Jede Analyse des „realen Sozialismus" steht vor dem Problem, daß sie sich mit einem politisch-gesellschaftlichen System beschäftigt, das ein großes Maß an Vereinheitlichung jener Gesellschaften zuwege gebracht hat, in denen er sich als Herrschaftssystem etablierte. Diese Vereinheitlichung konnte jedoch nicht verhindern, daß die spezifischen historischen, nationalen und sozialökonomischen Ausgangsbedingungen, die die einzelnen sozialistischen Länder in sehr unterschiedlicher Weise geprägt haben, nachwirken und diese vor je unterschiedliche Probleme stellen. Nicht nur die Systemkonflikte in der DDR 1953, in Polen und Ungarn 1956, der CSSR 1968 sowie in Polen 1970, 1976 und 1980/81 sind hierfür ein Beleg. Insofern sind Aussagen über allgemeine Charakteristika des „realen Sozialismus" immer mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln. Das gleiche gilt auch für Verallgemeinerungen, die aus der Analyse eines einzelnen Landes oder einer einzelnen Gesellschaft gewonnen worden sind. Dies gilt es im Auge zu behalten, wenn im folgenden das Verhältnis von Partei und Staat exemplarisch am Beispiel der DDR untersucht wird.
Die DDR und in anderer Weise auch die übrigen Staaten Osteuropas sind wohl in der Tat mehr als nur exemplarische Fälle einer allgeL Der Sozialismus als Modernisierungs-System Die nationalen und historischen Besonderheiten der osteuropäischen sozialistischen Staaten können eine gemeinsame Erfahrung dieser Länder nicht verdecken: Sie alle waren gezwungen, das sowjetische Gesellschaftsmodell zu übernehmen und ihre eigenen politischen und sozialen Strukturen so eng als möglich an das Vorbild der Sowjetunion anzupassen. Dies bedeutete, daß das politische System der „Diktatur des Proletariats" stalin-scher Prägung in seinen wesentlichen Bestandteilen übernommen und durch einige meinen Entwicklung. Ansonsten würde es genügen, sich allein mit der UdSSR als der dominanten Macht des „realsozialistischen" Systemverbunds zu befassen. Erst die Analyse der vielfältigen Formen und Ausprägungen des Sozialismus sowjetischen Typs ermöglicht aber ein differenziertes und wirklichkeitsnahes Urteil. Die DDR eignet sich dazu in besonderer Weise. Sie ist nicht nur neben der CSSR der am höchsten entwickelte Staat des RGW, sondern auch trotz aller Gemeinsamkeiten mit den sozialistischen Staaten (in der Ideologie, gemeinsamen Vorstellungen über die Struktur und Funktion des politischen Systems, der ökonomischen Prozesse usw.) so stark durch ihre besonderen nationalen und historischen Bedingungen geprägt, daß die Spannbreite möglicher Entwicklungen des „realen Sozialismus" als Systemtypus, vor allem seine Anpassungs-und Wandlungsfähigkeit, sich hier in besonderer Weise aufzeigen lassen. Nur auf den ersten Blick erscheinen die polnischen Ereignisse dieser Argumentation zu widersprechen. Gerade die Entwicklung in der DDR seit Beginn der sechziger Jahre zeigt, daß es einem „realsozialistischen" System durchaus möglich ist, mit einem wachsenden Problemdruck so umzugehen, daß größere gesellschaftliche Erschütterungen vermieden werden können.
I. Parteiherrschaft und Bürokratie
Elemente einer besonderen „volksdemokratischen" Entwicklung, die sich aus den besonderen Bündnisbedingungen ergaben, modifiziert wurde. Doch änderten auch diese Modifikationen des sowjetischen Modells staatlicher Machtausübung im Kontext der „Bündnispolitik" nichts an der Grundauffassung, daß das Hauptinstrument der Partei zur Durchsetzung ihrer politisch-ökonomischen Ziele der Staat sei, die Massenorganisationen sich als Transmissionsinstrumente zu bewähren hätten und jeder Verselbständigungstendenz dieser Organisationen gegenüber der Partei entgegengetreten werden müsse. Konzipiert war dieses Modell für ein unterentwickeltes Land, in dem es galt, den Prozeß der Industrialisierung unter „sozialistischen" Vorzeichen nachzuholen. Es war jedoch nicht in der Lage, industriell hochentwickelte Staaten wie die SSR oder die DDR über eine Phase des extensiven Wirtschaftswachstums zur Beseitigung der Kriegs-und Kriegsfolgeschäden hinaus zu entwickeln
Anders als in der Sowjetunion und den weniger industrialisierten Staaten Osteuropas hatte diese „Revolution von oben" in der ÖSSR und DDR nicht die Aufgabe, einen Modernisierungsprozeß einzuleiten, dessen Ziel das Nachholen einer erstmaligen Industrialisierung unter „sozialistischen" Vorzeichen war, in der der Staat die Aufgaben des kapitalistischen Unternehmers übernahm, ja sogar erheblich höhere soziale Kosten verantwortete, als sie bei einem allmählichen „naturwüchsigen" Industrialisierungsprozeß aufgetreten wären Darauf hin waren die Planungs-und Leitungsstrukturen zugeschnitten. Gleichwohl wurden die politischen und gesellschaftlichen Strukturen des stalinistischen Modernisierungsregimes auf die Staaten Osteuropas übertragen. Mochten diese noch geeignet sein für die Eroberung der politischen Macht und die Umwälzung der alten Eigentums-strukturen; angesichts der differenzierten und komplizierten Lenkungs-und Leitungsprobleme in diesen Gesellschaften war das Scheitern der kommunistischen Parteien als Träger einer neuen sozialen Bewegung, die eine gerechtere Gesellschaft aufbauen wollte, vorprogrammiert. Der Aspekt der Machterhaltung trat zunehmend in den Vordergrund. Auf der Grundlage des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln leitete ein für die Ziele der Partei instrumentalisierter Staat den Prozeß der gesellschaftlichen Umwandlung. Alles kam darauf an, die staatliche Verfügungsgewalt auch auf die Bereiche der Gesellschaft auszuweiten, die bisher noch nicht dem Gestaltungswillen der Partei und des Staates unterworfen waren. Ein starker Staat schien zu garantieren, daß die Ziele der Partei realisiert werden konnten. Hier ist eine Hypostasierung des Staates angelegt, die ihre historische „Rechtfertigung" in der erfolgreichen Modernisierung eines Landes finden mag, jedoch spätestens dann zum zentralen Problem der neuen Gesellschaftsordnung wird, wenn der revolutionäre Umgestaltungsprozeß beendet ist und es gilt, die erst in rudimentärer Form bestehende neue Gesellschaftsordnung innerlich zu festigen und auszugestalten. Mit dem Staat etablierte sich ein abgehobener Leitungsapparat, der sich weitgehend außerhalb des Rechts bewegte. Geltungsgrund des Systems waren nicht der Glaube an die formelle Rechtmäßigkeit der gesetzten Regeln und an die wertneutralen Grundsätze des Systems, sondern persönliche Hingabe und Gefolgschaft gegenüber der Partei, die sich „teleologisch" legitimierte — sie allein war der Garant dafür, daß das Ziel, die kommunistische Gesellschaft, erreicht werden würde. Je mehr dieses Ziel aus der Sicht der Zeitgenossen verschwand, desto deutlicher wurde, daß der Sozialismus keine kurzfristige Übergangserscheinung, sondern eine auf Dauer angelegte gesellschaftliche Formation ist. Um so problematischer wurde dadurch die Geltungsgrundlage des Systems. Der „reale Sozialismus" bedient sich vordringlich der Instrumente, die abschaffen zu wollen er noch immer vorgibt: des Staates und des Rechts. Was aber bedeutet eine solche Staatsfixierung für die Zielsetzung, die Herrschaft von Menschen über Menschen abzuschaffen, eine Zielsetzung, die keine Spielart des Marxismus aufgeben kann, ohne unglaubwürdig zu werden. Schon ein oberflächlicher Blick auf die in diesen Ländern entstandenen politischen Strukturen und gesellschaftlichen Verkehrsformen läßt erkennen, daß dieses Ziel zumindest in weiter Ferne liegt. Vielmehr ist bereits in der leninistischen Revolutionskonzeption eine Dominanz der Machtbehauptung erkennbar Die regierenden „Parteien des Proletariats" müssen ihrem Selbstverständnis nach zumindest so lange allen Versuchen, ihre eigene Macht in Frage zu stellen, entgegentreten, wie es ihnen nicht gelungen ist, in den Massen ein sozialistisches Bewußtsein zu verankern, da nur so gewährleistet ist, daß die von ihnen eingeleiteten sozialen Umwälzungen auch gesichert werden können. Diese Umwälzungen konzentrierten sich in allen sozialistischen Ländern auf die Frage des Eigentums. Als weitgehend unproblematisch wurde und wird es hingegen angesehen, daß auch dort die alten (im Kapitalismus entwickelten) Formen der Vergesellschaftung der Arbeit weiterbestehen — mit einer Reihe von Elementen der Beteiligung der Produzenten am Planungsprozeß versetzt
Daß mit der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln lediglich wichtige Bedingungen für die Entwicklung einer humanen sozialistischen Gesellschaft geschaffen worden sind, denen weitere, entscheidende Schritte folgen müssen, wird von den Vertretern des Marxismus-Leninismus übereinstimmend geleugnet. Vielmehr kann von den Eigentumsverhältnissen in den sozialistischen Ländern mit Andras Hegedüs gesagt werden, „daß sie vor allem eine Negation sind: Sie sind durch die auf verschiedene Weisen durchgeführte Beseitigung des Privateigentums — präziser: das Privateigentum an Produktionsmitteln — entstanden: Verstaatlichung und Massenkollektivierungen führten dann zu neuen Eigentumsverhältnissen“
Das Denken der marxistisch-leninistischen Parteien ist generell von der Haltung geprägt, daß es nur gelte, die im Kapitalismus entwikkelten Prinzipien der Vergesellschaftung der Arbeit unter neuen politischen Bedingungen zu nutzen. Diese erlangten schon dadurch eine neue Qualität, daß sie unter anderen, „sozialistischen" Bedingungen angewandt würden. Damit reduziert sich die Frage des Sozialismus auf die Eroberung der politischen Macht, deren Besitz bereits die Lösung der wesentlichen ökonomischen und sozialen Probleme garantiere. Diese Sichtweise geriet Mitte der fünfziger Jahre allmählich ins Wanken. Es ist nicht zu übersehen, daß sich seither die Formen und Methoden der Herrschaftsausübung beträchtlich gewandelt haben und daß dies zwar sicher zu keiner Veränderung des Systems, wohl aber zu manifesten und das Leben der Menschen entscheidend prägenden Modifikationen im Gesellschaftssystem des „realen Sozialismus" geführt hat. der fünfziger Jahre machten auch den Partei-führungen klar, daß es einer Reform der Strukturen der Planungs-und Leitungsapparate und einer Veränderung der Methoden dieser Bürokratien bedurfte, sollten die neuen gesellschaftlichen und politischen Aufgaben bewältigt werden. Diese Aufgaben waren bestimmt durch den Übergang von einer extensiven (nachgeholte Entwicklung oder Wiederaufbau nach dem Kriege) zu einer intensiven Entwicklungsphase der sozialistischen Volkswirtschaften. Sie machte es notwendig, eine die Wirkung des Wertgesetzes und der Ware-Geld-Beziehungen weitgehend vernachlässigende, an Mengen und nicht an Kosten orientierte zentralistische Planung als dysfunktional zu erkennen. Es ging unverkennbar um die Frage, ob die etablierten sozialistischen Systeme in der Lage waren, grundsätzliche Reformen in die Wege zu leiten
Daß sich die Parteiführungen hier auf einem sehr schwankenden Boden bewegten, zeigen die Vorwürfe des Revisionismus gegenüber Positionen, die ein Kurieren an Symptomen für wenig erfolgversprechend hielten Die Parteiführungen fühlten sich aber nicht stark genug, einen tiefgreifenden Prozeß der Reform der politischen und ökonomischen Strukturen einzuleiten; sie begnügten sich mit kleineren Reparaturen offenkundiger Strukturdefekte. Eine solche Strategie war angesichts der zu lösenden Probleme wenig erfolgversprechend.
Die Krise des Systems ging viel tiefer: Die Avantgardeparteien waren nicht mehr ohne weiteres in der Lage, angesichts der durch die ökonomische, wissenschaftlich-technische und soziale Entwicklung um sich greifenden Differenzierung und Diversifikation gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen als einheitliches Handlungszentrum zu fungieren. Sie waren — und erkannten dies auch allmählich — außerstande, sowohl die Ziele des Transformationsprozesses zu formulieren, daraus konkrete Handlungsstrategien zu entwickeln, ihre praktische Durchführung zu lei-2. Veränderung der Organisations-und Leitungsstrukturen Spätestens die massiven Krisenerscheinungen in den osteuropäischen Ländern Mitte ten und zu beaufsichtigen, als auch ideologische Rechtfertigung und Überhöhung zu leisten. Die Verwendung des Begriffs „einheitliches Handlungszentrum" sollte nicht zu dem Fehlschluß verleiten, bei den sozialistischen Systemen vom Typ der Sowjetunion habe man es mit einem einheitlichen, in sich ausschließlich hierarchisch strukturierten Organisationsgefüge, wenn nicht gar mit einer Einheitsverwaltung zu tun. Die Lenkung und Leitung gesellschaftlicher Prozesse ist auch in der Stalinzeit nicht, wie es verschiedentlich dargestellt wurde als umfassende Einheitsverwaltung modelliert worden und hat als solche nur ansatzweise operiert. Der nie aufgegebene Anspruch der Partei, die Arbeit aller Transformations-und Transmissionsapparate ihrer Kontrolle zu unterwerfen, stand stets in einer konfliktreichen Beziehung zur zunehmenden Differenzierung gesellschaftlicher Leitungsstrukturen, ohne daß das jeweils organisatorisch aufgegriffen worden wäre. Die Probleme einer hochindustrialisierten Gesellschaft wie der ÖSSR oder der DDR sind auch nicht allein mit der Institutionalisierung von Transformations-und Transmissionsinstrumenten in den Griff zu bekommen.
Partei-, Staats-und Wirtschaftsapparat standen und stehen immer wieder in je spezifischer Weise vor dem Problem, ihr Organisationsgefüge den Aufgabenstellungen einer, von ihnen selbst geschaffenen, komplexen Ökonomie und Gesellschaft anzupassen, durch veränderte Arbeitsmethoden die neu entstandenen sozialen Differenzierungen, Gruppeninteressen und Aspirationen in der Gesellschaft zu erkennen, nach Lösungen für diese Probleme zu suchen und durch die Heranbildung hochqualifizierten Personals eine größere Problemlösungskapazität zu entwikkeln
Diese Aufgabenstellung kann sowohl zur Schaffung neuer Apparate (man denke etwa an die vielfältigen Versuche mit den verschiedensten Planungs-und Kontrollbehörden) wie auch zur Ausweitung und Differenzierung von hochspezialisierten Sektoren innerhalb bestehender Planungs-und Leitungsapparate führen. Die traditionellen Organisations-und Entscheidungsstrukturen werden also nicht eliminiert, sondern mit „modernen“ Elementen versetzt und dadurch erheblich modifiziert. Der Konflikt zwischen modernen, an großorganisatorischen Lösungen orientierten und traditional-zentralistischen Elementen, die in der Leninschen Organisationstheorie ihre Grundlage haben, gewinnt in sozialistischen Systemen erst vor dem Hintergrund sich verändernder Bedingungen für die Ziel-formulierung ihre Brisanz. Die Frage ist, ob und inwieweit die Ausweitung und Differenzierung traditionaler Organisationen wie des Staats-und Wirtschaftsapparates, die Zuweisung von Zuständigkeiten und Teilkompetenzen an „Spezialorganisationen" und die Einbeziehung von Sach-und Fachverstand (durch spezielle Beratungsgremien, instrumentelle Stäbe usw.) zu einer faktischen Einschränkung der Fähigkeit der bestimmenden gesellschaftlichen Kraft, der Partei, führt, die gesellschaftlichen Ziele zu bestimmen, Strategien der Zielrealisierung zu entwickeln und ihre Durchführung zu kontrollieren.
Dieses Problem taucht in der DDR erstmals Mitte der fünfziger Jahre in der Debatte um Zentralisierung und Dezentralisierung auf, gewinnt aber, trotz vielfältiger organisationspraktischer Lösungsversuche wegen seiner grundsätzlichen Dimensionen im Zuge des immer weiteren Ausbaues formaler Organisationen eher an Bedeutung, als daß eine Lösung in Sicht wäre. Die Differenzierung der Apparatstrukturen, die Verlagerung von Sachentscheidungen auf nachgeordnete Leitungsebenen oder spezielle Institutionen und die Übertragung der Entscheidungsvorbereitung an besondere Fachgremien, die mit hochqualifizierten Spezialisten besetzt sind, berühren primär die Binnenstruktur der Herrschaftsapparaturen, haben jedoch weiterreichende Konsequenzen. Vor allem sind hier sozialstrukturelle Veränderungen zu nennen. Die soziale Gruppe der Intelligenz (und vor allem die der „Spezialisten") gewinnt eine Bedeutung, die weit über ihren quantitativen Anteil an der Bevölkerung und die ihr ursprünglich zugedachte gesellschaftliche Rolle eines Verbündeten der Arbeiterklasse hinausgeht. Auch wenn man die Auffassung von Konräd/Szelönyi, daß sich diese Gruppe auf dem Weg zur Klassenmacht befinde, nicht teilt, ist doch nicht zu übersehen, daß sie im Zuge der Differenzierung des gesellschaftlichen Organisations-und Funktionsgefüges in vielen Bereichen eine Monopolstellung er reicht hat, die ihre Kontrolle durch die Partei immer schwieriger macht
Dies hat eine doppelte Konsequenz: Zum einen ist es notwendig, das Fachwissen und den Sachverstand innerhalb der Einzelbürokratien so zu organisieren, daß sie kontrollierbar bleiben. Aufgabendelegation und Verlagerung der Entscheidungskompetenzen von der Spitze auf untergeordnete, mit mehr Sachverstand ausgestattete Organisationseinheiten, in denen durch ihre Ausbildung und Erfahrung Experten die täglichen befähigte Entscheidungen treffen, erfordern von der Spitze, daß die dort angesiedelten Administratoren ebenfalls über eine qualifizierte Ausbildung verfügen. Nur so sind sie in der Lage, die Tätigkeit der Experten und Spezialisten zu beurteilen Zum anderen wirkt sich zunehmendes Expertentum in den Einzelapparaten auf deren Verhältnis zur Partei (bzw. zum Parteiapparat) aus, die — vom Gesichtspunkt der von ihr beanspruchten gesamtgesellschaftlichen Planung und Leitung — sich sowohl mit dem „Spezialistentum" der Einzel-apparate auseinandersetzen als auch ihre prinzipielle Richtlinienkompetenz bewahren muß. Die Antwort auf dieses Problem war eine Differenzierung und Spezialisierung auch des Parteiapparates, die zum Teil zu weitreichenden Konsequenzen für das Selbstverständnis der Partei geführt haben. Nicht von ungefähr wurde in der DDR immer wieder davor gewarnt, daß die SED sich zur . Wirtschaftspartei" entwickeln könne und damit ihrer eigentlichen politischen Aufgabenstellung nicht gerecht werde.
Die möglichen Auswirkungen solcher Veränderungen des Selbstverständnisses auf das grundsätzliche Verhältnis von Partei und Einzelbürokratien und vor allem auf den Staatsapparat sind erheblich. Im Zuge der ökonomischen Reformbestrebungen der sechziger Jahre wurde die grundsätzliche Entscheidung getroffen, daß das Bestreben der Partei nicht mehr dahin geht, alle Lenkungs-und Leitungsprozesse zur unmittelbaren Aufgabe des Parteiapparates zu machen. Ein kompliziertes System von Parallelbürokratien und partieller Dezentralisierung von Entscheidungen ist an die Stelle des früheren Superzentralismus getreten. 3. Demokratischer Zentralismus und Führungsrolle der Partei Die Einheitlichkeit in der Zielsetzung und praktischen Tätigkeit aller Planungs-und Lenkungsinstitutionen soll gesichert werden durch allgemein verbindliche, formalisierte Aktionsmuster: Anerkennen der führenden Rolle der Partei, des demokratischen Zentralismus als grundlegendem Leitungs-und Organisationsprinzip und der personellen Präsenz der Partei (Kaderpolitik), deren mit Hilfe eine Instrumentalisierung der verschiedenen Organisationen durch die Partei gesichert wird. Dieses hierarchische Organisationskonzept ist durch das Prinzip des demokratischen Zentralismus legitimiert: „Sein wesentlicher Inhalt besteht in der wissenschaftlichen planmäßigen Führung von einem Zentrum aus bei gleichzeitiger Entfaltung der Schöpferkraft, Eigenverantwortung und demokratischen Mitwirkung der Massen. Dieses Prinzip und seine konsequente Durchsetzung sichern das einheitliche, geschlossene Handeln der politisch organisierten Arbeiterklasse und die volle Entfaltung ihrer Kampfkraft."
Läßt man einmal die in dieser Definition enthaltenen ideologischen Floskeln beiseite (Entfaltung der Schöpferkraft etc.), so ist hier der Führungsanspruch des Zentrums — der Partei — festgeschrieben: Der demokratische Zentralismus konstituiert im Verhältnis zwischen Partei (bzw. Parteiapparat) und den übrigen Organisationen und deren Apparaten ein hierarchisches Verhältnis, das als strukturelle Konsequenz der Avantgardekonzeption zu kennzeichnen ist, die den Staat und die gesellschaftlichen Organisationen nur instrumentell begreift Die Konsequenzen einer solchen Konzeption für die Tätigkeit, die Organisation und die Kompetenzen dieser „Instrumente“ und ihres Verhältnisses zur Partei sind für die DDR besonders deutlich in einem gemeinsamen Beschluß des Politbüros der SED und des Ministerrates vom 14. Juli 1960 erkennbar. Auf ihn soll daher etwas näher eingegangen werden.
Im Bericht des Politbüros an die 9. Tagung des ZK der SED 1960 wurden die Gründe genannt, die zu diesem Beschluß geführt hatten: Die Anweisungen von Partei und Regierung seien „nicht exakt und genau durchgeführt" worden, in vielen Bereichen des Staatsappara-tes sei nach wie vor eine ungenügende Sachkenntnis der Mitarbeiter zu verzeichnen, Entscheidungen würden weitgehend bürokratisch, unkoordiniert und „ressortmäßig" getroffen und die Einheit von Beschlußfassung und Durchführung sei nicht gesichert
Der Beschluß stellte — aus dieser Einschätzung Schlußfolgerungen ziehend — vier Problemkreise in den Mittelpunkt:
1. Oberste Handlungsanleitung für den Staatsapparat sind die Beschlüsse der Partei; sie müssen unverzüglich und unverändert der Arbeit der Staatsorgane zugrunde gelegt werden. Um die offensichtlichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Parteibeschlüsse in staatliches Handeln zu beseitigen oder zumindest zu verringern, wurde festgelegt, daß in Zukunft in grundlegenden Fragen gemeinsame Beschlüsse des Zentralkomitees bzw.seines Politbüros und des Ministerrates bzw.seines Präsidiums gefaßt werden sollten, wobei auch eine Mitwirkung des Nationalrates der Nationalen Front vorgesehen war.
2. Die Verantwortung für die bessere Umsetzung der Parteibeschlüsse wurde dem Ministerrat bzw.seinem Präsidium übertragen.
3. Der Beschluß des Politbüros wandte sich erneut gegen bürokratische Verwaltungspraktiken und „rückläufige Tendenzen hinsichtlich einer beständigen operativen politischen Arbeit an Ort und Stelle". Eine Vereinfachung der Verwaltungsarbeit — vor allem des komplizierten und arbeitsaufwendigen Berichts-und Meldewesens — sollte zu einer effektiveren Arbeit der staatlichen Organe führen.
4. Um diese Aufgaben zu realisieren, sollten schließlich unter der unmittelbaren Verantwortung der SED monatliche Seminare mit leitenden Kadern des Staatsapparates durchgeführt werden, in deren Mittelpunkt die genannten Probleme stehen sollten. In monatlichen Beratungen des Ministerrates mit den Vorsitzenden der Räte der Bezirke sollten alle wichtigen Fragen der staatlichen Leitungstätigkeit beraten und soweit möglich direkt entschieden werden
Die Bedeutung des Politbürobeschlusses liegt nicht in den detaillierten Vorschlägen für eine Verbesserung der Arbeit des Staatsapparates, sondern in der Formulierung des erstmals in dieser Allgemeinheit angesprochenen Prinzips, daß Parteibeschlüsse unmittelbares Recht setzen. Dies war zwar schon vorher geübte Praxis. Bei der weitgehend an ökonomischen Zielsetzungen orientierten Politik der Partei darf jedoch nicht der Herrschaftsaspekt vergessen werden, der es angeraten erscheinen ließ, Entscheidungen prinzipieller Natur im Bereich der Partei selbst zu belassen und dies, allen denkbaren selbständigen ökonomischen oder technokratischen Bestrebungen vorbeugend, auch explizit zu machen. Die Parteibeschlüsse sollten unmittelbar alle Stufen des Herrschaftssystems binden. Damit wurde die formalisierte Rangfolge — Parteibeschlüsse, ihre Umsetzung in Beschlüsse des Ministerrates und Realisierung der Ministerratsbeschlüsse durch den Staatsapparat unter Kontrolle der Parteiorganisation — jedenfalls für grundsätzliche Fragen aufgehoben und eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Partei-und Staatsapparat in grundlegenden Fragen installiert. Die auf diesem Wege intendierte stärkere Eingriffsmöglichkeit der Partei in den ökonomischen und staatlichen Leitungsprozeß ging einher mit einer „Ökonomisierung der Parteiarbeit", wie sie in der Ersetzung des „Territorialprinzips" als Grundstruktur des Organisationsaufbaus der SED durch das „Produktionsprinzip''nach Einführung des NÖS (Neues ökonomisches System) ihren organisatorischen Ausdruck fand
Was als Versuch begonnen hatte, den Staatsapparat enger an den Parteiwillen zu binden, hat in der Folge eine eher gegenläufige Konsequenz gehabt. Die Partei wurde immer stärker in den unmittelbaren staatlichen Planungs-und Leitungsprozeß eingebunden, was dazu führte, daß die Entwicklung nach Meinung mancher Beobachter in Richtung einer Verstaatlichung der Partei weist 4. „Realsozialistischer“ Korporatismus?
Diese These wird — zumindest für die DDR — zu ergänzen sein; spätestens seit dem VIII. Parteitag der SED ist dort eine Tendenz erkennbar, sich bei wichtigen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen auch der Mitarbeit nicht-staatlicher Organisationen zu versichern, — etwa der Gewerkschaften bei der Erarbeitung und Durchführung des sozialpolitischen Programms, oder der Kirchen bei der Lösung sozialer Konflikte.
Diese Bestrebungen lassen Aspekte eines „realsozialistischen Korporatismus" erkennen, der über die traditionellen Instrumentalisierungsvorstellungen der Partei hinausweist und den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen feste, rechtlich fixierte und politisch gesicherte Aufgaben im Rahmeft eines partiellen politisch-gesellschaftlichen Grundkonsenses überträgt
Der Vorteil einer solchen Modifikation des Organisationsgefüges ist unverkennbar: Die gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen sind besser als bisher in der Lage, die Interessen ihrer Klientel zu vertreten; sie binden sie damit zugleich enger an das politische System, werden aber von diesem auch eher „haftbar" gemacht. Unzufriedenheiten schlagen tendenziell nicht mehr so unmittelbar direkt auf die Partei durch, Einzelkonflikte und partielle Dysfunktionen bekommen nicht sofort eine Dimension, die das gesellschaftliche Gesamt berührt. Zugleich ist aber nicht zu übersehen, daß ein auch nur partieller Verzicht auf die umfassende Durchdringung aller Planungs-und Leitungsprozesse durch die Parteiführung in den politischen Systemen des Sowjetsozialismus den Anschein erwecken kann, als würden damit wesentliche Grundlagen der politisch-gesellschaftlichen Verfassung außer Kraft gesetzt. Dies kann die Illusion beschleunigen, ein grundsätzlicher Wandel des Systems sei möglich.
Die Ereignisse in Polen zeigen eins deutlich: Die Lenkung und Leitung einer hochkomplexen industriellen Gesellschaft kommt ohne einen partiellen Interessenausgleich zwischen „Herrschenden" und „Beherrschten", zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Interessen und ohne eine, zumindest partielle Beteiligung der Herrschaftsunterworfenen an politischen und gesellschaftlichen Prozessen nicht aus. Beteiligung ist aber primär vertikal gedacht, als formaler Handlungsrahmen, innerhalb dessen den zentral ermittelten gemeinsamen Grundinteressen von oben nach unten Geltung verschafft werden kann. Zugleich ist sie mit der Frage verknüpft, wie Impulse von unten so selektiert werden können, daß sie sich in das gesellschaftliche Entwicklungsprogramm einbinden lassen.
Das Dilemma der Parteiführungen ist unverkennbar: Verweigern sie sich den partizipatorischen Wünschen, die aus der Gesellschaft kommen, sind manifeste Konflikte, wie sie immer wieder in Polen aufgetreten sind, unvermeidbar; lassen sie sich auf eine Verminderung ihrer Distanz zur Gesellschaft, das heißt auf eine wenn auch noch so begrenzte Einschränkung ihres Entscheidungs-und Organisationsmonopols ein, stehen sie vor dem Problem, wie sie die möglicherweise entstehende Eigendynamik eines solchen Prozesses noch steuern und kontrollieren können.
II. Die Staats-und Rechtstheorie des Marxismus-Leninismus und ihre Anwendung in der DDR
In den sozialistischen Staaten hat sich bis zur Entstalinisierung" Mitte der fünfziger Jahre nur mühsam eine eigene Rechtstheorie entwickeln können. Erst 1958 unternahm die SED für die DDR den Versuch, ihre Staats-* und Rechtsvorstellungen genauer zu definieren. Bis dahin hatte sie sich mit dem weitgehenden Fortgelten des alten Rechts abgefunden, das sie freilich nicht ohne Erfolg für ihre Zwecke instrumentalisiert hatte. Auf einer staats-und rechtstheoretischen Konferenz in Babelsberg bei Potsdam 1958 stand die Frage im Mittelpunkt, wie sich das alte zum neuen Recht verhalte. Dabei wurde der „Dogmatismus" verurteilt, der glaube, die gesellschaftliche Entwicklung lasse sich in die gewünschte Richtung lenken, wenn nur eine entsprechende rechtliche Regelung vorhanden sei Gemeint ist hier nicht der Dogmatismus der Vertreter einer stalinistischen Rechtstheorie und -praxis, sondern der Pragmatismus der Staats-und Rechtswissenschaftler der DDR, die es gelernt hatten, mit den bestehenden alten und neuen gesetzlichen Regelungen umzugehen und dabei nach Auffassung der Parteiführung das gesellschaftliche Ziel aus dem Auge verloren hatten.
Es ging nicht um den Kampf gegen den Dogmatismus, sondern um die Kritik eines Rechtspositivismus, der sich der jederzeitigen Instrumentalisierung der Rechtsform durch die Partei entzog Zugleich ist es der Kampf gegen „revisionistische Abweichungen", gegen Positionen, die die Zeit für gekommen hielten, „Entstalinisierung" nicht nur als Kritik am „Personenkult" zu begreifen, sondern die gesellschaftlichen und politischen Strukturen des Stalinismus zu beseitigen.
Erst im Zuge der ökonomischen und politischen Reformen nach 1963 überwand die SED die bis dahin praktizierte, ausschließlich am politischen Kalkül orientierte Verwendung der Rechtsform und bediente sich bewußt der Kriterien zweckrationalen positivistischen Rechts zur formalen Regelung gesellschaftlicher Prozesse Im Parteiprogramm der SED von 1963 wird eine Rechtsdefinition vorgegeben, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren hat: „Unser sozialistisches Recht bringt den Willen des werktätigen Volkes unter Führung der Arbeiterklasse zum Ausdruck. Es entspringt den objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung und ist auf ihre Durchsetzung gerichtet. Unser Recht hat die Aufgaben dieser Entwicklung und die staatlichen Grundregeln des sozialistischen Zusammenlebens der Menschen zum Hauptinhalt." 1. Staat und Recht im „entwickelten Sozialismus"
Die Rechtsdefinition des Lehrbuchs „Marxistisch-leninistische Staats-und Rechtstheorie" aus der DDR läßt den gegenwärtigen Diskussionsstand und die Veränderungen der rechtstheoretischen Positionen des nachstalinistischen Marxismus-Leninismus gegenüber der stalinistischen Rechtsauffassung erkennen: „Recht ist Staatswille der herrschenden Klasse, dessen Inhalt letztlich von deren materiellen Lebensbedingungen determiniert wird, in einem System allgemein verbindlicher Normen ausgedrückt ist, der Einwirkung auf gesellschaftliche Verhältnisse dient und dessen Verwirklichung vom Staat unter Anwendung von Zwang gewährleistet wird."
In dieser Definition sind fünf Aspekte enthalten:
1. Das Recht wird als ein System allgemein verbindlicher Normen begriffen.
2. Das Recht ist Ausdruck des Willens der herrschenden Klasse, der durch den Staat in politisch-gesellschaftliches Handeln umgesetzt wird.
3. Der Inhalt des Rechts wird „letztlich", d. h. nicht immer und in jedem Einzelfall, von den materiellen Lebensbedingungen determiniert. 4. Der Staat sichert mit seinem Zwangsmonopol die Durchsetzung der Rechtsnormen.
5. Das Recht ist Instrument der Gestaltung der Gesellschaft, oder wie es in einem sowjetischen Lehrbuch heißt: „Staatlicher Regulator der gesellschaftlichen Verhältnisse"
Es ist nicht zu übersehen, daß die inhaltliche Bestimmung des Rechts relativ vage bleibt und der Begriff „letztlich" der Interpretation einen weiten Spielraum läßt. Offen bleiben hier die Spezifika „sozialistischen" Rechts. Hierzu bemerkt das DDR-Lehrbuch: „Das sozialistische Recht ist das System allgemein verbindlicher Normen, die den letztlich von den sozialistischen Produktionsverhältnissen bestimmten staatlichen Willen der Arbeiterklasse und der von ihr geführten Werktätigen ausdrücken, vom Staat festgelegt oder sanktioniert und garantiert werden — wenn nötig auch mit staatlichem Zwang — und als Instrument (Regulator) die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit dem Ziel der Errichtung des Sozialismus und Kommunismus fördern und schützen." Hier ist nicht mehr vom Staatswillen der herrschenden Klasse, sondern von dem der Arbeiterklasse und den von ihr geführten Werktätigen die Rede, welcher das Recht repräsentiere, und die weitere Entwicklung ist vorgezeichnet, wenn man sich die entsprechende Passage im bereits erwähnten sowjetischen Lehrbuch vergegenwärtigt. Dort heißt es, daß das sozialistische Recht der staatliche Wille sei, der die Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen, d. h.des ganzen Volkes, ausdrücke Das „sozialistische" Recht ist ebenso wie das „bürgerliche" Recht ein Instrument zur Regelung des Zusammenlebens der Menschen; seine Ordnungsfunktion betrifft „jede Tätigkeit des Menschen, die für seine soziale Umwelt von Bedeutung ist oder sein könnte" als Instrument des sozialistischen Staates aber ist es — so die Meinung der Staats-und Rechtstheoretiker der DDR — von anderer Qualität. Das Recht ist sozialistisch, weil der Staat es ist. • 2. Staat des ganzen Volkes?
Dem Staat kommen in den sowjetsozialistischen Gesellschaften drei zentrale Funktionen hinzu: Er hat 1. Instrument zur Realisierung der politisch-ökonomischen Ziele der Partei, 2. Instrument der Herrschaftssicherung nach innen und außen und 3. Vermittlungsinstrument von Parteiherrschaft und Partizipation der Gesellschaftsmitglieder zu sein. Letzteres gemeinsam mit der leninistischen Partei in ihrer Funktion als Massenpartei, den Massenorganisationen und soweit existieren — diese — den „bürgerlichen" Parteien.
Als Instrument, das die „objektiven" Gesetze der Gesellschaftsentwicklung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens durchsetzen soll, kann der Staat auf keine dieser Funktionen verzichten. Herrschaftssicherung in einer Gesellschaft, in der der Staat als Eigentümer des allgemeinen „Volkseigentums" tätig wird, schließt die Organisation des gesellschaftlichen Produktions-und Distributionsprozesses ein.
Der Staat ist die Institution, die die Gesellschaft organisatorisch, die Partei diejenige Institution, die sie politisch-ideologisch zusammenhält. Dies bedeutet, daß der Staat parteilicher Staat sein muß, also eine Organisation, die sich in allen ihren Handlungen vom Willen und den Absichten der Partei leiten läßt. Gleichwohl ist er stärker als in der Stalinzeit in ein Beziehungsgefüge Partei-Staat-Gesellschaftliche Organisationen-„befreundete" Parteien und Organisationen eingebunden. Die gesellschaftlichen Bedingungen und Konsequenzen staatlicher Tätigkeit werden so deutlicher als in der völlig instrumentell gedachten Konzeption des Staates als ausschließlichem Hauptinstrument der Partei. Anders als in der Stalinära, wo Parteilichkeit bereits eine hinreichende Kennzeichnung des Selbstverständnisses des Staates war, soll er heutigem Verständnis nach zugleich die gesellschaftlichen Interessen verkörpern und repräsentieren und als „Interessenvertretung aller Werktätigen" fungieren
Dem Staat wird hier also de facto so etwas wie eine Mittlerfunktion „zugemutet" — und zwar bewußt zugemutet, weil sich hier zwei kaum zu vereinbarende Vorstellungen treffen: der Staat als Instrument der Partei und als Vertreter gesellschaftlicher Interessen (in der Sowjetunion wird vom „Staat des ganzen Volkes" gesprochen). Dieser Widerspruch ist nur lösbar über ein ideologisches Konstrukt. Da die Partei die wahren Interessen der Arbeiterklasse und diese die der gesamten Gesellschaft vertritt, konstituiert sich der Staat, indem er Instrument der Partei ist, zugleich So als Interessenvertreter des ganzen Volkes.
argumentieren die sowjetischen Autoren, daß „unter den heutigen Bedingungen, da der Aufbau des Kommunismus die praktische Aufgabe der Partei und des Sowjetvolkes ist", es möglich geworden sei, die Rolle des Staates neu zu bestimmen. „Die Umwandlung des sozialistischen Staates der Diktatur des Proletariats in den sozialistischen Staat des gesamten Volkes bedeutet die Entwicklung seines Wesens, die Erweiterung seiner sozialen Ba-sis, die vollständige Entfaltung seines Inhalts und seiner Bestimmung als Staat neuen und höheren Typus. Der sozialistische Staat des gesamten Volkes ist seinem Wesen nach die natürliche Fortsetzung und Entwicklung des Staates der Diktatur des Proletariats unter den Bedingungen seiner erweiterten sozialen Basis und seines weiter gefestigten gesellschaftlichen Fundaments."
Nach dem VI. Parteitag der SED wurde auch in der DDR für eine kurze Zeit die These vertreten, daß der DDR-Staat sich zum „Volksstaat“ entwickeln werde Die allgemein akzeptierte Auffassung in den sozialistischen Staaten Osteuropas und der DDR geht heute aber dahin, daß von einem Staat des ganzen Volkes in diesen Gesellschaften noch nicht gesprochen werden könne, da sie einen historischen Schritt hinter der Sowjetunion zurück seien, die bereits den Sieg des Sozialismus vollendet und zu Beginn der sechziger Jahre in die Etappe des entfalteten Aufbaus des Kommunismus eingetreten sei.
Die sozialistischen Staaten, die in ihrem Selbstverständnis noch nicht den Kommunismus, sondern die „entwickelte sozialstische Gesellschaft" aufbauen, sind noch keine Staaten des ganzen Volkes.
Auf dem X. Parteitag der SED 1981 bezeichnete Erich Honecker den DDR-Staat als „Form der Diktatur des Proletariats". Er vertrete die Interessen des ganzen Volkes und verbürge Freiheit und Menschenrechte. Niemand dürfe diesen sozialistischen Staat antasten Damit ist eine Formulierung gefunden, die den Staat sowohl als Kampfinstrument der herrschenden Partei als auch als Interessenvertreter aller Bürger charakterisieren soll. Welcher Aspekt überwiegt, entscheidet die politische Situation, die vermeintliche oder reale innere oder äußere Bedrohung.
III. Staatsfunktionen und staatliche Leitungstätigkeit
Die soeben dargestellte Argumentation verweist auf die Frage, welche Aufgaben der sozialistische Staat erfüllen soll, welches seine Funktionen unter sich wandelnden politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen sind. Am Beispiel dieser Diskussion in der DDR läßt sich recht plastisch die enge Verknüpfung von politischer Dezision der Partei, der Veränderung staatlicher Aufgabenstellung und der theoretischen Reflexion (oft aber auch nur Untermauerung) dieser Wandlungen aufzeigen. Daß die Bewertung theoretischer Überlegungen ausschließlich nach dem Prinzip politischer Opportunität erfolgt, zeigt die Diskussion der Vorschläge Wolfgang Weichelts, der bereits 1957 den Versuch unternommen hat, die bis dahin gültige dogmatisierte Bestimmung der Funktionen des Staates (und des Rechts) zu überwinden. Er bezeichnete die „wirtschaftlich-organisatorische und kulturell-erzieherische Funktion“ des sozialistischen Staates als die Funktion, die ihn im besonderen Maße von allen Ausbeuterstaaten unterscheide und „seine schöpferische, aktive Rolle beim Aufbau der sozialistischen und später der kommunistischen Gesellschaft" charakterisiere -Bezog sich Weichelt hier auf gleichlautende Formulierungen Stalins, so zog er doch andere, diametral entgegengesetzte Schlußfolgerungen. Stalin diente die Unterscheidung von repressiven, wirtschaftich-organisatorischen und kulturell-erzieherischen Funktionen des Staates dazu, den „Beweis" zu führen, daß der Staat in keiner Funktion absterbe, sondern daß vielmehr die Aufrechterhaltung und Verstärkung der repressiven Funktion angesichts der kapitalistischen Einkreisung und des sich verschärfenden innergesellschaftlichen Klassenkampfes es erfordere, auch die wachsende Rolle des Staates in den anderen Bereichen zu postulieren
Für Weichelt dagegen ist die repressive Funktion — im Gegensatz zu wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell-erzieheri-sehen — nicht ständig und unabdingbar, sondern jeweils hervorgerufen durch den Widerstand der konterrevolutionären Kräfte und in ihrem Umfang durch diese bestimmt. „Solche Perioden können aber nichts an der Tatsache ändern, daß die wirtschaftlich-organisatorische und kulturell-erzieherische Funktion des sozialistischen Staates die ihm von Anfang an eigene und seinem Wesen, seiner sozialen Zielstellung entsprechende Grundfunktion bleibt."
Die Parteiführung in Person von Walter Ulbricht machte auf der bereits erwähnten Babelsberger Konferenz im April 1958 deutlich, daß sie nicht nur jede Abschwächung der repressiven Funktion des Staates ablehnte, sondern darüber hinaus jede Diskussion über die Ausdifferenzierung und exakte Bestimmung der Funktionen von Staat und Recht als revisionistisch ansah. Einheitlichkeit und Zentralismus wurden propagiert und allen Tendenzen, den veränderten gesellschaftlichen Problemen mit einer Diversifikation der Verfahren und einer Dezentralisierung der Strukturen zu begegnen, eine Absage erteilt. 1. Die Funktionen des Staates im Neuen Ökonomischen System Die nach dem Mauerbau 1961 gegebenen Chancen für politische Veränderungen, die 1963 in einem umfassenden Reformkonzept, das „Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖS), mündeten, ermöglichten es der Parteiführung, ihre Vorbehalte gegen eine differenzierte Diskussion der Aufgaben und Funktionen des Staates aufzugeben. Sie war jetzt sogar selbst in erheblichem Maße an einer solchen Diskussion interessiert, sah sie doch das wirtschaftliche Reformprogramm des NÖS als Hebel für weitreichende Veränderungen auch in anderen Bereichen der Gesellschaft an. Die Reformen verstand sie jedoch nicht als einen Prozeß, in dem die Initiative von oben mit der von unten verbunden werden sollte, sieht man von einer entscheidenden Ausnahme ab: der materiellen Stimulierung der Einzelleistung der „Werktätigen" für die Erfüllung vorgegebener Zielsetzungen.
Das auf dem VI. Parteitag der SED verabschiedete Parteiprogramm bezeichnete es als Aufgabe des Staates, „die umfassende Verwirklichung des Sozialismus bewußt und planmäßig zu leiten, die Produktivkräfte und sozialistischen Produktionsverhältnisse ständig zu entwickeln, die materiellen und kulturellen Lebensbedingungen des Volkes zu verbessern, die schöpferische Initiative der Werktätigen zu fördern, das sozialistische Bewußtsein zu stärken und die sozialistische Ordnung vor feindlichen Machenschaften zu schützen. An der Spitze der Aufgaben des sozialistischen Staates steht seine wirtschaftlich-organisatorische und kulturell-erzieherische Funktion, die Leitung der Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur."
Diese Betonung der organisatorischen und erzieherischen Funktionen des Staates ist kennzeichnend für eine Situation, in der die Partei sich voll auf die Realisierung der Wirtschaftsreformen konzentrierte, was ihr später aus den eigenen Reihen den Vorwurf eingetragen hat, sie sei zu einer reinen Wirtschaftspartei geworden. Als sich dann noch in der ÖSSR 1968 die Gefahren abzeichneten, die der SED bei einer Vernachlässigung ihrer ideologischen Kompetenz und politischen Führungsfunktionen drohen konnten, erfolgte eine Kehrtwendung. Die aus den Zusammenhängen des NÖS entstandene, auf technisch-organisatorische Probleme staatlicher Leitungstätigkeit fixierte Staatsauffassung wurde zurückgedrängt und an eher traditonelle Argumentationen angeknüpft, die die repressive und politisch-ideologische Funktion besonders betonen. Diese Neueinschätzung kommt in einer programmatischen Rede Ulbrichts im Oktober 1968 zum Ausdruck. Durch einen bewußt positiven Rekurs auf die Babelsberger Konferenz von 1958 wollte er eine Kontinuität der staatstheoretischen Auffassungen der Partei-und Staatsführung belegen, was aber nur dann gelingen konnte, wenn auf die Darstellung der zentralen Gedanken des NÖS als einer wesentlichen Entwicklungsphase verzichtet wurde. Als Charakteristika des sozialistischen Staates „in der Periode der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus" bezeichnete Ulbricht die „Entwicklung der wissenschaftlichen Führungstätigkeit, verbunden mit der demokratischen Mitwirkung der Werktätigen an der politischen, kulturellen wirtschaftlichen und Leitung, die vollständige Ausarbeitung des Systems der sozialistischen Gesetze und Normen der staatlichen Ordnung, die Durchdringung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens mit der Lehre des Marxismus-Leninis-mus und ihre bewußte schöpferische Anwendung durch den Bürger"
Diese Aufgabenstellung macht deutlich, daß von einem inhaltlichen Anknüpfen an die Thesen der Konferenz von 1958 nur bedingt die Rede sein kann. Zwar war auch dort die umfassende Einflußnahme der Ideologie auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gefordert worden, doch war dies gerade nicht mit der Vorstellung gekoppelt gewesen, es könne ein in sich geschlossenes System rechtlicher Normen geschaffen werden, in dem sich gesellschaftliches und staatliches Handeln zu bewegen habe. Die Rechtsform wurde vielmehr den Bedingungen des sich angeblich verschärfenden Klassenkampfes untergeordnet und für seine Zwecke instrumentalisiert. Die Vorstellung, ein System der Gesetze und Normen staatlicher Ordnung „vollständig", also abschließend ausarbeiten zu können, offenbart vielmehr einen Zug zu relativer Abgeschlossenheit der gesellschaftlichen Transformationen, wie er im Hang zur rechtlichen Normierung aller gesellschaftlichen Prozesse seine reale Ausprägung gefunden hat 2. Staatsfunktionen und Sozialpolitik Dieser Prozeß ist durch die politischen Veränderungen und ideologischen Kurskorrekturen nach der Absetzung Ulbrichts und dem VIII. Parteitag der SED 1971 nicht nur nicht aufgehalten worden, er hat sich vielmehr beschleunigt. Im Bericht des ZK der SED an den VIII. Parteitag wird zwar die wachsende Bedeutung der „Staatsmacht" hervorgehoben, jedoch in erster Linie als das Ergebnis ökonomischer Zwänge dargestellt Die Aufgaben aus der Leitung der Volkswirtschaft und die Folgen der ökonomischen Integration der Länder des RGW dienen als Begründung für diese Feststellung. Diese Aussagen sind auf den ersten Blick von der gleichen ökonomistischen Grundhaltung geprägt wie die Äußerungen der Partei nach dem VI. Parteitag. Daß gleichwohl in viel stärkerem Maße die gesellschaftlichen und sozialen Konsequenzen der Entwicklung der Ökonomie reflektiert werden, zeigt das auf diesem Parteitag initiierte und seither in vielen Bereichen vorangetriebene umfangreiche Programm der „Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik“. Als weitere Ursachen nennt der Bericht die wachsende internationale Bedeutung der DDR und die zunehmende, „oft heimtükisch getarnte Aggressivität des Imperalismus", die es allen staatlichen Institutionen zur Aufgabe mache, „die Absichten des Gegners rechtzeitig zu durchschauen und zu vereiteln". Schließlich wird das wachsende Bewußtsein der Werktätigen erwähnt, das eine „verbesserte Qualität der staatlichen Leitung" erforderlich mache. Dieses Bewußtsein wird jedoch vordringlich an guten Leistungen in der Produktion gemessen und ist vor allem auf die Verbesserung der individuellen Lebenschancen gerichtet. Das wird deutlich, wenn hervorgehoben wird, daß es gelte, „eine gute, vertrauensvolle und sachliche Atmosphäre zu schaffen, damit die Initiative gefördert wird und die Menschen sehen, daß ihre Arbeit Früchte trägt, daß sie dem Wohl des ganzen dient und auch ihnen selbst zugute kommt"
Diese Bestimmung der wesentlichen Aufgaben des Staates initiierte eine Wiederaufnahme der Diskussion über die Staatsfunktionen und gab ihr zugleich die entscheidende Stoßrichtung: Hauptfunktion habe die Leitung der Ökonomie im nationalen Maßstab und zunehmend auch im internationalen Kontext der „sozialistischen ökonomischen Integration" zu sein Die vor allem ökonomisch, aber eben auch sozialpolitisch motivierte politische Programmatik, die in der so-genannten Hauptaufgabe, der Erfüllung und Übererfüllung der Volkswirtschaftspläne bei gleichzeitigem Auf-und Ausbau sozialer Sicherungen und Gratifikationen, definiert ist, führt zu der Behauptung, daß der ökonomischen (oder wirtschaftlich-organisatorischen) Funktion des Staates „letztlich entscheidende Bedeutung" zukomme
Der eigentliche gesellschaftspolitische Sinn und die sozialen Ursachen, die zur Formulierung der „Hauptaufgabe“ geführt hatten, aber blieben unausgesprochen: Einmal die Tatsache, daß wirtschaftliches Wachstum allein nicht in der Lage ist, eine gerechtere Verteilung der Lebenschancen zu garantieren, zu-mal dann, wenn Leistungsorientierung ein wesentlicher Hebel zur Realisierung dieses Wachstums ist; zum anderen, daß es sozialpolitischer Maßnahmen bedarf, um Disparitäten, die durch eben diese Zielvorgaben entstehen, auszugleichen. Die ökonomische Tätigkeit des Staates ist vielmehr per se „bewußte Durchsetzung der Klasseninteressen der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten" und hat damit eine politische Funktion, auch wenn sie eine objektiv notwendige Bedingung für das Funktionieren der sozialistischen Produktionsweise darstellt Wirtschaftspolitik ist nicht schlechthin eine Politik zur Entwicklung der Wirtschaft, sondern Aspekt der Gesamtpolitik der Partei in der Wirtschaft als dem „wichtigsten Bereich der gesellschaftlichen Tätigkeit"; sie ist damit zugleich Machtausübung In dieser Bestimmung wird ein Argumentationsmuster aufgenommen, das Belych in die leitungswissenschaftliche Diskussion eingeführt hat: Technische — hier ökonomische — Probleme werden als unmittelbar politische definiert
Daß die neue politische Programmatik der SED mit den alten Kategorisierungen nicht in ihrer vollen Dimension zu erfassen war, zeigt die staats-und rechtswissenschaftliche Diskussion nach dem VIII. Parteitag. Angesichts der dort vorgezeichneten politischen Linie meint Ingo Wagner, einer der führenden Rechtswissenschaftler der DDR daß sich neue Hauptfunktionen des sozialistischen Staates herausbilden können, daß dies bereits beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft beginne und daß damit zugleich die kulturell-erzieherische Funktion in den Hintergrund trete. Die Verwirklichung der „Hauptaufgabe" ist in diesem Argumentationszusammenhang zwar „unter bestimmten Aspekten ein Grundanliegen aller Hauptfunktionen des sozialistischen Staates“, der wirtschaftlich-organisatorischen Funktion wird jedoch eindeutig Priorität eingeräumt, da sie „die Aufgaben der wirtschaftlichen Entwicklung und der Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ miteinander verbinde und damit die Voraussetzung dafür schaffe, „daß durch eine vollständige Nutzung der Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution der Lebensstandard weiter gehoben werden kann“.
Die Bedeutung der sozialpolitischen Funktion des Staates habe sich „bereits nach dem Sieg des Sozialismus sichtbar verstärkt“, nehme jetzt aber rapide zu
Die politische Entscheidung des VIII. und IX. Parteitages, zur Absicherung der ökonomischen Zielsetzung die Erziehung zu „richtigem“ Bewußtsein und Verhalten durch ein System sozialer Sicherungen und Gratifikationen in der Sozialpolitik zu ergänzen, wodurch man sich eine integrative Wirkung erhoffte, wird hier „theoretisch" untermauert und in den Rang objektiver gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten erhoben.
Die herrschende Lehre in der DDR weist — orientiert am sowjetischen Vorbild — dem Staat gegenwärtig sechs Hauptfunktionen zu: — die repressive;
— die wirtschaftlich-organisatorische;
— die kulturell-erzieherische;
— die „des Schutzes der sozialistischen Rechtsordnung, des sozialistischen Eigentums und der Rechte und Freiheiten der Bürger"; — die der „Verteidigung des Landes vor Überfällen von außen";
— die Funktion des „Kampfes um den Frieden, um die friedliche Koexistenz von Ländern mit unterschiedlicher sozialökonomischer Ordnung, die ihm seit seiner Entstehung eigen ist"
Das gültige Staatsrechtslehrbuch stellt fest, daß sich auch die kulturell-erzieherische Funktion des Staates beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft weiter herausbilde. Ihre Aufgabe sei es, „die sozialistische Ideologie allmählich zur Ideologie der gesamten Gesellschaft werden zu lassen und damit die Revolution auf dem Gebiet der Ideologie und Kultur fortzuführen" Was als bloße Modifikation ideologischer Versatzstücke erscheint, hat bei näherem Hinsehen zwei wesentliche Aspekte, die für das Staats-und Rechtsverständnis der sozialistischen Länder und hier speziell der DDR weitreichende Auswirkungen haben:
1. Es wird als eigene Funktion des Staates bezeichnet, die Rechtsordnung, das sozialistische Eigentum und die Rechte und Freiheiten der Bürger zu schützen. Dies hat zu einem umfangreichen Gesetzgebungs-und Verrechtlichungsprozeß geführt; am bedeutsamsten scheinen hier die Verwaltungs-und arbeitsrechtlichen Regelungen.
2. Die kulturell-erzieherische Funktion, also die ideologischen Aufgaben des Staates, wird nach diesem Verständnis nicht geringer, sondern wachsen. Angesichts der Ausweitung rechtlicher Regelungen weit über den Bereich staatlicher Tätigkeit hinaus erschöpft sich diese ideologische Funktion nicht mehr in der Vermittlung des „richtigen" politischen Bewußtseins, sondern steht vor der Aufgabe, die Normen des „sozialistischen" Rechts auch in den Köpfen der Menschen zu verankern: durch Rechtserziehung.
Daß das Problem der Staatsfunktionen auch unter dem Aspekt der möglichen Ersetzung staatlicher Aufgaben durch gesellschaftliche Organisationen und Gruppen von der Partei geduldet und diskutiert werden könnte, ist bislang (in der DDR zumindest) kaum vorstellbar.
IV. Fazit
Die „realsozialistischen" Staaten operieren mit einer Staats-und Rechtstheorie, die mechanistisch und in ihrer Konsequenz unhistorisch ist. Diese mechanistische Staats-und Rechts-auffassung, die zur nahezu vollständigen Instrumentalisierung von Staat und Recht geführt hat, konnte zwar ihre terroristischen Aspekte weitgehend überwinden, setzte aber an ihre Stelle eine um so wirksamere Sicht der Gesellschaft als eines sozialtechnologisch in beliebiger Weise manipulierbaren Systems. Die unterschiedliche Definition und die Ausweitung der Funktionen von Staat und Recht in den einzelnen Etappen der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung zeigt eine Tendenz zunehmender Gestaltung der Gesellschaft mit Hilfe rechtlicher Regelungen, die immer gezielter als Mittel zur Durchsetzung der politischen Absichten der führenden Partei eingesetzt werden. Die Rechtsentwicklung verbleibt also weiter in enger Abhängigkeit vom politischen Willen der marxistisch-leninistischen Partei. Der Verrechtlichungsprozeß begünstigt die Ausarbeitung von Verfahrensweisen, die bei künftigen politischen, ökonomischen und organisatorischen Entscheidungen nicht mehr ohne weiteres übergangen werden können, sondern diese selbst in erheblichem Maße beeinflussen. Von daher birgt er stets die Tendenz in sich, die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Partei in konkreten Einzelbereichen und bei konkreten Einzelmaßnahmen zu beschränken, zugunsten erweiterter, rechtlich abgesicherter Kompetenzen anderer gesellschaftlicher Institutionen. Dabei geht es weniger um den einzelnen oder einzelne gesellschaftliche Gruppen, sondern um die Kompetenzen und Verfahrensweisen der verschiedenen Bürokratiefraktionen. Die Ausdifferenzierung des Rechtssystems und die Ausweitung der Gestaltungskompetenzen des Rechts, wie sie sich in der Gesetzgebungspraxis und der staats-und rechtswissenschaftlichen Diskussion niederschlägt, deuten ebenso darauf hin wie immer wieder unternommene Versuche, den politisch-ideologischen Stellenwert des Umgangs mit dem Recht zu verdeutlichen.
Insgesamt bleibt das Bild widersprüchlich: Es bleibt die Hypostasierung des Staates, dessen reale Wirkungsmöglichkeiten durch wachsende Bürokratisierung, durch Organisationsreformen und vor allem durch den Prozeß der Verrechtlichung eher erweitert als gemindert werden. Damit verbunden sind aber zugleich Veränderungen, von denen noch nicht deutlich erkennbar ist, wohin sie letztlich zielen. Der Prozeß der Verrechtlichung scheint zumindest die Chance für eine korporative Öffnung des Systems zu eröffnen und die individuellen Möglichkeiten gegenüber der Allmacht des Staates zu erweitern. Inwieweit diese korporativen Tendenzen ä la longe die Führungsrolle der Partei modifizieren und den Spielraum der Bürger und der gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen dadurch erweitern, daß sie ihnen ein rechtlich fixiertes und gesichertes Feld eigener Kompetenz zuweisen, ist nach den Ereignissen in Polen schwerer zu beantworten als vorher. Eine erneute Abkapselung des Systems gegen alle Reformbestrebungen von innen ist angesichts der polnischen Fundamentalkrise nicht auszuschließen; und die neue Roll-Back-Mentalität in wichtigen westlichen Staaten tut das ihre, solche konservativen Bestrebungen zusätzlich zu unterstützen.