I. Einstieg: Mit C. F. v. Weizsäcker gegen die tradierte Rüstungspolitik
Was „Friedensbewegung“ genannt wird, ist höchst umstritten. Den einen geht sie zu weit, den anderen ist sie nicht umfassend und radikal genug. „Radikal“ aber in welchem Sinne? Wie läßt sich diese vor Jahren noch unvorhergesehene Lernbewegung verstehen? Was müßte sie erreichen?
Lassen wir den Nestor der bundesdeutschen Friedensforschung, den Physiker und Philosophen C. F. v. Weizsäcker, zu Wort kommen: „Meines Erachtens hat es niemals eine Chance gegeben, daß die atomare Abschrekkung das Friedensproblem für immer lösen würde; diese Hoffnung wirkte und wirkt auf mich als eine hirnverbrannte Verrücktheit."
„Die atomare Abschreckung konnte uns eine Atempause von einigen Jahrzehnten geben, um eine politische Lösung des Friedensproblems zu suchen. Die öffentliche Meinung der Welt hat die Atempause mit der Lösung verwechselt, und deshalb hat sie keinen Druck auf die Politik ausgeübt, die Lösung auch nur zu suchen. Heute wacht sie mit Entsetzen auf, und es ist spät geworden.“
„Die europäische Friedensbewegung ist nicht essentiell anti-amerikanisch, und sie ist überhaupt nicht pro-sowjetisch. Sie ist nicht einmal primär neutralistisch. Ihr Motiv ist viel einfacher. Es ist die Angst ums überleben, und ich sage: die begründete Angst.“
«Ich fordere die Friedensbewegung nicht auf, untätig zu werden. Sie ist ein unerläßliches Element der Bewußtseinserweckung im Volk und damit bei den vom Volk gewählten Politikern. Sie sollte umfassendere Alternativen finden als nur die Verhinderung einer Waffengattung." „Wer den Worten Christi in der Bergpredigt folgen will, muß bereit sein, den Verlust der politischen Freiheit in Kauf zu nehmen. Wären alle unsere Völker im Westen dazu bereit, wissend, was sie damit tun, so hätte ich für ihre langfristige Zukunft keine Sorge." 1)
Gerade für eine sich selbst recht verstehende Friedensbewegung kann es kaum eine bessere Grundlage geben, als sie in diesen Sätzen ausgesprochen ist. Im folgenden geht es nicht um eine soziologische oder politologische Bestandsanalyse der Friedensbewegung in der ganzen Breite ihrer nationalen und internationalen Erscheinungsformen
II. Überblick: Die Überwindung bloß tradierten Lernens durch den Club of Rome
„Wie viele Weltkriege braucht es, um neue zu vermeiden?", fragt der Club of Rome
Auf diese Herausforderung antwortet der „Lernbericht". Da seine Autoren und deren Mitarbeiter nicht nur aus den Ländern des Westens stammen, sondern auch aus östlichen Ländern und der Dritten Welt, können seine Ergebnisse als über ideologische Gräben hinweg konsensfähig gelten.
Weil die Industrieländer „unfähig waren zu lernen, wie man den Wissenserwerb und -gebrauch im eigenen und im Interesse der gesamten Menschheit meistert, entstehen viele globale Probleme, wie z. B. Vernichtungswaffen, entmenschlichte Technologien, Zerstörung des Lebensraumes, Ausbeutung der Rohstoffreserven und Hindernisse beim Aufbau einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung". Die Eigenart dieser Fehlentwicklungen wird deutlicher, wenn man beachtet, „daß wir uns genau an dem Zeitpunkt der Geschichte so vielen Problemen gegenübersehen, an dem die Menschheit einen Höhepunkt ihres Wissens und ihrer Macht erlangt hat. Einem intelligenten Lebewesen von einem anderen Stern müssen wir absurd erscheinen". In diesem „Mißverhältnis zwischen Macht und Weisheit" sieht der „Lernbericht" das entscheidende Grundproblem, das er als „menschliches Dilemma" (human gap) bezeichnet. Der Bericht geht von einem umfassenden Lernbegriff aus, der außer Wissenserwerb den Wandel von Einstellungen und Handlungsweisen einschließt und der sich nicht allein auf Individuen, sondern zugleich auch auf ganze Gesellschaften bezieht. Innerhalb des so verstandenen Lernbegriffs werden drei Ar-ten von Lernen unterschieden: das „tradierte Lernen", das „Lernen durch Schock" und das „innovative Lernen".
„Tradiertes Lernen“ hat seinen Ort vor allem in geschichtlich stabilen Perioden. Es wird definiert als „Erwerb festgelegter Auffassungen, Methoden und Regeln, um bekannte, sich wiederholende Situationen zu bewältigen". Es dient „ein existierendes oder dazu, System eine etablierte Lebensform zu erhalten". „Es ist in erster Linie ein analytisches, regelorientiertes Lernmuster." Als solches ist es „wichtig, aber unzureichend", denn es versagt in geschichtlichen Umbrüchen wie den heutigen. Kommt es in der Geschichte des einzelnen oder ganzer Gesellschaften zu Krisen, so ist der „traditionelle Auslöser" neuen Lernens der Schock. „Lernen durch Schock“ ist also die durch „plötzlich auftretenden Mangel, Notsituationen, Unglücksfälle und Katastrophen" erzwungene Art des Lernens. Aber auch diese Lernart wird den Weltproblemen nicht gerecht, denn deren Folgen können in vielerlei Hinsicht „fatal und unwiderruflich" sein.
Der Bericht weist hier energisch auf die „Trennlinie in der Geschichte des Lernens durch Schock" hin, die durch den Beginn des Atomzeitalters markiert ist. Weil der Schock nunmehr für die Menschheit als ganze tödliche Auswirkungen haben könnte, ist spätestens jetzt eine qualitativ neue, nämlich den Schockerfahrungen zuvorkommende Lernart notwendig, die . als „innovatives Lernen" bezeichnet wird. Dieses innovative Lernen orientiert sich an den beiden Endzielen „überleben der Menschheit" und „Würde des Menschen", auf deren Zusammengehörigkeit es gerade ankommt. Will man diese Endziele erreichen, bedarf es nach der Konzeption der Autoren des Club of Rome zweier Zwischenziele: Autonomie und Integration. , giutonomie" wird beschrieben als Fähigkeit, „selbständig und unabhängig zu sein" und „alternative Entscheidungsmöglichkeiten aufzubauen". „Integration" bedeutet, daß man „das Ganze, dessen Teil man ist, sieht" und im Handeln berücksichtigt; deshalb verlangt sie nicht weniger als „gegenseitige Achtung, Selbstbeschränkung, die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen und Verzicht auf -Egoismus". Wie dieser Ansatz konkretisiert wird im Blick auf „antizipatorische" und „partizipatorische Lernprozesse und die ihnen zuzuordnenden methodischen „Elemente", wie ferner auf die Lernsituationen sehr unterschiedlicher Länder Bezug genommen wird und die „Barrieren" diskutiert werden, die dem innovativen Lernen heute entgegenstehen, kann hier nicht im einzelnen gezeigt werden. Letztlich geht es um eine kopernikanische Wende unserer Einstellung zum Leben — zum eigenen Leben, zum Leben der anderen und zum Leben der Natur als ganzer, und zwar im Blick auf Gegenwart und Zukunft.
Im „tradierten Lernen" und „Lernen durch Schock" einerseits und im „innovativen Lernen" andererseits ringen heute zwei tief unterschiedliche Lösungsmodelle um Anerkennung. Aus der Sicht des „Lernberichtes" des Club of Rome sind die zentralen Konflikte der heutigen Gesellschaft Zusammenstöße, die es als Folgen unterschiedlichen Lernens zu begreifen gilt.
Wendet man diese Grundorientierung auf die Verteidigungspolitik an, so muß die ungebrochene Fortsetzung des Wettrüstens auch im atomaren Bereich als Resultat „tradierten Lernens" gelten. Selbst die „Schocks" der beiden bisherigen Weltkriege haben bei den beteiligten Generationen nur solches Lernen ausgelöst, „das neue Schocks unvermeidbar macht".
Der „Lernbericht" spricht in diesem Zusammenhang von einer „fundamentalen Fehl-orientierung von Wissenschaft und Technologie“ vor allem aufgrund ihrer „Militarisierung": „Wo die Wissenschaft am nötigsten gebraucht wird, ist sie am wenigsten verfügbar;
und am leichtesten verfügbar ist sie im Rüstungswettlauf." Es arbeiten „nahezu die Hälfte aller Wissenschaftler der Welt in der militärischen Forschung und Entwicklung”, was auch deshalb eine „Barriere für innovatives Lernen“ ist, weil dadurch „Mißtrauen, Unsicherheit, Angst und Vorurteil auf den internationalen Informations-und Erfahrungsaustausch" einwirken.
Innovative Lernprozesse führen dagegen von vornherein zu anderen Fragestellungen und damit erst recht zu anderen Ergebnissen. Statt sich an einem vermeintlichen Gleichgewicht militärischer Abschreckung zu orientieren, das es im Detail gar nicht geben kann und dessen Beschwörung immer wieder als ideologischer Vorwand weiterer Aufrüstung gedient hat, ist vielmehr zu fragen: Gibt es rein defensive Formen der Verteidigung, die den potentiellen Gegner nicht bedrohen und deshalb kaum noch Anreize zum Wettrüsten bieten? Gibt es vielleicht sogar nicht-militärische Formen der Sicherung, die maximal garantieren, daß in künftigen Konflikten die verfügbaren Atomwaffen nicht eingesetzt werden? In diesen Fragen geht es nicht um ausschließlich quantitative Probleme des Wettrüstens, sondern um die Qualität neuartiger Sicherungsformen und um deren Folgen für unsere Lebensgestaltung, also nicht mehr nur um großtechnische Mittel und ihre Erforschung und Planung durch Experten, sondern vor allem um humane Zielsetzungen und ihre öffentliche Diskussion.
Die Unterscheidung von tradiertem und innovativem Lernen enthebt uns freilich nicht der Aufgabe, die gegebene Situation inhaltlich unter der Fragestellung zu analysieren, ob und inwiefern die heute in vielen Ländern erstarkende Friedensbewegung wirklich notwendig ist.
III. Ausgangstage: Todbringender Rüstungswettlauf
Innovatives Lernen schließt die Beteiligung aller Betroffenen an der Gestaltung ihrer gemeinsamen Lebenswelt ein. Qualifizierte Beteiligung ist nur möglich, wenn die Lebens-weit verstanden wird; und von jedermann verstanden werden kann sie nur dann, wenn in Ergänzung zu den zahllosen und oft verwirrenden Detailinformationen ihre Grundstrukturen so einfach wie möglich durchschaubar gemacht werden.
Die bestehende Rüstungspolitik beruht in West und Ost auf dem Prinzip der atomaren
Abschreckung. Abschreckung aber wirkt immer aggressiv auf den möglichen Gegner, auch dann, wenn sie defensiv gemeint ist; sie treibt also zu ständigem Wettrüsten an. Ferner ist sie prinzipiell labil, also unsicher. Die Versicherung, die Atomwaffen würden nie eingesetzt, ist unglaubwürdig: Zwar erfüllt die Bombe ihre politische Aufgabe nicht, wenn sie fällt, jedoch auch nicht, wenn es unmöglich ist, daß sie fällt, denn dann ist die Drohung leer. Sie erfüllt ihre Aufgabe nur dann, wenn die Katastrophe stets möglich ist, aber nie wirklich wird. Das ist keine verläßliche Grundlage für eine künftige Menschheitsgeschichte. Innerhalb dieser prinzipiellen Labilität hat sich in den letzten Jahrzehnten eine relative Stabilisierung ergeben, und zwar vor allem durch die technische Ermöglichung von Zweitschlagskapazitäten (second strike capabilities): Beide Seiten konnten zwar das Land des Gegners zerstören, dabei jedoch nicht verhindern, daß dessen Vergeltungsraketen auch das eigene Land verwüsten würden. („Wer als erster schießt, stirbt als zweiter.")
Die vieldiskutierte Gefahr der kommenden Jahre ergibt sich nicht so sehr, wie manche meinen, aus einer bloßen Zunahme der Zahl der Vernichtungswaffen, sondern vor allem daraus, daß diese Zweitschlagskapazitäten immer mehr in Frage gestellt werden, und zwar durch ebenfalls technische Entwicklungen: Mehrfachsprengköpfe und wesentlich höhere Zielgenauigkeit der Waffen. Damit entsteht eine Tendenz von der „Countervalue" -Strategie (gegen das gegnerische Land im ganzen) zu einem „Counterforce" -Erstschlag (speziell gegen die militärischen Anlagen und politischen Schaltstellen des Gegners). Auf der einen Seite könnte die zunehmende Zielgenauigkeit eines Tages zu dem Versuch verleiten, bereits durch einen ersten „Entwaffnungsschlag" gerade die Vergeltungsraketen des Gegners weitgehend auszuschalten, d. h. einen Atomkrieg ohne unerträgliche eigene Schädigung nicht nur zu überstehen, sondern sogar zu „gewinnen". Auf der anderen Seite erlaubt die Zielgenauigkeit eine Verminderung der Sprengkraft der einzelnen Raketenköpfe und läßt somit für Militärs und Politiker einen Atomkrieg als begrenzbar erscheinen. So „positiv" die hiermit verbundene Aussicht auf eine relative Schonung von Bevölkerungen und Wirtschaftszentren — zumindest in dünn besiedelten Gebieten — erscheint, so sehr baut aber eben diese Aussicht die psychischen Hemmungen gegen einen Atomkrieg ab, der damit auch in dieser Hinsicht wahrscheinlicher wird. Ob jedoch ein Krieg dann, wenn in ihm auch nur sehr kleine Atombomben, z. B. Neutronenwaffen, eingesetzt werden, hinsichtlich der Dynamik atomarer Eskalation wirklich kontrollierbar bleibt, ist mehr als offen. Also kann das unverdrossen auch heute noch benutzte Argument nicht mehr Gültigkeit beanspruchen, die atomare Abschreckung werde aus den gleichen Gründen, aus welchen sie nach 1945 weitere Weltkriege wahrscheinlich verhindert habe, solche Kriege auch künftig verhindern
Nunmehr ergibt sich ein neuer Zwang zu Mißtrauen und Wettrüsten: Jede Seite wird neue Technologien entwickeln müssen, um die eigenen Waffen vor dem Zugriff der zielgenauen Waffen des Gegners hinreichend zu schützen und zu tarnen (USA: z. B. U-Boote, MX-Raketen) — die wiederherzustellenden Zweitschlagskapazitäten werden mit jeder neuen Stufe riskanter und teurer. Und jede Seite wird die Zielgenauigkeit ihrer eigenen Waffen so steigern müssen, daß sie zu gezielten „operativen Schlägen" in der Lage ist und notfalls dem drohenden Einsatz der zielgenauen Waffen des Gegners zuvorkommen kann. Hinzu kommt, daß sich weitere Bedrohungen aus der Gefahr technischer Pannen in den immer komplizierteren Kommunikationssystemen ergeben, Pannen, die in sich zuspitzenden Situationen und vor allem nach Ausbruch eines Krieges erst recht gefährlich werden (z. B. EMP [Electromagnetic Pulse]), ferner aus der Militarisierung des Weltraumes („Space shuttle", Killersatelliten, Laser-Waffen usw.) und aus der Weiterentwicklung biologischer und chemischer Kriegsführungsmöglichkeiten. Außerdem werden die Atomwaffen in der Welt immer mehr verbreitet. Inzwischen werden auch die Krisenländer Südafrika, Israel, Indien und demnächst Pakistan (vielleicht auch Argentinien und Brasilien) zu den Atomwaffenbesitzern gezählt. In Konflikte, die in diesen Regionen entstehen, könnte das wenig autarke Westeuropa sehr bald hineingezogen werden.
In dem Maße, in dem die Wirkung wechselseitiger atomarer Abschreckung an Zuverlässigkeit verliert, der Einsatz von Atomwaffen also wahrscheinlicher wird, scheint aus der Sicht der amerikanischen Partikularinteressen der Versuch rational zu sein, die Europäer noch stärker am Risiko zu beteiligen, ja einen eventuellen Krieg möglichst zu europäisieren. Dabei stellt die durch den NATO-„Doppelbeschluß" vom Dezember 1979 angedrohte Stationierung amerikanischer Mittelstrecken-raketen in Westeuropa für die Sowjetunion eine schwerwiegende Herausforderung dar, die durch die Vokabel „Nachrüstung" bis zur Unkenntlichkeit verharmlost wird
Daß es sich bei der hier skizzierten Labilisierung nicht um eine vorübergehende und prinzipiell überwindbare Phase handelt, sondern mit immer neuen Gefährdungen gerechnet werden muß, begründete C. F. v. Weizsäcker bereits vor mehr als zehn Jahren: „Durchschnittlich alle sieben Jahre tritt ein tech-nisch neuartiges dominierendes Waffensystem an die Stelle des bisherigen. Es müßte also alle sieben Jahre von neuem glücken, das jeweils dominierende Waffensystem in der Gestalt von second strike capabilities oder analogen Strukturen zu stabilisieren. Wenn dies auch nur in einer einzigen der Phasen mißlingt, so besteht danach für eine Reihe von Jahren der oft gehörte Satz, keine Seite könne einen Atomkrieg gewinnen, nicht mehr zu Recht."
Kann der Rüstungswettlauf, der also auch im Blick auf den Verteidigungszweck immer absurdere Formen annimmt, letztlich anders als tödlich enden? „Die Vorstellung, den Frieden, die Stabilität und das Gleichgewicht in der Welt durch die Fortdauer der Abschreckung bewahren zu können, ist vielleicht der gefährlichste kollektive Irrtum, der heute existiert."
IV. Aufgabe: Innovatives Lernen in einer Stufenfolge sicherheitspolitischer Alternativen
Die Öffentlichkeit und ihre Politiker wären völlig überfordert und Verbesserungen unse-rer Situation deshalb nicht zu erwarten, wenn man sich durch Blicke in den Abgrund der drohenden Katastrophe dazu verleiten ließe, unvermittelt sogleich Maximalforderungen aufzustellen. Im sicherheitspolitischen Bereich ebenso wie in den übrigen Krisenbereichen unserer europäisch-neuzeitlichen Zivilisation kommt es vielmehr entscheidend darauf an, den Weg zu den sachlich gebotenen und als solchen radikalen Lösungen dadurch zu ebnen, daß Stufenfolgen zunehmend anspruchsvollerer Alternativen entworfen und verwirklicht werden.
Angesichts vielfältiger sozialer Kontrollen werden allzu radikale Handlungsmuster negativen Sanktionen ausgesetzt: Mutige einzelne und Gruppen drohen mehr stigmatisiert zu werden, als sie ertragen können. Die Folgen sind entweder Gefühle der Ohnmacht, Resignation, politische Apathie oder aber Perversion der sachlich gebotenen Radikalität zu Extremismus oder gar zu gewalttätigem Terrorismus. Ein sozialer Wandel in Richtung auf die vom Club of Rome diskutierten Ziele „überleben der Menschheit" und „Würde des einzelnen" dürfte nur dann möglich sein, wenn die Absicht einer Abschaffung des Krieges durch eine Abfolge sich steigernder Lernschritte vermittelt wird und Individuen, Gruppen, Nationen, ja ganze Blöcke die Möglichkeit erhalten, Alternativen von demjenigen Lernniveau zu verwirklichen, das ihnen von ihrer (Lebens-) Geschichte her erreichbar ist
Im militärischen Bereich wäre einiges für Westeuropa schon dann gewonnen, wenn die durch den sog. Nachrüstungsbeschluß der NATO vorgesehenen Mittelstreckenraketen auf See statt auf dem dicht besiedelten Land stationiert würden. Während Alt-Bundeskanzler Schmidt in Übereinstimmung mit C. F. v. Weizsäcker
Ein weitergehender Schritt wäre die Ablehnung der „Nachrüstung" überhaupt
Wenn in der Friedensforschung und in der Friedensbewegung betont wird, die Pläne für Pershing II und Cruise missiles seien unabhängig von der sowjetischen Aufrüstung mit SS-20-Raketen entstanden, dann reagiert die offizielle Politik mit diffamierender Zurückweisung. Wird dasselbe Argument durch den Generalinspekteur der Bundeswehr am Kabinettstisch bestätigt, so wird es totgeschwiegen. General Jürgen Brandt erklärte nämlich: bei der „Nachrüstung“ gehe es gerade „nicht darum, etwa dem Waffensystem SS-20 entsprechende Waffensysteme des Westens entgegenzusetzen“
Während C. F. v. Weizsäcker mit seiner Forderung nach einer Seestützung der neuen Raketen noch in den Denkbahnen tradierter Verteidigungspolitik verbleibt, engagiert er sich im Rahmen der Friedensforschung für ein qualitativ neuartiges Sicherheitskonzept, das die alte Guerilla-Taktik mit moderner Technik verbindet (über den Raum verteilte Technokommandos mit Panzerabwehrwaffen auf konventioneller Basis)
wurde dieses Konzept vor allem von Horst Afheldt, es ist heute mit einer harten Kritik am NATO-Doppelbeschluß verbunden
Sofern die Afheldtsche Konzeption den Schutz durch westliche Atomwaffen weiterhin einbezieht
Damit ist das wohl höchste Niveau „innovativen Lernens" in diesem Bereich markiert, und es gibt gute Gründe für die Annahme, daß die vielfältigen Formen der gewaltfreien Konfliktaustragung in Zukunft immer mehr an Bedeutung gewinnen werden
Deuten die überall erstarkenden Friedensbewegungen darauf hin, daß angesichts der zunehmenden Atomkriegsgefahr in den achtziger Jahren Lernprozesse auch auf dem Niveau der Gewaltfreiheit möglich werden
Erschwert wird die nötige Antizipation insbesondere dadurch, daß wir das Ausmaß der drohenden Katastrophe gar nicht hinreichend zu ermessen vermögen. „In einem weltweiten Nuklearkrieg würde mehr Zerstörungskraft als im gesamten Zweiten Weltkrieg freigesetzt werden, und zwar in jeder Sekunde des langen Nachmittags, den man für den Abschuß und Abwurf aller Raketen und Bomben benötigen würde; jede Sekunde würde ein Zweiter Weltkrieg stattfinden."
Die Stufenfolge einer Seestützung der für das Land vorgesehenen Mittelstreckenraketen, einer Ablehnung der „Nachrüstung“ überhaupt, einer stärker defensiven Konzeption im Sinne Afheldts und einer gewaltfreien Verteidigung darf allerdings insofern nicht im Sinne einer Abfolge kurz-, mittel-und langfristig zu ergreifender Maßnahmen verstanden werden, als wir nicht wissen, wieviel Zeit uns bleibt. Wir könnten uns glücklich schätzen, wenn wir uns bei dem Plan beruhigen dürften, Soziale Verteidigung erst in einer ferneren Zukunft einzuführen. Die tödliche Katastrophe kann jederzeit eintreten.
Dennoch: Trotz aller hier diskutierten Argumente, trotz der immer bedrohlicher werdenden Gefährdung, trotz todbringenden Rüstungswettlaufs und trotz der aufgezeigten Auswege aus der Gefahr wird den in der Friedensbewegung Engagierten immer noch entgegengehalten, sich ethisch unverantwortlich zu verhalten, indem sie ja „kleinmütig“ bloß durch Furcht oder Angst motiviert seien. Schon der ehemalige Verteidigungsminister Apel urteilte, die Friedensbewegung versäume schuldhaft, die ethischen Grundfragen nach Freiheit und Selbstbestimmung ernsthaft genug zu stellen. Mit diesem Vorwurf ist die Friedensbewegung aufgefordert, sich mehr noch als bisher ethischen Problemen zu stellen. Freilich könnte die Anwendung gerade der klassischen Ethik auf die Herausforderungen des Atomzeitalters ergeben, daß sich die Friedenspolitik der etablierten Parteien für die radikaleren Alternativvorschläge der Friedensbewegung zu öffnen hätte.
Wie das?
V. Orientierung: Öko-Ethik im Atomzeitalter
Mit der wissenschaftlichen Entdeckung vielfältiger Möglichkeiten, die Menschheit als ganze, ja das Leben überhaupt zu vernichten, hat ein von Grund auf neues Zeitalter begonnen. Es wird für den gesamten weiteren Verlauf der menschlichen Geschichte — ob lang oder nur noch kurz — andauern, weil das Wissen von der Herstellungsweise der Massenvernichtungsmittel nicht rückgängig zu machen ist
Alle Versuche ethischer Orientierung haben von nun an davon auszugehen, daß diese weltgeschichtlich neuartige Situation einen radikalen Wandel unserer Prioritäten notwendig macht: Weil in aller bisherigen Geschichte das Weiterbestehen des Ganzen der Menschheit und des Ganzen der sie tragenden Natur stets gesichert bleibt, war es möglich, daß die einzelnen Gruppen und Mächte ihr jeweiliges Partikularinteresse zum höchsten Ziel erhoben. Weil aber dieses Weiterbestehen von nun an radikal gefährdet ist, muß jetzt der Bewahrung des Ganzen der Vorrang vor schlechthin allen anderen Zielen gegeben werden
Wie schwer diese Forderung zu erfüllen ist, zeigen C. F. v. Weizsäckers umfassende Studien zur „geschichtlichen Anthropologie", in deren Zentrum der Begriff der „Machtkonkurrenz" steht. Wie weit von Weizsäckers Analysen das Niveau der bisherigen Diskussion zum Themenbereich von Macht und Herrschaft übersteigen, kann hier im einzelnen nicht gezeigt werden
Auf allen politischen Ebenen — als einzelne in Gruppen, als Gruppen in Kommunen, als Kommunen in Staaten, als Staaten im Rah-men der Menschheit — müssen wir lernen, das Interesse des jeweils übergeordneten Ganzen angemessen zu berücksichtigen und, wo nötig, durchzusetzen. Damit ist keine Selbstaufgabe gefordert, aber wir müssen lernen, unsere Partikularinteressen nur so weit ins Spiel zu bringen, wie es ihnen im Rahmen des Gesamtinteresses zukommt. Je mehr dies gelingt, um so eher können innovationsbereite Politiker auf den höheren Ebenen die ethisch notwendigen Maßnahmen durchsetzen. Dieses Lernziel, die Wahrnehmung des Ganzen, von dem man selber nur Teil ist, und die Berücksichtigung des ihm entsprechenden Gesamtinteresses nennt C. F. v. Weizsäcker „Vernunft“. Genauer verstehen können wir dieses Ziel nur im Rahmen der Anthropologie. Eine unverzerrte Wahrnehmung des jeweiligen Ganzen und erst recht seine aktive Berücksichtigung setzen die Fähigkeit voraus, sich aus dem Fixiertsein auf die je eigenen Privatinteressen zu lösen, also Selbstdistanz, also die Gestimmtheit der Gelöstheit, ja der „Liebe". Erst in ihr gewinnen wir einen offenen Blick für das, was die anderen wirklich brauchen, erst in ihr sind wir auch bereit, ihnen nach Kräften zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen. Insofern wir hier auch von „vernunftgeleiteter Solidarität“ sprechen, einer Solidarität also, die zwar ihren Anfang in überschaubaren Gruppen nimmt, sich aber gegen Außenstehende nicht feindlich abschließt, sondern sich letztlich zu allen Menschen und allem Lebendigen hin öffnet. Wird sie erreicht, so erweist sie sich als beglückend. Aber der Weg zu ihr ist schwer, denn sie setzt das Überwinden und Preisgeben jener Ich-Befangenheit voraus, durch die wir in den verschiedensten Formen von Machtkonkurrenz festgehalten werden. In der religiösen Tradition ist ein reiches Wissen hiervon bewahrt, doch ist es für viele Zeitgenossen unverständlich geworden. Außerhalb dieser Tradition gibt es heute nur wenige Autoren, die diese Thematik erörtern. Vielleicht am klarsten und präzisesten hat sie bisher der Philosoph Wilhelm Kamlah entfaltet
W. Kamlah, Mitbegründer der „Erlanger Schule", setzt sich mit der modernen Ethik-Diskussion auseinander
Relativismus, der als Erbe des 19. Jahrhunderts das öffentliche Bewußtsein auch heute noch nachhaltig bestimmt
C. F. von Weizsäcker zeigt, daß Geschichte in „Ebenen“ und „Krisen" verläuft
Das Atomzeitalter erfordert also keine neue ethische Qualität. Neu sind nur zwei Aspekte: zum einen die Einsicht, daß das, was bisher vielleicht nur wünschenswert war, nunmehr schlechterdings lebensnotwendig ist, zum anderen die Ausweitung des Geltungsbereiches dieser Ethik über die Gegenwart hinaus auf alle Zukunft und über die Menschheit hinaus auf alles Lebendige. Deshalb sprechen wir, um Verwechslungen mit anderen Ethik-Konzeptionen zu vermeiden, von „Öko-Ethik" — einer Öko-Ethik, die sich an den schon vom Club of Rome diskutierten Zielen „Überleben“ und „Würde" orientiert.
Die pädagogisch-methodische Frage wäre nun: Wie werden Menschen fähig, die hier gemeinte Vernunft zu vernehmen? Beispielhaft ist dieses Problem in der klassischen Pädagogik durch Johann Heinrich Pestalozzi sowohl praktisch als auch theoretisch gelöst worden: Es geht um primäres Lernen, um Weckungsphänomene
Wie kann aus der Sicht der hier nur angedeuteten Öko-Ethik auf den Einwand etablierter Politiker geantwortet werden, zumindest Teile der Friedensbewegung zögen sich kleinmütig auf die Formel „Lieber rot als tot" zurück?
VI. Einwände: „Lieber rot als tot"?
Gegen die im Rahmen einer Stufenfolge sicherheitspolitischer Alternativen als letztlich notwendig begründete Umstellung auf Soziale Verteidigung wird eingewendet, so werde zwar vielleicht das überleben der Menschheit gesichert, hingegen Würde, Menschenrechte, Demokratie setze man dabei leichtfertig aufs Spiel.
In der Tat: Würden wir im Westen damit unsere Freiheit nicht in unverantwortbarer Weise gefährden? Ist nicht die gegenwärtige jüngere Generation, die vor allem eine solche Umstellung fordert, weithin geneigt, den Wert jener Freiheit, die wir haben, schon deshalb zu unterschätzen, weil sie in ihrem eigenen Leben noch nicht erfahren hat, was eine Diktatur ist? Wenn aber allein ein freies Leben menschenwürdig ist, ist es dann nicht Pflicht, diese Freiheit mit allen Mitteln zu verteidigen?
Wenn jedoch versucht wird, Freiheit in dieser Weise zum höchsten Wert zu erheben, dann kann nur die Freiheit gemeint sein, in selbständiger Verantwortlichkeit ethischen Normen zu folgen, also, um an Hans Wittigs Unterscheidung zu erinnern: die „Freiheit der Person", nicht hingegen Freiheit als beliebig zu nutzender Spielraum, z. B. nicht die Freiheit der Arbeitgeber oder auch der Arbeitnehmer, an der Gesellschaft im Überfluß bereitwillig teilzunehmen und an eine Solidarität mit den armen Völkern nicht auch nur zu denken, also nicht die „Freiheit des Bürgers"
Im Gegenteil: Selbst wenn man von der — milde formuliert — höchst fragwürdigen Annahme ausgeht, durch eine einseitige Abrüstung des Westens und die ihr folgende Errichtung einer kommunistischen Weltherrschaft werde die gesamte gegenwärtig lebende Generation zu einem menschenunwürdigen Leben verurteilt, wäre es doch ein völliger Mangel an historischem Denken, darüber hinaus anzunehmen, dies werde für alle künftige Geschichte so bleiben. Ein Atomkrieg jedoch würde entweder die menschliche Geschichte ein für allemal beenden oder für die überlebenden und ihre Nachkommen unerträgliche Konsequenzen von unabsehbarer Dauer haben.
Diese auf den ersten Blick vielleicht noch immer recht abstrakt wirkende Argumentation möge hier durch ein Gedankenexperiment veranschaulicht werden, das die völlige Un-verhältnismäßigkeit zwischen atomaren Verteidigungs-Mitteln und den möglichen Verteidigungs-Zielen verdeutlichen soll: Angenommen, im Dreißigjährigen Krieg hätten bereits Atomwaffen zur Verfügung gestanden — könnten wir dann als Mißgestaltete oder als gleichsam Ungeborene es gutheißen, wenn man sich damals wechselseitig vernichtet und damit die Geschichte beendet hätte, statt sich eine andere Konfession aufzwingen zu lassen? Geht es heute, nur eine weltgeschichtliche Sekunde später, zwischen West und Ost um wichtigere Unterschiede als damals? Wie lange werden die heutigen Unterschiede noch von Wichtigkeit sein, falls es uns gelingt, die Fortsetzung menschlicher Geschichte zu gewährleisten? Sind wir überhaupt imstande, die Größenordnung dessen, was auf dem Spiel steht, uns vorzustellen? An dieser entscheidenden Stelle kann der Rückblick auf eine Kontroverse aus der Zeit der Kampagne „Kampf dem Atomtod" hilfreich sein. Damals ist Karl Jaspers, dem es doch gerade um die Bewahrung der ethischen und religiösen Substanz der Achsenzeit ging, für eine atomare Verteidigung des Westens eingetreten. „Der Atombombe, als dem Problem des Daseins der Menschheit schlechthin, ist nur ein einziges anderes Problem gleichwertig: die Gefahr der totalitären Herrschaft... mit ihrer alle Freiheit und Menschenwürde vertilgenden terroristischen Struktur. Dort ist das Dasein, hier das lebenswerte Dasein verloren."
Aus der Sicht der Dio-Ethik muß sogar hinzugefügt werden: Abgesehen davon, daß es nur kleine Minderheiten wären, die die Völker des Westens und Ostens in die Katastro-phe hineinzögen, abgesehen auch davon, daß die gesamten Bevölkerungen der fortgeschrittenen Industrienationen, um deren politische Lebensweise es höchstens geht, nur einen Bruchteil der Weltbevölkerung ausmachen, würde ein Atomkrieg — im Gegensatz zu der befürchteten kommunistischen Machtergreifung — zugleich das Leben zumindest aller höheren Tiere und Pflanzen in völlig unverantwortbarer Weise vernichten.
Es gilt also: Da selbst eine defensiv gemeinte Beteiligung am System der atomaren Abschreckung als ethisch unerlaubt gelten muß und da ferner eine allseitige Abrüstung nicht abzusehen ist, die Zeit jedoch drängt, ist eine einseitige Abrüstung zumindest der Atomwaffen ethisch geboten.
So ergibt die Anwendung der Öko-Ethik, daß von der jeweils eigenen Seite, sowohl vom Westen als auch vom Osten, ein nötigenfalls einseitiger Übergang letztlich zu gewaltfreier Verteidigung als geschichtlich notwendig zu fordern ist. Gerade jene, die mit ihrer ethischen Freiheit und Verantwortlichkeit Ernst zu machen bereit sind, müssen diesen Über-gang nach Kräften fördern
Angesichts einer so gewichtigen Entscheidung wie der, um die es hier geht, halten wir es für ein Gebot intellektueller Redlichkeit, auch die für die eigene Position ungünstigsten unter den denkbaren Entwicklungen einzukalkulieren. Deshalb haben wir absichtlich sowohl von der Tatsache abgesehen, daß es auch im Westen Diktaturen gibt, als auch auf die Erörterung derjenigen realpolitischen Argumente verzichtet, die vermuten lassen, daß der Warschauer Pakt einen zumindest atomar abgerüsteten Westen nicht überrollen würde.
Ein solches Ausgehen von den für die eigene Position ungünstigsten Voraussetzungen hat hier für die Diskussion den Vorteil, daß jede realistische Modifizierung dieser Voraussetzungen die eigene Position nur stärken kann.
Widerspricht aber unsere Argumentation nicht allzusehr dem, was öffentlich in den verschiedenen Gruppierungen für „rational" gehalten wird? Selbst in der Offenheit freundschaftlicher Gespräche wird günstigenfalls noch die Lauterkeit der Motivation akzeptiert, aber kopfschüttelnd zugleich die Frage hinzugefügt, ob man nun auch zu der kleinen* Clique ängstlicher und irrationaler „Spinner" zu zählen sei, der jegliches politische Augenmaß fehle. Aber wer hat denn „Angst“? Ist nicht das Wettrüsten selber Ausdruck der Angst? Und ist es nicht die „Rationalität“ der Etablierten, die die tödliche Gefahr heraufbeschwört? Deutet sich nicht demgegenüber in der öffentlich noch gescholtenen „Irrationalität“ vieler Teilnehmer an der Friedensbewegung jene Gestimmtheit an, durch die „Vernunft" erst ermöglicht wird?
Dennoch: Bleibt nicht unsere Argumentation, wenn wir von den Möglichkeiten gewaltfreier Verteidigung hier vorübergehend absehen, bloß bei der Position „Lieber rot als tot"? Mit dieser Formel wird jedoch manipuliert, wo sie als Vorwurf gemeint ist, und sie führt in die Irre, wo sie zustimmend zitiert wird. Erstens geht es nicht um ein „Lieber ... als", sondern um das, was ethisch geboten ist. Zweitens geht es um die Gegenüberstellung nicht zweier Wirklichkeiten, sondern zweier Risiken. Drittens: Während eine kommunistische Besetzung z. B. Westeuropas nur einen kleinen Teil der Menschheit in seiner Lebensweise beträfe, würde ein Atomkrieg mindestens einen großen Teil nicht nur der Menschen, sondern des Lebens überhaupt vernichten. Viertens: Während jene gedachte Besetzung angesichts des geschichtlichen Wandels nur eine mehr oder weniger lange Episode bliebe, wäre die in Kauf genommene Vernichtung endgültig. Fünftens spricht nicht zuletzt der zunehmende Ausbau transnationaler Wirtschaftsverflechtungen dafür, daß das Risiko einer militärischen Besetzung durch den Osten eher geringer wird, während das Risiko der Vernichtung aufgrund des tödlichen Rüstungswettlaufs zunimmt. Aus der Sicht der Öko-Ethik muß darum die Formel „Lieber rot als tot“ mindestens wie folgt differenziert werden: Ethisch geboten ist es, das zunehmend geringere Risiko einer vorübergehenden kommunistischen Besetzung für einen Teil der Menschheit zu wählen statt des zunehmend größeren Risikos einer endgültigen Vernichtung des Lebens überhaupt. Wenn es zulässig ist, den Ernst und die Vielschichtigkeit dieses Themas formelhaft zu vereinfachen, so wie es in der Öffentlichkeit weithin geschieht, könnte es also angemessener heißen: „Eher vorübergehende Bedrängnis als ein unermeßliches Verhängnis!“
Im strikten Gegensatz zu der Weise, in der hierzulande christdemokratische mehr noch als sozialdemokratische Kultusminister Argumentationen wie die vorstehende aus dem Bildungswesen ausschließen möchten
Das ist zugleich innovatives Denken im besten Sinne.
Während das in Machtkonkurrenz befangene tradierte Denken nichts anderes in der Friedensbewegung des Westens sehen kann als eine Stärkung der östlichen Position, eröffnet eine innovative Wahrnehmung des Ganzen den Horizont eines wirklich tragfähigen Friedens: „Je vitaler und ansteckender die Friedensbewegung im Westen wird, desto schwieriger — und unnötiger — wird es, Friedensbewegung im Osten zu unterbinden."
Zur Atomrüstung: — „Wenn wir diese Waffen zu kriegerischen Zwecken anwenden oder wenn sie in nennenswertem Umfang durch Zufall oder Mißverständnis zur Explosion kommen sollten, könnten wir nicht nur der Zivilisation, wie wir sie kennen, ein Ende bereiten, sondern auch dem Gesamtergebnis aller menschlichen Bemühungen um die Entwicklung des zivilisierten Lebens — jenem Ergebnis, dessen Nutznießer wir sind und ohne das unser eigenes Leben keinen Sinn hätte: die Städte, die Kunst, die Bildung, die Beherrschung der Natur, die Philosophie — alles. Und wir würden nicht nur die Vergangenheit der Zivilisation vernichten; wir würden im selben Atemzug zahllose noch ungeborene Generationen verleugnen, wir würden ihnen in unserer grenzenlosen Dünkelhaftigkeit und Selbstsucht das Privileg vorenthalten, ein Leben auf dieser Erde zu führen, das Privileg, das wir selbst ohne Zögern und gierig genutzt haben, als wenn es etwas wäre, das man uns schuldig sei.“
— „Was wird in dem irren Durcheinander von Berechnungen, wie man wo zuschlagen müßte, wie viele Millionen wohl übrigblieben, wie man hoffen könnte, die eigene armselige Haut zu retten, indem man Löcher in die Erde gräbt und so vielleicht überleben wird in einer Welt, in der zu leben nicht lohnt — was wird bei alledem aus den Hoffnungen und den Werken unserer Eltern?"
Und zur atomaren Abschreckung:
— „Wie kann ein Mensch, der die Autorität der Lehren und des Vorbilds Christi anerkennt, hierfür auch nur als einfacher Bürger den mindesten Teil an Verantwortung übernehmen — nicht dafür, daß es getan wird, sondern schon dafür, daß die Gefahr heraufbeschworen wird, es könnte getan werden?"
— „Für mich ist auf dem Hintergrund dieser Gedankengänge die Bereitschaft, Kernwaffen gegen andere Menschen einzusetzen — gegen Menschen, die wir nicht kennen, die wir nie gesehen haben und deren Schuld oder Unschuld wir nicht ermessen können — und damit das natürliche Gefüge, auf welchem alle Zivilisation ruht, in Gefahr zu bringen, so als wären die Sicherheit und die vermeintlichen Interessen unserer Generation wichtiger als alles, was je in der Zivilisation stattgefunden hat oder noch stattfinden könnte: Für mich ist das nichts anderes als Anmaßung, als Blasphemie, als Beschimpfung — eine Beschimpfung ungeheuerlichen Ausmaßes, gerichtet gegen Gott!