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Der 17. Juni 1953 im Spiegel der DDR-Literatur | APuZ 20-21/1983 | bpb.de

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APuZ 20-21/1983 Der 17. Juni 1953 im Spiegel der DDR-Literatur Staat und Recht im „realen Sozialismus" am Beispiel der DDR Zum Problem sozio-ökonomischer Bedingtheit der Nation Artikel 1

Der 17. Juni 1953 im Spiegel der DDR-Literatur

Rudolf Wichard

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Welchen „Zusatznutzen bringt die Heranziehung literarischer Texte zur Deutung zeitgeschichtlicher Ereignisse — hier der Systemkrise um den 17. Juni 1953 in der DDR? Im ersten Teil dieses Beitrages wird zunächst untersucht, ob es sich bei den Ereignissen um den 17. Juni um einen „Volksaufstand 11 oder um einen vom Westen gesteuerten „faschistischen Putschversuch“, den «Tag X", gehandelt hat An den zeitlich aufeinanderfolgenden offiziellen Stellungnahmen der SED wird die Entwicklung in der Einschätzung der Ereignisse aufgezeigt, die vom Ernstnehmen des Arbeiterprotestes und dem Eingestehen eigener Fehler über die „doppelgleisige" Interpretation als begründeter Protest und westlich gesteuerte Provokation bis zur Darstellung der Ereignisse als das ausschließliche Werk westlicher Agenten reicht. Im zweiten Teil wird versucht, exemplarisch ausgewählte Texte aus der DDR-Literatur, in denen die Ereignisse um den 17. Juni 1953 behandelt werden, in einer typologischen Interpretation den drei verschiedenen Deutungsversuchen zuzuordnen. Dabei zeigt sich ein erstaunlich breites Spektrum von Ansichten. Selbst Autoren, die grundsätzlich der These vom westlich gesteuerten Putschversuch folgen, lassen in ihrer Darstellung Raum für individuelle Variationen. Die Systemkrise um den 17. Juni wird für die Helden zur Chance der Bewährung. Auch die nach dem 15. ZK-Plenum der SED offiziell als verpönt geltende „doppelgleisige" Interpretation der Ereignisse als . Arbeiterprotest" und „faschistischer Putschversuch" findet sich in Texten, die in der DDR erscheinen konnten. Sogar die „westliche" Auffassung, daß westliche Provokateure lediglich unwesentliche Randerscheinungen des begründeten Arbeiterprotests waren, wird von DDR-Autoren, die sich selbst als überzeugte Marxisten verstehen, vertreten. Deren Werke konnten allerdings nur in der Bundesrepublik veröffentlicht werden.

Das Vorhaben, literarische Texte zur Deutung zeitgeschichtlicher Ereignisse — hier der Systemkrise um den 17. Juni 1953 in der DDR — heranzuziehen, wird zunächst auf begreifliche Skepsis stoßen. Zu verschieden sind Erkenntnisinteresse und Aussageabsicht von politologischer und zeithistorischer Forschung einerseits und von literarischen Texten andererseits. Politikwissenschaft und Zeitgeschichte suchen nach den verallgemeinerungsfähigen, von konkreter Erfahrung abgehobenen und daher abstrakten Zusammenhängen in der Ereignisgeschichte. Literarische Texte dagegen gestalten individuelle Erfahrung mit ästhetischen Mitteln. Sie stellen eine andere Form der Wirklichkeitserkenntnis und Weltaneignung dar, die von persönlicher Betroffenheit ausgeht und subjektive Befindlichkeit ausspricht. Demgegenüber arbeitet die wissenschaftliche Forschung objekt-und faktenbezogen, indem sie theoretische Modelle an „Fällen" überprüft. Ihr Ziel ist Eindeutigkeit der Ergebnisse und der Aussage mit Hilfe klar definierter Begriffe. Texte mit literarischem Anspruch aber leben in Bildern, im Beschreiben typischer Situationen, in knappen Metaphern. Das verleiht ihnen einen Grad an Relativität und Offenheit, an Uneindeutigkeit, ja „Zweideutigkeit“, der am ehesten der dialogischen Struktur des menschlichen Zusammenlebens entspricht.

Was rechtfertigt es dennoch, literarische Texte im Zusammenhang mit Ereignissen der Zeitgeschichte zu betrachten? Welchen „Zusatznutzen" bringt es — konkreter gefragt —, wenn untersucht wird, wie der 17. Juni 1953 in der DDR-Literatur dargestellt wird? Sind nicht die Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Forschung völlig ausreichend, um ein annähernd vollständiges und umfassendes Bild der Ereignisse gewinnen zu können?

Diese Fragen können jetzt noch nicht beantwortet werden. Sie bilden den Gegenstand und die Leitlinien der Erörterung. Es ist das

I. Einleitung

Ziel dieser Untersuchung, durch analytische Interpretation literarischer Texte, die Ereignisse um den 17. Juni 1953 behandeln, zu einer Typologie zu kommen, die aufzeigen soll, wie unter gleichen Rahmenbedingungen dieselben Ereignisse unter verschiedenen Gesichtspunkten in unterschiedlichen Varianten dargestellt werden.

Bei dieser Analyse können — schon aus Raumgründen — nicht alle literarischen Texte aus der DDR berücksichtigt werden, in denen die Thematik des 17. Juni 1953 in irgendeinem Kontext vorkommt Für das Erkenntnisziel genügt es vielmehr, wenn die Typologie an exemplarisch ausgewählten Texten erarbeitet wird.

Auch auf eine umfassende und erschöpfende zeitgeschichtliche Darstellung der Ereignisse um den 17. Juni 1953 kann und muß verzichtet werden. Der chronologische Ablauf der Ereignisse wird als weitgehend bekannt vorausgesetzt.

In einem ersten Teil soll zunächst die konträre Einschätzung der Ereignisse in der politischen Publizistik der Bundesrepublik und in der offiziellen Propaganda der SED vorgestellt und erläutert werden, die zur Charakterisierung als „Volksaufstand“ oder als von außen gesteuerter faschistischer Putschversuch („Tag X“) führte.

Daran anschließend sollen an exemplarisch ausgewählten Texten aus der DDR-Literatur typische Haltungen und Einstellungen zu den Ereignissen um den 17. Juni 1953 aufgezeigt werden.

II. „Volksaufstand" oder „Tag X"?

Heinz Brandt 2) berichtet, daß ihm Stefan Heym 1957 von seinem Plan erzählt habe, einen Roman über den 17. Juni 1953 zu schreiben. Er habe ihn davor gewarnt und gesagt: „Laß die Hände davon! Der 17. Juni ist nicht erzählbar. Drüben nicht, und hier schon gar nicht. Jede Seite ist an ihrer speziellen Legende, keine an der Wahrheit interessiert...

Ist es wirklich so, daß in der Bundesrepublik ebenso wie in der DDR an einer Legende gesponnen worden wäre, hier an der Legende vom spontan ausgebrochenen „Volksaufstand", dort an der Legende von der von langer Hand vorbereiteten, von Geheimdienstagenten gesteuerten faschistischen Provokation am „Tag X"? Oder ist es nicht doch möglich, durch Propagandanebel hindurch zu einer an unbestreitbaren und unbestrittenen Tatsachen orientierten realistischen Einschätzung der Ereignisse zu gelangen? 1. War es ein „Volksaufstand"?

Im Winter 1952/53 verschärften sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der DDR. Der forcierte Aufbau einer Schwerindustrie ging zu Lasten der Konsumgüterversorgung der Bevölkerung. Die Ernährungslage verschlechterte sich rapide. Ursache für die ungenügenden Ernteergebnisse war zum einen die ungünstige Witterung, zum anderen die nach der 2. SED-Parteikonferenz vom 9. bis 12. Juli 1952, die den „Aufbau des Sozialismus" und die „Verschärfung des Klassenkampfes" proklamierte verstärkte Kampagne für die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Tausende von Bauern zur Flucht in den Westen trieb.

Unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise entschloß sich die SED zur Flucht nach vorn. Auf der 13. ZK-Tagung am 13. /14. Mai 1953 wurde „die Einführung eines strengen Sparsamkeitsregimes und die restlose Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Akkumulationsquellen für den sozialistischen Aufbau" beschlossen „Steigerung der Arbeitsprodukti-vität" und „Senkung der Selbstkosten" sollten durch die verstärkte Einführung „technisch begründeter Arbeitsnormen" erreicht werden. Es wurde beklagt, daß „ohne entsprechende Leistungen ... Normenerfüllungen von 150 bis 200 Prozent erreicht" würden. Die vom Ministerium für Arbeit erlassene Bestimmung, daß bei Einführung neuer Normen eine Senkung des bisherigen Verdienstes nicht zulässig sei, wurde „als ein Fehler und als ein Hemmnis in der ganzen Entwicklung" bezeichnet. Die Arbeitsnormen sollten bis zum l. Juni 1953 um durchschnittlich mindestens 10 Prozent erhöht werden.

Die Regierung brauchte 14 Tage, um „dem Wunsche der Arbeiter, die Normen generell zu überprüfen und zu erhöhen", nachzukommen. Sie verfügte die vom ZK der SED gewünschte Normenerhöhung, allerdings nicht zum l. Juni, sondern zum 30. Juni 1953 s). Offensichtlich rechnete sie mit erheblichen Widerständen bei den betroffenen Arbeitern. Tatsächlich kam es schon Ende Mai auf verschiedenen Baustellen in Ost-Berlin zu kurzen Streiks gegen die Normenerhöhungen Womit die SED aber nicht gerechnet hatte, war der „Neue Kurs“ in der Sowjetunion nach dem Tode Stalins. Als der sowjetische Hochkommissar Semjonow am 5. Juni 1953 aus Moskau zurückkehrte, brachte er offenbar Direktiven mit, die der SED eine Anpassung ihres harten Sparkurses an die Liberalisierungsbestrebungen in der Sowjetunion empfahlen. Das Politbüro des ZK der SED gestand am 9. Juni 1953 „eine Reihe von Fehlern“ bei der Behandlung der Bauern, Händler und Handwerker ein und versprach Maßnahmen zur Verbesserung des Lebensstandards der gesamten Bevölkerung Von einer Rücknahme der administrativ verordneten Normenerhöhung aber war in dem Beschluß keine Rede.

Die bereits seit Monaten schwelende Unruhe bei den Bauarbeitern in Ost-Berlin machte sich am Vormittag des 16. Juni 1953 in einem Demonstrationszug Luft, der eine Resolution mit der Forderung nach Herabsetzung der Normen an Gewerkschaftsbund und Regie-rung überbringen sollte Die Streikbewegung und die Demonstrationen weiteten sich am 17. Juni auf das ganze Gebiet der DDR aus. Faßt man die Informationen über das Ausmaß der Streiks zusammen so kam es in 272 Ortschaften der DDR zu Streiks, an denen sich etwa 300 000 Arbeiter beteiligten; das sind etwa 5% der Arbeitnehmer in der DDR. Die Teilnehmerzahl an den Demonstrationen zu schätzen ist ganz unmöglich, weil sich die Zahlenangaben widersprechen. Im ganzen jedoch scheint nach weitgehender Übereinstimmung in der Literatur die Streik-und Demonstrationsbewegung im wesentlichen von der Arbeiterschaft getragen worden zu sein. Andere Bevölkerungsgruppen dagegen, die mindestens bis zur Kursschwenkung vom 9. Juni 1953 erheblich härteren Maßnahmen der Regierung ausgesetzt waren, hielten sich zurück. Weder die Handwerker noch die Bauern wurden zu Trägern des Widerstandes. Insgesamt wahrten die Angehörigen der Mittelschichten eine abwartende Haltung.

Die Schwerpunkte der Unruhen lagen vor allem in den Großstädten und industriellen Zentren des Landes. In den Ortschaften, in denen es zu Streiks und Demonstrationen kam, läßt sich ein typisches Ablaufschema der Ereignisse feststellen Nach den Meldungen über die Demonstrationen in Berlin vom Vortage wurde nach eingehender Diskussion der Streikbeschluß gefaßt und eine betriebliche Streikführung gewählt. In der Regel schloß sich eine Demonstration an, vom die Betriebsgelände aus in das Stadtzentrum führte. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Erhebung ausschließlich eine Sache der Arbeiterschaft Von einem „Volksaufstand" kann eigentlich nur in einer relativ kurzen Phase des Geschehens gesprochen werden, nachdem sich den geschlossenen, diszipliniert marschierenden Kolonnen der Arbeiter auch andere Gruppen — vor allem Frauen und Jugendliche — angeschlossen hatten. Als die Demonstrationszüge im Stadtzentrum angekommen waren, war ihre Teilnehmerzahl auf einige Zehntausende gewachsen. Den betrieblichen Streikleitungen drohte zu diesem Zeitpunkt — etwa gegen Mittag des 17. Juni — die Führung zu entgleiten. In diesen Massenkundgebungen in den Stadtzentren „fanden die Demonstrationsbewegungen ihren Höhepunkt — und ihren Abschluß" Gerade die Spontaneität und Ungeplantheit des Vorgehens und der rasche Ablauf der Ereignisse innerhalb weniger Stunden ließen die örtlichen Streikführungen, die ohne überregionale Verbindungen waren, nach Schluß der Großkundgebungen über das weitere Vorgehen ratlos. Als die sowjetischen Panzer eingriffen, hatte der Aufstand schon viel von seiner Wucht verloren. Gewalttätigkeiten von Demonstranten ereigneten sich vor allem dort, „wo auf die Streikenden geschossen worden und Blut geflossen war". Die Volksbewegung war „keine blutige Revolution, sondern demonstrativer Ausdruck der allgemeinen politischen Stimmung"

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die administrative Erhöhung der Arbeitsnormen zunächst eine weitverbreitete Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft hervorrief, sich in die spontanen Streiks entlud. In der zweiten Phase kulminierte diese Streikbewegung in Demonstrationszügen und Massenkundgebungen. Die Erklärung des Ausnahmezustandes und das Eingreifen sowjetischer Panzer verhinderten, daß daraus ein wirklicher „Volksaufstand" oder gar eine „nationale und soziale Revolution“ wurde. 2. War es der „Tag X“?

Schon in einem Beschluß des Politbüros vom 16. Juni 1953, mit dem die Erhöhung der Arbeitsnormen aufgehoben wurde, war davon die Rede, daß „feindliche Provokateure" versucht hätten, „Unstimmigkeiten und Verwirrung in die Reihen der Arbeiterklasse hinein-zutragen" Am Abend desselben Tages dagegen erklärte Otto Grotewohl vor dem Parteiaktiv der SED-Bezirksleitung Groß-Berlin die „Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft" für „berechtigt" und sagte: „Wenn sich Menschen von uns abwenden...... dann ist diese Politik falsch." Das „Neue Deutschland" wiederum meinte am 17. Juni zu den Ereignisse Juni zu den Ereignissen vom Vortage, „ein Teil der Bauarbeiter" hätte sich „zu einer Demonstration verleiten" lassen, „die von den in Westberlin sitzenden Urhebern als Provokation zur Störung der immer stärker werdenden Verständigungsbewegung unter den Deutschen gedacht war", gab aber immerhin „eigene Fehler" zu, die „den Provokateuren einen günstigen Boden für ihre Umtriebe geschaffen" hätten 16).

In diesen drei Verlautbarungen ist immerhin noch davon die Rede, daß der Grund für Streiks und Demonstrationen in der Unzufriedenheit der Arbeiter über eine falsche Politik ihrer Regierung lag, die dann allerdings von „Provokateuren" zum Vorwand für ihre Ziele genutzt worden sei. Am nächsten Tag, dem Juni, ist dagegen im „Neuen Deutschland" eine Bekanntmachung der Regierung der DDR zu lesen, die die Unruhen allein als „Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen" darstellt. Diese seien mit den Maßnahmen der Regierung zur Verbesserung der Lage der Bevölkerung unzufrieden gewesen und hätten deshalb darauf „mit Provokationen und schweren Störungen der Ordnung" reagiert 17). Am Juni berichtet „Neues Deutschland", die Bevölkerung Berlins hätte „ausnahmslos" die „verbrecherischen Provokationen der Westberliner Schläger" verurteilt. Sogar Arbeiter, die an den Demonstrationen teilgenommen hätten, drückten „ihre Scham" darüber aus, „daß sie sich von amerikanischen Agenten gegen die Interessen Deutschlands und des Friedens mißbrauchen ließen“ 18).

Während zunächst davon die Rede war, daß der berechtigte Zorn der Arbeiter von Provokateuren ausgenutzt wurde, setzt sich immer stärker eine andere Auffassung durch, nach der amerikanische Agenten versucht hätten, die Bevölkerung zum Aufstand anzustacheln; diese sei jedoch darauf nicht hereingefallen. Zu diesen Agenten seien noch Schläger und Terroristen aus West-Berlin hinzugekommen.

Das ZK der SED nahm auf seiner 14. Tagung am 21. Juni 1953 mit einer verbindlichen Interpretation der Ereignisse Stellung. Zum ersten Mal ist in diesem Beschluß 19) ausdrücklich davon die Rede, die „amerikanischen und deutschen Kriegstreiber" hätten die „Friedenspolitik" des sozialistischen Lagers unterlaufen wollen durch „die Ansetzung des Tages X, an dem sie von Berlin aus die Deutsche Demokratische Republik aufrollen wollten, auf den 17. Juni 1953". Damit wird zunächst einmal die Streikbewegung aus der Arena der innenpolitischen Auseinandersetzung zwischen Arbeiterschaft und Regierung — und damit aus dem Verantwortungsbereich der SED — in den Bereich der internationalen Politik verschoben. Darüber hinaus wird der unmittelbare Anlaß der Revolte — der Beschluß des Politbüros vom 9. Juni, mit dem die Normenerhöhungen nicht zurückgenommen wurden — geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Nicht die Unzufriedenheit der Arbeiter mit den Normenerhöhungen wird als Ursache der Streiks und Demonstrationen angesehen, sondern die Unzufriedenheit der „amerikanischen Agenturen" und „Terrororganisationen" über die durch diesen Beschluß „eingeleitete Wendung zur Verbesserung der Lebenslage“ in der DDR. Die zu erwartende positive Wirkung der Politbüro-Beschlüsse hätte die Kriegstreiber dazu veranlaßt, den „von langer Hand vorbereiteten Tag X kurzfristig zu provozieren". Die Agententrupps hätten „die Mißstimmung einiger Teile der Bevölkerung" ausgenutzt, um „die Arbeitsniederlegung ehrlicher Bauarbeiter durch Hetzlosungen in eine Demonstration gegen die Regierung umzufälschen und dieser Demonstration durch Brandstiftungen, Plünderungen und Schießereien den Charakter eines Aufruhrs zu geben." Dieser „niederträchtige Anschlag auf die DDR, auf Deutschland, auf den Weltfrieden" sei „durch das rechtzeitige Eingreifen breiter Teile der Bevölkerung, die durch die Volkspolizei heldenhaft unterstützt wurden, sowie durch das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht" vereitelt worden.

Die SED strickt hier an einer Legende, die sie davor bewahrt, jene ihre eigene Herrschaftsposition bedrohende Frage nach den Ursachen der Streikbewegung und der Demonstrationen wirklich zu. beantworten. Sie schiebt die Verantwortung für den Umfang der Massendemonstrationen den westlichen Agentenzentralen zu und braucht sich damit nur noch mit der Frage nach den Ursachen von „Mißstimmung" und . Arbeitsniederlegung ehrlicher Bauarbeiter“ zu beschäftigen. Sie verfälscht die tatsächliche Lage durch die Behauptung, das „Eingreifen breiter Teile der Bevölkerung" habe den Putsch der Kriegstreiber verhindert, um sich selbst nicht der Frage stellen zu müssen, warum eine Arbeiterregierung" durch Panzer der Besatzungsmacht vor ihrem eigenen Volk geschützt werden mußte.

Die zugegebene Mißstimmung und Verbitterung bei einem Teil der Arbeiter sollte dadurch aufgefangen werden, „daß das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeiterklasse, Partei und Regierung wiederhergestellt wird". Wenn sich selbst Arbeiter „von den Provokateuren täuschen ließen“, so kann das nur auf „Mißverständnissen" der wahren Absichten der Partei beruhen. Für diese Mißverständnisse übernimmt das ZK großzügig die Verantwortung: „Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht der Ar-beiter!

Allerdings muß man sorgfältig unterscheiden „zwischen den ehrlichen ... -Werktä tigen, die zeitweise den Provokateuren Gehör schenkten und den Provokateuren selber." — Diese müßten entlarvt und „den Sicherheitsorganen übergeben" werden, jene aber brauchten die „Hilfe und Geduld der Partei". Der ZK-Beschluß vom 21. Juni läßt durchaus noch verschiedene Interpretationen der Ereignisse zu. Am weitesten gehen solche Stimmen, die den Unmut in der Arbeiterschaft für berechtigt halten und darin den eigentlichen Anlaß für Streiks und Demonstrationen sehen. Dadurch, daß westliche Provokateure diese Protestbewegung für ihre eigenen Ziele auszunutzen versuchten, seien die berechtigten Anliegen der Arbeiter ins Zwielicht geraten. Andere vertraten die Meinung, daß die Arbeiter ihre im Grundsatz berechtigten Ziele mit den falschen Mitteln, nämlich mit Streiks und Demonstrationen, vertreten hätten, statt sie durch Partei und Gewerkschaft voranbringen zu lassen. Dadurch hätten die faschistischen Agenten erst die Chance erhalten, ihre regierungsfeindlichen Parolen vorzutragen, die dem Klasseninteresse der Arbeiter nicht entsprachen. Die Partei habe zwar Feh-

er gemacht, sie habe aber auf die berechtigte Forderung der Arbeiter nach Rücknahme der administrativ verordneten Normenerhöhung sofort reagiert und diese noch am Mittag des 16. Juni zurückgenommen. Daher müsse unterschieden werden zwischen dem Arbeiter-protestam 16. Juni und dem anschließenden faschistischen Putschversuch am 17. Juni.

Eine dritte Gruppe sah in den Ereignissen vom 16. und 17. Juni ausschließlich das Werk westlicher Agenten. Die klassenbewußten Arbeiter hätten treu zu Partei und Regierung gestanden. Lediglich kleinbürgerliche, nazistische und sozialdemokratische Elemente in der Arbeiterschaft seien für die Hetzparolen anfällig gewesen. Die Politik der Partei sei richtig gewesen, nur einzelne führende Mitglieder in Partei und Gewerkschaft hätten versagt, weil sie die Linie der Partei gegenüber den Arbeitern nicht entschieden genug vertreten hätten.

Diese Mehrstimmigkeit bei der Deutung der Ereignisse, die nach dem ZK-Beschluß vom 21. Juni durchaus noch möglich war, wurde durch den Beschluß der 15. ZK-Tagung vom 24. bis 26. Juli 1953 eindeutig zugunsten der dritten Meinung vereinheitlicht

Ziel der westlichen „Kriegstreiber" sei es gewesen, die Durchführung des „neuen Kurses“ in der DDR zu verhindern. Die „volksfeindlichen Forderungen der faschistischen Provokateure auf Sturz der Regierung der DDR" seien aber von „der Mehrheit der Bevölkerung der DDR, besonders der Arbeiterklasse ... energisch zurückgewiesen“ worden. Die „von den Amerikanern organisierte und unterstützte faschistische Untergrundbewegung“ habe aus „ehemals aktive(n) Nazisten" und „ehemaligen SPD-Mitgliedern" bestanden. Wenn die Agenten „in einigen Gegenden ... bestimmte Teile der Arbeiterschaft irreführen und zur Teilnahme an den Streiks veranlassen" konnten, habe das vier Ursachen: Erstens seien nach 1945 „viele nichtproletarische Elemente aus dem Kleinbürgertum" als Arbeiter in die Betriebe gegangen und hätten dort ihre „feindliche Einstellung zur Arbeiterklasse und zur demokratischen Ordnung in der DDR" verbreitet. Zweitens seien selbst „breite Teile auch der Arbeiterschaft ... von der Naziideologie vergiftet" gewesen. Der Partei sei es mit ihrer . Agitationsarbeit" nicht ausreichend gelungen, „die vom Westen kommende feindliche Propaganda" zu entlarven. Drittens hätten untergeordnete Organe mit „nicht genügend durchdachten und überstürzten administrativen Maßnahmen" der Bevölkerung „zu Unzufriedenheit Anlaß gegeben“. Viertens schließlich seien die feindlichen Agenten sogar „in einige Organe der Verwaltung und in einige Gewerkschaftsleitungen" eingedrungen und hätten dort „durch arbeiterfeindliche Maßnahmen (Lohnabbau, Verweigerung der Ausgabe von Arbeitsschutzkleidung, Verletzung der Bestimmungen des Arbeitsschutzes, Ignorierung der sozialen Nöte der Arbeiter u. a.) die Unzufriedenheit künstlich" geschürt Nach dieser Interpretation der Ereignisse war es weder nötig noch möglich, eigene Fehler zuzugeben und den Arbeitern zuzugestehen, daß sie berechtigten Anlaß zu Streiks und Demonstrationen gehabt hätten. Die „Generallinie der Partei war und bleibt richtig".

Seit der 15. ZK-Tagung wird in der offiziellen Geschichtsschreibung der DDR ausschließlich die These vertreten, daß . Agenten der imperialistischen Geheimdienste" und faschistische Provokateure aus West-Berlin „Werktätige mehrerer Betriebe zur Arbeitsniederlegung und zu Demonstrationen" verleitet hätten -Für das Eingeständnis eigener Fehler, gar einer insgesamt falschen Politik, die den Arbeitern berechtigten Anlaß zu ihrem Protest gegeben habe, ist in dieser Einheitsinterpretation der Ereignisse kein Platz mehr.

Nun ist die These vom faschistischen Putsch-versuch am „Tag X" in der Literatur schon dermaßen oft als historisch falsch zurückgewiesen worden, daß sich hier eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Behauptung erübrigt. Es genügt, auf einige offenkundige Tatsachen hinzuweisen, die der These vom „Tag X" widersprechen.

Zunächst ist bereits dargestellt worden, daß die Arbeiter wegen der Politik der Regierung durchaus Grund zu Unzufriedenheit und Protestverhalten hatten. Gegen eine langfristige Vorbereitung durch westliche Agentenzentralen spricht ferner der spontane und ungeplante Ablauf der Streiks und Demonstrationen. Die „Volksmassen" hatten — wie Robert Havemann betont — weder „ein klares politisches Ziel“ noch „eine entschlossene, organisiert arbeitende Führung" Selbst durch die Verhaftungswelle nach dem 17. Juni und die im Westen bekanntgewordenen Gerichtsurteile ist es nicht gelungen, die These vom aus dem Westen gesteuerten faschistischen Putschversuch schlüssig nachzuweisen Verlauf und rasches Ende der Protestbewegung nach dem Eingreifen der Roten Armee deuten nicht auf kühle Planung und umsichtige Organisation durch eine Agentenzentrale hin. Der Zorn der Massen richtete sich in erster Linie gegen sichtbare Manifestationen des verhaßten Regimes wie Fahnen, Bilder, Transparente, nicht aber gegen die eigentlichen „Nervenzentren“ des Systems in den Radiostationen, Kasernen und Nachrichtenzentralen, Eisenbahnlinien und Verkehrs-zentren, Brücken, Kraftwerken und Talsperren

Das entscheidende Argument gegen die These vom „Tag X" liefert die Haltung der SED nach dem 17. Juni. Wie bereits ausführlich dargestellt, war die SED in den ersten Tagen zunächst durchaus geneigt, die Streiks und Demonstrationen der Arbeiter als Ausdruck berechtigter Unzufriedenheit ernst zu nehmen. Der Beschluß der 14. ZK-Tagung vom 21. Juni fügte dieser Ansicht die Interpretation hinzu, daß der berechtigte Protest der Arbeiter von Provokateuren und Agenten für ihre Zwecke ausgenutzt worden sei. Die These, die Ereignisse um den 17. Juni seien ausschließlich das Werk westlicher Agenten-zentralen, und die „wirklichen" Arbeiter seien von deren Machenschaften unberührt geblieben, hatte sich erst mit der 15. ZK-Tagung vom 24. bis 26. Juli 1953 durchgesetzt, nachdem es Ulbricht gelungen war, seine Gegner auszuschalten und seine eigene Machtstellung wieder endgültig zu festigen.

III. Typische Darstellungsweisen der Ereignisse um den 17. Juni 1953 an exemplarischen Texten der DDR-Literatur

1. Der „TagX" als ausschließlich faschistischer Putschversuch a) Stephan Hermlin: Die Kommandeuse Die im Oktober 1954 erstmals veröffentlichte Erzählung stützt sich auf eine Begebenheit, bei der die KZ-Aufseherin Erna Dorn (in der Erzählung Hedwig Weber), die zu zehn (in der Erzählung fünfzehn) Jahren Haft verurteilt war, aus dem Gefängnis in Halle (in der Erzählung Saalstedt) befreit wurde Noch am selben Tage wurde sie wieder ergriffen, später zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dieses Todesurteil entbehrt jeder rechtsstaatlichen Grundlage. Es wurde ausgesprochen, obwohl die Angeklagte bereits zu zehn Jahren Haft verurteilt war und ihr für die kurze Zeit ihres Entweichens keine zusätzlichen Straftaten zur Last gelegt werden konnten, die ein Todesurteil gerechtfertigt hätten.

In der Erzählung wird die „negative Heldin", die „Kommandeuse" Hedwig Weber, als eine Person geschildert, die nichts dazugelernt hat. „Sie schlug mit einer unsichtbaren Gerte gegen einen unsichtbaren Stiefelschaft“ (S. 199). Sie träumt von einer neuen Machtergreifung. Aus dem „Führungsstab" der Putschisten werden als „Chef" „Kahlstirnige" (S. 202) und ihre beiden Befreier, der . Altere" mit Namen Blümlein aus Zehlendorf — „auf Leute mit diesem Blick war Verlaß" (S. 197) — und der Junge, Hübsche, Große, näher charakterisiert. „Baskenmützen und Sonnenbrillen" (S. 197) weisen sie als westliche Agenten aus.

Demgegenüber ist die Volkspolizei „weggefegt" oder „hat sich verkrochen" (S. 201). Die „fröhliche blonde Wachtmeisterin" des Frauengefängnisses liegt „mit zertrampeltem Gesicht, aber noch atmend" (S. 199) auf dem Treppenabsatz. Die Arbeiter der Pumpen-fabrik verweigern die Teilnahme am Streik (S. 201) und schlagen auf Kundgebungsteil-nehmer ein, die das „Horst-Wessel-Lied“ anstimmen (S. 203).

Die Nachricht vom Streik erhält Hedwig Weber von der „Prostituierte(n) und Kindesmörderin Rallmann" (S. 196). Die Ereignisse des folgenden Tages erscheinen der Gefangenen bis zu ihrer Befreiung zunächst wie ein fernes „Singen und Rufen“ aus Anlaß irgendeines Feiertags. Später hört sie „vielstimmigen Lärm“ (S. 196) und imaginiert „tobendes Heil-Gebrüll“ (S. 197). Nach ihrer Befreiung ist sie erstaunt darüber, „daß die Straße so leer“ ist (S. 200). Nur eingeschlagene Fenster und eine Bücherverbrennung stören das friedliche Bild im Garten arbeitender Menschen, von Spaziergängern und „Frauen mit Kinderwagen“, allerdings auch einer „Menge Betrunkener“ (S. 201) auf den Straßen. Auch auf dem Weg zur Kundgebung bleibt die Menge gesichtslos, „schlendernd, schwatzend“, „in lockeren Strudeln" (S. 202).

Ein . Aufstand" findet nicht statt, streikende und protestierende Arbeiter gibt es nicht, die Ereignisse sind das Werk von „sieben oder acht Männern" (S. 200) eines Agenten-Führungsstabes unverbesserlicher Nazis. Die Kundgebung beendet; die ist Menge läuft auseinander, als die sowjetischen Panzerleute „lachend" die Motoren aufheulen lassen (S. 203 f.). Alles ist wie ein böser Spuk verflogen.

b) Karl-Heinz Jakobs: Beschreibung eines Sommers

In diesem 1961 erschienenen Roman durchlebt der Held Tom Breitsprecher im Sommer 1959 eine moralische Krise. Wegen seiner Liebesbeziehung zu einer verheirateten Frau muß er sich vor der Parteileitung seiner Baustelle in Wartha verantworten. In dieser Verhandlung tritt der Maurerbrigadier Schibulla für ihn ein und berichtet von ihren gemeinsamen Erlebnissen am 17. Juni 1953 in Berlin. Auf ihrer Baustelle in der Stalinallee herrschte „offiziell Arbeitsruhe". „Wir saßen in unseren Maurerkleidern in der Bude. Auf die Rüstung durften wir nicht, um keinen zu provozieren" (S. 204). Es herrscht Arbeitsruhe bei grundsätzlicher Arbeitswilligkeit, aber keine Unzufriedenheit unter den Arbeitern, kein Streik, keine Demonstration. Nur Schibulla und Breitsprecher gehen in die Stadtmitte, um zu sehen, was dort los ist. Auch dort gibt es keine demonstrierenden Arbeiter, sondern nur faschistischen Mob, Jugendliche aus Westberlin, randalierende Rowdies, die Bücher verbrennen, Kioske anzünden und Bilder Randalierern zerstören. Als die beiden den werden sie von der fanatisierten Menge fast gelyncht. Westberliner Polizisten greifen ein und nehmen sie fest. Als sie auf der Wache jede Aussage verweigern, werden sie mißhandelt, nachts aber wieder freigelassen. Als sie am anderen Morgen auf ihre Arbeitsstelle in der Stalinallee zurückkehren, wird dort wieder normal gearbeitet. Der Brigadier Schibulla hat Tom Breitsprecher in der der Gefahr erst „richtig als dieser kennengelernt", auf dem Westberliner bekannte: „Ich bin Bürger

der Deutschen Demokratischen Republik". Deshalb meint er: „Er ist es wert, daß wir um ihn ringen" (S. 207).

Der Angriff des faschistischen Mobs wird für den Helden zur Stunde der Bewährung. Seine Entscheidung für den sozialistischen Staat hilft ihm, auch spätere Krisen zu bewältigen. Die Darstellung bleibt ganz auf der individuell-moralischen Ebene. c) Erik Neutsch: Auf der Suche nach Gatt Auch für den Helden dieses Romans wird der 17. Juni zu einer entscheidenden Wende seines Lebens. Am Morgen des 17. Juni erfährt er aus einem Gespräch zweier Fahrgäste in der Straßenbahn von Streiks in Berlin. „Gatt wunderte sich nicht, dachte: Westberlin. Warum wissen die Leute nicht zu unterscheiden, daß es zwei Berlin gibt. Eines, in dem gestreikt wird, und ein anderes, in dem die Stalinallee gebaut wird" (S. 85). Der ehemalige Bergarbeiter, der als „schreibender Arbeiter" Karriere gemacht hat und Journalist geworden ist, steht den Vorgängen in Mansfeld, die er auf dem Weg in die Redaktion erlebt, völlig fassungslos gegenüber. Eine Sprechchöre brüllende Menschenmenge, die Gebäude demoliert und Fahnen herunterreißt; die Bevölkerung zurückhaltend, „in ihren Augen nistete hilflose Angst“ (S. 86). Gatt will die Kollegen in der Redaktion zur Gegenwehr aufrufen: „Tausend Genossen. Und wenn das nicht hilft, unsere Polizei. Feuer aus allen Rohren. Wir schießen den Putsch zusammen" (S. 89).

Aber die Genossen versuchen ihn zurückzuhalten: „Das würde Bürgerkrieg bedeuten, unnützes Blutvergießen. Darauf wartet der Feind, um nicht nur uns, sondern um Europa aufzurollen ... Wir müssen die Machtstellungen halten" (S. 88).

Gatt läßt sich nicht zurückhalten. „Er eilte in die Stadt und mischte sich in die stöhnende, schweigende, geifernde, von Brutalität, aber auch schon von zunehmender Enttäuschung und Ratlosigkeit gezeichnete Menge, die inzwischen den Marktplatz belagerte. Lieder wurden gesungen: Deutschland, Deutschland über alles; Brüder, zur Sonne, zur Freiheit Immer wieder erschollen die Rufe: Nieder mit den Roten, hängt die Kommunistenschweine“ (S. 89). Gatt sieht keine Arbeiter, nur „Burschen mit kurzgeschnittenen Haaren, zitronengelben Hemden und Ringelsocken an den Füßen" (S. 90). Wer aber singt dann das Arbeiterlied zur Sonne, „Brüder, zur Freiheit"? Als freigelassene Häftlinge einen Polizisten lynchen wollen, versucht Gatt das zu verhindern. Aber er wird niedergeschossen. „Mit zerschossener Brust fiel er hintenüber. Als er auf dem Pflaster lag inmitten der Straße, prasselten noch immer Kugeln auf ihn nieder. Im Fallen aber sah er, daß auf dem breiten, leeren Fahrdamm ein Panzer heranrollte. Mein Leben ist hin, denke ich noch. Aber die Revolution ist gerettet" (S. 92).

Das Versagen der SED, die Hilflosigkeit der Funktionäre werden in eine wohlüberlegte taktische Maßnahme umgedeutet, um Blutvergießen zu vermeiden. Der heldenhafte Einsatz Gatts war ein Irrtum. „Nach allem was damals geschah, war es sinnlos", denkt Gatt nach seiner Genesung (S. 103). Die Partei hat recht behalten. d) Anna Seghers: Das Vertrauen In diesem 1968 veröffentlichten Roman wird der 17. Juni 1953 zum Tag der „Entscheidung" Die Menschen der Romanhandlung stehen — worauf schon der Titel in durchaus doppeldeutiger Weise Bezug nimmt — vor der schicksalhaften Entscheidung, ob sie ihrem Staat auch in der Stunde der Not das Vertrauen bewahren und ob sie sich damit des Vertrauens würdig erweisen, das dieser Staat in sie gesetzt hat.

In der Art und Weise der Interpretation der Ereignisse um den 17. Juni 1953 markiert der Roman den Übergang von einer Deutung als ausschließlich faschistisch gesteuerten Putschversuch zu einer differenzierteren Sicht, in der immerhin Unzufriedenheit der Arbeiter artikuliert und Versagen von Parteifunktionären angedeutet werden. Die Darstellung des äußeren Ablaufs der Ereignisse in der Kleinstadt Kossin und in dem ehemals Bentheimschen Stahlwerk entspricht im großen und ganzen der historischen Realität: Streik, Marsch ins Stadtzentrum, Solidarisierung anderer Betriebe, Teilnahme der Bevölkerung, Sprechchöre und Transparente, einzelne Gewaltaktionen.

Die Annäherung an die offizielle SED-Interpretation erreicht die Autorin durch die besonders starke Betonung einzelner Kompositionslemente: Der 17. Juni ist der Tag der Konterrevolution; er scheidet zwischen Guten und Bösen, Freunden und Feinden, Echten und Falschen. Zu den einen gehören alte, bewährte Kommunisten und jugendliche, idealistisch gesinnte Helden. Die anderen sind alte Nazis, enteignete Industrielle und ihre bezahlten Knechte, eingeschleuste Agenten und Provokateure, aber auch ehemalige Sozialdemokraten, die in ihrem Irrtum erstarrt sind und nichts dazugelernt haben.

Zwischen den beiden Polen: die Arbeiter, in ihrer Unzufriedenheit verführbar und gefährdet. Der Protest gegen die Normenerhöhung bricht sich Bahn: „Das ist kein Leben, dieses Gehetze, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche. Wir nennen es mit dem richtigen Namen: Antreiben. Ihr gebt ihm schöne Namen. Technisch begründete Arbeitsnormen. Planung. Sparsamkeit. Wir streiken, weil wir es Ausbeutung nennen. Das ist unser Recht, und auch ich, ich spring nicht aus der Reihe."

Vorsichtige Kritik an der administrativen Durchsetzung der Normenerhöhung wird laut: „Du kannst niemand durch Befehle verändern ... Oder durch Anordnungen, die wie Befehle klingen ... Woanders müssen wir etwas länger erklären, damit die Leute selbst es wollen. Darauf kommt es mir an: Es darf nicht befohlen werden, sondern verstanden und vorgeschlagen" (S. 249 f.). Aber in der Stunde der Bewährung darf man sich nicht von „törichten Fragen und unnützen Zweifeln" (S. 105) beirren lassen. Man entscheidet sich entweder für den Streik und damit für die Feinde, die den Tag X von langer Hand geplant und jetzt ins Werk gesetzt haben. Oder man stellt sich — selbst wenn man zwischendurch schwankend geworden ist — entschlossen auf die Seite derer, die treu und mutig den Agenten entgegentreten und deren Pläne vereiteln. Durch den tatkräftigen Einsatz der besonnenen Arbeiter, besonders der jungen Leute, scheitert der Putschversuch, ehe die Panzer eingreifen müssen. „Wir haben keine Panzer gebraucht, wird es später heißen" (S. 354). 2. Die „doppelgleisige“ Interpretation: begründeter Protest und westlicher Putsch-versuch a) Hermann Kant: Das Impressum In diesem Roman 31) erscheinen dem Erzähler David Groth die Ereignisse des 17. Juni im erinnernden Rückblick verknüpft mit einer Wende in seinem persönlichen Leben. Durch „Zufall'1 trifft er an diesem „grauen Junimorgen" mitten im Getümmel des Strausberger Platzes in Berlin auf seine frühere Freundin, die Fotografin Franziska. Sie fotografiert „einen schreienden Mann in Maurerhosen", mit dessen Hose etwas nicht stimmt (S. 143). Ein Agent in Maurerkleidung! Die offizielle Interpretation wird nur versteckt dadurch relativiert, daß die Gesichter der Leute, die hier die Ordnung auf den Kopf stellen, „nicht alle die des Feindes waren" (S. 144).

In einer zweiten Szene wird die Erinnerung an den 17. Juni durch ein Foto ausgelöst, das von Groth in einer Kassette aufbewahrt wird, zu der nur er den Schlüssel hat. Darauf ist Fritz Andermann (gemeint ist der Industrie-minister Fritz Selbmann) zu sehen, mit dem Rücken gegen inen Pfeiler gepreßt von einer tobenden Menge. „Hier schrie der Irrsinn, und der Irrtum schrie mit, und der Haß sah hier seine Gelegenheit und schrie, schrie: Hängt sie auf, schlagt ihn tot, stopft ihm das Maul, dem Hund!" (S. 276 L). Warum „taugte das Bild für keine Öffentlichkeit,... mußte Verschlußsache sein“? (S. 276) Weil man nicht eingestehen darf, daß sich damals die Staatsmacht in höchster Bedrängnis befand? Muß dieser unfaßbare Vorgang verdrängt, aus dem öffentlichen Bewußtsein getilgt werden?

Groth versucht, dem bedrohten Minister zu Hilfe zu kommen. Er drängt sich „durch ein Verhau aus Zimmermannsrippen, Poliersellenbogen, Handlangermuskeln, Schultern vom Bau und Bäuchen, die nicht auf dem Bau gewachsen waren" (S. 277). Es sind Bauarbeiter, die dem Minister ans Leben wollen — ein schreckliches Eingeständnis, gleichwohl sofort wieder relativiert durch die Anspielung auf das verdeckte Wirken eingeschleuster Provokateure.

Noch einmal führt der Autor das versteckte Doppelspiel vor, um eine für das Regime gefährliche Andeutung wieder zurückzunehmen: Andermann, gegen den Pfeiler gepreßt von „etwas, das aussah wie seinesgleichen und seinesgleichen auch war" (S. 278), wird aus der tödlichen Bedrohung gerettet durch eine „Bewegung, die eine schützende schien, auch in Zimmermannskord und Maurerdrillich gekleidet" (S. 277). Wenn es schon Arbeiter sind, die den Minister bedrängen, so sind es ebenfalls Arbeiter, die ihn der tobenden Menge entziehen.

Wo liegt die Ursache für das Unbegreifliche? Wenn von „Fehlern" gesprochen werden muß, dann sind es die „Fehler" der „Klugen und Mutigen und Gerechten" (S. 278), die nicht erkannt haben, „wie wenig noch die Nieder-tracht geschlagen war", wie ungefestigt die Arbeitermacht, wie gefährdet durch die, die ihn schlagen, „weil sie sollten" und die immer nachher sagen: „Wir haben das nicht gewollt, wir haben es gesollt, wir haben es gemußt, wir haben es nicht anders gewußt" (S. 279). Der Fehler der „Gerechten" ist die „Ungeduld" mit den verführharen Massen. Andermann muß sich sagen: „Er ist ein Träumer gewesen; er hat die hinter sich geglaubt, um sich, die jetzt vor ihm stehen, gegen ihn drängen und ihm ans Leben wollen" (S. 279). Keine Rede von wirklichen Fehlern der Mächtigen, von berechtigtem Zorn über Ausbeutung und Normenschinderei. Die Masse der Arbeiter ist blind und gesichtslos, uneinsichtig und leicht aufputschbar. Die politische Konsequenz aus dieser Einsicht: „Wachsam bleiben,... nur kein fauler Liberalismus,...dem Feind keinen Fußbreit Boden und jenem Junitag nie wieder eine Chance" (S. 280).

Jetzt stimmt das Weltbild wieder, das einen Augenblick irritiert war durch die Tatsache, daß Arbeiter gegen eine Regierung protestieren, die den Anspruch erhebt, eine Arbeiter-regierung zu sein. Der Fehler liegt nicht bei der Regierung, es sind die Arbeiter, die das Vertrauen ihrer Regierung enttäuscht haben. Auf diese absurde Verdrehung, auf die schon Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Die Lösung" mit dem Vorschlag reagierte, die Regierung solle sich dann doch ein anderes Volk wählen, kann man mit Erwin Strittmatter nur antworten: „Wenn du mich und meinesgleichen nicht hättest, sagte ich zu meinem Freunde, dem Regierer, so hättest du nichts zu regieren. Außerdem lassen wir uns von dir nur gern regieren, wenn uns einleuchtet, was du von uns verlangst. Freilich hast du deinen Knüppel, aber nicht für ewig und drei Tage." b) Fritz Selbmann: Anhang den Tag vorher betreffend Die tödlich bedrohende Szene in Kants Roman wird von dem Betroffenen selbst, Fritz Selbmann, in seiner Erzählung ganz undramatisch geschildert. Es ist „eine richtige ordentliche Arbeiterdemonstration". Der Augenzeuge, der Werkleiter Heinz Lorenzen, ist „etwas erstaunt, daß alles so friedlich zuging", fast „als habe sich eine fröhlich gestimmte Menge zu einem zwanglosen Meeting versammelt" (S. 99). Die irritierende Tatsache, daß Arbeiter gegen ihre Regierung protestieren, wird dadurch relativiert, daß dieser Protest hier als unernst, wie ein Betriebsausflug an einem schönen Sommertag dargestellt wird. Der Minister Selbmann spricht beruhigend auf die Arbeiter ein. „Er sprach von dem Grund der Demonstration und der Arbeitsniederlegung, von der in manchen Betrieben administrativ und ohne Beratung mit den Arbeitern durchgeführten Erhöhung der Arbeitsnormen, die die Hauptursache der Erregung in den Betrieben war. Er teilte mit, daß auf Beschluß der Regierung die generelle Normenerhöhung rückgängig gemacht sei" (S. 102). Darauf beginnt sich die Versammlung aufzulösen. Einer sagt: „Na, dann können wir ja nach Hause gehen. Die Vorstellung ist zu Ende". Ein anderer ergänzt: . Außerdem ist jetzt im Betrieb Feierabend und in der Freizeit wird nicht demonstriert.“ Die Arbeiter sind nicht mehr zu halten. „Die Demonstranten liefen einfach auseinander, nach Hause, zu Muttern, zum verspäteten Mittagessen" (S. 104). Das durch den Arbeiterprotest gestörte Weltbild wird dadurch wieder zu-rechtgerückt, daß die Arbeiter in beleidigender Weise herabgesetzt werden. Daß mit solchen Arbeitern, selbst wenn sie eigentlich als führende Klasse „alle politische Macht" 35) in der DDR ausüben sollen, kein Staat zu machen ist, rechtfertigt nachträglich den Hochmut und das Elitedenken der Parteifunktionäre.

Immerhin ist in dieser Erzählung überhaupt noch davon die Rede, daß es Arbeiter waren, die demonstrierten, und daß sie durchaus Grund zum Protest hatten. Natürlich wird — der offiziellen Parteiversion entsprechend — dieser Arbeiterprotest als vom Westen unterwandert dargestellt. Das beginnt schon damit, daß zu dem Demonstrationszug der Arbeiter zwei weitere aus Richtung Westen stoßen. „Was hier zusammenströmte und vom Westen kam, das hatte mit den Bauarbeitern von der Stalinallee nichts oder doch nicht viel zu tun." Es sind „junge Burschen, Halbstarke in Lederjacken, Rowdys und Schläger" (S. 98). Selbst die Arbeiter werden von Männern angeführt, „die wie Bauarbeiter aussahen, die aber eigenartigerweise völlig neue weiße Maureranzüge" tragen (S. 99). Wenn Lärm und Unruhe aufkommen, wenn „unartikuliertes Gejohle" ausbricht, dann geht es von den „jungen Burschen mit dem lächerlichen Haarschnitt und dem Lederbesatz an den Gesäßtaschen" aus (S. 99).

Politische Parolen werden von den Arbeitern selbst nicht vorgebracht. Zu ihrem Wortführer macht sich ein falscher Bauarbeiter mit „gepflegten Händen", der schon durch seine Sprache „den routinierten und geschulten Agitator" verrät. „Er hatte eine weiße Hose an, völlig neu und sicherlich heute zum ersten-mal getragen" (S. 103).

Zwei Wege der „Bewältigung" des traumatischen Erlebnisses führt der Minister hier vor: Die Arbeiter hatten zwar Grund zum Protest, aber keinen Grund zum Aufruhr. Sie haben sich von westlichen Agitatoren dazu verführen lassen, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln. Wenn die Arbeiter so leicht verführbar sind, dann muß das Regime sie in Zukunft wie unmündige Kinder behandeln.

C) Stefan Heym: 5 Tage im Juni Dieser Roman behandelt ausschließlich die Vorgänge um den 17. Juni in Form eines Stundenprotokolls vom 13. bis zum 17. Juni 1953. In die Chronik der Ereignisse sind Teile politischer Dokumente, Zeitungsartikel und Rundfunkmeldungen eingestreut. Diese filmische Darstellungstechnik erlaubt es dem Autor, ein sehr differenziertes Bild der Ereignisse zu entwerfen. Das Ursachenspektrum des Arbeiterprotests ist breit entwickelt. Es reicht von persönlichen Problemen über gesellschaftliche Strukturmängel bis zu Fehlern der politischen Führung. Die Porträts der Arbeiter des VEB Merkur umfassen sowohl überzeugte und parteitreue Kommunisten (Greta), als auch leicht verführbare alte Sozialdemokraten (Kallmann) und eingeschleuste westliche Provokateure (Gadebusch). Auch die Funktionäre werden nicht nur — wie der positive Held Witte — als geachtet, beliebt und trotz Zweifeln treu zum System stehend beschrieben, sondern auch als stur und phantasielos. Der Parteisekretär Banggartz sagt: „Mir genügt, was das Politbüro beschließt" (S. 9). .

Klar und offen wird die Unzufriedenheit der Arbeiter mit der administrativ verfügten Normenerhöhung angesprochen (S. 53), werden Streik (S. 203) und Demonstration (S. 211 ff.) dargestellt. Neben der Schilderung der systemimmanenten Ursachen nimmt aber auch die Darstellung der westlich gesteuerten Umsturzpläne breiten Raum ein. Das „Ostbüro" der SPD in West-Berlin spielt dabei eine führende Rolle. „Unsere Leute sind überall,..., in jedem Werk, in jeder Abteilung" (S. 94). Auch ehemalige Nazis haben ihre Hände im Spiel (Heinz Hofer und seine Mutter). Schließlich nutzen Rowdies und Chaoten aus West-Berlin die entstandene Unruhe. Heym reagiert hier im Roman so, wie er schon am 21. Juni 1953 in der „Berliner Zeitung" schrieb „Welchem ehrlichen Arbeiter, welchem anständigen Menschen blutet nicht das Herz, wenn er die Zerstörungen sieht, wenn er die Ausschreitungen des Mobs von fanatischen Stoßtrupplern in Ringelsöckchen und Cowboyhemden miterlebt hat — und wenn er miterlebt hat, daß die Ordnung, die Ordnung eines Staates, in dem die Arbeiter die führende Rolle haben, trotz aller Schwächen und Fehler—, wenn diese Ordnung durch die reifere, größere, erfahrenere Arbeitermacht der Sowjets verteidigt werden mußte!" Witte wird vor dem Haus der Ministerien von zwei Typen mit „Mädchengesicht" und „mit Hasenscharte und treublauem Blick“ (S. 154) angegriffen. Das „Drohgebrüll" erinnert ihn an 1933. Es bleibt offen, ob die Wortführer . Arbeiter oder wie Arbeiter kostümiert" sind (S. 155). Dennoch warnt Witte sich selber: Aber jetzt nicht in den Fehler verfallen........ das Ganze als Verschwörung zu sehen. Tausende von Arbeitern verschworen sich nicht" (S. 231 f.).

Heyms Pläne zu diesem Roman reichen schon in das Jahr 1957 zurück. Heinz Brandt reagierte damals so: „Entweder... schreibst du die Wahrheit, dann ist es ein großer Stoff, der dir mehr Knast einbringen dürfte als Zaster — oder du bastelst die Legende aus, dann schrumpft der Stoff zusammen wie Balzacs Chagrinleder" (S. 273). Heym hat weder das eine noch das andere getan. Die Konsequenzen waren auch weder „Knast" noch Schrumpfung des Stoffs. Entstanden ist vielmehr ein stattlicher Roman, der allerdings in der DDR nicht erscheinen durfte und erstmals 1974 in der Bundesrepublik veröffentlicht wurde. Robert Havemann war damals gegen das Veröffentlichungsverbot. In seiner Autobiographie 39) jedoch meint er: „Stefan Heym sollte der Partei dafür dankbar sein, daß (der Roman) nie erschienen ist. Heym übernimmt nämlich die grundfalsche offizielle Lesart, wonach der „ 17. Juni" ein von den westlichen Geheimdiensten organisiertes konterrevolutionäres Unternehmen war" (S. 142). Brandt nennt Heyms Charakterisierungen von Provokateuren aus West-Berlin „mit Bürsten-haarschnitt und Cowboyhemden" (S. 274) „polizeiliche Modebetrachtungen" und fährt fort: „Noch nie in der Geschichte sind Volkserhebungen von außen inszeniert worden, und noch nie in der Geschichte haben Volksaktionen stattgefunden, in die sich nicht Agenten rivalisierender Mächte einmischten. Noch nie in der Geschichte haben die bedrohten Herrschaftssysteme Volksmeuten anders dargestellt, denn als Machwerk ausländischer Agenten" (S. 275). 3. Der 17. Juni als Tag der Streiks und Demonstrationen a) Erich Loest: Durch die Erde ein Riß Dieses erst 1981 nur in der Bundesrepublik erschienene Buch stellt die Ereignisse des 17. Juni 1953 in den Mittelpunkt der stark autobiographisch geprägten Darstellung. Das Kapitel „Dieser Mittwoch im Juni" steht im wörtlichen Sinne in der Mitte des Buches. Es gehen ihm sieben Kapitel voraus, und es folgen ihm weitere sieben Kapitel.

Die Vorgeschichte der Ereignisse im Juni wird vom Standpunkt eines kritischen Kommunisten aus erörtert. Er handelt notfalls auch gegen die „Betonformel: Lieber hundertmal mit der Partei irren, als sich einmal gegen sie stellen" (S. 254). Mit der Überschrift des sechsten Kapitels „Und durch die Erde ein Riß“ meint Loest nicht nur die sich im Jahre 1952 verbreiternde Kluft zwischen Ost und West, sondern auch die Trennung zwischen politischer Führung und Arbeitern, die immer deutlicher zutage tritt. „Als die Marmelade teurer wurde und in der Zeitung stand, dies stelle letztlich eine Verbesserung der Lage der Arbeiter dar, legte der Großvater von Annelies, in der SPD seit Bebels Zeiten und nun in der SED, sein Parteibuch hin" (S. 188).

In solchen knapp ausgeführten Bildern, um sprachliche Distanz bemüht, versucht Loest die komplexe Wirklichkeit aus möglichst vielen Blickrichtungen zu erfassen. Immer werden dabei persönliches Schicksal und politische Realität als ineinander verwoben dargestellt. Zwar kommen auch bei ihm westliche Provokateure vor, aber „die Diskussionswilligen standen zu den Brandstiftern und Plakatabreißern im Verhältnis zehn zu eins“ (S. 200). Er erwägt zugleich, ob nicht manche der gefaßten Plünderer und Brandstifter gern die Verantwortung auf geheime Agenten als Anstifter abwälzen wollten, „um gelinder davon-zukommen, zumal sie bald merkten, daß die Richter nichts lieber hörten als Geschichten von diabolischen Auftraggebern, die Geld und Brandflaschen verteilten, möglichst Gangster-typen mit amerikanischem Akzent" (S. 200). Der Autor sah damals in den Ereignissen um den 17. Juni zugleich die Chance für einen Neubeginn, für eine ernste Diskussion von Fehlern und eine Erneuerung der Partei von unten her. In seinem Artikel „Elfenbeinturm und Rote Fahne“, am 4. Juli 1953 im Leipziger „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“ erschienen und in das Kapitel über den 17. Juni eingearbeitet, schreibt er: „Es wäre den Provokateuren nicht gelungen, Teile der Arbeiterschaft vor ihren Karren zu spannen, wenn nicht von Regierung und Partei... Fehler von zum Teil ernstem Ausmaß begangen worden wären. Die Zeit, diese Fehler zu untersuchen, ist jetzt gekommen, um so mehr, als diese Fehler nicht etwa mit dem 17. Juni automatisch abgestorben sind, sondern hartnäckig trachten, weiter am Leben zu bleiben (S. 216). Nachdem jedoch Ulbricht auf der 15. ZK-Tagung vom 24. bis 26. Juli 1953 seine Herrschaft wieder stabilisiert hatte, war diese Chance vorbei, das Eingeständnis von Fehlern der Herrschenden ein vorübergehender Schwächeanfall, der 17. Juni ausschließlich das Werk westlicher Agenten gewesen. „Politik fand wieder ein Flußbett mit festen Ufern“ (S. 226).

Für Erich Loest hatte der Artikel noch persönliche Folgen. Er wurde als Vorstand des Leipziger Schriftstellerverbandes abgesetzt. Auch in einem späteren Verfahren gegen ihn wegen des Vorwurfs faschistischer Provokation spielte dieser Artikel als Beweismittel eine Rolle.

Loests Darstellung der Ereignisse um den 17. Juni entspricht am ehesten der Haltung Grotewohls in seiner Rede am Abend des 16. Juni vor dem Parteiaktiv der SED-Bezirks-leitung Groß-Berlin. Ursache des Arbeiterprotests waren danach die politischen Fehler der Führung, die zu berechtigter Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft führten. Westliche Provokateure und Randalierer waren nur eine Randerscheinung der Arbeiterdemonstrationen. b) Robert Havemann: Fragen -Antworten -

Fragen Auch diese „Biographie eines deutschen Marxisten" konnte nur in der Bundesrepublik erscheinen -Havemann, damals Prorektor der Ost-Berliner Humboldt-Universität, schildert die Ereignisse des 16. und 17. Juni 1953 in Berlin aus eigenem Erleben. Er sieht, wie die Bauarbeiter „hinter einem ungelenk gemalten Transparent“ (S. 133) losmarschieren, wie andere Bauarbeiter, „angezogen wie Eisensplitter von einem Magneten" (S. 134), dazustoßen und der Demonstrationszug bald „gewaltig angeschwollen“ (S. 134) vor dem Haus der Ministerien ankommt.

Nach der Versammlung trifft er in der SED-Bezirksleitung auf „das hilflose Versagen von Leuten, die sonst immer auftraten wie souveräne Kapitäne des Klassenkampfes und der Revolution“ (S. 139). Er verläßt die „Kommandozentrale, die keine Kommandos gab“ (S. 138 L), und versucht auf eigene Faust, mit einem Lautsprecherwagen der Post zu den Arbeitern zu sprechen. Der Wagen wird von einer „Schar kräftiger junger Männer umringt“, die die Scheiben und Lautsprecher des Wagens zerstören, aber ihm selbst kein „Haar ... krümmen" (S. 140), als er aus dem Wagen springt.

Havemann ist davon überzeugt, daß sicher auch Agenten ihre Finger im Spiel hatten. . Aber es ist eine Naivität, zu glauben, daß diese Finger die Weltgeschichte bewegen" (S. 143). Für ihn liegt die entscheidende Ursache für die Stärke des Arbeiterprotests in der Schwäche der Parteiführung.

IV. Schluß

Der Versuch, ein Fazit aus der vorliegenden Untersuchung zu ziehen, muß knapp und unvollkommen bleiben. Sichtbar geworden ist jedenfalls, daß sich nicht alle literarischen Texte von DDR-Autoren der seit dem 15. ZK-Plenum geltenden Sprachregelung unterwerfen. Nicht alle akzeptieren die „SprachrohrFunktion" von Literatur für die Propagierung der Parteilinie. Selbst in den wenigen ausgewählten Texten zeigt sich ein erstaunlich breites Spektrum von Ansichten und Interpretationen, das selbst dort, wo der Text grundsätzlich der These vom 17. Juni als faschistischer Putschversuch folgt, Raum läßt für individuelle Variationen in der Darstellung. Das Spektrum reicht von bloßer „Illu-stration“ parteioffiziell definierter Wirklichkeit bis zur Darstellung individueller Krisen, in denen der 17. Juni die Funktion hat, dem Helden die Chance der Bewährung zu geben. Selbst Ansätze zur „doppelgleisigen“ Interpretation der Ereignisse als Arbeiterprotest und Putschversuch, die nach dem 15. ZK-Plenum offiziell als verpönt gelten, finden sich in Texten, die in der DDR erscheinen konnten. Daß die „westliche" Auffassung, nach der westliche „Provokateure“ lediglich unwesentliche Randerscheinungen der Streiks und Demonstrationen waren, keine Chance hat, von DDR-Autoren in der DDR publiziert zu werden, verwundert nicht weiter. Interessant aber ist, daß es sogar überzeugte Marxisten gibt, die einer solchen Auffassung zuneigen. So geben die ausgewählten Texte . Auskünfte über die Situationen, Bewußtseinslage und Perspektive einer Gesellschaft sind Ausdruck ihres Selbstverständnisses und Zeugnis der Selbstverständigung der Autoren. Zugleich stellen sie der zeitgeschichtlichen und politologischen Forschung als besondere Form der Dokumentation subjektiver Betroffenheit ein zusätzliches Quellenmaterial bereit, dessen Aussagewert sich erst in der Kon-frontation mit anderen Dokumenten erweist. Bei dem Versuch typologischer Zuordnung der Texte werden erstaunliche Unterschiede im Grade der ideologischen Überformung durch die offzielle Parteidoktrin sichtbar. Die Texte stellen darüber hinaus Variationsmodelle des Versuchs dar, eine als mehr oder weniger traumatisch erlebte Vergangenheit für sich wie für andere zu „bewältigen". Sie durchbrechen ein Schweigen, das sich in der Bundesrepublik Jahr für Jahr am „Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes", am „Tag der Deutschen Einheit", wie Mehltau über die westliche Teilnation ausbreitet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu die umfangreiche Bibliographie von Stephan Bock, Der 17. Juni 1953 in der Literatur der DDR. Eine Bibliographie (1953— 1979), in: Jahrbuch zur Literatur in der DDR, hrg. von Paul G. Klussmann und Heinrich Mohr, Bd. 1, Bonn 1980, S. 141— 159.

  2. Der Beschluß ist auszugsweise abgedruckt bei Ilse Spittmann/Karl Wilhelm Fricke (Hrsg.), 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR (Edition Deutschland-Archiv), Köln 1982, S. 175 f.

  3. Der Beschluß ist auszugsweise abgedruckt bei Spittmann/Fricke (Anm. 3), S. 178 f.

  4. A. a. O„ S. 179.

  5. Vgl. Thomas Ammer, Chronik zum 17. Juni 1953, in: Politik und Kultur, Jg. 1978, H. 3, S. 14.

  6. Siehe Spittmann/Fricke (Anm. 3), S. 181 f.

  7. Die Ereignisse im einzelnen sind in einer Reihe von Veröffentlichungen ausführlich geschildert; vgl. z. B. Arnulf Baring, Der 17. Juni 1953, Bonn 19583, S. 31 ff.; Brandt (Anm. 2), S. 229 ff.; Rainer Hildebrandt, Was lehrte der 17. Juni? Eine Denkschrift Berlin 1954, S. 2 ff.; Spittmann/Fricke (Anm. 3), S. 117 f„ S. 136 ff.; Joachim G. Leithäuser, Der Aufstand im Juni. Ein dokumentarischer Bericht, Sonderdruck aus „Der Monat" 1953, H. 60 und 61, Berlin 1954; Ammer (Anm. 6), S. 18 f.; Axel Bust-Bartels, Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 25/80 vom 21. 6. 1980, S. 42 ff.

  8. Siehe Baring (Anm. 8), S. 38.

  9. Vgl. Gudrun Schweizer, Der 17. Juni 1953. Zulassungsarbeit zur ersten Prüfung für das Lehramt an Grund-und Hauptschulen an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, 1983, S. 88; siehe auch Baring (Anm. 8), S. 51 ff.

  10. Baring (Anm. 8), S. 57.

  11. Leithäuser (Anm. 8), S. 45.

  12. Günter Bartsch, Nationale und soziale Revolution. über die Aktualität des 17. Juni 1953, in: Das Parlament Nr. 24 vom 17. Juni 1978, S. 9.

  13. Zitiert nach Spittmann/Fricke (Anm. 3), S. 185.

  14. Aa. O„ S. 186.

  15. Zitiert nach: 17. Juni 1953. Seminarmaterial des Gesamtdeutschen Instituts, Bonn o. J., S. 4.

  16. Ebenda.

  17. Abgedruckt in Spittmann/Fricke (Anin. 3), S. 188— 192.

  18. Der Beschluß ist auszugsweise abgedruckt bei Spittmann/Fricke (Anm. 3), S. 199— 203.

  19. DDR, Werden und Wachsen, Berlin (Ost) 1975, S. 240 ff.; siehe auch: Geschichte der SED — Abriß, hrsg. von Autorenkollektiv beim Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost) 1978; Lizenzausgabe Frankfurt/Main 1978, S. 294 f.

  20. Robert Havemann, Fragen — Antworten — Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, München 19702, S. 141.

  21. Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Juni-Aufstand und Justiz, in: Spittmann/Fricke (Anm. 3), S. 70— 85.

  22. Vgl. Stefan Brant, Der Aufstand. Vorgeschichte, Geschichte und Deutung des 17. Juni 1953, Stuttgart 1954, S. 291, 307.

  23. ) In: Neue Deutsche Literatur 2 (1954), H. 10, S. 19 ff.; wiederabgedruckt in: Auskunft — Neue Prosa aus der DDR, hrsg. von Stefan Heym, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 196— 205. Die Seitenangaben im Text richten sich nach der Ausgabe von 1977.

  24. Diese Begebenheit diente zur Stützung der These vom faschistischen Putschversuch im ZK-Beschluß vom 21. Juni 1953, in: Spittmann/Fricke (Anin. 3), S. 189; vgl. auch Fricke (Anm. 23), S. 73. Zu den Vorgängen in Halle siehe auch Leithäuser (Anm. 8), S. 40 f.

  25. Karl-Heinz Jakobs, Beschreibung eines Sommers, Berlin 1961; Lizenzausgabe München 1975.

  26. Erik Neutsch, Auf der Suche nach Gatt, . Halle/Saale 1973.

  27. Anna Seghers, Das Vertrauen, Berlin und Weimar 19724.

  28. So der Titel eines bereits 1959 erschienenen Romans von Anna Seghers, in dem unmittelbar nach Kriegsende die Menschen in Kossin vor „die Entscheidung" für oder gegen den Sozialismus gestellt werden.

  29. Bertolt Brecht, Die Lösung, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt/Main 1967, S. 1009 f.

  30. Erwin Strittmatter, Selbstermunterungen, Berlin und Weimar 1981, S. 78.

  31. Fritz Selbmann, Anhang den Tag vorher betreffend, in: Stefan Heym (Hrsg.), Auskunft. Neue Prosa aus der DDR, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 98— 104.

  32. Stefan Heym, 5 Tage im Juni, München-Gütersloh-Wien 1974; Taschenbuchausgabe Frankfurt/Main 1977.

  33. Zitiert nach Leithäuser (Anm. 8), S. 44.

  34. Vgl. Anm. 2.

  35. Erich Loest, Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf, Hamburg 1981.

  36. Siehe Anm. 22.

  37. Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß (Edition Deutschland-Archiv), Köln 1982, S. 130.

  38. Heinrich Mohr, Der 17. Juni als Thema der Literatur in der DDR, in: Spittmann/Fricke (Anm. 3), S. 87— 108, hier S. 108.

  39. Lothar Jegensdorf, Jugend als Thema in der politischen Dichtung der DDR, in: Deutsche Studien 19(1981), H. 76, S. 401.

Weitere Inhalte

Rudolf Wichard, Dr. phil., geb. 1937; Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd; 1960 bis 1969 Lehrer an Grund-, Haupt-und Realschulen; 1969 bis 1974 Studium der Politikwissenschaft, Neueren Geschichte und Pädagogik, 1974 Promotion; 1974 bis 1979 Akademischer Rat/Oberrat an der Pädagogischen Hochschule in Hildesheim. Veröffentlichungen u. a.: Wahlen in Hildesheim 1867 bis 1972 (Historische Texte und Studien, Bd. 2), Hildesheim 1975; Institutionen und Probleme der parlamentarischen Demokratie (mit G. Leder), Hildesheim 1976; Parteien in der Demokratie. Eine Einführung in die allgemeine Parteienlehre, Hildesheim 1977; Zur Sache: Freiheit (Hrsg.), Hildesheim 1979; Demokratie und Demokratisierung (Studienbücher Politik), Frankfurt am Main — Berlin — München 1983; ferner Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden.