischen Volkes unheilvoll beeinflußt haben. Es gab und gibt keine jüdische Kollektivschuld für den Tod Jesu, wie es keine deutsche Kollektivschuld gibt. Es gibt eine Kollektivverantwortung. Die Vergangenheit, in die wir hineingeboren sind, bestimmt unsere Gegenwart. Die Gründung des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, auf der die Vergangenheit auch als Stacheldraht und Mauer lastet, vereint uns in dem Bewußtsein, daß rechtverstandene Geschichte Gegenwartserhellung ist, Kollektivverantwortung, unumgänglicher amor fati.

Der Tag, an dem diese Vorlesung stattfindet, der 9. November, ist ein Schicksalstag in der Geschichte der deutschen Politik und Gesellschaft und ein Trauertag in der Erinnerung des noch überlebenden deutschen Judentums. Die Ausrufung der Republik am 9. November 1918 von einem Fenster des Reichstagsgebäudes leitete eine Epoche deutscher Kultur ein, die sich immer mehr als eine klassische Periode enthüllt hat. Sie hatte in weniger als 15 Jahren neue Formen und neue Inhalte geschaffen, denen, auch durch die Emigration, eine noch heute fühlbare weltgeschichtliche Wirkung beschieden war. Der 9. November 1938 bedeutete das Ende des bis dahin noch in der Form von Gesetzen und Verordnungen legalisierten Terrors gegen das deutsche Judentum. Daß dabei etwa 100 Menschen ums Leben kamen, daß die Gotteshäuser entweiht und angezündet und etwa 30 000 Menschen in Konzentrationslager verbracht wurden, deren einziges Verbrechen darin bestand, daß sie Juden waren, hat auch einer bis dahin fast gleichgültigen und auf appeasement bedachten Welt deutlich gemacht, daß eine Kultur dabei war, sich selbst zu zerstören.

Damit wird der Gründungstag des Zentrums für Antisemitismusforschung zu mehr als einem Erinnerungs-und Trauertag. Der 9. November und die auf ihn folgende Entwicklung, die im Holocaust nicht nur der Juden, sondern auch anderer Volksgruppen endete, werden zu Symbolen für die geistige Situation, von der die Planung und das Programm des neuen Zentrums auszugehen haben.

Auszugehen haben — aber nicht zu beenden.

Für die wissenschaftliche Erfassung des Antisemitismus darf die dadurch gegebene gemeinsame Betroffenheit nicht dazu führen, •die Vergangenheit zu einem reinen und lükkenlosen Vorspiel des Zusammenbruchs zu machen. Der Schatten des Antisemitismus, der über dem Schicksal der Juden in Deutschland lag, war gewiß tiefer, als noch die Generation meines Vaters zu akzeptieren bereit war. Die Periode der deutsch-jüdischen Akkulturation, die als volle rechtliche Emanzipation nur etwa zwei Menschenalter dauerte, war eine der Sternstunden der jüdischen wie der deutschen Geschichte. Politik und Wirtschaft, Kunst, Literatur und Wissenschaft zeugen von der Fruchtbarkeit der jüdischen Rolle in der deutschen Kultur. Die jüdische Gemeinschaft hat hier Formen ausgebildet, die das moderne Judentum in aller Welt mitgeformt haben. Es gab einen Sonderweg der Juden in Deutschland, im Licht wie im Schatten.

Es gab gewiß auch einen Sonderweg der deutschen Geschichte. Die Extreme des Antisemitismus, die der 9. November einleitete, waren kein Zufall der deutschen Geschichte. Aber auch dieser Sonderweg war kein zwangsläufiger. Der Begriff darf nicht zu einem negativen Stereotyp entarten. Die Forschung hat die Aufgabe, die methodischen Irrtümer des post hoc propter hoc und der serial fallacy zu vermeiden, ohne sich zu scheuen, den Fragwürdigkeiten der Vergangenheit so ins Auge zu sehen, daß unsere Kinder die Einsicht gewinnen können, die sie zu ihrer Gegenwart benötigen.

II.

Der Antisemitismus, zu dessen Erforschung das Zentrum gegründet worden ist, ist kein einfaches, sondern ein vielschichtiges Phänomen. Das Wort selbst gehört der neueren Geschichte an: Es wurde um etwa 1879 von dem deutschen Journalisten Wilhelm Marr popularisiert. Schon die Geburt des Wortes Antisemitismus litt an dem Mangel an Geistigkeit, der der Sache anhaftet, denn es setzte eine ganze, von der Sprachwissenschaft identifizierte Sprachfamilie mit einem ihrer Mitglieder, den Juden, gleich, die zum damaligen Zeitpunkt praktisch nirgends das Hebräische als Umgangssprache benutzten. Es postulierte dann eine völkisch oder biologisch einheitliche Gruppe als Mitglieder der jüdischen Sprachfamilie, um schließlich der so postulierten Volksgruppe angeborene (in diesem Falle negative) Charakter-oder Geisteseigenschaften zuzuschreiben. Trotz dieser zweifelhaften Geburt hat sich der Begriff in Publizistik und Wissenschaft durchgesetzt.

Das Zentrum soll den modernen Antisemitismus und seine Entstehung und Ursachen, d. h. die Formen und Spielarten, untersuchen, die vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts an bis in die Gegenwart wirksam gewesen sind. Es kann damit an eine wissenschaftliche Tradition anknüpfen, die vor etwa 80 Jahren begonnen hat. Die wissenschaftliche Analyse des Antisemitismus wurde im späten 19. Jahrhundert im deutschen Kaiserreich und in Frankreich begonnen. Ein erster Höhepunkt wurde nach dem Ersten Weltkrieg in — allerdings isoliert dastehenden — theoretischen Versuchen erreicht, Soziologie und Psychologie einschließlich der Psychoanalyse neben Geschichte und Religionswissenschaft dem Studium des Vorurteils in der Form des Antisemitismus nutzbar zu machen. Etwa gleichzeitig begann die vor allem an der Universität Chicago beheimatete ökologisch und ethnisch orientierte Gruppensoziologie, auch im Anschluß an Georg Simmels frühe Arbeiten. Daneben richtete sich in den dreißiger Jahren die Aufmerksamkeit auf Probleme der Akkulturation in der Wanderungsgeschichte und in Urbanisierungsvorgängen und führte zu theoretischen Modellen für das Verständnis von Gruppenbeziehungen und Minoritätsproblemen.

Das Problem des Antisemitismus als Teil des Nazismus und Faschismus wurde allerdings wesentlich erst durch den Versuch der intellektuellen Emigration, auch von ihren wichtigen marxistischen Vertretern, aufgegriffen, um die Welt über die heraufziehenden Gefahren aufzuklären. Diese vor allem in Großbritannien und den USA beheimatete Forschung stützte sich auf Theorien, die sich aus psychoanalytischen, politikwissenschaftlichen, soziologischen und marxistischen Ansätzen ergeben hatten. Sie wurde zu Anfang der fünfziger Jahre durch das noch heute einflußreiche Werk „The Authoritarian Personality“ abgeschlossen, das von dem ehemaligen Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem American Jewish Committee, New York, als Teil einer Serie entwickelt worden war. Obwohl sich in der Folge die amerikanische und auch die deutsche Vorurteilsforschung zu einer gewissen Industrie der empirischen Soziologie entwikkelt hatten, versickerte die theoretische Arbeit seit der Mitte der fünfziger Jahre. Die Grundsatzdiskussion — dies ist auch die Meinung der amerikanischen sozialwissenschaftlichen Experten und Bürgerrechtsaktivisten — blieb auf dem Stand der fünfziger Jahre.

Es wird eine der Aufgaben des Zentrums für Antisemitismusforschung sein, durch theoretische und wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten und eine balancierte Anstellungs-und Gastdozenturenpolitik mit in-und ausländischen Experten die Forschung dazu anzuregen, diese Grundlagen neu in den Griff zu bekommen. Gerade von dieser Grundlagenforschung ist zu erwarten, daß sie die Umstände erhellt, unter denen auch in der Gegenwart Antisemitismus wieder möglich geworden ist. [Diesem Zwecke dient ferner die mit bundesdeutschen Institutionen und mit dem neugegründeten Center for Antisemitism Research in Jerusalem vereinbarte Zusammenarbeit zur Sammlung und Auswertung relevanter Materialien zur Gegenwartsgeschichte. ] Darüber hinaus besteht die Hoffnung, daß hier durch Forschungs-, Publikations-und Lehrtätigkeit zum Antisemitismus neue Einsichten für das Verständnis zum Beispiel auch der Gastarbeiter-Minderheiten in den westlichen Industrieländern gewonnen werden können. Als Ansatz dazu scheint mir vor allem das Studium der Vorurteils-und Akkulturationsprozesse und der Minderheitenbeziehungen geeignet zu sein, die in den USA zur politischen und sozialen Kultur gehören, in ihren Fortschritten wie in ihren Rückschlägen. Ein mit der City University of New York und amerikanischen Bürgerrechtsorganisationen im September dieses Jahres festgeschriebenes internship program für Studenten des Zentrums, das im Laufe des Jahres 1983 beginnen kann, soll dem ebenso dienen wie die Errichtung einer Fachbibliothek von Antisemitica, für deren Erwerb sich der Kultursenator und die Leitung der Technischen Universität in dankenswerter Weise eingesetzt haben.

Der Wissenschaftsbegriff, der diesen Bemühungen um theoretisches Verständnis des Vorurteils zugrunde liegt, zielt nicht nur darauf ab, dem Zentrum neben den bereits beste-henden Universitäts-und Forschungsbemühungen eine eigene und charakteristische Aufgabe zu stellen. Er beruht ebenso auf der pragmatischen Tradition der Sozialwissenschaften. Die atlantische Gemeinschaft, die in diesem Programm angesprochen ist, kann sich hier in einem kleinen, aber geistig und moralisch zentralen Sektor durch Austausch und gegenseitiges Lernen verwirklichen.

III.

Den Antisemitismus auf diese Weise mit Vorurteilsforschung und Gruppentheorie in Verbindung zu bringen, bedeutet jedoch nicht, die ihm eigene besondere Rolle in der Geschichte der westlichen wie der östlichen Welt zu verkennen. Die Meinungsforschung nicht nur der Bundesrepublik, sondern auch der USA und anderer Länder läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß es in den öffentlichen Meinungen einen Bodensatz von antisemitischen Stereotypen und Werturteilen gibt und daß gewisse Alters-, Religions-und Berufsgruppen eine Anfälligkeit für solche Haltungen zeigen. Auch die unerwartet einseitige Berichterstattung einiger Medien über den Angriff der Armee Israels auf die Stellungen der PLO im Libanon — über den man sehr begründet verschiedener Meinung sein kann — wirft die Frage auf, ob hier latent antisemitische Haltungen oder politisch motivierte Vorurteile an die Oberfläche gedrungen sind. Der Antisemitismus als Haltung und Meinung, den die Umfragen bloßlegen, ist schwer zu deuten, gerade auch in seinem Stellenwert, in der Abhängigkeit der Antwort von unmittelbar wahrgenommenen Situationen oder von der Art, wie Fragen formuliert und die Antworten interpretiert werden. Doch selbst in der Bundesrepublik, auch nach 1945 mit nur einer verschwindend kleinen jüdischen Bürgerschaft, blieben antisemitische Ideen. In gewissen Ostblockländern haben sich die Gegner des Staates Israel und seiner Politik nicht damit begnügt, ihre außenpolitischen Interessen mit realpolitischen Argumenten zu propagieren, sondern sie haben antisemitische Ideen und Karikaturen, Fälschungen und Stereotypen benutzt, um ihre Positionen zu rechtfertigen. Auch diese Mobilisierung antisemitischer Ideen muß zu dem Schluß führen, daß die Propagandabürokratien dieser Staaten mit dem Fortleben antisemitischer Stereotypen unter ihren Bevölkerungen und Zielgruppen rechnen.

Der Antisemitismus erscheint hier also als Haltung, als Stereotyp, als Idee und wird für die Ideengeschichte zugänglich. Als Ergebnis von fast 100 Jahren wissenschaftlicher Forschung ergibt sich: Der moderne Antisemitismus der westlichen Welt wurzelt in der Religion der westlichen Welt. Eine seit 1945 höchst umfangreich gewordene Literatur, auch der christlichen Theologie, auch der Kirchen, hat in der Geschichte des christlich-jüdischen Verhältnisses von der Antike bis zur Gegenwart einen Strang isoliert, der von den Vorstellungen der hellenistischen Welt und der Kirchenväter über das spätere Mittelalter und die Reformation, etwa den späten Luther, bis in die jüngste Gegenwart führt, mit den bekannten Folgen für die Leidensund Unterdrückungsgeschichte des vormodernen Judentums.

Die wissenschaftliche Literatur zum christlich-jüdischen Verhältnis hat auf die einzigartige Nähe hingewiesen, die Judentum und Christentum als ursprünglich konkurrierende und aus einem gemeinsamen Urgrund hervorgehende Schwesterreligionen verbindet. Sie hat die fast völlige Durchdringung von Altertumskunde und Theologie, Geschichtswissenschaft und Literatur in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert mit säkularisierten christlichen Vorurteilen über Juden und Judentum bloßgelegt.

Das christliche Bild von Juden und Judentum blieb damit bis in die Gegenwart von zutiefst irrationalen Vorstellungen bestimmt. Psychologische Erklärungen haben auf die Dynamik des Nächsten-Fernsten-Verhältnisses hingewiesen, das beide Religionen aneinander bindet und das auch in der bisher nur wenig analysierten, in die Moderne überlebenden Volksfrömmigkeit, z. B. in den Ritualmord-Anschuldigungen, Passionsspielen und Kollektivschuld-Vorstellungen, weiterlebt.

Trotzdem ist der moderne Antisemitismus gerade in den nicht oder anti-christlichen Utopiebildungen wirksam geworden, die seit der Aufklärung das europäische Denken beherrscht haben. Unter ihnen waren weder der frühe Liberalismus noch die Romantik, Nationalismus oder Sozialismus von antijüdischen Ideen unberührt geblieben. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht auch daraus die eigentümliche Mischung von Ideen, die für den Antisemitismus des 20. Jahrhunderts charakteristisch geblieben ist. Ihr Hauptzentrum lag im deutschen Kaiserreich, aber keineswegs ausschließlich. Rassismus und Sozialdarwinismus begannen das Menschenbild des späten 19. Jahrhunderts in allen Ländern umzuformen. Französische Intellektuelle begründeten um 1890 einen von Linksideen beeinflußten irrationalen antisemitischen Nationalismus. Im k. u. k. Österreich verband sich der kommunale Reformismus Luegers mit Katholizismus und Antisemitismus, während in der Tschechoslowakei eine nationalsozialistische deutsche Ideologie im Nationalitätenkampf an die Oberfläche drang. In Deutschland vereinigten sich zahllose lebensreformerische, völkische, rassistische, antisemitische und neuromantische, meist wenig ausgegorene und schwärmerische Strömungen zu jener deutschen Ideologie, die dann in biographisch nachweisbaren Verbindungen in die Lebensgeschichte Hitlers und den frühen Nationalsozialismus übergeht. Trotzdem muß festgehalten werden, daß der Nationalsozialismus nicht so schnell Bildungsbürgertum und Kirchen neutralisiert oder zur Mitarbeit an der Politik des Dritten Reiches gebracht hätte, wenn der Boden dafür nicht durch die alte antijüdische Tradition des Christentums und seine säkularen Ausformungen vorbereitet gewesen wäre.

Wie immer die Ergebnisse der vielverzweigten Forschungsansätze der Ideengeschichte am Ende zusammenzusehen sein werden, sie haben ein widersprüchliches Feindbild von Juden und Judentum bloßgelegt. Gerade diese Widersprüche und Merkmale verweisen auf die Grundeigenschaft auch des post-christlichen Antisemitismus, seine zutiefst irrationale Natur. Die lange und erfolglose Geschichte von Versuchen, den Antisemitismus durch Hinweise auf die Unsinnigkeit seiner Vorstellungen abzuwehren, legt die Tatsache bloß, daß das Vorurteil Mechanismen anspricht und Bedürfnisse befriedigt, die nicht in der ratio, sondern in dem Gefühlsleben des Menschen, auch in seinem Unterbewußtsein verankert sind.

Damit ist die Fragestellung von der Ideen-und Meinungsgeschichte des Antisemitismus auf die Individualpsychologie gelenkt, die das Individuum heuristisch isoliert, das das aus Geschichte und Zeitumständen erwachsene Vorurteil trägt oder unter bestimmten Umständen übernimmt. Der tiefenpsychologische Ansatz ist vor allem in den USA in der psychoanalytischen Literatur und der auch von ihr beeinflußten Serie von empirischen Einzelstudien (kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs), den „Studies in Prejudice", fruchtbar gemacht worden. Ihre bekannteste und in Berlin und der Bundesrepublik bis heute wirksame Untersuchung, The Authoritarian Personality, postulierte eine Korrelation zwischen Persönlichkeitsmerkmalen, politischer Haltung und antisemitischen Vorstellungen. Schon die ältere deutsche und amerikanische Vorurteilsforschung, die von intellektuellen Emigranten der Naziperiode fruchtbar angeregt und weitergeführt worden ist, hatte Modelle zum Verständnis des Vorurteils bereitgestellt. Man denkt hier etwa an die heute weithin und gelegentlich auch unpräzise akzeptierten Vorstellungen, die Dollard, Doob u. a. bereits 1939 formuliert (und später modifiziert) hatten und die eine experimentell feststellbare Beziehung zwischen Frustration, Aggression und Übertragung (displacement) und der Projektion von nicht ausgetragenen Spannungen auf Haßobjekte (eben wie die Juden oder Neger) postulierten. Auch die Arbeit Kurt Lewins hatte für einige Jahrzehnte einen bedeutenden Einfluß. Ein Ergebnis dieser seit den fünfziger Jahren eher empirisch vorgehenden Forschung, daß der Antisemit letzten Endes ein seelisch gestörter Mensch sei, ist inzwischen zum Teil, z. B. im Zusammenhang mit den Kriegsverbrecherprozessen oder dem Eichmann-Prozeß, in Frage gestellt worden und sollte neu und zusammenfassend untersucht werden. Daß der Antisemitismus einer irrationalen Schicht des menschlichen Verhaltens entspringt, wird dadurch nicht entkräftet. Die Forschung gewinnt hier eine diagnostische Funktion, die die pädagogischen und politischen Provinzen einer Kultur auf eigene Gefahr mißachten.

IV.

Es ist gewiß richtig, daß der individual-psychologische Ansatz zum Verständnis des Vorurteils nur dann zum Antisemitismus führen kann, wenn negative Bilder von Juden und Judentum bereits für Projektionen und psychologische Bedürfnisse verfügbar sind. Schon deshalb sind hier Tiefenpsychologie und Ideengeschichte nicht zu trennen. Sie bilden die Grundlage für die antisemitischen Bewegungen in der Form von Organisationen, politischen Parteien, Berufs-und Standesvertretungen. Wie die modernen antisemitischen Ideen waren auch diese Bewegungen ein europäisches Phänomen des späteren 19. Jahrhunderts. Ein deutscher Beobachter, der um die Jahrhundertwende auf Österreich, Frankreich, Rußland, Bulgarien, Rumänien oder Böhmen und Mähren geblickt hätte, hätte allen Grund dazu gehabt, die Erfolgsaussichten solcher Bewegungen in Deutschland als gering zu achten. Die tatsächliche Entwicklung hat ihm Unrecht gegeben. Die deutschen antisemitischen Bewegungen mündeten in den Nationalsozialismus. Genügt es, den Sieg des Antisemitismus in Deutschland dem Einfluß großer historischer Ereignisse wie dem verlorenen Weltkrieg, der Weltwirtschaftskrise, dem Zerfall der Weimarer Republik oder dem Hitlerphänomen zuzuschreiben? Gab es Strukturelemente, die diesen separaten Weg des Antisemitismus in Deutschland erklären? Daß das marxistische Modell hier auf empirische Schwierigkeiten stößt, ergibt sich schein aus dem Vergleich mit den Zentren des klassischen Kapitalismus, etwa England und den USA. Eine jüngere und kritische Literatur hat gewiß auch für die vollkapitalistischen Länder antisemitische Ideen und Motive im öffentlichen Leben bloßgelegt. Was es aber an antisemitischen Bewegungen gab, blieb politisch erfolglos, selbst wo die Gesetzgebung, wie etwa die amerikanische Einwanderungsgesetzgebung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, rassistische Vorstellungen kodifizierte. Die antisemitischen Bewegungen der neueren Geschichte waren nicht eine Folge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern — wenn man auf dieser Ebene von Verallgemeinerungen formulieren soll — sie durchdrangen dort Politik und Gesellschaft, Wo der Einfluß dieser Ordnung begrenzt geblieben war.

Das grundlegende Modell, mit dem die deutschen Entwicklungen verständlich werden, ergibt sich aus dem Begriff der Modernisierung. Aus Gründen, die tief in der deutschen politischen und Sozialgeschichte zu finden sind, war zwar die wirtschaftliche Modernisierung zu einem erstaunlichen Maße gelungen. Deutschland wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Industriestaat, in dem Wissenschaft und Technologie in wohl nur 1933-1945 wiederholter Weise mit Staat und Wirtschaft zusammenarbeiteten.

Der technologischen Modernisierung blieb es jedoch versagt, auch die politischen Institutionen zu verwandeln. Bismarcks politische Ordnung und die politischen Entscheidungen der Kaiserzeit fixierten Schichten an der politischen Macht, die sich als unfähig erwiesen, die Träger der industriellen und wirtschaftlichen Modernisierung an der Macht zu beteiligen, etwa durch einen echten Parlamentarismus. Der deutsche Liberalismus blieb Partei, wurde nicht zu Gesinnung und durchdrang nicht die politische Kultur. Es gab keine radikal-demokratische Bewegung etwa mit Ausnahme der revisionistischen Strömungen der Sozialdemokratie, die den in Strukturwandlungen temporär benachteiligten und geschädigten älteren Schichten und Berufsgruppen die Chance der politischen Beteiligung und gesellschaftlichen Integration geboten hätte. Das Dreiklassenwahlrecht blieb in Preußen bis 1918 in Kraft.

Als einzige war die jüdische Bevölkerung un-ablösbar an den Erfolg der politischen Modernisierung gebunden. Ihre Gleichstellung, die Entwicklung eines auf Talent und Leistung aufgebauten Sozialsystems, hing von eben jenem Liberalismus ab, den die tragenden Schichten abwehren mußten, wenn sie ihre Machtstellung bewahren wollten. Als dann die lange Kondratieffsche Wirtschaftskurve von 1873 bis etwa 1890 zu Krisen führte, wurden die Juden zu einem Symbol für Strukturveränderungen, an denen sie gerade durch ihre nur schwache Beteiligung an der industriellen Entwicklung nur geringen Anteil hatten. Wie weit der Antisemitismus nach dem Abflauen der antisemitischen Bewegungen nach 1895 die verschiedenen Gesellschafts-und Berufsgruppen infizierte, ist eine noch offene Frage der Antisemitismusforschung. Wie sehr aber antisemitische Bewegungen in nationalen und wirtschaftlichen Krisen zur politischen Mobilisierung mangelhaft integrierter und modernisierter Schichten diente, wurde dann in der Auflösungsperiode der Weimarer Republik und dem Stimmenanstieg der NSDAP nach 1930 deutlich. Es ist eine der Aufgaben des Zentrums für Antisemitismusforschung, in wissenschaftlichen Konferenzen und Kolloquien durch interdisziplinäre Zusammenarbeit von vergleichender Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Sozialwissenschaft die systematische Anwendbarkeit des Modernisierungsmodells auf den modernen Antisemitismus zur Diskussion zu stellen.

V.

Mein drittes Thema, die Rolle des Antisemitismus in der Regierungspolitik des Dritten Reiches, ist ein gutes Beispiel für die Grenze, die die soeben empfohlene wissenschaftliche Methode für die Erkenntnis dessen setzt, wie es eigentlich gewesen ist. Die Strukturgeschichte hat die Tendenz, Modelle, die sie selbst konstruiert hat, für die Wirklichkeit zu substituieren, die sie erklären sollen. Die politische Meinung in der Bundesrepublik und der DDR, besonders unter jüngeren Wissenschaftlern und den Medienexperten, hat seit vielen Jahren den Antisemitismus des Dritten Reiches als ein Bei-und Seitenprodukt des Faschismus verstanden, als den sie den Nationalsozialismus kategorisiert. Sie hat sich mit diesem Begriff den Weg verbaut, die Frage zu beantworten, um die es hier geht: Wie konnte es geschehen? Warum hat niemand den Judenverfolgungen des Dritten Reiches Einhalt geboten, bevor es zu spät war?

Man muß die Frage ausweiten, bevor man sie zu beantworten versucht. Es wurde soeben von der Alarmfunktion gesprochen, die dem Antisemitismus als Anzeichen einer Krise eigen ist. Der Antisemitismus hätte für die gesamte Politik des Dritten Reiches, für Terror und Konzentrationslager, Hinrichtungen, willkürliche Verhaftungen und Volksgerichte, außenpolitische Aggression und schließliche Niederlage und Zerstörung der Einheit Deutschlands diese Alarmfunktion haben können und sollen. Im Unterschied zu anderen staatlichen Ausformungen des Totalitarismus hat der Nationalsozialismus seit spätestens 1919 eine Ideologie zum Zentrum seiner politischen Konzeptionen erhoben, die mit den Realitäten von Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Krieg, Wie sie im öffentlichen Leben pragmatisch erfahren werden, nur eine durch Taktik und Täuschung — d. h. zeitweilige Anpassung — manipulierte Beziehung hatte. Diesen Religionsersatz und die Phantasien des Nationalsozialismus sollen hier nicht wiederholt werden, jene trivial-bösartige und vulgäre Mischung halbverstandener und dann verabsolutierter Dogmen von dem Urgrund des sozialen Handelns im Biologischen, von dem sozial-darwinistisch romantisierten Kampf der Völker-Rassen ums Dasein, von dem Blut und seiner Magie im völkischen Armageddon des Guten gegen das Böse, das sich dann in Rassen wie der arischen und der semitischen verkörperte.

In der Tat: der Antisemitismus hat im Zusammenhang mit dieser Ideologie auf eine weltgeschichtlich fatale Weise seine Alarmfunktion versäumt. Die Ideologie des Rassen-wahns und die gleich zu charakterisierende Verfolgung der Juden im Dritten Reich hätten die konservative Kamarilla, die damals Hitler zur Kanzlerschaft berief, darauf vorbereiten müssen, daß hier ein zutiefst gestörtes Verhältnis zur Realität vorlag, und daß das Dritte Reich, das nun bald zur totalen Diktatur avancieren sollte, dieses gestörte Verhältnis nur durch jene politische Manövrierfähigkeit kompensierte, die die politischen Erfolge der ersten Periode des Dritten Reiches zu erklären helfen. Ein Krieg um Lebensraum, zur Vernichtung unwerten Lebens und unerwünschter Esser, die Ausrottung von Unter-menschen und Gegenrassen, die Verschiebung von Millionen von Menschen von einem Gebiet zum andern waren die Stufen, auf denen die Phantasien an den Wirklichkeiten scheitern mußten.

Daß die Alarmfunktion nicht ausgeübt wurde, ist ein wichtiges Argument dafür, das Dritte Reich nicht nur als einen Zufall und Unfall der Geschichte anzusehen. Es läßt sich im einzelnen zeigen, wie sehr die antisemitischen Ideen und Bewegungen am Vorabend der Machtergreifung die politische Abwehr behinderten. Die verschiedenen konservativen Spielarten des traditionellen Antisemitismus verstanden den Nationalsozialismus als vielleicht radikale Erfüllung ihrer Vorstellungen. Wichtiger noch: Dieselbe Unfähigkeit, an die Zukunft freier Institutionen und an die Fähigkeit der Republik zu glauben, politische und geistige Traditionen mit der Moderne zu verbinden, durchdrang Parteien, religiöse, kulturelle und andere Erziehungs-Institutionen in jener fin-de-liberalism Stimmung, die „den“ Juden der Weimarer Republik zu ihrem Gegen-und Feindbild stereotypisiert hatte. Daß sich die jüdische Gemeinschaft bald nach 1933 ohne institutioneile Freunde fand, daß die Universitäten die Entlassung von etwa 2 000 Professoren und anderem Lehrpersonal ohne einen einzigen institutioneilen Protest duldeten, zum Teil daran mitarbeiteten, daß selbst die Kirchen sich dem Anruf versagten, gemeinsam Religion und Geist zu verteidigen, hat gewiß seinen Grund in der brutalen Übernahme — Gleichschaltung — des öffentlichen Lebens und der Nazifizierung ihrer Führungsgremien. Wie die Geschichte der Kirchen im Dritten Reich zeigt, genügt dies zur Erklärung nicht. Die gesellschaftsfähige Tradition des Antisemitismus hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Der kurze Weg des Nicht-Widerstehens erwies sich als der lange Weg in die deutsche Katastrophe.

So konnte die erste Periode der Judenverfolgung im Dritten Reich von 1933 bis etwa 1939/41 praktisch ungehindert ablaufen. Sie folgte keinem genauen Plan, sondern ergab sich in ihrem Ablauf aus den politischen und Verwaltungskonstellationen des Dritten Reiches, aus vermutlich manipuliertem Straßen-terror und den Hunderten, ja Tausenden von Gesetzen und Verordnungen, mit denen die Beamtenschaft bis zur Ministerialbürokratie, zumindest in ihren besten Vertretern, die Politik der Straße abzufangen hoffte. Daß sie damit den Terror legalisierte, daß Antisemitismus nirgends auf Widerstand stieß, erklärt sich daraus, daß das Dritte Reich sich innen-wie außenpolitisch in einer breiten Öffentlichkeit legitimieren konnte. Selbst wenn man die fast lOOprozentige Zustimmung der Plebiszite als gefälscht anzusehen hat, Außenpolitik und Remilitarisierung, Wirtschafts-und Handelspolitik, totalitäre Erziehung und Propaganda integrierten im einzelnen feststellbare Altersschichten und Berufsgruppen in ein System, das in der Periode des appeasement auch seine außenpolitische Legitimation erreicht zu haben schien.

Die zweite Periode der Judenverfolgung des Dritten Reiches war die Periode des Massen-mordes an dem europäischen Judentum im Bereich der besetzten und eroberten Gebiete. Der Akt des Mordes selbst, die ungeheure Brutalität der Einsatzgruppen und die kalten, fabrikähnlichen Vorgänge der Massenvergasung entziehen sich dem Verständnis einer Wissenschaft wie der Geschichte, deren Arbeitsweise mit darauf beruht, daß die Vergangenheit im Geist des Historikers wieder vorgestellt und nachvollzogen wird. Die überlebenden haben trotzdem unter dem Zwang gestanden, über das ihnen Geschehene zu berichten und das Andenken derer zu bewahren, die untergegangen sind. Diesem Impuls verdanken wir eine reiche Dokumentar-und Memoirenliteratur, und auch das Zentrum für Antisemitismusforschung wird sich durch ein Interview-und Zeugenschriftenprojekt an dieser noch immer möglichen und notwendigen Arbeitbeteiligen und diejenigen einzuschließen suchen, auch und gerade hier in Berlin, die den Verfolgten geholfen haben. Dies ist eine persönliche und kollektive Verpflichtung, die auch durch eine bereits geschlossene Vereinbarung mit Yad Vashem, Jerusalem, und der Research Foundation for Jewish Immigration, New York, erfüllt werden wird.

Im Gegensatz zu dem die wissenschaftliche Vorstellungskraft übersteigenden Millionen-sterben selbst sind die Vorgänge, die zum Holocaust geführt haben, Gegenstand einer umfangreichen internationalen wissenschaftlichen Analyse geworden. Versuche, den Gesamtvorgang in einer Interpretation zugänglich zu machen, die irgendeine Zweckmäßigkeit erkennen ließe, bleiben reine Spekulation. Der Holocaust entbehrt aller Funktionalität, sei sie politisch, militärisch oder wirtschaftlich. Ihn als ein Kriegsziel sui generis zu postulieren bedeutet, ihn als Ausgeburt und absurde Konsequenz einer tief pathologischen Weltanschauungsreligion auszuklammern. Ansätze, die zum Verständnis des Antisemitismus vor 1933 nützlich waren, versagen, wo Autoritäts-und Gehorsamsideologien und die Pervertierung ideologischer Indoktrinationen den pathologischen Mord als Norm sozialisieren. Die Selbstbegrenzung der Verantwortung hat in dem arbeitsteiligen, polyzentrischen und bürokratischen Getriebe des Dritten Reiches die indirekte Mitarbeit von Hunderttausenden von Polizisten, Verwaltungsbeamten, Eisenbahnern und Technikern, Wirtschaftsmanagern und Offizieren ermöglicht, ohne sie notwendigerweise mit dem Ergebnis ihrer Mitarbeit zu konfrontieren. Die Arbeit an diesem bisher nicht zugänglichen Themenkreis mündet hier in die ausgedehnte empirische Arbeit ein, die seit vielen Jahren auch von bundesdeutschen Historikern zur Geschichte und Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft geleistet worden ist.

Auch die jüdische und israelische Forschung hat Fragen gestellt, die diesen Forschungsrichtungen parallel laufen. Sie hat Möglichkeiten und Grenzen des jüdischen Widerstandes vor allem in Polen und Südosteuropa untersucht; sie hat die Problematik des Judenrates als eines von den Verfolgern kontrollierten jüdischen Selbstverwaltungsorgans einer kritischen Betrachtung unterzogen; heute noch unvollendete Arbeiten beschäftigten sich mit der wissenschaftlichen Auswertung der Prozesse gegen Kriegsverbrecher, auch gegen die an dem Morden beteiligten soge-nannten volksdeutschen oder osteuropäischen Hilfswilligen-Truppen; Psychologie und Psychiatrie haben sich nicht nur der Psychologie der SS oder anderer Verfolger, sondern auch der Erforschung der Wirkung des Lager-lebens (Traumas) auf die Überlebenden und ihre Kinder zugewandt. Zur Geschichte des Holocaust gehört auch die zunehmende Beschäftigung mit den Rettungsversuchen jüdischer und nicht-jüdischer Organisationen, mit der Kollaboration z. B.der französischen Vi-9 chy-Regierung und ihres Beamtentums an der Deportation und Vernichtung der in Frankreich lebenden ausländischen Juden, und mit der Einwanderungspolitik der Regierungen westlicher Staaten wie den USA oder Großbritanniens, die mindestens von 1943 an über das Ausmaß der Vernichtung informiert gewesen waren und sich nicht zu wirksamen Gegenmaßnahmen bereitfanden. Auch die lange vor Hochhuths bekanntem Drama „Der Stellvertreter" einsetzende kritische Würdigung der Rolle der Kardinalsbürokratie und Papst Pius XII., wie der Kirchen in den verschiedenen Ländern überhaupt, gehört in diesen Zusammenhang.

Wenn Hannah Arendt am Ende des Krieges glaubte, daß den Sozialwissenschaften und der Kulturgeschichte die Maßstäbe fehlen, mit diesem Geschehen fertig zu werden, gab sie einer der Grundtatsachen der Holocaust-Forschung in durchaus berechtigter Weise Ausdruck, wurde aber durch die Entwicklung der empirischen Forschung ins Unrecht gesetzt. Meine Andeutungen geben nur einen unvollkommenen Überblick über die wissenschaftliche Arbeit, die heute in vielen Zentren von einer Reihe von Disziplinen geleistet wird oder schon in Publikationen vorliegt. Zu den Lücken in dieser Arbeit gehört noch, neben manchem anderen, die Geschichte der letzten Phase des deutschen Judentums von 1933 bis zum Ende einschließlich der in den neuen Einwanderungszentren und seit 1945 in der Bundesrepublik wiederentstandenen Gemeinden. Die Hauptarbeit zu diesem Thema ist bisher von der Lokal-und Regionalgeschichte von interessierten Archivaren und Museumsbeamten, Stadtverwaltungen und Länderregierungen und von der Wanderungsgeschichte geleistet worden. Es wird in den nächsten Jahren zu den Aufgaben des. Zentrums gehören, nicht nur die Ergebnisse der internationalen Holocaustforschung der Öffentlichkeit zur Information verfügbar zu machen, sondern auch durch wissenschaftliche Zusammenarbeit mit in-und ausländischen Forschern und Zentren und Lokal-und Regionalhistorikern der Bundesrepublik den Boden für eine Geschichte dieser letzten Phase vorzubereiten.

Es bleibt, was man die mittelbare oder unmittelbare Gegenwart des Antisemitismus als Idee und internationales Motiv der Politik nennen könnte. Die Nachkriegszeit war schockiert genug, nicht nur die Barbarei des modernen Krieges mit seiner nun als militärisch fragwürdig oder nutzlos erkannten Ausdehnung des Krieges auf die Zivilbevölkerung so zu perhorreszieren, daß die industrielle Welt der Supermächte seit 37 Jahren den Frieden bewahren konnte. Sie hat auch, wenn man von den Unbelehrbaren und ewig Gestrigen und von Protestbewegungen der Jugendlichen absieht, zu einer Ernüchterung der politischen und religiösen Kulturen des Westns darüber geführt, daß der Antisemitismus als Mittel der politischen Integration oder als religiöser Absolutheitsanspruch zur politischen und moralischen Selbstzerstörung führen muß. Auch in der Bundesrepublik hat, nach dem Ergebnis von Umfragen, der Prozentsatz der Bevölkerung, der auf Befragen antisemitische Stereotypen und Vorurteile verbalisiert, gerade auch unter der jüngeren Generation ziemlich stetig abgenommen.

Die neue Lage, mit der wir heute konfrontiert sind, ist in ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedeutung noch nicht abzusehen. Ein Institut, dem als fast einzigem in der Welt das wissenschaftliche Studium des Antisemitismus — nicht als Tagespolitik, sondern als Wissenschaft — zugewiesen ist, würde seine Aufgabe verfehlen, wenn es nicht die Einsichten, die es aus Theorie und Geschichte gewonnen hat, für das politik-und gesellschaftswissenschaftliche Verständnis der Gegenwart zugänglich machen würde. Das Zentrum hat bereits zu diesem frühen Zeitpunkt seiner Entwicklung mit in-und ausländischen Stellen und Organisationen einen Informationsaustausch vereinbart und erste Schritte unternommen, internationale und interdisziplinäre Studiengruppen mit der wissenschaftlichen Auswertung dieser Informationen zu betrauen. Es wird ein Prüfstein seiner wissenschaftlichen Integrität sein, ob es sich dabei von den oft komplizierten politischen und Propaganda-Interessen freihalten kann, die die Wissenschaft für innen-oder außenpolitische Zwecke mobilisieren wollen.

Es war meine Absicht, die interdisziplinäre Vielfalt der Antisemitismusforschung und die Vielzahl der heute laufenden Projekte im Zusammenhang ihrer wissenschaftlichen Methoden und Interpretationszusammenhänge anzudeuten. Daß Ideen, Bewegungen und Regierungsmaßnahmen sich durchdringen, daß allem extremen Vorurteil und damit auch dem Antisemitismus eine Alarmfunktion zukommt, deren Mißachtung eine Gesellschaft am Ende teuer bezahlen muß. verbindet Geschichte mit Gegenwart. Das Zentrum für Antisemitismusforschung ist darauf angelegt, diese Verbindung in seiner wissenschaftlichen Arbeit zu honorieren und die Vergangenheit einer rationaleren Gegenwart und Zukunft nutzbar zu machen.

Fussnoten

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Herbert A. Strauss, Dr. phil., Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin, geb. 1918 in Würzburg; 1936— 1942 Stud. Lehranstalt (Hochschule) für die Wissenschaft des Judentums, Berlin; 1942— 1943 auf der Flucht vor der Deportation in Berlin versteckt; 1943— 1946 stud. phil. Univ. Bern, Schweiz, 1946 Dr. phil.; 1948— 1982 Instructor und ab 1960 Professor für Neuere europäische Geschichte an der City University of New York; 1982 Resident Professor; Präsidialmitglied des Council of Jews from Germany, London/New York/Jerusalem; seit 1982 erster Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin. Hauptforschungsarbeiten u. Publikationen: deutsch-jüdische Geschichte, Wanderungsgeschichte der NS-Periode, Akkulturation.