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Friedensbewegung in der DDR | APuZ 17/1983 | bpb.de

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APuZ 17/1983 Friedensbewegung in der DDR Die Verteidigung des Friedens gegen den Pazifismus Die Friedensbewegung -zu radikal oder gar nicht radikal genug?

Friedensbewegung in der DDR

Peter Wensierski

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die DDR befindet sich mitten in einer der interessantesten politisch-kulturellen Umbruchphasen ihrer Nachkriegsgeschichte. Unter dem für diesen Wandel notwendigen Schirm von Stabilität und Kontinuität in ihren politischen Kernbereichen hat mit Beginn der achtziger Jahre im Innern ein Wandel begonnen, dessen politische Bedeutung im Westen noch ungenügend erkannt wird. Wie die neue Dynamik zwischen Partei und Gesellschaft verlaufen kann, ist besonders gut am Beispiel der neuen „Friedensbewegung“ zu verdeutlichen. Für die SED war die „Friedensbewegung“ bisher schlicht entweder die ganze DDR oder alle von ihr ins Leben gerufenen Vereinigungen, die seit Jahrzehnten autonome Aktivitäten überflüssig erscheinen lassen sollten. Heute gibt es aber einige zehntausend vorwiegend junge Leute, die eigene Vorstellungen haben. Sie sind ein Faktor geworden, mit dem die SED lernen muß umzugehen. Neben der staatlichen Friedenspolitik hat es eigene Friedensideen im Raum der evangelischen Kirche schon seit Jahrzehnten gegeben. Die evangelischen Kirchen in der DDR sind die einzigen Organisationen des Landes, die ihre Autonomie gegenüber dem faktischen Alleinvertretungsanspruch der SED bewahrt haben. Hinzu kommt eine besondere deutschlandpolitische Rolle von EKD und DDR-Kirchenbund, die in Friedensfragen besonders wichtig geworden ist. Wenn man nach der Ursache für das Entstehen der Friedensbewegung in der DDR fragt, dann wird man sie zuerst in der innenpolitischen Entwicklung der letzten Jahre suchen müssen. Sie ist weniger eine Reaktion auf das Vorbild westlicher Friedensbewegungen als vielmehr eine „hausgemachte“ Erscheinung. Die Themen der Auseinandersetzung sind bestimmt von persönlicher Konfrontation mit dem Militärischen: Wehrunterricht, Kriegs-spielzeug, Zivilschutzübungen, Armeedienst usw. Friedens-und Okologieengagement gehören dabei oft zusammen. Spannungen zwischen drängender Basis, Kirchenleitungen und dem Staat bleiben da nicht aus. In ihrer Mittlerrolle gerät die Kirche schnell aus der Sicht von beiden Seiten ins Zwielicht. Vorwürfe wie Opportunismus auf der einen und Oppositionspartei auf der anderen Seite wechseln sich ab. Auch in der DDR gibt es unter Jugendlichen so etwas wie eine zweite Kultur. Einige zehntausend junge Leute in den großen Städten leben in einer Art innerer Emigration mit einem Lebensgefühl, das in vielem etwa der westlichen Jugendszene entspricht. Es existiert ein ähnlicher Bruch zwischen den Generationen. Ein Blick in die neuere Literatur, die letzten DDR-Filme oder die „Szene“ der urbanen Metropolen, die von Punks angefangen alle Arten von Aussteigern umfaßt, zeigt, daß es sich bereits um eine ernst zu nehmende gesellschaftliche Minderheitenströmung handelt. Einen Dialog des Staates mit diesem Teil seiner Jugend gibt es jedoch bislang nicht. Die ausdauernde Existenz solcher Bewegungen ist etwas vollkommen Neues in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Sie bedeuten auch eine Herausforderung, neue Wege in der Entspannungspolitik zu beschreiten.

Wenn eine Atombombe direkt über dem Brandenburger Tor detoniert, dann verdampfen in Bruchteilen von Sekunden die Karosserien aller Autos in Charlottenburg ebenso wie in Pankow; in den Außenbezirken Marzahn (Berlin-Ost) und Märkisches Viertel (Berlin-West) zerschmelzen sie noch. Von der Spreebrücke mit dem deutschen Adler am Bahnhof Friedrichstraße bleiben nicht mal die Betonpfeiler übrig, in Wannsee und Königswusterhausen — kilometerweit vom Detonationszentrum entfernt — fängt die Kleidung von Straßenpassanten noch spontan Feuer.

Diese Vision eines atomaren Infernos schildert eine Zweiundzwanzigjährige bei einer Friedensdiskussion in Ost-Berlin. Von solch konkreten Vorstellungen betroffen, ist für die anderen Beteiligten an diesem Abend klar: Hier an der Nahtstelle zwischen Ost und West wird die absurde Konsequenz eines möglichen Krieges besonders deutlich. „Weil es den Politikern in mehr als 30 Jahren nicht gelungen ist, dem Frieden näher zu kommen", meint eine junge Frau aus Potsdam, „müssen wir jetzt selbst aktiv werden — mit neuen Friedensideen."

Mit solch einem Bekenntnis steht sie drüben nicht mehr allein. Es gibt heute den Aufbruch einer Generation, wie ihn viele vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätten. Die DDR steckt mitten in einer der interessantesten politisch-kulturellen Umbruchphasen ihrer Nachkriegsgeschichte. Unter dem für diesen Wandel notwendigen Schirm von Stabilität und Kontinuität in ihren politischen Kernbereichen hat mit Beginn der achtziger Jahre in ihrem Inneren ein Wandel begonnen, dessen politische Bedeutung im Westen noch ungenügend erkannt wird. Zu sehr verharrt man in traditionellen Betrachtungsmustern. Erschwerend kommt hinzu, daß allzu schnell innenpolitische Vorgänge in der DDR für parteipolitische Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik mißbraucht werden. So bleibt häufig der Blick für neue Entwicklungen, neue Attraktivitäten und die sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen versperrt. Der Umbruch geschieht weder spektakulär noch besonders rasant. Es gehört schon ein sensibler Blick dazu, ihn überhaupt wahrzunehmen bzw. einzelne Veränderungen in einem Zusammenhang zu sehen. Bemühungen um eine neue Geschichtsrezeption (z. B. im Preußen-und Luthererbe), Diskussionen im Volksbildungsbereich, Veränderungen in Organisations-und Wirtschaftsstrukturen, Entwicklungen im kulturellen Bereich oder „historische Experimente" mit den Kirchen dürfen nicht voneinander losgelöst betrachtet werden. Das Bemühen der politisch und ökonomisch in Zugzwang geratenen SED, einen gebremsten Modernisierungsprozeß des Systems als Antwort auf die Herausforderungen zuzugestehen, wird sonst nicht erkannt. Es wäre — nicht zuletzt auch für westliche Politiker — fatal zu verkennen, daß neue Faktoren politikbestimmend wirksam sind.

Dieser Prozeß verläuft nicht geradlinig. Die Partei — in sich differenziert — kann und will nicht darauf verzichten, die Kontrolle zu behalten und das Entwicklungstempo zu bestimmen. In ihren Politikformen muß sie in der Hauptsache konventionelle Konformität beibehalten. Doch der starre Blick vom Westen auf die traditionellen politischen Formen der Herrschaftsstabilisierung der SED, z. B. durch restriktive Maßnahmen, hilft heute in der Erkenntnis nicht weiter. Wie die neue Dynamik zwischen Partei und Gesellschaft verlaufen kann, ist besonders gut am Beispiel der „Friedensbewegung" zu verdeutlichen.

Für die SED war die „Friedensbewegung" bisher schlicht entweder die ganze DDR oder alle von ihr ins Leben gerufenen Vereinigun-gen, die seit Jahrzehnten autonome Aktivitäten überflüssig erscheinen lassen sollten. Heute gibt es aber einige zehntausend — nicht hunderttausende wie in der Bundesrepublik — vorwiegend junger Leute, die eigene Vorstellungen über Friedensinitiativen haben. Sie suchen keine harte Konfrontation mit der Macht, und beteuern ständig, daß sie den Friedenswillen auch ihrer eigenen Regierung ernst nehmen, jedoch andere Auffassungen über das WIE der Friedenssicherung haben.

Das ist keineswegs nur Taktik, um sich vor dem staatlichen Zugriff zu schützen. Es handelt sich nicht um eine klassische Dissidentenbewegung, die sich hinter einem Thema versteckt, das gerade modern ist, und in Wirklichkeit etwas ganz anderes will. Mit traditionellen Schemata ist ihr nicht beizukommen. Gerade weil in der DDR alles organisiert ist, sind die Beteiligten es nicht Sie sind eine Bewegung, weil das persönliche Bewegt-Sein sie auf eine nicht-institutionelle Art und Weise verbindet und sie zusammen etwas Politisches bewegen läßt. Diese Bewegung ist ein Faktor, mit dem die SED umzugehen lernen muß.

L Die lange Tradition kirchlicher Friedensarbeit

Neben der staatlichen Friedenspolitik hat es eigene Friedensideen im Raum der evangelischen Kirchen der DDR schon seit Jahrzehnten gegeben. Der kirchliche Friedensbegriff wurzelt im Evangelium; zu seinen konstituierenden Bestandteilen gehören u. a. Gewaltlosigkeit, Feindesliebe und Vertrauen. Wenn man von der Utopie einer waffen-und gewaltlosen Zukunft absieht, existiert zwischen kirchlicher Friedensverantwortung und dem sozialistischen Friedensbegriff eine grundsätzliche Spannung. Die systemimmanente Stringenz des sozialistischen Friedensverständnisses läßt im Grunde keine dritte Position zu: „Nach ihrem Selbstverständnis ist die DDR ein Friedensstaat, weil mit dem Aufbau des Sozialismus im Innern der gesellschaftliche Friede realisiert und ihre Außenpolitik der friedlichen Koexistenz im Rahmen des sozialistischen Bündnissystems darauf gerichtet ist, den Imperalismus zurückzudrängen und allen Völkern der Welt den Weg zu einem beständigen Frieden zu bahnen. Dem Bemühen der Kirchen der DDR, einen eigenständigen Beitrag zum Frieden zu leisten, sind angesichts dieses Verständnisses enge Grenzen gesetzt, zumal dort, wo dieser Beitrag kritisch ausfällt“

Die evangelischen Kirchen in der DDR sind die einzigen Organisationen des Landes, die ihre Autonomie gegenüber dem faktischen Alleinvertretungsanspruch der SED bewahrt haben. Daraus ergibt sich eine besondere Rolle, wie sie die Kirche etwa in der Bundesrepublik nicht hat oder haben kann, weil es hier neben der Kirche zahlreiche andere autonome gesellschaftliche Vereinigungen unterschiedlichster Art gibt.

Aus der kirchlichen Friedensarbeit in den sechziger und siebziger Jahren ragen zwei Beispiele besonders heraus: Das Eintreten für das Recht auf Waffendienstverweigerung Mitte der sechziger Jahre, sowie die Anstrengungen gegen die Einführung des Wehrunterrichtes Im September 1978 sollte in den 9. und 10. Klassen „sozialistische Wehrerziehung" als Pflichtfach eingeführt werden. Dieses Vorhaben löste schon Monate zuvor eine Welle von Anfragen und Eingaben an die verantwortlichen staatlichen Stellen aus. Die Kirchen wurden um Unterstützung gebeten, um die Partei-und Staatsführung von der Einführung des neuen Unterrichtsfaches abzubringen. Der kirchliche Protest blieb jedoch erfolglos.

Die DDR hat seitdem die Maßnahmen zur Steigerung der Wehrbereitschaft weiter ausgebaut. Immerhin konnte in einigen Einzelfällen Schülern, die eine Teilnahme am Wehrunterricht verweigert hatten und deswegen in Schwierigkeiten geraten waren, durch Inter vention kirchlicher Stellen Nachteile erspart bleiben. Die Furcht vor späteren beruflichen Nachteilen brachte es jedoch mit sich, daß nur eine verschwindend kleine Zahl von Schülern die Teilnahme verweigerte. Im Ergebnis dieser zwischen Staat und Kirche relativ heftig und öffentlich geführten Diskussion zeigte sich jedoch eine größere Sensibilisierung gegenüber den weiteren Wehrertüchtigungsmaßnahmen der DDR, die bis heute folgten. Dazu gehört u. a., daß der Wehrunterricht auf die 11. Klassen ausgedehnt und vor-militärische Ausbildung von Lehrlingen Pflicht wurde. Es gab schärfere Werbemethoden zur freiwilligen Verpflichtung für den „Ehrendienst in der Nationalen Volksarmee" — allgemein verbreitete sich ein Klima, als ob man sich unmittelbar auf eine kriegerische Auseinandersetzung vorzubereiten habe.

Für die Kirchen war der Protest gegen die Einführung des Wehrunterrichtes nicht selbstgewählte Friedensaktivität, sondern eher Reaktion auf Maßnahmen des Staates. Die Auseinandersetzung löste jedoch zugleich das Bedürfnis nach einer langfristig konzipierten Friedensarbeit (Stichwort „Erziehung zum Frieden") aus In der Kirche gründeten sich Friedensarbeitskreise.

Das Militärische Element spielt in der DDR eine immer größere Rolle: Wehrsportlager in den Schulferien, Schießausbildung in den Semesterferien als Pflicht für alle Studenten (auch der Theologie), Werbung für längeren Armeedienst, die gegenüber Fünfzehnjährigen oft an Nötigung grenzt, usw. Die Liste der möglichen Beispiele ließe sich erschreckend verlängern. Der einzelne kann sich diesen Anforderungen des Staates nicht entziehen.

Ob er will oder nicht, wird mit diesen oder er jenen Anforderungen konfrontiert. Dabei muß er Farbe bekennen, und oft genug entsteht dann Widerspruch. Viele allerdings unterwerfen sich jedoch — zumindest äußerlich — den Anforderungen und machen mit. Dies ist die Mehrheit, so daß das Ausmaß der Friedensbewegten nicht überschätzt werden sollte. Die Zahl der den Dienst mit der Waffe verweigernden Bausoldaten schwankte in den letzten Jahren pro Jahrgang zwischen 350 und 700. 1982 sollen es über 1 000 gewesen sein.

Wenn man nach der Ursache für das Entstehen der Friedensbewegung in der DDR fragt, ann wird man sie zuerst in der innenpoliti-S sehen Entwicklung der letzten Jahre suchen müssen. Sie ist weniger eine Reaktion auf das Vorbild westlicher Friedensbewegungen, als eine „hausgemachte" Erscheinung. Das Gefühl, an der Nahtstelle der Systeme mehr oder weniger eingesperrt zu sein (auch die Grenze nach Polen wurde weitgehend undurchlässig), mag noch hinzugekommen sein. Einen gewissen Signalcharakter hatten auch die von den SED-Medien propagierten Ereignisse wie die Bonner Demonstration der 300 000 und der Evangelische Kirchentag in Hamburg im Jahre 1981.

Zur Jahreswende 1979/80 verschärfte sich die weltpolitische Lage erheblich. Die NATO faßte ihren „Doppelbeschluß", die Sowjetunion intervenierte über Weihnachten in Afghanistan, die USA drohten wirtschaftliche Sanktionen an, die Olympiade in Moskau wurde von mehreren westlichen Ländern boykottiert, ein geplantes Treffen zwischen Schmidt und Honecker abgesagt. Die Möglichkeit eines Krieges zwischen den Supermächten mit dem Kriegsschauplatz Europa beherrschte von nun an nahezu täglich die Medien.

Im Herbst 1980 verhärtete die DDR als Reaktion auf die seit dem Sommer im Nachbarland Polen vor sich gehenden Veränderungen ihre Innen-und Außenpolitik. Der Mindestumtausch für Besucher aus dem Westen wurde erhöht, die Arbeitsmöglichkeiten westlicher Korrespondenten eingeengt. Die DDR untersagte mehrfach Berichterstattung über die kirchliche Synoden, auf denen es um das Thema Frieden ging. -Evangelische Kirchen zeitungen, die offizielle kirchliche Äußerungen zur Friedensarbeit gedruckt hatten, mußten vor ihrer Auslieferung wieder eingestampft werden und mit zensiertem Text neu erscheinen. In den staatlichen Medien wurde die Bevölkerung auf eine Intervention in Polen eingestimmt. Auf Kritik der Kirche reagierten staatliche Vertreter in vertraulichen Gesprächen mit leitenden Geistlichen mit heftigen Vorwürfen, ob sie eine ähnliche Lage wie in Polen herbeiführen wollten.

Zum erstenmal sollte vom 9. bis 19. November 1980 eine „Friedensdekade" in den evangelischen Kirchengemeinden stattfinden. Sie stand unter dem Leitmotiv „Frieden schaffen ohne Waffen". In den Arbeitsmaterialien hieß es: „Es wäre gut, wenn Menschen ihre Erkenntnisse auch artikulierten". Dies könne gegenüber der Kirche und dem Staat geschehen. So sei ein Brief an die Volkskammer etwa in folgender Richtung denkbar: Man danke für alle Abrüstungsbemühungen mit der Bitte um weitere, mit „möglichst zeichen-haften Entscheidungen auch im eigenen Land", zum Beispiel durch ein Verbot der Produktion von Kriegsspielzeug.

Das Thema Frieden zog sich von nun an durch die kirchliche Diskussion als tragende Thematik. Im März 1980 begannen in Ost-Berlin seit langem erstmals wieder deutsch-deutsche Kirchenkonsultationen über Friedens-fragen zwischen dem DDR-Kirchenbund und der EKD. Dies geschah sogar mit offizieller Würdigung durch die SED -Ein Jahr später, am 9. November 1981, fanden in der Bundesrepublik und in der DDR gleichzeitig „Bittgottesdienste für den Frieden" statt, an denen sich mehrere Zehntausend Menschen beteiligten. An der Basis bildeten sich allerorten neue kirchliche Friedensinitiativen.

Wer sich daran beteiligte, stammte nicht unbedingt aus kirchlichen Traditionen. Die Friedenskreise der Kirche ziehen sowohl radikalere Kräfte an, die weitgehendere Kritik an der Gesellschaft haben, als auch Leute, die kritisch-konstruktiv in staatlichen Organisationen oder der SED nahestehenden Verbänden mitarbeiten. Das Spektrum ist mitunter recht breit. Von Einheitlichkeit, wie sie der Begriff Bewegung suggeriert, kann bis heute — für die kirchliche Friedensarbeit insgesamt — kaum die Rede sein.

Besonders großen Zulauf fanden sogenannte Friedensseminare. Dabei treffen sich die Teilnehmer in kirchlichen Räumen meist für ein Wochenende oder mehrere Tage, um gemeinsam an einem Thema wie „Sprache des Friedens", „Gewaltfreie Aktionen" oder . Alternative Sicherheitssysteme“ zu arbeiten. Zu den ältesten und bekanntesten gehört das Friedensseminar in Königswalde/Sachsen. Dort versammeln sich alljährlich im Frühjahr und Herbst rund vier-bis fünfhundert Interessierte, die kaum noch untergebracht werden können.

II. „Sozialer Friedensdienst“

Ein weiterer Einschnitt in der Entstehungsgeschichte dieser Bewegung ist die Initiative zur Einführung eines „sozialen Friedensdienstes" (SoFd) gewesen. Ausgangspunkt war Dresden. Drei Mitarbeiter der sächsischen Landeskirche verfaßten am 9. Mai 1981 einen Aufruf der sich rasch in der gesamten DDR verbreitete, und bis zum Herbst baten rund 5 000 weitere Unterzeichner die evangelische Landeskirchen um Unterstützung. Es gab sowohl Briefe mit einzelnen, als auch kollektive Unterschriften, die eigenständig und privat überall in der DDR gesammelt wurden, wobei es nicht nur immer um das Thema „sozialer Friedensdienst" ging. Die Kirchenleitungen wurden beim Staat vorstellig, doch der drückte mehrfach sein kompromißloses Nein zur Forderung eines „sozialen Friedensdienstes" aus.

Die Gesamtsituation in der DDR gab offensichtlich den Ausschlag dafür, daß sich sämtliche Synoden positiv zu der Initiative äußer-* ten. Dabei geht es der Kirche nicht nur um die individuelle Möglichkeit, aus Gewissens-gründen keine Waffe in die Hand zu nehmen, die besteht schon seit Mitte der sechziger Jahre innerhalb der Armee bei den sogenannten Baueinheiten. Es geht offenbar mehr darum, wenigstens beispielhaft deutlich zu machen, daß der Frieden sich heute nicht mehr nur auf militärische Stärke und Abschrekkung stützen kann. Am deutlichsten kommt das in den Beschlüssen der provinzialsächsischen Kirche zum Ausdruck, die in Halle tagte. Dort wandte man sich in einer besonderen Erklärung ausdrücklich gegen das Konzept der militärischen Friedenssicherung. Die Synode schlug vor, daß auch die Staaten des Warschauer Paktes, also auch die DDR, Vor-leistungen erbringen sollten, um den Prozeß der Abrüstung zu fördern. Dies könne zum Beispiel durch die Reduzierung der SS-20 und durch den Abbau der zahlenmäßigen Panzerüberlegenheit des Warschauer Paktes geschehen. Der DDR-Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, ging nach einem Vortrag vor Theologie-Studenten der Ost-Berliner Hum-boldt-Universität auf Fragen der Studenten auf das Thema „SoFd" ein. Als Gründe für die staatliche Ablehnung nannte er:

— Den staatlichen und verfassungsmäßigen Grundsatz der Verteidigungsbereitschaft und -pflicht.

— Die Verpflichtungen im Warschauer Pakt, bestimmte Kontingente zu stellen, die eingehalten werden müßten.

— Den Umstand, daß militärische Stärke der größte Beitrag zur Sicherung des Friedens sei.

Im übrigen würde der Begriff „Sozialer Friedensdienst" suggerieren, daß der Dienst mit der Waffe in der Nationalen Volksarmee (NVA) „antisozialer Kriegsdienst" wäre, und die überwiegende Mehrheit der jungen Christen leiste den Dienst mit der Waffe in der NVA Diese Leute, so Gysi, „können nicht diffamiert werden". Und er fügte unmißverständlich hinzu: „Wer mit dieser klaren Stellungnahme des Staates nicht einverstanden ist, zeigt damit, daß es ihm um die Konfrontation geht."

Trotz der staatlichen Ablehnung waren die Bemühungen um einen „sozialen Friedens-dienst" ein, wenn nicht der wichtigste Impuls für die weitere Entwicklung der Friedensdiskussion. Im DDR-Kirchenbund wurde eine verstärkte Diskussion angeregt, die der Initiative zugrundeliegende pazifistische Position zu reflektieren.

III. Schwerter zu Pflugscharen ...

Mit der Jahreswende 1981/82 reagierte die SED wesentlich nervöser auf die Tatsache, daß sich in der Friedensdiskussion eine Kluft zwischen dem Staat und einem Teil der Gesellschaft aufgetan hatte, die das Integrationsvermögen des politischen Systems vor ernste Probleme stellt. Der sich abzeichnende „Desintegrationsprozeß in Sachen Frieden" wurde am deutlichsten nach der Friedensdekade im November 1981. Ein legal in der DDR von der Kirche hergestellter Textildruck, der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen", fand einige zehntausend Träger in der gesamten DDR. Jugendliche entdeckten den Spruch aus dem Alten Testament, der mit der Grafik einer Plastik, die die Sowjetunion der UNO zum Geschenk gemacht hatte, ergänzt worden war. Sie nähten ihn auf ihre Parkas und Jeans auf, legten ihn als Lesezeichen in Schulbücher oder klebten ihn aufs Moped.

Als er sich immer weiter ausbreitete, reizte er die Ordnungshüter — es kam zu den verschiedenartigsten Übergriffen und Repressalien gegen einzelne. In Rostock und Halle, Dresden und Ost-Berlin wurden Schüler von ihren Lehrern gezwungen, die Aufnäher von ihrer Kleidung zu entfernen. Auf offener Straße wurden Jugendliche herausgegriffen und auf Polizeiwachen geschleppt Eine Gruppe junger Christen, die zu einer kirchlichen Veranstaltung nach Halle gefahren war, durfte das Bahnhofsgelände nicht verlassen, ehe die Aufnäher abgetrennt waren. Auto-scheiben wurden überklebt, wenn das Zeichen von innen prangte, sonst fand es der Fahrer säuberlich abgekratzt — genauso an Wohnungstüren.

Ein Ost-Berliner Jugendlicher mußte eine Ordnungsstrafe in Höhe von 150 Mark zahlen. Der Vorwurf: „Sie haben am 30. 3. 1982 eine Ordnungswidrigkeit begangen, indem Sie durch das Tragen einer symbolhaften Darstellung mit pazifistischer Aufschrift in der Öffentlichkeit das Schutzbedürfnis der Bevölkerung der DDR grob mißachteten und somit das sozialistische Zusammenleben störten. Es wird daher gegen Sie eine Ordnungsstrafe von 150, — Mark festgesetzt. Begründung: Mit dieser Handlung verletzten Sie das Moral-empfinden der Bürger des sozialistischen Staates und verursachten eine ungebührliche Belästigung der Bürger."

Die auf der III. ZK-Tagung der SED Ende November 1981 angekündigte und im Frühjahr 1982 auf Hochtouren gebrachte Gegenoffensive „Der Frieden muß verteidigt werden — der Frieden muß bewaffnet sein" erwies sich jedoch eher als Bumerang; der Widerspruch junger Leute zur staatlichen Friedenspolitik wurde dadurch nicht verringert. Selbst wenn SED-Mitglieder erklärten, daß sie einer Utopie einer Welt ohne Waffen „im Prinzip" zustimmen würden und den Friedenswillen der DDR ständig beteuerten, konnten immer weniger Menschen dies mit der verstärkten Militarisierung in Einklang bringen.

Der Ost-Berliner Bischof Gottfried Forck, der noch heute das Emblem auf einer Aktentasche trägt, beklagte sich in einem Wort an die Gemeinden daß bei den staatlichen Eingriffen keine klare Auskunft über die Rechts-grundlage gegeben werde. In einem Gespräch mit DDR-Staatssekretär Klaus Gysi (das am 7. April stattfand) wiesen die Vertreter des DDR-Kirchenbundes, darunter Bischof Krusche, deshalb daraufhin, daß sich die Kirchen außerstande sehen, den Jugendlichen die staatliche Haltung verständlich zu machen; aus dem Vorgehen der staatlichen Organe seien schwerwiegende Folgen für die persönliche Entwicklung der Jugendlichen zu befürchten. Es wurde ausdrücklich an die Staatsvertreter appelliert, daß an einer Verschärfung des Konfliktes niemandem gelegen sein kann.

IV. Das Dresdener Friedensforum

Doch der Staat bleibt beim Konfrontationskurs. Die verheerenden innenpolitischen Konsequenzen scheinen ihn wenig zu kümmern. Zu Trotz und Resignation mischt sich bei vielen Jugendlichen der totale Verlust von Vertrauen — in Staat und Kirche. Am 13. Februar 1982, dem Jahrestag der Zerstörung Dresdens, kamen über 5 000 Besucher in die Dresdener Kreuzkirche, um dort mit den kirchlichen Vertretern in aller Offenheit sie bewegende Fragen des Friedens zu diskutieren. Eine solche Veranstaltung war in der DDR bis dahin ohne Beispiel. Schon damals wurde aber deutlich, „daß auch die Integrationskraft der Kirche in der Friedensfrage nur bedingt ist und die Initiativen, die jenseits dieser Grenzen liegen, von der Kirche nicht mitverantwortet werden können“ Die Jugendlichen strömten den ganzen Tag über aus den Zügen, deutlich erkennbar an ihren Abzeichen auf Parkas und Jacken. Andere hatten um ihren Kopf selbstgemachte Stirnbänder mit der Aufschrift „Frieden schaffen ohne Waffen“. Daß es eine, wenn auch im Vergleich zur Friedensbewegung im Westen noch immer kleine, neue Bewegung gibt, wurde hier erstmals öffentlich sichtbar. Das Treffen in der Dresdener Kreuzkirche, das auf Drängen der an der Basis in den verschiedensten Friedensinitiativen Aktiven zustande kam, war von offizieller kirchlicher Seite unterstützt worden. Es blieb dadurch auch von Konflikten mit staatlichen Sicherheitsorganen, die ein selbständiges Treffen der Jugendlichen gewiß nicht erlaubt hätten, verschont.

Das eigentliche Friedensforum begann nach dem alljährlichen Gedenkgottesdienst. Man reichte Fragen schriftlich zum Podium hinauf, wo als Repräsentanten der Kirche u. a. Landesbischof Hempel, Kirchenamtspräsident Domsch, Jugendpfarrer Bredtschneider und der Fachreferent für Friedensfragen beim evangelischen Kirchenbund Garstecki Platz genommen hatten. Es kamen alle Fragen, die in Friedenskreisen diskutiert werden, auf den Tisch. Etwa:

Soll man in der Schule am Wehrunterricht teilnehmen oder nicht? Müßte es nicht in der Schule ein Fach „Friedenserziehung“ geben? Gibt es wirklich keine Chance für einen sozialen Friedensdienst? Was hält die Kirche vom „Berliner Appell" des Pfarrers Eppelmann, sollte man so etwas nicht unterschreiben? Warum können z. B. in Zittau Jugendliche mit dem Aufnäher „Schwerter zu Pflug-scharen" an ihrer Kleidung in die Schule gehen, während an anderen Orten diese Losung nicht geduldet wird? Den Kirchenvertretern fiel es oft schwer, zu antworten. Da sich der Staat nicht selber der Diskussion über solche Fragen stellt, mußten sie immer wieder auch sein „Nein“ und seine Argumente gegen die Wünsche der Jugendlichen erklären. Dort, wo sie die Jugendlichen um Zurückhaltung in ihren Aktivitäten bitten mußten, ernteten sie deutliche Äußerungen des Mißfallens.

V. Berliner Appell

Bei all ihrem Engagement in Sachen Frieden wollen die evangelischen Kirchen sich nicht an die Spitze einer unabhängigen DDR-Friedensbewegung stellen, wie dies von oppositionellen Persönlichkeiten wie dem inzwischen verstorbenen Regimekritiker Robert Havemann oder Schriftstellern wie Stefan Heym verlangt worden ist. Die Kirche betreibt selbst eigenständige Friedensarbeit, die allerdings mit nichtkirchlichen Initiativen — auch staatlichen — korrespondiert. Sie spielt eher die Rolle des Vermittlers zwischen Staat und kritisch-engagierter Jugend. Sie versucht, gegenüber dem Staat Verständnis für die Ernsthaftigkeit des Friedenswillens der jungen Leute zu wecken und gegenüber der drängenden Basis Verständnis für das politisch Erreichbare unter den gegebenen Bedingungen. In dieser Mittlerrolle gerät sie schnell bei beiden Seiten ins Zwielicht. Vorwürfe wie Opportunismus auf der einen, und Oppositionspartei auf der anderen Seite wechseln sich ab. Die Kirchenleitungen müssen das aushalten. Ihre Politik bewegt sich auf einem schmalen Grat; der eigene Spielraum ist relativ gering. Die acht Millionen Mitglieder sind auch politisch sehr unterschiedlich zusammengesetzt — die Äußerungen der Kirchenführungen müssen das berücksichtigen. Die Erwartungen sind oft größer, weil sie an diesen einfachen Tatsachen vorbeisehen.

In dieser Situation ist es nicht immer leicht, wenn sich einzelne Stimmen zu Wort melden.

Zahllose Friedenspapiere entstanden in letzter Zeit zur Klärung des Selbstverständnisses; allerorten setzten sich Menschen auf eigene Initiative zusammen und diskutierten, was sie tun könnten. Einzelne verfaßten offene Briefe.

Weltweit bekannt wurde ein Kreis um den Ost-Berliner Pfarrer Rainer Eppelmann durch den sogenannten „Berliner Appell — Frieden schaffen ohne Waffen" (Eppelmann ist auch der Veranstalter der „Bluesmassen", die mehr-mals jährlich ca. 7 000 Jugendliche anziehen.) Die in diesem Appell enthaltenen Forderungen nach einer atomwaffenfreien Zone in Europa und nach dem Abzug der Besatzungstruppen aus Deutschland konnten von vielen kirchlichen Friedensaktiven nicht mehr nachvollzogen werden. Von Seiten der Ost-Berliner Kirchenleitung äußerte man sich distanziert sowohl zur Form als auch zum Inhalt des „Berliner Appells", für den eine Unterschriftensammlung begonnen hatte. In einem zuvor von Eppelmann an Erich Honecker gerichteten offenen Brief finden sich neben diesen weniger konsensfähigen politischen Forderungen aber auch eine ganze Reihe von „vertrauensbildenden Maßnahmen", die auch in kirchlichen Friedenskreisen immer wieder Stein des Anstoßes sind. Dabei geht es etwa um:

— Verbreitung von Kriegsspielzeug in der DDR — Verherrlichung des Soldatentums im Schulunterricht — : Abschaffung organisierter Besuche von Kindergartengruppen und Schulklassen in Kasernen — Abschaffung des Wehrunterrichtes und der vormilitärischen Ausbildung — Verzicht auf groß angelegte Feiern und Präsentationen von militärischem Material bei Volksfesten Verzicht militärische — auf jede Demonstration bei Staatsfeiertagen — keine Benachteiligung mehr für alle, die pazifistische Überzeugungen äußern usw. Eppelmanns Brief an Honecker blieb unbeantwortet. Auf den „Berliner Appell“ reagierten die staatlichen Organe sehr schnell: Wenige Stunden, nachdem das Politbüro tagte und westliche Zeitungen den Wortlaut des Appells veröffentlichten, nahmen Beamte der Staatssicherheit mehrere Unterzeichner des Aufrufs fest. Rainer Eppelmann wurde zwei Tage lang verhört, dann jedoch — wie alle übrigen Beteiligten — wieder auf freien Fuß gesetzt; das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt

VI. Frieden und Ökologie

In der neuen Friedensbewegung denken aber nur die wenigsten weltpolitisch oder gar deutschlandpolitisch. Die Betroffenheit, die zur Aktivität führt, resultiert eher aus dem direkt persönlich Erlebten. Wenn man genauer hinsieht, wird dabei deutlich, daß es nicht nur der Frieden ist, der die Beteiligten bewegt. Schon beim ersten Dresdener Friedensforum wurde die Frage nach einem alternativen Lebensstil gestellt. Es müsse eine Verbindung von Friedensbewegung und Ökologie-Engagement geben, hieß es, denn was nütze es, wenn der äußere Friede erhalten bleibt und im Inneren alles zerstört sei? ökologisches Bewußtsein und alternativer Lebensstil schließe daher das Friedensengagement mit ein und umgekehrt.

Viele, die im Februar 1982 in Dresden dabei waren, nahmen darum einige Monate später auch an kirchlichen Ökologieaktionen teil, die in einigen DDR-Städten wie Leipzig, Dresden, Schwerin, Rostock, Neustrelitz und OstBerlin schon seit ein paar Jahren Tradition sind. Dabei treffen sich jeweils einige hundert Leute über das Wochenende. Man pflanzt z. B. Bäume — gelegentlich mit Unterstützung des örtlichen „VEB Stadtgrün" —, am Abend finden Informations-und Diskussionsveranstaltungen statt, bei denen es um Lebensstil, alternativen Landbau, Kernkraftwerke oder andere Umweltprobleme geht, denn in den DDR-Medien wird kaum etwas darüber veröffentlicht, und dieses Informationsdefizit will man ausgleichen.

Auch beim Friedensseminar in Königswalde wurde über die Verbindung von Friedens-und Okologieengagement mehrfach diskutiert Die Aktion „Mobil ohne Auto" findet in diesem Jahr am 4. /5. Juni in Dutzenden von DDR-Städten nun schon zum dritten Mal statt. Fahrraddemonstrationen auf eigene Faust mit einigen hundert Beteiligten gab es u. a. in Ost-Berlin und Leipzig.

Auch wenn es sich nach wie vor um Minderheiten handelt, sind diese neuen Formen von zivilisationskritischem Denken innerhalb der sozialistischen DDR-Gesellschaft von großer Bedeutung.

„Menschliche Arbeit", schreibt ein Wittenberger Umweltkreis, „darf auch in der DDR nicht mehr vorrangig auf die weitere Anhäufung und den beschleunigten Verbrauch materieller Güter, sondern muß mehr als bisher auf geistig-kulturelle Betätigung, soziales Engagement und solidarische Lebenshaltung gelenkt werden." Gesellschaftlicher Reichtum müsse darum heute definiert werden als materieller und geistig-kultureller Reichtum, als Summe dessen, was zur Bereicherung der menschlichen Wesenskräfte führt. Dies aber besteht nicht darin, über eine möglichst große Menge materieller Güter zu verfügen. Für Karl Marx trat an die Stelle des bloßen national-ökonomischen Reichtums der reiche Mensch, der zugleich „der einer Totalität der menschlichen Lebensäußerung bedürftige Mensch" ist, für den der andere Mensch den größten Reichtum darstellt

Eine solche Umorientierung des Verständnisses von gesellschaftlichem Reichtum erfordert eine entsprechende Veränderung gesellschaftlicher und individueller Zielsetzungen, heißt es weiter. Diese Veränderungen könnten zu einer grundlegenden Veränderung der Produktion im ökologischen Sinne führen. Sie schließen ein Stück Verzicht ein, gleichzeitig würden die Menschen ihre neuen qualifizierten Ansprüche äußern.

Auch in der DDR gibt es unter Jugendlichen so etwas wie eine zweite Kultur. Einige zehntausend junge Leute, in Ost-Berlin, Dresden, Leipzig und anderen großen Städten, leben in einer Art inneren Emigration mit einem Lebensgefühl, das in vielem etwa der West-Berliner Jugendszene entspricht. Es existiert ein ähnlicher Bruch zwischen den Generationen. Die bislang gültigen abendländischen und preußisch-deutschen Werte haben für viele ihren Glanz verloren. Die Lebensziele von immer mehr Heranwachsenden sind nicht mehr der materielle Wohlstand, die Anhäufung Befriedigung und Glück versprechender Waren von der Schrankwand bis zur Gartenlaube. Ein Blick in die neuere Literatur, die letzten DDR-Filme oder die Jugendszenen der urbanen Metropolen, die von Punks angefangen alle Sorten von Aussteigern umfassen, zeigt, daß es sich bereits um eine ernst zu nehmende gesellschaftliche Strömung handelt Einen Dialog des Staates mit diesem Teil seiner Jugend gibt es jedoch bislang nicht.

VII. Deutschlandpolitische Aspekte

Zu den wesentlichen Voraussetzungen für die Anerkennung einer eigenständigen Friedens-arbeit des DDR-Kirchenbundes gehört für die SED die Unabhängigkeit von den Kirchen in der Bundesrepublik. Die Gründung des selbständigen DDR-Kirchenbundes bei gleichzeitiger Trennung von der EKD war eine Voraussetzung der Entspannung zwischen Staat und Kirche in den siebziger Jahren. Die Kirchenpolitik der SED ist stets auch mit ihrer Deutschland-Politik verknüpft gewesen. Die innenpolitische Entkrampfung gegenüber der Kirche in den siebziger Jahren vollzog sich auf dem Hintergrund der Ende der sechziger Jahre eingeleiteten Entspannungspolitik. In der jüngsten Zeit, insbesondere im Frühjahr 1980 — nach Verabschiedung einer gemeinsamen Erklärungen zwischen EKD und DDR-Kirchenbund und der Aufnahme gemeinsamer Konsultationen über Friedensfragen —, wurde das Zusammenwirken über die innerdeutsche Grenze hinweg von der SED begrüßt, solange dies auch ihrer Politik entsprach und auf der Ebene „eigenständig" agierender Partner geschah. Zum Zeitpunkt eines besonderen Tiefs der internationalen Lage (Afghanistan) nahmen die Kirchen sogar so etwas wie eine besondere deutschlandpolitische Rolle ein, indem sie bewußtseinsbildend in die Bevölkerung und gesprächsvermittelnd zwischen Bonn und Ost-Berlin wirkten.

Wieweit solche Aktivitäten von der Kirche wahrgenommen werden können, hängt zweifellos vom Inhalt ab. Richtet sich die Kritik gegen westliche Maßnahmen (Doppelbeschluß der NATO), so wird sie gefördert, richtet sie sich beispielsweise vorsichtig gegen die sowjetische Intervention in Afghanistan, erfolgt die Zensur der Kirchenpresse (wie im Herbst 1980).

Die Aktivität über die innerdeutsche Grenze hinweg hängt vor allem von der politischen Gesamtlage ab. So schlugen sich im Herbst 1980 die Spannungen in Polen auf die Deutschland-und damit auch in die Kirchen-politik der SED nieder. Insofern sind den Bemühungen der Kirche hier besonders enge und empfindliche Grenzen gesetzt.

Gemeinsam verabschiedete Dokumente zwi-

schen den evangelischen Kirchen der Bundesrepublik und der DDR haben Seltenheitswert. Allein darum erregen sie öffentliches Aufsehen, auch dann, wenn ihr Inhalt nicht besonders aufregend ist. Solch ein Dokument ist der im August 1982 veröffentlichte Arbeitsbericht der deutsch-deutschen Konsultationsgruppe über Friedensfragen, die von beiden Kirchen 1980 eingesetzt wurde. Worüber in den DDR-Kirchen schon weitgehend Konsens erzielt werden konnte, z. B. Forderungen nach einseitigen Abrüstungsschritten, Absage an das System der Abschreckung, findet sich — aus Rücksicht auf die EKD — nicht in dem gemeinsamen Arbeitsbericht der Konsultationsgruppe. „Ungeklärt unter uns sind die Folgerungen aus dem unerhörten Widerspruch: die Verteidigung vernichtet aller Wahrscheinlichkeit nach alles, was verteidigt werden soll. Gemeinsam sind wir überzeugt: diese lebensbedrohende Aporie muß überwunden werden.“

Beruhigend sind die vielen — zumindest im grundsätzlichen — übereinstimmenden Positionen zwischen den beiden großen deutschen Kirchen. Als eine der Kernaussagen des Berichtes dürfte man die Passage werten, die sich auf die Grenze zwischen NATO und Warschauer Pakt bezieht. Da heißt es: „Kein Ziel oder Wert kann heute die Auslösung eines Krieges rechtfertigen. Die Abwendung des Krieges ist Voraussetzung für die Verwirklichung von Menschenrechten, von Freiheit und Gerechtigkeit. Die Kirche hat die Verpflichtung, darauf hinzuweisen, daß ein Krieg Freiheit und Gerechtigkeit und mit ihnen die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben nicht verteidigt, sondern — vielleicht sogar unwiderbringlich — zerstört."

Die Kirchen erklären also — und das richtet sich nicht zuletzt an die verantwortlichen Politiker in beiden deutschen Staaten —: die Verteidigung der Demokratie durch Krieg wird das Ende der Demokratie bringen, genauso wie die Verteidigung des Sozialismus durch Krieg das Ende des Sozialismus bedeutet. So enthält der Bericht zumindest indirekt eine Absage an die Abschreckung als Instrument der Friedenssicherung.

VIII. Von der emotionalen Betroffenheit zum Dialog

Die jüngste Synode des DDR-Kirchenbundes bilanzierte vor wenigen Monaten die Entwicklung der letzten Jahre. Dabei versuchte die Leitung des Bundes, die verschiedenen Stimmungen und Strömungen in Sachen Frieden zu beschreiben und gegeneinander abwägend zur Diskussion zu stellen. Deutlich wurde das Bemühen, mit allen Andersdenkenden in der DDR weiter im Gespräch zu bleiben. Zu den Ergebnissen der Bundes-Synode gehörte u. a., daß man vom Staat mehr Toleranz für die Gewissensentscheidungen jugendlicher Pazifisten erwartet, ebenso eine Erleichterung für diejenigen, die sich zu einem Dienst ohne Waffe entschließen. Bausoldaten sollten so eingesetzt werden, daß ihr Dienst als Ausdruck gesellschaftlicher Verantwortung und Friedensbereitschaft einen positiveren Inhalt erhält, z. B. für Naturschutz, Katastrophenschutz, Hilfe an Behinderten. Ein weiteres Problem müsse endlich gelöst werden: es geht um diejenigen Reservisten, die schon einmal bei der Nationalen Volksarmee (NVA) gedient haben, sich aber heute für einen waffenlosen Dienst entscheiden. Diese Verweigerer, von denen es im Jahre 1982 rund 100 gegeben hat — einige wurden von Militärgerichten hart bestraft, andere überlegten es sich doch noch anders —, werden nach der gegenwärtigen Praxis, da ja eine nachträgliche Verweigerung des Waffendienstes gesetzlich nicht möglich ist, zu Strafen verurteilt, deren Maß die Zeit des -vorgesehe nen Reservistendienstes bei weitem übersteigt. Sie sollten nach Ansicht der Kirche wenigstens die Möglichkeit erhalten, ebenfalls im Rahmen der Bausoldaten ihren Reservedienst ausüben zu können. Dies ist nach wie vor ein Konfliktpunkt.

An die Politiker gewendet, nicht zuletzt in beiden deutschen Staaten, enthält der Kirchenleitungsbericht eine ganze Reihe von Vorschlägen, die als Konsequenz einer Absage an den Geist des Abschreckungssystems und als politisch durchaus realisierbare Etappenziele angestrebt werden könnten. Ausdrücklich wird betont, daß eine Absage an das System der Abschreckung nicht gleichgesetzt werden dürfe mit einer Absage an vernünftige Verteidigungsbereitschaft. Es sei darum notwendig, das Abschreckungsdenken als einen Mißbrauch des jedem Lande zustehenden Rechtes auf Verteidigung zu durchschauen. Die DDR-Kirchen hätten berechtigte Sicherheitsinteressen ihres Staates und anderer Staaten niemals in Frage gestellt, sondern anerkannt. Das will man keineswegs zurücknehmen, wenn man jetzt zu der Erkenntnis kommt, daß der Geist des Abschreckungssystems nur verworfen werden kann. Bei den politisch konkret realisierbaren Maßnahmen, die den DDR-Kirchenleitungen vorschweben, handelt es sich um drei Komplexe:

„ 1. Der Austausch von Informationen zwischen möglichen Gegnern, die in Wahrheit Partner der Sicherheit sind, sollte so verstärkt werden, daß der jeweils andere instandgesetzt wird, die Absichten und Planungen der anderen Seite richtig einzuschätzen. Maßnahmen der Geheimhaltung sollten auf dasjenige Maß begrenzt werden, das auch für einen friedlichen Wettbewerb unumgänglich ist.

2. Vertrauensbildende Maßnahmen könnten wahrscheinlich dann wirksamer entwickelt werden, wenn bei jedem Schritt konkret gefragt wird, was auf der anderen Seite Ängste hervorrufen kann, und wie solche Ängste verringert werden könnten. In der militärischen Entwicklung sollte das Schwergewicht der Anstrengung auf die Entwicklung von Waffenarten verlegt werden, deren defensiver Charakter ist. Damit erkennbar könnte dem einsichtigen kategorischen Imperativ für Abrüstung Rechnung getragen werden: . Rüste so, daß der andere das genau nachmachen davon kann, ohne daß du dich bedroht fühlst!'

3. Es scheint vordringlich, daß auf Rüstungsmaßnahmen verzichtet wird, die die Möglichkeit von Überraschungshandlungen zum Ziel haben und die Vorwarnzeit verkürzen. Die gegenwärtig existierenden Waffen, die auch zu Aggressionszwecken verwendet werden können, sollten auseinandergerückt werden. Die Bildung von regionalen atomwaffenfreien Zonen — zum Beispiel in Europa — sollte ein vordringliches Ziel konkreter politischer Verhandlungen sein. Die Etablierung erkennbar defensiver Sicherheitssysteme gehört auf die internationale Tagesordnung ebenso wie das Konzept begrenzter einseitiger Abrüstungsschritte. Nicht die Glaubwürdigkeit der Abschreckung, sondern die der Friedensfähigkeit ist zu erweisen."

Gerade der letzte Punkt macht deutlich, wie weitreichend die Konsequenzen aus der Ab-sage an den Geist des Abschreckungssystems tatsächlich sind. Zu den Rüstungsmaßnahmen, auf die verzichtet werden soll, weil sie Überraschungshandlungen zum Ziel haben und die Vorwarnzeit verkürzen, gehören NATO-wie Warschauer Pakt-Raketen.

Nach den Konflikten um den Aufnäher ließen die Leitungen der evangelischen Kirchen deutlich werden, daß man keine unfruchtbare Konfrontation will, sondern Diskussion. Ein Zeichen der kirchlichen Bereitschaft war der Verzicht auf die erneute Herstellung des Aufnähers. An der Basis wird diese Politik der Kirchenleitungen mehrheitlich mitgetragen. Auch die staatliche Seite kam der Kirche ein kleines Stück entgegen: Sie erteilte die Druckerlaubnis für Plakate, Lesezeichen und Faltblätter. Diese Werbematerialien für die Friedensgottesdienste, Meditationen, Feiern und Gemeindeabende trugen wieder das Symbol mit dem Schwert-umschmiedenden Mann. Staat und Partei wollten im Herbst 1982 — kurz vor Beginn des Luther-Jahres — ganz offensichtlich aus der Konfrontation herauskommen, in die sie sich mit den Konflikten um Friedensabzeichen selbst hineinmanövriert hatten.

Gegenüber dem Vorjahr war die Beteiligung an der Friedensdekade 1982, die unter dem Thema „Angst — Vertrauen — Frieden" stand, deutlich stärker. Schier unübersehbar waren die Programme der Kirchengemeinden. In Magdeburg ging es z. B. um das Thema „Versöhnung contra Vorurteile — Deutsche und Polen — Nachdenken über eine Nachbarschaft." Es gab gemeinsam mit der kleinen jüdischen Gemeinde ein Kristallnachtgedenken, ferner eine Rechtsberatung für Wehrunterricht, Zivilverteidigung, Wehrdienst und vormilitärische Ausbildung. Bei einer Friedenswerkstatt wurden im Rollenspiel friedliche Verhaltensweisen bei Konfliktfällen geprobt. Gut besucht waren an vielen Orten aber auch die Bibelgespräche und Friedensgebetkreise. Bei einem „stillen Weg" in Halle zogen mehr als 1 300 Menschen aus sieben Gotteshäusern zur Marktkirche im Zentrum der Stadt. Bemerkenswert viele katholische Christen konnte man bei solchen Veranstaltungen antreffen.

Ein neues Thema der Diskussionen: das im Frühjahr 1982 beschlossene DDR-Wehrdienstgesetz sieht auch die Möglichkeit vor, Frauen zur Armee einberufen zu können. Dies soll zwar nur für den Ernstfall gelten, doch sind hierüber viele Bürger sehr beunruhigt. Einige Frauen hatten auf dieses Problem schon bei der Ost-Berliner Friedenswerkstatt im Juni 1982 hingewiesen. An ihrem Informationsstand hatten sie einer weiblichen Schaufensterpuppe einen Stahlhelm übergestülpt. Einige hundert richteten auch Briefe an Erich Honecker zu dieser Frage Bis heute gab es für sie keine nennenswerten Repressionen.

IX. Wenn die Dynamik zwischen Staat, Kirche und Jugend blockiert ist ...

Wenn der Staat sich nicht entgegenkommend zeigt, wird die Lage für die Betroffenen ernster. Die jüngste Entwicklung in Jena ist ein Beispiel dafür. Der seit dem Sommer 1982 schwelende Konflikt, der mit der Freilassung aller inhaftierten jungen Leute zunächst ein überraschend positives Ende fand, zeigte die Konsequenzen aus dem Vertrauensverlust zwischen engagierter Basis und Leitung der Kirche in einer besonders zugespitzten Situation. Doch auch bei den kirchlichen Friedens-Veranstaltungen am 13. Februar 1983 in Dresden kam Unmut stärker als im Vorjahr auf: Warum macht die Kirchenleitung so viele Kompromisse mit dem Staat?" wollte man dort u. a. wissen. Und: „Die Kirche macht genau wie der Staat oft undurchschaubare Politik". Aufgebrachte Frauen meinten: „Wenn Kritik im Rahmen der Kirche nicht möglich ist, dann müssen wir das eben außerhalb machen." Als die Diskussion für beendet erklärt wurde, kamen Rufe: „Das ist ja hier bald wie beim Staat!"

An den Ereignissen in Dresden oder Jena kann man ablesen, wie tief die Enttäuschung engagierter junger Leute ist, wenn sie heute feststellen, daß die Kirche ihre Erwartungen nicht erfüllt In den letzten Jahren hat sie Zulauf von vielen, oft weniger am christlichen Glauben als an christlich-humanistischen Werten Interessierter bekommen, die sie nun bedrängen, entschiedener „Kirche für andere" zu sein. Diese Kirche balanciert auf einem schmalen Grat: Auf der einen Seite erwartet der Staat von ihr loyales Verhalten und die Befriedigung der unruhigen Geister, auf der anderen Seite drängen die Jugendlichen. Diese Balance kann die Kirche auf Dauer nur halten, wenn der Staat sich wenigstens ab und zu kompromißbereit zeigt. Das gilt gegenwärtig vor allem in der Friedensdiskussion. Doch die jüngsten Initiativen der DDR-Führung sorgen auch in kirchlichen Kreisen eher für Kopfschütteln. Statt flexibler Politik gegenüber den neuen Trägern von Friedensverantwortung, die sich auch in der DDR in den letzten Jahren herausgebildet haben, wird allzu-oft der konventionelle harte Kurs gesteuert, antiquierte Rückgriffe auf Politikformen der fünfziger und sechziger Jahre gemacht. Den kritischen Jugendlichen muß alle kirchliche Rücksichtnahme als sinnlos erscheinen. Je konsequenter der Staat ihre Anliegen ignoriert, desto unmöglicher wird es auf Dauer für die Kirche werden, ihre Rolle als Vermittler zwischen beiden wahrzunehmen. Jena macht deutlich, was passiert, wenn jede Dynamik zwischen Staat, Kirche und Jugend blockiert ist.

X. Die neue Enspannungspolitik: von oben und von unten

Die Entwicklungen der letzten Jahre in der DDR zeigen eine neue Qualität: Diese Bewegung ist keine vorübergehende Erscheinung, sondern ein politischer Faktor geworden, mit dem die SED lernen muß umzugehen. Anders als bei einzelnen Oppositionellen in früheren Zeiten ist ihr auch nicht mit dem Mittel der Ausbürgerung beizukommen, wenngleich es — wie auch Verhaftungen, Relegierungen, Verweise, Entlassungen — einzelne immer noch trifft. Im Kern entzünden sich die Konflikte an einem Punkt: Es geht um die Anerkennung des Rechtes auf einen eigenständigen Friedensimpuls, der von unten, aus der Bevölkerung kommt, nicht vom Staat.

Die staatliche Friedenspolitik bedarf der Ergänzung durch eigenständige Abrüstungsund Friedensimpulse. Ja, die staatlichen Bemühungen werden überhaupt nur dann unter Erfolgszwang stehen, wenn autonome Bewegungen („non-governmental-groups") existieren, die nicht Teil staatlichen Kalküls sind. Die Entspannungspolitik der achtziger Jahre muß sich von unten entfalten können. Die Friedensbewegungen im Westen brauchen keine offiziellen Gesprächspartner, die in Terminologie, Denken und Handlungsmöglichkeiten befangen sind im System der Abschreckung, das bei den Regierenden in Ost und West ja gleichermaßen akzeptiert wird.

Entspannungspolitik von unten bedeutet, daß neue Gruppierungen mit neuen Friedens-ideen miteinander kommunizieren können, in Ost-und Westeuropa über die Grenzen hinweg.

Die Werte, denen man in Deutschland-Ost und -West im Grunde ähnlich huldigt, ziehen vor allem bei der jeweiligen Jugend nicht mehr. Die Identifikation mit den politischen und ökonomischen Systemen hat nachgelassen, ohne im anderen die Alternative zu sehen. Zu einem Werteverlust an nationaler, kollektiver und persönlicher Identität kommen Defizite im persönlichen und emotionalen Bereich, die zu einem Anwachsen ähnlicher sozialer Probleme in der Bundesrepublik und der DDR geführt haben. Große Teile der Jugend in beiden deutschen Staaten entziehen sich ihrer Gesellschaft.

Die ausdauernde Existenz solcher sozialer Bewegungen ist etwas vollkommen Neues in der deutschen Nachkriegsgeschichte, aber nicht nur in Deutschland. In den westlichen und östlichen Industriezivilisationen erstarken von der Jugend ausgehende alternative Bewegungen, die sich nicht mehr in den alten Widerspruch Ost/West und Kapitalismus/Sozialismus einordnen lassen (wollen).

Diese Bewegungen beeinflussen sich gegenseitig. Sie bringen alte Feindbilder zu Fall und dienen daher mehr dem Abbau der Spannungen als einer Fortschreibung des Status quo mit mehr oder weniger Waffen durch die konkurrierenden Regierungen, die auf den Systemwiderspruch geradezu beharren müssen, um die eigene Position weiter begründen zu können. Beiderseits der Mauer steht man dabei eigentlich vor gleichen politischen und ökonomischen Problemen, die keines der Systeme legitimieren, sich notfalls mit Atomwaffen als das „Bessere” zu verteidigen. Erst die Existenz ähnlicher Alternativ-Bewegungen in Ost und West ermöglicht eine neue Form der Entspannungspolitik. Es gibt damit endlich einen Bezugspunkt der Menschen beiderseits der Mauer, die sich so vom Objekt zum Subjekt der Entspannungspolitik emanzipieren können. Der Alp des Systemgegensatzes — der heute und erst recht mit Blick auf das Ende unseres Jahrtausends immer anachronistischer wird — könnte in sich zusammenbrechen und damit den Weg zu wirklicher Entspannung erst frei machen.

Die Existenz und Koexistenz mit den anderen Staaten muß dabei von den Beteiligten glaubhaft bejaht werden. Politische und ökonomische Stabilität der Staaten gehört ebenfalls zu den Voraussetzungen. Dies braucht jedoch keineswegs den Stillstand von notwendigen gesellschaftlichen Entwicklungen zu bedeuten. Umgekehrt gilt: es ermöglicht sie gerade erst. Destabilisierung würde katastrophale Konsequenzen haben; so sehen es auch Teilnehmer einer kürzlich in Potsdam stattgefundenen Beratung aller kirchlichen DDR-Friedenspraktiker Dort wurde über den Gedanken einer europäischen Sicherheitspartnerschaft diskutiert („Eine Seite ist so sicher wie die andere"), den auch Erich Honecker in seiner Neujahrsansprache aufgenommen hatte und bei seiner Ansprache zur Eröffnung der Leipziger Frühjahrsmesse wiederholt hat.

Entspannungspolitik darf sich nicht nur in vertrauensbildenden Maßnahmen im Militär-bereich, vertraulichen Gesprächen der Regierungsspitzen hinter verschlossenen Türen, offiziellen Kontakten halbstaatlicher Organisationen im Kultur-und Sportbereich oder in Wirtschaftsabkommen erschöpfen — das alles hat zweifellos seinen Nutzen. Doch heute gibt es so viele Kräfte in Ost und West, die das Gepräch miteinander anfangen wollen, so daß ein neuer Friedensdialog jenseits der in die Sackgasse geratenen Entspannungspolitik von oben möglich ist. Dies ist die wesentliche neue Dimension von Entspannungspolitik, die mit dem Entstehen neuer Bewegungen auch mit in jedes politische Kalkül gezogen werden muß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der DDR-Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, äußerte sich bei einer Auslandreise, die ihn u. a. nach London und Genf führte, grundsätzlicher über die staatliche Kirchenpolitik. In London sagte er am 13. Mai 1981 vor dem Königlichen Institut für Internationale Angelegenheiten u. a.: „Eine Besonderheit, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit richten möchte, ist, daß die DDR das einzige sozialistische Land ist, wo der Protestantismus die Mehrheit bildet. Das ist deshalb wichtig, weil die Kirchen eine grundsätzlich unterschiedliche Einstellung gegenüber gesellschaftlicher Verantwortung haben ... sie sind zur gesellschaftlichen Beteiligung gerufen. In diesem Kontext haben wir ein großes historisches Experiment in unserer Kirchenpolitik begonnen. Es ist schwierig, aber doch gleichzeitig eine Herausforderung an die Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Und ich glaube, es ist eine große Chance." (Vgl. epd-dokumentation, Frankfurt, 28/1981, S. 8).

  2. Mechtenberg, Die Friedensverantwortung der Evangelischen Kirchen in der DDR, in: Henkys (Hrsg.), Die Evangelischen Kirchen in der DDR, München 1982, S. 357.

  3. Vgl. dazu Eisenfeld, Kriegsdienstverweigerung in der DDR — ein Friedensdienst?, Frankfurt/Main 1978, und: Ehring/Dallwitz, Schwerter zu Pflugscharen — Friedensbewegung in der DDR, Hamburg 1982, und: Büscher/Wensierski/Wolschner, Ere densbewegung in der DDR —Texte 1978— 82, Hattingen 1982.

  4. Büscher/Wensierski/Wolschner, a. a. O. (Anm. 3), '49-96.

  5. Vgl. Henkys (Hrsg.), a. a. O. (Anm. 2), S. 186 ff.

  6. Büscher/Wensierski/Wolschner, a. a. O. (Anm. 3), S. 169 ff.

  7. Eba S. 258.

  8. Mechtenberg, a. a. O. (Anm. 2), S. 389.

  9. Der Ordnungsstrafbefehl liegt im Archiv der Berliner Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Publizistik vor.

  10. Am 14. 4. 1982 für die Ostergottesdienste.

  11. Mechtenberg, a. a. O. (Anm. 2), S. 392.

  12. Büscher/Wensierski/Wolschner, a. a. O. (Anm. 3 S. 242.

  13. Vgl. Kirche im Sozialismus, Materialdienst zu Entwicklungen in der DDR, Berlin (West), 1— 2/83.

  14. Wensierski/Büscher, Beton ist Beton — Zivilisationskritik aus der DDR, Hattingen 1981, dann: Kein Sonnenschein ohn'Unterlaß — Naturzerstorung in der DDR und ein Handlungskatalog, S 5111.

  15. Der Text findet sich im Wortlaut in der epddokumentation, 38/82, S. 1 f.

  16. Ebd.

  17. epd-dokumentation, 47/82, S. 9.

  18. Dokumentiert im SPIEGEL und Tageszeitung am 6. 12. 1982.

  19. über diese Zusammenkunft, die vom 28. bis 30. 1. 1983 in Potsdam-Hermannswerder zum Thema „Zukunft des Friedens" stattfand, existiert eine Presseinformation des DDR-Kirchenbundes vom 4. Februar 1983.

  20. Neues Deutschland 31. 12. 1982 und 14. 3. 1983.

Weitere Inhalte

Peter Wensierski, geb. 1954; Journalist in West-Berlin; verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift . Kirche im Sozialismus'und DDR-Reisekorrespondent des Evangelischen Pressedienstes (epd). Veröffentlichungen u. a.: Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978— 82, Hattingen 1982; Beton ist Beton. Zivilisationskritik aus der DDR, Hattingen 1982; VEB Nachwuchs. Jugend in der DDR, Hamburg 1983; Evangelische Jugendarbeit in der DDR, in: R. Henkys (Hrsg.), Die Evangelischen Kirchen in der DDR, München 1982.