Die seit den sechziger Jahren vorausgesagte weltweite Ernährungskatastrophe ist bisher nicht eingetreten. Trotzdem darf das Problem der Weltbevölkerung und Welternährung nicht bagatellisiert werden. Auch wenn eine verläßliche Quantifizierung nicht möglich ist, so steht doch fest, daß einige Hundert Millionen Menschen ernstlich mangel-oder unterernährt sind. Unter Einbeziehung der globalen Aspekte werden die spezifischen Probleme der ärmsten Länder herausgearbeitet Dabei wird trotz aller Vorbehalte bezüglich der verfügbaren Projektionen über die künftige Entwicklung der Weltbevölkerung davon ausgegangen, daß die Weltbevölkerung von gegenwärtig ra. 4 Milliarden bis zur Jahrhundertwende auf über 6 Milliarden anwachsen wird. Die Bevölkerungszuwachsrate in den Entwicklungsländern liegt wesentlich über dem Weltdurchschnitt und gibt weiterhin zu großer Sorge Anlaß. Auf der Angebotsseite ist das Problem der Nahrungsmittelversorgung der Dritten Welt dauerhaft nur durch eine substantielle Steigerung ihrer Eigenerzeugung zu erreichen. Das landwirtschaftliche Produktionspotential der Entwicklungsländer ist noch längst nicht voll genutzt In diesem Zusammenhang kommt auch der sogenannten Grünen Revolution trotz aller Rückschläge und noch zu lösender Probleme große Bedeutung zu. Auch das Potential von Bodenreformen kann bei der Steigerung der Nahrungsproduktion eine wichtige Rolle spielen. Wesentlich ist ferner eine Preispolitik, die den Bauern Produktionsanreize gibt Gleichwohl kann eine Steigerung der Nahrungsproduktion allein nur Teilaspekte des Gesamt-problems lösen, da sie den armen Bevölkerungsschichten nur dann zugute kommt, wenn diese über die erforderliche Kaufkraft verfügen. Damit stellt sich das Problem der Schaffung von Arbeitsplätzen. Für eine Übergangszeit nach Anhebung der Produzentenpreise sind direkte Sondermaßnahmen für die Ärmsten zu erwägen. Nahrungsmittelhilfe von außen stellt keine echte Lösung des Welternährungsproblems dar. Sie kann ernste Negativeffekte haben, da sie Leistungsanreize verhindert Wenn die Gefahren der Nahrungsmittelhilfe verhindert werden sollen, so muß sie viel stärker als bisher in die Entwicklungsstrategien der Empfängerländer integriert werden.
Daß der Kampf gegen den sogenannten Welt-hunger im Rahmen der Bemühungen um eine verbesserte Zusammenarbeit aller Völker eine politische Notwendigkeit von hoher Priorität darstellt, wird heute allgemein anerkannt. Weithin herrscht auch Übereinstimmung darüber, daß das starke Wachstum der Weltbevölkerung im Zusammenhang mit den Anstrengungen zu einer Lösung des „Welternährungsproblems" eine überaus wichtige Rolle spielt Die Frage, ob und wie unter den gegebenen Umständen eine ausreichende Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung sichergestellt werden kann, wurde und wird verschieden beantwortet. Sie war im April 1983 Gegenstand von lebhaften Debatten im Ausschuß für Welternährungssicherheit der FAO (Food and Agriculture Organisation der UNO). Im Juni wird sich der Welternährungsrat der Vereinten Nationen auf ministerieller Ebene mit wichtigen Aspekten des Themas befassen.
I. Düstere und optimistische Prognosen
Noch in den sechziger Jahren trafen prominente Wissenschaftler und Politiker wahrhaft apokalyptische Voraussagen. Typisch für viele Kassandrarufe waren z. B. die Thesen des britischen Wissenschaftlers Lord Snow am Westminster College in Fulton: „Viele Millionen Menschen in den armen Ländern werden vor unseren Augen sterben, und wir werden das in unseren Fernsehgeräten mitansehen." Snow rechnete damit, daß nach örtlichen Hungersnöten „die entscheidende Katastrophe vor dem Ende des Jahrhunderts stattfinden wird ... Wir in den reichen Ländern werden von einem Meer des Hungers umgeben sein, das Hunderte von Millionen Menschen überschwemmen wird."
Mit anderen Autoren glaubte auch Carl Friedrich von Weizsäcker Ende der sechziger Jahre nicht daran, daß eine „sehr große Hungerkatastrophe vermieden werden wird" Am schwärzesten sah Paul Ehrlich die Lage in seinem Bestseller von 1968, „The Population Bomb': „Die Schlacht, die gesamte Menschheit zu ernähren, ist vorbei. In den siebziger Jahren wird die Welt Hungerkatastrophen durchmachen — Hunderte von Millionen Menschen werden an Hunger sterben.“
Den pessimistischen Stimmen standen und stehen auch anderslautende Thesen gegenüber. So wandte sich z. B. Karl Brandt von der Stanford University schon Ende der sechziger Jahre gegen die „schauerlichen Alarmnachrichten und Horror-Publikationen" und gab der Ansicht Ausdruck, daß „von zwangsläufigen nahen Krisen keine Rede mehr sein kann, da die ununterbrochene Kette von Durchbrüchen der Agrartechnik den Nahrungsspielraum der Menschheit fast ins Unendliche erweitert" hat.
überoptimistisch war es, wenn die Welternährungskonferenz der Vereinten Nationen im Jahr 1974 in völliger Verkennung der Lage die „Ausrottung" des Hungers bis zur Mitte der achtziger Jahre verkündete. Es entsprach mehr der tatsächlichen Lage, wenn die Welthungerkommission dem Präsidenten der USA in ihrem Ende 1979 vorgelegten Bericht erklärt, daß selbst das günstigstenfalls zu erwartende Wirtschaftswachstum „nicht genügen wird, um bis zum Jahre 2000 den Hunger zu beseitigen" Die Lage heute Bisher ist die von den Pessimisten vorausgesagte weltweite Ernährungskatastrophe nicht eingetreten, und sie ist nach dem heutigen Stand der Erkenntnis kurzfristig auch kaum zu befürchten. Eine solche Aussage beinhaltet aber keinesfalls, daß das Problem der Welternährung bagatellisiert werden darf. Die überwiegende Mehrheit der Fachleute in Nord und Süd ist sich darüber einig, daß gegenwärtig in vielen Entwicklungsländern Unter-und Mangelernährung beträchtlichen Ausmaßes herrschen und daß in diesem Sinne bereits jetzt von einer Ernährungskrise zu sprechen ist. Allerdings divergieren die Meinungen hinsichtlich der Intensität des Hungers in den einzelnen Teilen der Welt stark, zumal der Zustand von Land zu Land, ja in vielen Ländern von Landesteil zu Landesteil, und noch mehr von einer Sozialgruppe zur anderen verschieden ist.
Nach den Schätzungen der Ernährungs-und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) sind gegenwärtig etwa 400 bis 500 Millionen Menschen „ernstlich unterernährt". Bei der Würdigung solcher — mehr gegriffener als geschätzter — Zahlen der „Hungernden", welche man risikolos nach oben oder unten um eine oder mehrere Hundertmillionen abrunden könnte, ist Vorsicht geboten. In den Bemühungen um eine Quantifizierung sollte auch nicht vergessen werden, daß in allen Epochen Hungersnöte in irgendwelchen Weltregionen zu verzeichnen waren. Es darf auch nicht ignoriert werden, daß die meisten Hungerkrisen die Folge falscher Regierungspolitiken, schlechten Managements und von Kriegen waren und sind
Problematik einer Quantifizierung Eine einigermaßen verläßliche Quantifizierung der Zahl der wirklich „Hungernden" und gar der an „Hungertod" Gestorbenen ist in den meisten Ländern schon wegen der Problematik der statistischen Erfassung fast unmöglich Es gibt internationale und nationale Institutionen, die bei der Quantifizierung im Zweifel zu Übertreibungen neigen, da sie meinen, so die eigene Bedeutung unterstreichen zu können.
Zu den rein statistischen Problemen kommt das Fehlen ausreichend präziser Definitionen über die Begriffe Unter-und Mangelernährung. Zum Beispiel müssen bei der Bestimmung des Kalorien-„Bedarfs" so verschiedene Faktoren wie Klima, Alter, Gewicht, Geschlecht und Berufstätigkeit berücksichtigt werden. Wenn es heißt, daß Menschen in Ländern mit wärmerem Klima, d. h. vor allem in den Entwicklungsländern, im Durchschnitt täglich rund 2 000 Kalorien je Kopf benötigen, so dürfte diese Zahl einen Tatbestand zwar grundsätzlich richtig kennzeichnen, aber sie hat doch nur einen sehr beschränkten Aussagewert. Auch die Technik der länderweise erarbeiteten Nahrungsbilanzen beinhaltet eine Vielzahl möglicher Fehlerquellen. Wenn statistisch beispielsweise der durchschnittliche Pro-Kopf-Kalorienverbrauch in Lateinamerika auf einem durchaus erträglichen Niveau von etwa 2 500 Kalorien zu liegen scheint, so verschleiert eine solche Zahl den weit geringeren Verbrauch in einzelnen Ländern. ’ Zwei Dimensionen Mag die „richtige" Zahl der heute „ernstlich unterernährten" Menschen den Schätzungen der FAO entsprechen oder bei 300, 600 oder mehr Millionen liegen, so steht doch in jedem Falle fest, daß die Weltgemeinschaft ein solches Ausmaß menschlichen Elends aus moralischen und politischen Gründen nicht passiv hinnehmen kann.
Das Problem hat — grob vereinfacht formuliert — zwei Hauptdimensionen:
— die Bedarfsseite, welche insbesondere durch das Bevölkerungswachstum und die Kaufkraftsteigerung im Rahmen der Einkommensentwicklung bestimmt wird:
— die Produktions-und Verteilungsaspekte. Eine Analyse dieser Dimensionen hat nicht nur die globalen Aspekte einzubeziehen, sondern sie muß insbesondere die spezifischen Probleme der ärmsten Länder herausarbeiten. Eine ausschließlich weltweite Betrachtung würde die nationalen Disparitäten und den besonderen Ernst der Lage der ärmsten Länder verdecken. So trifft es z. B. zu, daß die Weltproduktion an Nahrungsmitteln in den letzten 20 Jahren gestiegen als die stärker ist Weltbevölkerung. Bei weltweiter Verteilung könnte das Produktionsvolumen ausreichen, um die Unter-und Mangelernährten zu versorgen. Da aber Nahrungsmittel nicht automatisch wie Wasser in kommunizierenden Röhren von den reichen in die armen Länder zu fließen pflegen, ist ein Ausgleich schwierig. Perverserweise wächst die Bevölkerung dort am schnellsten, wo die Nahrungsproduktion am langsamsten steigt
II. Das Bevölkerungswachstum
Wenn man von einigen Ausnahmen absieht, so besteht für die Mehrzahl der Forscher kein Zweifel daran, daß der — in erster Linie auf das Absinken der Sterbeziffern zurückzuführende — Bevölkerungszuwachs in vielen Ländern der Dritten Welt die Hauptursache für ihr Nahrungsdefizit ist. Hinzukommt, daß die wachsende Bevölkerung gerade in den Entwicklungsländern zusätzliche Anforderungen hinsichtlich der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Gesundheitspflege, der Bildung usw. stellt.
Es ist daher begründet, wenn der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt das Bevölkerungsproblem neben der Energiefrage als das langfristig entscheidende Problem der Entwicklungsländer überhaupt ansieht Der frühere Weltbankpräsident, Robert McNamara, pflegte das Weltbevölkerungsproblem als die „ernsteste Frage der unmittelbaren Zukunft zu bezeichnen, wenn man von einem Atomkrieg absieht".
Die über die künftige Entwicklung der Weltbevölkerung vorliegenden Projektionen sind durchweg mit Vorbehalten aufzunehmen, zumal es weitgehend an verläßlichen Ausgangs-daten fehlt Geht man von den Projektionen des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) aus, so wird die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2000 auf rd. 6, 1 Milliarden Menschen anwachsen gegenüber etwa 4, 4 Milliarden gegenwärtig. Das würden etwa 20% weniger sein als die 7, 7 Milliarden, die nach früheren Projektionen bei konstanten Geburten-und Sterberaten der fünfziger Jahre für das Ende des Jahrhunderts möglicherweise zu erwarten gewesen wären.
Der Executive Director des Weltbevölkerungsfonds, R. M. Salas, wertet die Differenz zwischen den erwähnten 7, 5 Milliarden und der nach den neuesten Projektionen für die Jahrhundertwende zu erwartenden Bevölkerungszahl von 6, 1 Milliarden als das Ergebnis nationaler Bevölkerungspolitiken und -Programme, Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen und der internationalen bevölkerungspolitischen Hilfe Allerdings legt er den Akzent auf nationale, von der Weltgemeinschaft finanziell und technisch unterstützte Maßnahmen.
Die jährliche Zuwachsrate der Weltbevölkerung, die in den Jahren 1960— 1965 durchschnittlich bei 1, 99% lag, wird nach den Schätzungen des Weltbevölkerungsfonds bis zum Ende des Jahrhunderts voraussichtlich auf 1, 5% sinken. Auf der Grundlage dieses sinkenden Trends schätzt der Bevölkerungsfonds, daß sich die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2110 bei 10, 5 Milliarden Menschen stabilisieren wird.
Was speziell die Entwicklungsländer angeht, so ist nach den Schätzungen der Weltbank das Bevölkerungswachstum von durchschnittlich noch etwa 2, 4% im Jahr 1965 auf 2, 2% im Jahr 1981 zurückgegangen und dürfte damit im Weltdurchschnitt den Höhepunkt bereits überschritten haben. In den siebziger Jahren war eine Beschleunigung des Wachstums nur noch in Afrika zu verzeichnen. Wie der Weltbevölkerungsfonds konstatiert hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Zahl von Regierungen, die zuvor den Bevölkerungszuwachs als unschädlich für ihre wirtschaftliche Entwicklung angesehen hatte, ihre Einstellung geändert. Seit Mitte der siebziger Jahre haben zwei Drittel aller Regierungen, die vier Fünftel der Weltbevölkerung repräsentieren, sich für bevölkerungspolitische Maßnahmen ausgesprochen. Das Produktions-und Verteilungsproblem Es fast heue herrscht Einmütigkeit darüber, daß auf der Angebotsseite das Problem der Nahrungsversorgung der Dritten Welt nur durch eine substantielle Steigerung ihrer Eigenerzeugung erreicht werden kann. Viele Länder haben ihr Produktionspotential noch längst nicht voll genutzt.
Nach einer bis zum Jahr 2000 reichenden Perspektivstudie der FAO wäre bis zur Jahrhundertwende eine durchschnittliche Produktionssteigerung von 3, 7% gegen 2, 8% in den siebziger Jahren erforderlich, um die Zahl der „ernstlich Unterernährten" in den Entwicklungsländern auf 260 Millionen zu drücken
Nur 33 Entwicklungsländer erreichten bereits im Zeitraum 1963— 1979 Steigerungsraten von mehr als 3% jährlich.
Für Afrika ist nach der FAO-Studie die stärkste prozentuale Steigerung unerläßlich, und zwar von derzeit 1, 8 auf 4, 2%. Wörtlich: „Die Region besitzt die Ressourcen zur Erreichung dieses Ziels"; nur eine solche „dramatische Steigerung" kann „Ernährungskrisen massiven Ausmaßes“ in Afrika vermeiden.
Zu der Produktionssteigerung könnte die Ausdehnung der Ackerfläche etwa ein Viertel beitragen, während die wesentlichsten Steigerungen von einer Erhöhung der Erträge je bereits kultivierter Fläche zu erwarten sind.
Die Ausweitung der Nutzflächen Von der festen Landoberfläche der Erde werden heute nur rund zehn Prozent als Acker-land genutzt. Die Industrieländer (weniger als 30 Prozent der Weltbevölkerung) verfügen über rund 47 Prozent des genutzten Ackerlandes. Zu der entscheidenden Frage, welche zusätzlichen Flächen möglicherweise noch als Akkerland gewonnen werden könnten, gibt es viele spekulative, ja utopische Konzepte, zumal es an einem ausreichend klar umrissenen Begriff des „potentiellen Ackerlandes“ fehlt Die größten ungenutzten Reserven an potentiell nutzbarem Ackerland der Entwicklungsländer liegen in Südamerika und Afrika, während das Erweiterungspotential in Asien relativ gering ist. Die in Lateinamerika und Afrika reichlich vorhandenen Landkapazitaten würden allerdings den Millionenmassen in Asien nur zugute kommen, wenn man an Wanderungsbewegungen gewaltigen Ausmaßes zwischen den Kontinenten denken könnte. Die über die Kostenfrage vorgenommenen Schätzungen liegen bei Größenordnungen von Hunderten von Milliarden Dollar Die ökologischen Auswirkungen der für erforderlich gehaltenen Umwandlungen von Landflächen in Ackerland auf die Umwelt sind nur völlig unzulänglich erforscht. Beispielsweise birgt die in großem Maßstab vorgenommene Abholzung von Tropenwäldern zur Gewinnung von Ackerland nach dem heutigen Stand der Kenntnis die Gefahr in sich, daß der gerodete Boden schon in kurzer Zeit unter der Sonneneinstrahlung durch chemische Veränderungen zu Wüste wird. Die Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzfläche trug in den beiden letzten Jahrzehnten mit weniger als einem Fünftel zum Wachstum der Agrarproduktion in den Entwicklungsländern bei
Erhöhung der Erträge je kultivierter Einheit Alle Sachverständigen sind sich darin einig, daß die Hauptanstrengungen der Entwicklungsländer der Intensivierung der Erzeugung auf den bereits kultivierten Flächen gelten müssen. In vielen Entwicklungsländern wird Landwirtschaft zum Teil noch wie vor Jahrhunderten betrieben. Daher erreichen die Erträge je Flächeneinheit z. B. für Getreide im Durchschnitt der Entwicklungsländer nicht mehr als etwa ein Viertel der Erzeugung in den leistungsfähigsten Industrieländern. Um höhere Erträge zu erzielen, bedarf es zahlreicher Maßnahmen wie z. B.der folgenden: bessere Bodenvorbereitung, Bewässerung, verbesserte Düngung, Verwendung von Hochleistungssaatgut, Pflanzenschutz, Verminderung von Verlusten nach der Ernte.
Auch die Mechanisierung ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Sie darf aber nicht schematisch durch Übernahme der Systeme hochentwickelter Länder erfolgen, sondern muß der Lage in jedem einzelnen Land, insbesondere dem Überangebot von Arbeitskräften, angepaßt werden. Mit der bloßen Bereitstellung von Maschinen und Geräten ist es freilich nicht getan, wenn diese — wie z. B. Traktoren — nicht schließlich aus Mangel an Service-Fazilitäten verrostend im freien Feld enden sollen.
Der Agrarforschung auf nationaler und internationaler Ebene kommt für die Produktionssteigerung in allen ihren Aspekten eine wichtige Rolle zu.
III. Grüne Revolution
Die Erwähnung von Hochleistungssaatgut löst das Stichwort „Grüne Revolution" aus. Die dahinterstehende Technik beruht auf einer Kombination der Verwendung von Hochleistungssaatgut, verstärkten Gaben richtig ausgewählten Düngers und ausreichender Bewässerung. Das Saatgut ist das Ergebnis langjähriger züchterischer Bemühungen, die Pflanze durch Kreuzung verschiedener Sorten so „umzubauen", daß sie bei ausreichenden Wassermengen mehr Stickstoff aufnimmt und die Sonneneinstrahlung besser nutzt. Die neue Technik ermöglicht Ernteerträge, welche beim Mehrfachen des Gewohnten liegen. Einer spektakulären Welle des Optimismus über die Auswirkungen der „Grünen Revolution" folgte eine Periode des Pessimismus. Neben sozialen und wirtschaftlichen Problemen (z. B. Benachteiligung der armen Bauern) ergaben sich neue technische Fragen (z. B. zusätz-liehe Risiken der Verbreitung von Pflanzen-krankheiten und -Schädlingen). Bald setzte sich die Erkenntnis durch, daß man erst am Anfang der „Revolution“ stehe und daß es zur vollen Ausnutzung des Potentials der neuen Sorten noch umfassender Forschungsarbeiten bedarf. Die Anbautechnik, die Düngung und Bewässerung müssen den örtlichen Gegebenheiten angepaßt werden. Aber trotz aller Rückschläge und noch zu lösender Probleme stellt die neue Technik unter allen Einzel-maßnahmen die wichtigste Hoffnung für eine Steigerung der Hektar-Erträge in vielen Entwicklungsländern dar. Allerdings kommen wegen des Bewässerungsproblems in absehbarer Zeit kaum mehr als etwa 30 Prozent des Ackerlandes für die Verwendung der Hochleistungssorten in Betracht.
Das Potential von Bodenreformen über das Potential von Bodenreformen im Zusammenhang mit dem Problem der Steigerung der Nahrungsproduktion ist sich die Forschung nicht völlig einig. In der FAO-Per7 spektiv-Studie wird festgestellt, daß die Umverteilung von Land meist die schwierigste aller Sozialreformen darstellt. Erfolgreiche Bodenreformen wurden in Japan, Korea, China und Ungarn durchgeführt.
Die Tatsache, daß in einigen Fällen radikale Landreformen einen anfänglichen Produktionsrückgang zur Folge hatten, ist nach der FAO-Studie kein durchschlagendes Gegenargument: „Nach einigen Jahren sollte eine gleichmäßigere Verteilung der Bodenressourcen und der Produktionsmittel eher fördernd als hindernd im Sinne einer Produktionssteigerung wirken." Allerdings kann die Umverteilung des Bodens nicht als Allheilmittel angesehen werden. So würde z. B. in Bangladesh eine Boden-und Wasserreform wegen Boden-knappheit und Überbevölkerung nur eine beschränkte Wirkung haben, während eine solche Reform in Indien eine fundamentale Maßnahme wäre. Die Studie wörtlich: „Die Umverteilung von nur 5 % des Ackerlandes in Indien, verbunden mit verbessertem Zugang zu Wasser, könnte die ländliche Armut um 30 % vermindern."
Schlüsselrolle ausreichender Produzenten-preise
Entscheidende Bedeutung hat das Problem der Produzentenpreise. Solange Regierungen diese niedrig halten, um die städtischen Verbraucher zu begünstigen, entfällt für die Produzenten der Anreiz zur Produktion über den Eigenbedarf hinaus.
Das sich in vielen Ländern stellende Dilemma der billigen Versorgung der städtischen Massen einerseits und der Steigerung der Nahrungsproduktion andererseits kann nicht durch Festhalten der Preise unter einem kostendeckenden Niveau gelöst werden. Das „disincentive" niedriger Erzeugerpreise hat die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten stimuliert.
Während der Generaldirektor der FAO, Edouard Saouma, das — im FAO-Sekretariat längst erkannte — Problem in offiziellen Reden jahrelang ignorierte, plädierte er im Herbst 1982 vor der FAO-Regionalkonferenz für Afrika in Algier mit ungewohnter Klarheit für eine rationelle Preispolitik In krassem Widerspruch dazu heißt es dann aber in der am Welternährungstag (16. Oktober 1982) ver-kündeten — von der FAO inspirierten — „Rom-Deklaration über den Hunger“ daß internationale Finanzierungsinstitutionen bei ihrer Hilfe für die Landwirtschaft davon abse-hen sollen, Bedingungen bezüglich der Preisgestaltung, der Steuer-und Subventionspolitik zu stellen, da diese die Armut und den Hunger verstärken und zu politischer Instabilität führen könnten. Angesichts der Bedeutung der Preispolitik ist es unerfindlich, warum gerade internationale Institutionen bei der Hilfegewährung von einschlägigen Auflagen absehen sollen
Es ist bezeichnend, daß insbesondere Dutzende von marxistisch bzw. sozialistisch regierten Ländern sich gegen preispolitische Maßnahmen sträuben und sich lieber auf Hilfe von außen (vor allem auch in Form von Nahrungsmittelhilfe) zu verlassen pflegen.
Das Verteilungsproblem Eine einseitig auf Produktionssteigerung (sei es durch Erweiterung der Anbauflächen, sei es durch Erhöhung der Erträge je bereits kultivierter Flächeneinheit) ausgerichtete Strategie kann nur Teilaspekte des Gesamtproblems lösen. Eine erhöhte (nationale oder internationale) Verfügbarkeit an Nahrung ist noch nicht von unmittelbarem Nutzen für die armen Bevölkerungsschichten, d. h. für die Masse der Unterernährten. Die diesbezüglichen sozio-ökonomischen Aspekte sind eher noch komplexer als die technischen.
Die Illusion ist verflogen, daß man für die Durchbrechung des Teufelskreises der Armut auf den „Durchsicker-Effekt" eines allgemeinen Wirtschaftswachstums warten könne. In den letzten Jahrzehnten war ein solcher Effekt der Entwicklungshilfe nur in wenigen Entwicklungsländern zu verzeichnen. Wenn auch einige Wohlstandsinseln entstanden sind, so wuchs doch im allgemeinen das Elend in den ländlichen Gebieten, aber auch in den Slums der Großstädte weiter. Der Zufluß äußerer Ressourcen kam in der Mehrzahl der Länder vorwiegend den privilegierten Gruppen zugute.
Die vielfältigen sozio-ökonomischen Aspekte des Problems Armut und Hunger müssen viel direkter ins Visier genommen werden Die Bewältigung dieser Dimension wirft heikle innenpolitische Probleme auf, zu deren Lösung von außen allenfalls marginal beigetragen werden kann. Hierher gehören insbesondere die Fragen der Boden-und Agrarreform und der Schaffung von Millionen neuer Arbeitsplätze. Zugunsten der Kleinbauern und der landlosen Arbeiter fehlt es heute zwar nicht mehr an Lippenbekenntnissen zu hehren Zielen, dafür aber an umfassenden und konkreten Maßnahmen.
Solange die äußere Hilfe auf diese tatsächliche Lage in den meisten Entwicklungsländern keinen Einfluß nehmen kann oder will, dient sie im wesentlichen der Zementierung des Status quo. Das gilt insbesondere für den Agrarsektor und die gesamte ländliche Entwicklung. Es stellt sich damit die keinesfalls neue, politisch brisante Kernfrage, ob bilaterale oder multilaterale Geber die Erreichung spezifischer sozio-ökonomischer Ziele ernsthaft, d. h. nicht nur auf dem Papier, zur Bedingung für die zu gewährende Hilfe machen dürfen.
Die meisten Entwicklungsländer — oder treffender gesagt, die sie repräsentierenden Machteliten — pflegen Auflagen sozialpolitischer oder ähnlicher Art unter Berufung auf ihre Souveränität als „Einmischung in die inneren Verhältnisse" abzulehnen; als ob nicht die gesamte Entwicklungshilfe bereits eine solche Einmischung darstellen würde Offensichtlich spielt bei dieser Argumentation die Befürchtung eine wesentliche Rolle, die etablierten Interessengruppen könnten durch eine sozial ausgerichtete Armutsstrategie benachteiligt werden. Der Bericht der Nord-Süd-Kommission hat dieses fundamentale Problem — wenn auch mit vagen Formulierungen — erkannt, aber keine praktikable Lösungsmöglichkeit aufgezeigt: „Der Annahme unserer Vorschläge stehen politische Zwänge entgegen, die aus etablierten Interessen und aus dem Ausmaß der Armut selbst entstehen." Die tiefe Problematik, welche insbesondere für die ländliche Entwicklung gilt, kann kaum drastischer formuliert werden.
Den Lippenbekenntnissen prominenter Entwicklungspolitiker, wonach der Schwerpunkt der Entwicklungshilfe in der Armutsbekämpfung und der Förderung sozialer Reformen liegen müsse, sind bisher nur wenige Taten gefolgt. Die Verantwortung dafür tragen alle. Wenn auch die Geberländer einem souveränen Land keine bestimmte Strategie aufzwingen können, so stehen sie doch nicht unter Zwang, gegen bessere Einsicht Entwicklungshilfe leisten zu müssen, wenn diese nicht entwicklungskonform ist. Sollte es in dem zu jeder echten Entwicklungszusammenarbeit gehörenden Dialog über die Verwendung der Hilfe nicht zu einer Klärung kommen, wäre Ablehnung die gebotene Antwort. Aufgeklärtes Selbstinteresse der etablierten Eliten könnte vielleicht manche Regierung zur Einsicht bringen, daß äußere Hilfe einen wesentlichen Beitrag für eine reformorientierte Strategie leisten und dazu dienen könnte, innere Spannungen abzubauen.
Sondermaßnahmen für die Nahrungsversorgung der Ärmsten Selbst eine erfolgreiche Produktionssteigerung allein würde die Nahrungsversorgung der Ärmsten nicht schnell genug mildern, da ihnen die Kaufkraft fehlt. Eine etwaige (zur Produktionssteigerung in vielen Ländern unerläßliche) Anhebung der Erzeugerpreise würde die Lage der Ärmsten noch verschlechtern. Aus solchen Erwägungen setzt sich der UNO-Welternährungsrat (World Food Council) für sofort wirkende direkte Sondermaßnahmen zur Hungerbekämpfung ein. Da mangelnde Kaufkraft (Armut) die Hauptursache für die Unterernährung ist, sollen die Ärmsten Vergünstigungen für den Kauf von Grundnahrungsmitteln erhalten. Man sieht darin „einen gangbaren Weg, um zusätzlichen Verbrauch der Bedürftigen mit einer Steigerung der lokalen Produktion zu kombinieren"
Generelle Subventionen der Einzelhandels-preise für Grundnahrungsmittel werden aufgrund der Erfahrungen in verschiedenen Län-dem (z. B. Ägypten, wo über zwanzig Prozent der Staatsausgaben auf diese Subventionen entfallen) als bedenklich angesehen, weil sie nicht nur zu Mißbrauch führen (z. B. Verfütterung teurer Getreidesorten), sondern weil sie auch nachteilig auf die heimische Produktion wirken.
Der Tatsache, daß Subventionierungs-Systeme neben der Frage der Finanzierung schwierige Probleme insbesondere politischer, technischer und verwaltungsmäßiger Art aufwerfen, ist man sich im Welternährungsrat voll bewußt Man glaubt aber, diesen Schwierigkeiten mit „innovativen“ Methoden begegnen zu können, wobei auch die in Ländern wie z. B. Kolumbien, Sri Lanka und Bangladesh gemachten Erfahrungen berücksichtigt werden sollen
Der Executive Director des Welternährungsrats setzt bezüglich der Finanzierung der Verbrauchersubventionen neuerdings verstärkten Akzent auf „erhöhte und umgelenkte“ Nahrungsmittelhilfe
IV. Die Rolle der Nahrungsmittelhilfe
An das Potential, welches die Nahrungsmittelhilfe zur Lösung des Welternährungsproblems zu bieten scheint, knüpfen sich manche Hoffnungen. Bei oberflächlicher Betrachtung liegt es nahe, die in einer Anzahl von OECD-Ländern (vor allem in Nordamerika) vorhandenen Agrarüberschüsse dort einzusetzen, wo es an Nahrung fehlt. Die Agrarlobby ist bemüht, das Vorhandensein von Agrarüberschüssen einen als Segen hinzustellen und eine Agrarpolitik zu damit problematische rechtfertigen. Diese Argumentation ist mit Vorsicht aufzunehmen.
Nahrungsmittelhilfe von außen kann keine echte Lösung darstellen Langfristig sind auch die Produktionskapazitäten der entwikkelten Länder nicht zumal ja unerschöpflich, über die Jahrhundertwende hinaus gedacht Es aber werden muß. stellt sich schon mittelfristig auch die Finanzierungsfrage für ein ständig wachsendes Volumen von Nahrungsmittelhilfe. Die FAO-Perspektiv-Studie schätzt den „Bedarf" für 1990 auf 26 Mio. Tonnen gegenüber einem derzeitigen Volumen von rd. 9 Mio. Tonnen jährlich. Der FAO-Generaldirektor hat öffentlichen Erklärun-gen wiederholt von einem „Bedarf" von sogar jährlich rd. 40 Mio. Tonnen für die Jahrhundertwende gesprochen. Er hat sich damit Sympathien bei der Farm-Lobby in den Hauptproduktionsländern, aber auch in den Entwicklungsländern erworben.
Die Vorausschätzungen des Volumens der Nahrungsmittelhilfe antizipieren den Fehlschlag aller Bemühungen zur Nutzung des vorhandenen beträchtlichen Produktionspotentials in den Entwicklungsländern selbst sich Sie haben damit eine auf Jahrzehnte erstreckende verheerende Wirkung vor allem auf die Nahrungsdefizitländer. Besonders bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang einige Thesen des kanadischen Landwirtschaftsministers, Eugene Whelan. Obwohl Kanada zu den bedeutendsten Gebern von Nahrungsmittelhilfe gehört, hat sich Whelan nicht gescheut, sie als „einen Indikator für Mißerfolge" zu bezeichnen, und von den Zielen für das Volumen der Nahrungsmittelhilfe als „Zielen für Mißerfolge" zu sprechen Der gleiche Minister erklärte ungeschminkt, daß das von verschiedener Seite (Farm-Lobby und Entwicklungsländer) erwogene künftige Ausmaß der Nahrungsmittel-hilfe nicht ohne Wirkungen auf die Planung und Prioritätensetzung vieler Entwicklungsländer bleiben könne. Ohne die humanitäre Bedeutung der Nahrungsmittelhilfe in Frage zu stellen, wies er darauf hin, daß die Ankündigung immerwährender und expandierender Nahrungsmittelhilfe lähmend auf die Eigen-initiativen der Empfängerregierungen wirken müsse. Bereits heute sind ernste Negativeffekte der seit den fünfziger Jahren gewährten Nahrungsmittelhilfe zu verzeichnen:
— Marktverdrängung für die Bauern in den Empfängerländern, die sich hüten werden, über den Eigenbedarf hinaus für einen infolge der massiven Injektion von Nahrungsmittel-hilfe unberechenbaren Markt zu produzieren. — Beeinflussung der Regierungen der Empfängerländer. Sie werden überfällige, aber unpopuläre oder gar unruhestiftende Maßnahmen für Jahre und Jahrzehnte weiter hinausschieben, da sie sich auf die Kontinuität der Nahrungsmittelhilfe einrichten können.
— Gefahr der Änderung der Eßgewohnheiten. Der letzterwähnte Punkt ist kein Bagatellproblem. Nahrungsmittelhilfe hat — insbesondere in Form von Weizenlieferungen — in einer Anzahl von Entwicklungsländern (vor allem in Afrika) zu einer bedenklichen Veränderung der Eßgewohnheiten beigetragen. In einem vertraulichen Papier der FAO heißt es, daß Nahrungsmittelhilfe dadurch Probleme schaffen könne, daß sie „ein unhaltbares Verbrauchsmuster zur Folge hat" -Lieferungen von Weizen — kommerziell oder als Hilfe — haben vielfach heimische Produkte verdrängt. Wörtlich heißt es in dem FAO-Bericht: „Viele der traditionellen Grundnahrungsmittel, welche auf heimischer Produktion wie Sorghum und Hirse basieren, mußten das Feld den . westlichen Nahrungsmitteln räumen, weil die Zubereitung der heimischen Produkte zu kompliziert oder ihre Lagerfähigkeit und Qualität geringer sind als die der importierten Nahrungsmittel."
Ganz generell ist festzustellen, daß die potentiell bedenklichste Form der Nahrungsmittel-hilfe der sogenannte „bulk supply“ darstellt, d. h. die Abwicklung der Hilfe in Form von Massenlieferungen, die eine Budgethilfe für das Empfängerland bedeutet. Der „bulk supply" wird bestimmt auch in Zukunft überwiegen. Projekthilfe ist ihrerseits nicht problemlos, und sie stellt daher nur in begrenztem Rahmen eine Alternative zum „bulk supply" dar
Es wäre schon viel, wenn 15 bis 20 Prozent des Gesamtvolumens der Nahrungsmittel-hilfe sich für realistisch geplante „Food-for-
Work" -Projekte und für Sonderspeisungsprogramme relativ entwicklungswirksam verwenden ließen. Projekthilfe stößt u. a. auf Grenzen praktisch-organisatorischer Art. Im Empfängerland müssen nicht nur gewisse technisch-administrative Infrastrukturen vorhanden sein, sondern auch ein Minimum an komplementären Ressourcen.
So setzen z. B. Speisungsprojekte nicht nur wenigstens primitive Voraussetzungen für Transport, Lagerung und Verteilung voraus, sondern auch elementare hygienische Verhältnisse wie reines Trinkwasser und Vorkehrungen gegen Parasitenbefall. „Food-for-Work" -Projekte verlangen sodann einfache Geräte, Werkzeuge und sonstige Materialien, technisches Know-how und Verwaltungseinrichtungen. Hunderte von praktischen Beispielen der beiden letzten Jahrzehnte zeigen, daß ohne solche Mindestvoraussetzungen die Projekte zum Scheitern verurteilt sind Bis heute sind weder die bilateralen noch die multilateralen Geber für eine in der Praxis wirksame Kombination von Nahrungsmittelhilfe mit anderen Ressourcen voll gerüstet.
Die Antwort auf die von Whelan und anderen aufgeworfene Grundfrage nach den Gefahren der Nahrungsmittelhilfe für die Agrarstrategie vieler Entwicklungsländer kann nur heißen: Die Nahrungsmittelhilfe muß viel stärker als bisher in die nationalen Entwicklungsstrategien integriert werden. Von Notstands-fällen abgesehen, dürfte Nahrungsmittelhilfe nur noch dann gewährt werden, wenn sich das Empfängerland konkret zur Durchführung einer Landwirtschaftsentwicklung mit dem Akzent auf der Förderung der Eigenproduktion entschlossen hat. In diesem Zusammenhang könnte das Konzept des UNO-Welternährungsrates für die Durchführung von nationalen Agrarstrategien relevant sein. Werden diese Zusammenhänge weiterhin ignoriert, so beinhaltet die kontinuierliche Erhöhung der Nahrungsmittelhilfe die Gefahr, wesentlich zur Verschärfung der weltweiten Versorgungskrise beizutragen. Die großzügige Gewährung von Nahrungsmittelhilfe würde wesentlich mitursächlich dafür sein, daß überfällige Eigenanstrengungen unterlassen werden. Auch die in Katastrophenfällen gewährte Nahrungsmittelhilfe kann von der Kritik nicht völlig ausgenommen werden. Es mehren sich in den letzten Jahren die Beispiele für eine Aufweichung des Katastrophenbegriffs. So geht z. B. FAO-Generaldirektor Saouma mit seinen Vollmachten, soweit sie die Verfügung über die einschlägigen Ressourcen des Welternährungsprogramms betreffen, immer großzügiger um Bei der jetzigen Praxis kann sogar „Katastrophen" -Hilfe konkrete Marktverdrängungsgefahren hervorrufen, wenn kleine Versorgungsschwierigkeiten zum Notstandsfall aufgebläht werden. Man weiß heute, daß z. B. die Sahel-Länder längst überfällige, aber unbequeme oder unpopuläre Struktur-und andere Maßnahmen immer wieder hinausgeschoben und damit die Notstandsfälle teilweise selbst verursacht haben, weil sie fortlaufend weitere Nahrungsmittel-hilfe erhalten haben.
Die Abhängigkeit von Nahrungsmittelhilfe ist gleichbedeutend mit politischer Abhängigkeit vom Lieferanten. Bei einer echten Mangellage könnte Nahrung wirklich zur „Waffe“ werden
Exportkulturen („cash crops“)
In zahllosen Diskussionen über das Problem der Nahrungsversorgung der Entwicklungsländer pflegt die Frage der Exportkulturen aufgeworfen zu werden. Viele Kritiker machen die Exportkulturen in grob vereinfachender Weise für die bestehende Unterernährung verantwortlich. Konkret geht es darum, ob es opportun ist, Ackerland — statt für die Erzeugung von Nahrung — für die Produktion von Kaffee, Tee, Kakao, Baumwolle, Blumen, Fasern usw. zu nutzen. Darauf gibt es keine generelle Antwort. Die Frage muß Land für Land und Produkt für Produkt geprüft werden.
Ganz allgemein ist zu bemerken, daß die meisten Exportkulturen einen höheren Beschäftigungs-und Einkommenseffekt als Nahrungskulturen haben. Ohne sie wären Armut und Mangelernährung noch weiter verbreitet
Hinzukommt, daß viele arme Länder auf den Export von Agrargütern angewiesen sind, um die Devisen zu verdienen, welche für die Ein-fuhr lebenswichtiger Investitions-und Konsumgüter benötigt werden. Diese Zusammenhänge dürfen gerade dann nicht verkannt werden, wenn man eine Strategie gegen den Hunger als Teil einer Strategie gegen die Unterentwicklung ansieht Die mit dem Export von cash crops (das sind Agrarprodukte, die vorwiegend für den Export produziert werden) erzielten Deviseneinnahmen bieten die Möglichkeit, sich auf den Weltmärkten mehr Grundnahrungsmittel zu verschaffen, als es durch Eigenproduktion möglich wäre. Daß die Exporterlöse mißbräuchlich verwendet werden können (z. B. für die Einfuhr von Waffen und Luxusgütern) oder vor allem den privilegierten Klassen Gewinn (oder die Möglichkeit zur Kapitalflucht) bringen, ist ein Problem der inneren Ordnung des einzelnen Exportlandes, d. h. vor allem der ungerechten Besitz-und Einkommensstrukturen in vielen Entwicklungsländern. Solange solche Strukturen hingenommen werden müssen, würde sich auch im Falle einer völligen Einstellung der Produktion und des Exports von cash mit crops die Versorgung der Ärmsten Nahrung nicht automatisch bessern. Übrigens zweigen gerade auch totalitäre Regime mit mehr oder minder kollektivisierter Landwirtschaft Agrarprodukte (einschließlich der im Land dringend benötigten Grundnahrungsmitteil) für den Export ab, weil sie für die Einfuhr anderer Güter Devisen brauchen.
Nahrungsmittel als Viehfutter Gegenwärtig werden etwa 600 Millionen Tonnen Getreide jährlich für die Tierfütterung verwendet, d. h. eine Menge, mit welcher etwa 2, 5 Milliarden Menschen ernährt werden können Bei der Umwandlung von Getreide in Fleisch durch den Tiermagen gehen 75 bis 90 Prozent der Kalorien verloren. Die damit aufgeworfene Frage, wie die Nutzung des knappen Landes zwischen dem Bedarf für die direkte menschliche Ernährung und für Viehfutter am zweckmäßigsten aufgeteilt werden soll, ist kontrovers. Der Holländer Sicco Mansholt — früherer Präsident der Europäischen Gemeinschaft — hat dieses Di-lemma durch die Formel „Mensch oder Schwein" besonders drastisch herausgestellt; und der Franzose Ren Dumont charakterisiert die Fleischesser sogar als „Kannibalen".
Verstärkte Viehzucht hat in den USA und in der Sowjetunion in den letzten zehn Jahren zu einer starken Erhöhung des Getreideverbrauchs geführt. Die These, wonach den Armen das Brot vorenthalten wird, damit die Rinder der Reichen Fleisch ansetzen, würde an Durchschlagskraft gewinnen, wenn man aufzeigen könnte, wie eine Senkung des Fleischverbrauchs bei den Reichen den Hungrigen zugute kommen würde. Ein massiver Transfer von Kaufkraft von den Reichen an die Armen wäre erforderlich, um diese in die Lage zu versetzen, das durch Konsum-beschränkung „freigewordene" Getreide zu erwerben. Auch Nahrungsmittelhilfe könnte als Transferinstrument in Betracht gezogen werden. Das durchschlagendste Bedenken gegen solche Konzepte besteht darin, daß diese Transfers in cash oder in natura ebenfalls eine beträchtliche Disincentive-Wirkung auf die Eigenanstrengungen der Empfängerländer bezüglich ihrer Eigenversorgung haben würden.
Der Investitionsbedarf der Landwirtschaft Über die Höhe des Investitionsbedarfs der Landwirtschaft der Dritten Welt gibt es zahlreiche mehr oder minder spekulative Schätzungen. Die Perspektiv-Studie der FAO hält eine Verdoppelung des Investitionsvolumens und eine Verdreifachung des Einsatzes von Produktionsmitteln für erforderlich. Das notwendige Investitionsvolumen für 1990 bzw. 2000 wird auf jährlich 84 bzw. 132 Mrd. Dollar (Kaufkraft von 1975) geschätzt. Davon sollen durch äußere Hilfe jährlich 12, 5 bzw. 18 Mrd. aufgebracht werden.
Der Hauptanteil der Investitionsmittel müßte also von den Entwicklungsländern selbst aufgebracht werden. Nach einer Schätzung der Weltbank entfallen derzeit nur fünf bis zehn Prozent der Ausgaben aus den Haushalten der Zentralregierungen der Entwicklungsländer auf die Landwirtschaft -Die gesamte äußere öffentliche Hilfe für die Landwirtschaft (Zusagen) betrug 1980 etwa 9, 8 Milliarden Dollar).
Die Notwendigkeit nationaler Ernährungsstrategien Seit 1978 plädiert der UNO-Welternährungsrat für die Erarbeitung nationaler Ernährungsstrategien in der Dritten Welt. Der Grundgedanke gilt der Koordination der Eigenbemühungen jedes einzelnen Entwicklungslandes zur Steigerung seiner Selbstversorgung mit bilateraler und multilateraler Hilfe. Die Strategien sollen im Rahmen einer umfassenden nationalen Planung sowohl die Produktions-als auch die Verteilungsseite einbeziehen.
Der Executive Director des Welternährungsrats umriß das Konzept kürzlich wie folgt: „Eine Ernährungsstrategie beinhaltet, daß Entscheidungen auf höchster Ebene über folgende Fragen getroffen werden: Zuteilung von Ressourcen an den Ernährungssektor, Schaffung der erforderlichen Infrastrukturen, Ausbildung, preispolitische und andere Maßnahmen, um den Bauern Anreize zur Steigerung der Produktion von Grundnahrungsmitteln zu geben."
Gegenwärtig befassen sich etwa 50 Entwicklungsländer mit der Ausarbeitung von Ernährungsstrategien; 30 von ihnen bedienen sich dabei der guten Dienste des Welternährungsrates für die Mobilisierung der erforderlichen technischen Hilfe.
Es ist kennzeichnend für die Lage in manchen Entwicklungsländern, daß der Welternährungsrat immer wieder betonen muß, die Ernährungsstrategien müßten jeweils „durch die Regierung in ihrer Gesamtheit" unterstützt werden. Alle beteiligten Fachressorts hätten unter der „kontinuierlichen und verpflichtenden Führung des Staatschefs" ihre divergierenden Interessen untereinander abzustimmen, um ein koordiniertes und wirksames Vorgehen zu ermöglichen. In mehreren Ländern haben offenbar erst die Bemühungen um die Ausarbeitung von Strategieplänen „eine wirksame Zusammenarbeit zwischen wichtigen Ämtern nationaler Regierungen herbeigeführt, denen bis dahin das Ernährungsproblem kaum als gemeinsam zu behandelnde zentrale Aufgabe bewußt war“. Der Welternährungsrat unterstreicht auch immer wieder die Wichtigkeit der Einsetzung politisch hochrangiger Ausschüsse oder anderer Gremien.
V. Schlußthesen
Abschließend ist festzustellen, daß das soge-nannte Welternährungsproblem, welches durch den anhaltenden Bevölkerungszuwachs in vielen Ländern der Dritten Welt verschärft — wenn nicht mitverursacht — wird, keinesfalls eine bloße Frage der Steigerung der Nahrungsproduktion darstellt. Unter-und Mangelernährung sind einer von mehreren Aspekten der Armut und daher der soge-nannten Unterentwicklung.
Zu den schwierigen technischen und ökologischen Fragen der Produktionssteigerung kommen daher komplexe Probleme politischer, sozio-ökonomischer und kultureller Art. Alle diese Fragen sind „an sich" nicht unlösbar. Aber ihr Anpacken erfordert ungeheure Anstrengungen der Entwicklungsländer selbst.
Ihre Regierungen müssen nicht nur den in vielen Lippenbekenntnissen beschworenen politischen Willen zur Aktion aufbringen, sondern auch die Macht zum Handeln haben. Angesichts der inneren Strukturen in den meisten Entwicklungsländern und im Hinblick auf den Einfluß der vom Status quo profitierenden etablierten Eliten besteht diese Voraussetzung vielfach nicht — es sei denn, daß aufgeklärtes Selbstinteresse die Machthaber zu neuen Einsichten bringt.
Äußere Hilfe ist wichtig, aber sie kann im Hinblick auf die Lage in vielen Entwicklungsländern kaum mehr als akzessorische und katalytische Bedeutung haben, zumal sie auf die inneren politischen Verhältnisse und die gegebenen Machtstrukturen allenfalls begrenzten Einfluß zu haben pflegt. Das gilt vor allem, wenn die äußere Hilfe den Ärmsten zugute kommen soll. Mit anderen Worten: Von außen kann nachhaltig nur den Entwicklungsländern geholfen werden, die sich tatsächlich selbst helfen wollen. Wer — wie es insbesondere viele internationale Institutionen tun — die Vorstellung erweckt, daß äußerer Hilfe mehr als die skizzierte Bedeutung zukommt führt die Entwicklungsländer irre und trägt zur Verschwendung von Ressourcen bei. Äußere Hilfe müßte in geeigneten Fällen erhöht werden, wenn sichergestellt ist, daß sie nicht zur Verschleppung überfälliger Eigenmaßnahmen politischer und struktureller Art führt.
Angesichts der Herkunft und Position des Sprechers erscheint es besonders bemerkenswert, wenn der Landwirtschaftsminister von Tansania, John Malecela, 1978 auf der FAO-Regional-Konferenz in Arusha folgendes erklärte: „Was die Zukunft bringt, wird zuallererst von uns selbst abhängen. Außer wenn wir das Nahrungsproblem in unseren eigenen Ländern wirklich lösen wollen, werden wir ewig Bettler bleiben. Wie groß und sinnvoll äußere Hilfe auch immer sein mag, sie kann niemals die inneren Anstrengungen der Völker selbst ersetzen.“
Otto Matzke, Dr. jur., Dipl. -Volkswirt; von 1962 bis Anfang 1974 Stellvertretender Direktor bzw. Direktor der Project Management Division im UN/FAO World Food Programme, Rom; vorher im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland; gegenwärtig ständiger Mitarbeiter der Neuen Zürcher Zeitung, insbesondere für Probleme der Welternährung und -landwirtschaft sowie für die damit verbundenen entwicklungspolitischen und institutioneilen Fragen. Veröffentlichungen u. a.: Agrarstrategien für die Dritte Welt. Prioritäten, Probleme, Chancen, in; Beiträge zur Konfliktforschung, (1980) 3; Hunger in Afrika (DAS-Schriftenreihe Nr. 10), Bonn 1981; Tabuisierung der Grundprobleme — Was bedeutet der Brandt-Report?, in: Liberal, (1981) 7/8.
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