ABM in den achtziger Jahren Technische Möglichkeiten und strategische Zwänge
Ren Herrmann
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Zusammenfassung
1972 wurde der ABM-Vertrag zwischen den USA und der UdSSR abgeschlossen. Er gilt bis heute als die bedeutendste Rüstungsbegrenzungsmaßnahme nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Voraussetzungen, die seinen Abschluß ermöglichten, haben sich jedoch grundlegend gewandelt. Landgestützte strategische Offensivwaffen werden zunehmend verwundbar durch die rasche Entwicklung besonders derjenigen Technologien, die die Ziel-genauigkeit ballistischer Raketen verbessern. Ohne die ABM-Verteidigung landgestützter Interkontintalraketen kann deren Uberlebensfähigkeit nicht mehr gesichert werden. Im Verlauf der siebziger Jahre hat auch die Entwicklung der für ABM-Systeme grundlegenden Technologien große Fortschritte gemacht. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Möglichkeit der nicht-nuklearen Bekämpfung nuklearer Interkontinentalraketen. Dazu gehören auch Systeme, die auf der Anwendung gerichteter, hochenergetischer Strahlung beruhen. Die sich somit abzeichnende Überwindung der strategischen Vorherrschaft von Nuklearsystemen wird sich noch nicht in den achtziger Jahren vollziehen. Die ersten Rückwirkungen dieser Entwicklung werden aber bereits im Verlauf der achtziger Jahre bemerkbar werden. Dazu gehört nicht zwangsläufig die Kündigung des ABM-Vertrags, denn dieser Vertrag versperrt nicht diese Entwicklung, sondern kanalisiert sie.
I. Vorbemerkungen und Übersicht
Der Vertrag über die Begrenzung von Systemen zur Abwehr ballistischer Raketen (ABMVertrag) wurde vor elf Jahren abgeschlossen -Seit dieser Zeit haben sich die Voraussetzungen, die den Abschluß dieses Vertrages ermöglichten, grundlegend gewandelt; in seiner gegenwärtigen Form wird er daher wohl kaum die nächsten elf Jahre überdauern.
Es sind vor allem zwei Entwicklungen, die die Frage, ob ausreichend leistungsfähige und finanzierbare Raketenabwehrsysteme in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren erprobt und disloziert werden können, in den Vordergrund gerückt haben:
— die sowjetische strategische Rüstung hat zu der schneller als erwartet eintretenden Verwundbarkeit der silogestützten Interkontinentalraketen (ICBM) der USA geführt;
— der Wandel in den Konzeptionen und die Fortschritte in denjenigen Technologien, die ein ABM -System ermöglichen.
Von 1972 bis 1980 beschränkte sich die ABM-Forschung der Vereinigten Staaten, im Gegensatz zur Sowjetunion, im wesentlichen auf Laborprogramme mit vergleichsweise geringem Mitteleinsatz (ca. 250 Mio Dollar jährlich). Ihre Zielsetzung war zweifach:
— die Exploration der technischen Horizonte von ABM, um die sowjetischen Anstrengungen in diesem Bereich analysieren und bewerten zu können;
— die Option offenzuhalten, im Fall einer sowjetischen Vertragskündigung durch die Verkürzung des für die Entwicklung und Erprobung eines ABM-Systems benötigten Zeitraums ein eigenes ABM-System schnell in Dienst stellen zu können.
Im Verlauf der letzten zehn Jahre hat sich aber gezeigt, daß selbst ohne forcierte, technisch riskante und aufwendige Programme Fortschritte in verschiedenen Technologien zusammenwirkten, die die Entwicklung leistungsfähiger und kosteneffektiver ABM-Systeme begünstigen. Hierzu gehören insbesondere: — Mikroelektronik (z. B. hochintegrierte Schaltkreise sehr großer Schaltgeschwindigkeit und Zuverlässigkeit), — Computerarchitektur und -programme, — Sensorentechnologie (besonders im lang-welligen Infrarotbereich für optische Systeme und Radar im mm-Wellen-Bereich). Außerdem zeigen sich am Horizont wissenschaftlich-technischer Entwicklung Technologien, deren zunehmende Beherrschung gleichzeitig die bisherige Dominanz offensi-ver Waffensysteme wenn nicht ablösen, so doch relativieren könnte — mit Gewißheit aber das Zeitalter der Vorherrschaft von Kernwaffen und ballistischen Raketen seinem Ende entgegenführen wird. Es sind insbesondere die Anwendungen gerichteter, hoch-energetischer Strahlung (Laser oder Partikel-strahlung), die auf diese Weise zunehmend in das Zentrum technologischer Grundlagenforschung rücken, neue Systemkombinationen für Selbstannäherungsgeräte („terminal homing devices") und die übernächste Generation elektronischer Datenverarbeitungsanlagen, die einige Charakteristika künstlicher Intelligenz integrieren wird.
Vor allem aber wirken sich auch diejenigen Fortschritte, die zur größeren Flexibilität und Leistungsfähigkeit des strategischen Offensivwaffendispositivs führten, direkt oder indirekt als Verbesserung der Voraussetzungen für ein leistungsfähiges ABM-System aus. So haben z. B. die weiter zunehmende Verlagerung von Kommunikation und Führung, Aufklärung und Frühwarnung auf satellitengestützte Systeme zur leichteren Lösbarkeit des Raketenabwehrproblems beigetragen. Allerdings gewinnen dadurch die sowjetischen Anstrengungen, Satellitenbekämpfungsmittel zu entwickeln, eine so entscheidende Bedeutung, daß die Aufgaben der Raketenverteidigung und die der Satellitenverteidigung kaum noch voneinander getrennt werden können.
Indirekt spielten auch Forschungsprogramme, die die „Härtung" elektronischer Anlagen von Satelliten und Sensoren gegen die elektromagnetischen Effekte von Nuklearexplosionen zum Ziel hatten, eine bedeutende Rolle im Wandel der ABM-Systementwürfe. Zweifellos hat der ABM-Vertrag in entscheidender Weise zum Verlauf der ABM-Ent-wicklung beigetragen. Er entmutigte die Dislozierung unzureichender, auf der nuklearen Bekämpfung gegnerischer Raketengefechtsköpfe beruhender Raketenabwehrsysteme und begünstigte die Entwicklung alternativer Systemkonzeptionen. (Eine ähnlich kanalisierende Funktion hat auch der Vertrag über das Verbot der Stationierung von Massenvernichtungsmitteln im Weltraum.) Dieser Vertrag kann so als Wendepunkt in der Entwick-
ungsrichtung von ABM-Systemen betrachtet Werden. Seine Vertragsbestimmungen führten weg von aufwendigen, verwundbaren, nurterd-gestützten Systemen und hin zu nicht-nuklearen Entwürfen für ABM-Systeme größerer taktischer Flexibilität.
Der ABM-Vertrag wurde 1972 abgeschlossen, als die technologischen Grenzen ballistischer Interkontinentalraketen zwar theoretisch, aber noch kaum für die strategische Entwicklungsplanung absehbar waren. Gleichzeitig waren die Schwächen der damals dislozierungsfähigen amerikanischen und sowjetischen ABM-Systeme derart offensichtlich, daß für die absehbare Zukunft die Überlegenheit der strategischen Offensive über die strategische Verteidigung unverrückbar erschien. Die außerordentlichen Investitionen der UdSSR in ihr Offensivwaffenprogramm, die sehr viel schneller als erwartet zur Verwundbarkeit der amerikanischen silogestützten Interkontinentalraketen (ICBM) führten, hatten aber, besonders nach dem Scheitern von SALT II, zur Folge, daß die Frage der Verteidigung von ICBM große Dringlichkeit erhielt Die seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre demonstrierte Dynamik der sowjetischen Auf-und Umrüstung ließ zunehmend Lösungen, die nur auf die Erweiterung des Offensivwaffenpotentials durch eine schwerere und zielgenauere ICBM (MX) und deren „passive" Verteidigung (durch komplexe Schacht-oder Tunnelanlagen) zielten, als unzureichend erscheinen. Zwar war schon 1969/70 das amerikanische ABM-Entwicklungsprogramm auf die Verteidigung von ICBM ausgerichtet worden. Die Entwicklung des strategischen Kräfteverhältnisses seit Mitte der siebziger Jahre band aber ABMund ICBM-Entwicklung noch enger aneinander — so eng, daß die Frage, wann und wie die neue Interkontinentalrakete MX in Dienst gestellt werden sollte, zunehmend von der Frage begleitet wurde, wann und wie ein leistungsfähiges ABM-System zu deren Schutz disloziert werden kann. Die enge Verknüpfung dieser beiden Systementscheidungen ist sicher nicht von Dauer. Sie ist Ausdruck eines Dilemmas, das durch die Erosion des strategischen Kräfteverhältnisses und dem damit verbundenen Zeit-und Entscheidungsdruck entstand. Man kann mit einiger Gewißheit annehmen, daß die Bindung der ABM-Systementwicklung an MX aufgehoben werden wird, denn das ABM innewohnende technische und strategische Potential reicht weit über das Problem des MX-Dislozierungsmodus hinaus.
Das Problem der zunehmenden ICBM-Verwundbarkeit selbst bleibt dadurch ungelöst. Seine Bedeutung wird sich jedoch im Verlauf der achtziger Jahre vermindern, u. a. mit dem Beginn der Dislozierung der zielgenauen see-33 gestützten Trident 2 — SLBM (D-5), des B-1Bombenflugzeugs interkontinentaler Reichweite und mit der vollzogenen Umrüstung von B-52 als Cruise Missile-(ALCM-) Träger.
Die Trennung von ABM und MX mag auch die vermutete anfängliche Disposition Präsident Reagans, MX aufgeben zu wollen, in Realität verwandeln. Auf jeden Fall werden aber Interimsmaßnahmen zur Sicherung der Überlebensfähigkeit des ICBM-Dispositivs vorbereitet werden, die auch eine ABM-Komponente einschließen können. Inwieweit solche (kostspieligen) Maßnahmen dann auch verwirklicht werden, hängt von der Zustimmung des Kongresses und von der Höhe der bewilligten Rüstungshaushalte ab.
In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Kündigung oder nach Verhandlungen um die Modifizierung des ABM-Vertrags. Es ist unwahrscheinlich, daß dieser Vertrag vor Ende der achtziger Jahre gekündigt oder neu verhandelt werden muß — nicht nur, weil eine Kündigung erst dann notwendig werden könnte, wenn ein dislozierungsfähiges ABM-System entwickelt worden ist, sondern auch wegen der nachteiligen Wirkungen auf die Bemühungen um verhandelte Begrenzungen (Reduzierungen) strategischer Offensivwaffen; die politische Durchsetzbarkeit der anstehenden Rüstungsentscheidungen könnte dadurch gefährdet werden. Nicht zuletzt wäre auch ein Rüstungskontrollabkommen der am wenigsten kostenträchtige Weg, das Problem der ICBM-Verwundbarkeit zu mildern.
Der ABM-Vertrag wird so aller Voraussicht nach für die nächsten Jahre weiterhin seine kanalisierende Funktion behalten. Die folgende Diskussion der „Systemparameter" von Raketenabwehrsystemen, der Entwicklungsrichtung von ABM seit 1972 bis Ende der achtziger Jahre, geht von dieser Bewertung aus.
II. Charakteristika von ABM-Systemen
Grundsätzlich können ABM-Systeme danach unterschieden werden, in welcher Höhe sie die anfliegenden gegnerischen Gefechtsköpfe erfassen, verfolgen und bekämpfen. Diese Funktionen sind ABM-spezifisch; sie setzen allerdings bereits die Lösung einer Anzahl anderer Aufgaben voraus, die Raketenabwehrsystemen und strategischen Offensiv-waffen gemeinsam sind. Dazu gehören insbesondere: — Frühwarnung vor gegnerischen Raketen-starts (durch bodengestützte Radaranlagen wie BMEWS, PARCS, Pave Paws und durch Frühwarnsatelliten wie diejenigen der DSP-J-Serie), — Erfassung und Analyse der anfliegenden Materialwolke, d. h.des Angriffsumfangs, der beteiligten Raketentypen, der Flugbahnen, — Unterscheidung zwischen Gefechtsköpfen und anderem Material wie den Trümmern von Treibstofftanks, den Gefechtskopfträgern, Attrappen usw. (bei einem Angriff mit 5 000 Gefechtsköpfen kann die Materialwolke aus ca. 25 000 Materialteilen bestehen).
1. Endoatmospharische ABM-Systeme:
Wenn angreifende Gefechtsköpfe innerhalb der Atmosphäre erfaßt und bekämpft werden (bis ca. 100 km Höhe), wird von „endoatmosphärischen" Raketenverteidigungssystemen gesprochen. Innerhalb dieses Höhenregimes sind verschiedene Systemauslegungen möglich:
— „Endverteidigungssysteme" („terminal defense" oder „low attitude Systems" = LoADS), deren Reichweite unterhalb 15 km liegt. Deren Auslegung erlaubt die Verwendung kleiner, reichweiten-und leistungsbegrenzter Radargeräte, denn die Atmosphäre hat auf dieser Höhe bereits die schwereren Gefechts-köpfe von den leichteren Attrappen, Radardüppeln etc. („penetration aids") getrennt. Allerdings kann nur eine begrenzte Anzahl von Gefechtsköpfen über einem geplanten Zielgebiet abgefangen werden; der Angreifer ist daher taktisch dominant. Dieser Systemtyp ist im allgemeinen nur zur Verteidigung „gehärteter" Punktziele geeignet. Seine Funktionsfähigkeit ist abhängig von der erfolgreichen „Härtung" von Radaranlagen und Gefechtsführungscomputern, der ihnen zugeordneten Datenübermittlungssysteme und Abfangraketen gegen die elektromagnetischen Effekte von Kernwaffenexplosionen. Um diese Forderungen an LoADS zu mildern, werden nicht-nukleare Bekämpfungsmittel entwickelt. Auch sind „unkonventionelle" Systeme vorgeschlagen worden, die neben der nicht-nuklearen Bekämpfung von angreifenden Gefechtsköpfen die Leistungsforderungen an Radar-und Rechengeräte weiter verringern und damit zusätzliche Möglichkeiten zur Milderung dieses Verwundbarkeitsproblems eröffnen. Dazu gehört insbesondere das SWARMJET-Konzept von Sandia. Dort wird vorgeschlagen, die Einflugschneise von Gefechtsköpfen mit einer großen Anzahl von Stahlwürfeln zu „salzen"; die eindringenden Gefechtsköpfe würden durch Kollision in den meisten Fällen zerstört, zumindest aber aus ihrer Flugbahn geschleudert werden. Es ist ungewiß, ob diese Konzeption durchführbar ist.
Die technologischen Probleme der nicht-nuklearen Abwehr in LoADS-Systemen mehr konventioneller Auslegung liegen u. a. darin, daß entweder die Radaranlagen der Abfangraketen sehr präzise Flugbahninformationen liefern oder die Abfangraketen selbst mit eigenen Sensoren und Selbstannährungsgeräten ausgerüstet sein müssen.
Die Vorteile der nicht-nuklearen Bekämpfung sind allerdings bedeutend. Abgesehen davon, daß sie die Forderungen an die Härte des Systems vermindern, entfällt hier das Problem des nuklearen Freigabeverfahrens, das für nukleare ABM-Systeme ein nahezu unüberwindliches Funktionshindernis darstellt, auf das aber dennoch nicht verzichtet werden kann, wenn nicht die politische Kontrolle über den Einsatz von Kernwaffen gefährdet werden soll. — Endoatmosphärische" Systeme, die angreifende Gefechtsköpfe zwischen 30 km und 100 km Höhe erfassen und verfolgen, aber nicht notwendigerweise bekämpfen, können auch ungehärtete Flächenziele (z. B. Flugplätze) verteidigen. Die ihnen zugeordneten Radaranlagen müssen allerdings über größere Reichweite und Leistungsstärke verfügen, um zwischen Gefechtsköpfen und Eindringhilfen unterscheiden zu können: Deren unterschiedlicher ballistischer Koeffizient ist am oberen Ende der Reichweitengrenze dieser System-auslegung noch nicht ausreichend wirksam.
Die Leistungsforderungen an diese Radaranlagen haben größere Abmessungen und auch größere Komplexität zur Folge; sie sind daher gegen bestimmte Angriffstaktiken und „blackouts" sehr viel verwundbarer als die LoADSzugeordneten Radaranlagen.
Diesem Typ eines endoatmosphärischen Systems entspricht die „Sprint" -Komponente des 1969 begonnenen und 1975 aufgegebenen „Safeguard" -ABM-Systems.
LoADS ist bisher als Teil der Antwort auf das Problem der Verteidigung von MX-Stellungen im Rahmen eines Forschungs-und Entwicklungsprogramms verfolgt worden. 2. „Exoatmosphärische“ Systeme Diese bekämpfen angreifende Gefechtsköpfe während ihres ballistischen Flugs im erdnahen Weltraum. Hier kann von Verteidigungstaktiken Gebrauch gemacht werden, die den Angreifer zwingen, seinen Angriff unter der Annahme zu planen, daß alle angegriffenen Ziele verteidigt werden; der Verteidiger kann dagegen entscheiden, welche Ziele tatsächlich verteidigt werden („adaptive preferential defense").
Die Sensoren eines solchen Systems haben mehrere Minuten anstatt nur weniger Sekunden zur Verfügung, um die Gefechtsköpfe in der anfliegenden Materialwolke zu identifizieren und um ihre Flugbahn zu bestimmen; nicht-nukleare Bekämpfungstechniken können daher leichter verwirklicht werden als bei endoatmosphärischen Systemen. Es ist dieser Zeitfaktor, der u. a. „adaptive preferential defense" ermöglicht, also die Verteidigung einer kleinen Zahl von Angriffszielen durch eine begrenzte Zahl von Abfangmitteln gegen eine große Zahl angreifender Gefechtsköpfe.
Die nicht-nukleare Bekämpfung eines Angriffs außerhalb der Atmosphäre ist von noch größerer Bedeutung als im endoatmosphärischen Bereich; die Interferenzeffekte nuklearer Explosionen im Weltraum reichen sehr viel weiter als in der Atmosphäre — nicht nur würden die Sensoren der eigenen Abwehrsysteme gestört (bei erfolgreicher Härtung) oder zerstört werden, sondern auch ein großer Teil der satellitengestützten Füh35 rungs-, Aufklärungs-und Kommunikationssysteme
Die gegenwärtigen Entwicklungen in den USA und in der Sowjetunion zielen auf kombinierte („layered") ABM-Systeme, die sowohl eine endoatmosphärische Komponente („underlay") als auch eine exoatmosphärische Komponente („overlay") einbegreifen. 3. Gerichtete, hochenergetische Strahlung Der rasche Fortschritt im Verständnis der Grundprobleme gerichteter, hochenergetischer Strahlung (Laser und Teilchenstrahlung), der nicht zuletzt durch die erheblichen sowjetischen Anstrengungen in diesem Bereich stimuliert wurde, hat in den USA zum Wiederaufleben eines Konzepts zur Abwehr von Raketen in der Startphase bzw. vor der Trennung von Gefechtskopfträger und Gefechtsköpfen geführt. Dieses Konzept, welches das etwas sardonische Acronym „BAMBI" (Ballistic Missile Boost Intercept) erhielt, wurde Mitte der sechziger Jahre wegen damals unüberwindlicher technischer Hindernisse aufgegeben. Falls es gelingt, die Probleme in der Beherrschung gerichteter, hoch-energetischer Strahlung zu lösen, wären Systeme denkbar, die, im erdnahen Weltraum stationiert, ballistische Raketen schon während ihrer Startphase zerstören. Damit sind die Möglichkeiten von Abwehrsystemen, die auf dem Prinzip gerichteter Energie beruhen, allerdings nicht erschöpft.
Die folgenden Charakteristika lassen ein Laser-(HEL) -Waffensystem strategisch vorteilhaft erscheinen:
— es ist nicht-nuklear und hochselektiv und verursacht dadurch minimale Kollateralschäden; — die Zielbekämpfung erfolgt mit Lichtgeschwindigkeit; — mit einer relativ kleinen Anzahl von Systemen (ca. 40) könnte bei einem weltraumgestützten System das gesamte Spektrum der Bedrohung durch ballistische Raketen abgedeckt werden;
— die theoretisch unbegrenzte Fähigkeit zur Bekämpfung multipler Ziele;
— die systeminhärente Fähigkeit zur Selbstverteidigung. Diesen potentiellen Vorteilen stehen aktuelle Probleme gegenüber:
— die Lücke zwischen der Energiestärke gegenwärtig verfügbarer Lasersysteme (ca. 5 Mw) und der vom gegenwärtigen Entwicklungsstand der zugehörigen Spiegel, Zielerfassungs-, Zielverfolgungs-und Zielpunktverharrungssysteme geforderten Energiestärken (in der Größenordnung von ca. 100 Mw), wird nur sehr langfristig geschlossen werden können; — die potentielle Verwundbarkeit gegenüber weniger kostspieligen Gegenmaßnahmen, wie z. B. durch Angriffe von Gefechtssatelliten oder ihre Wirkungsbeschränkung durch „Härtung" der Offensivwaffen (z. B. durch Verspiegelung der Raketenoberfläche oder durch Rotation des Raketenkörpers);
— unzureichende Kapazitäten zum Transport eines solchen Systems in den erdnahen Weltraum (Anzahl und Nutzlastfähigkeit der „Space Shuttle" ist zu gering);
— die Entwicklungs-und Dislozierungskosten stehen im Konflikt mit den tradierten Verteilungsschlüsseln des Verteidigungsbudgets und im Konflikt mit den Zwängen eines immer noch wachsenden Haushaltsdefizits. Gegenwärtig befinden sich in den USA zwei grundlegend verschiedene Ansätze für ein HEL-Waffensystem in der technischen Explorations-bzw. in der Systementwicklungsphase. Das unter Federführung von DARPA (Defense Advanced Projects Agency) und Luftwaffe verfolgte „Triad" -Programm basiert auf einem chemischen Laser (Wasserstoff-bzw.
Deuteriumfluoridlaser) von 5 Mw Leistung, der mit einem 3-m-Richtspiegel kombiniert ist. Die geringe Auslegung der Energieleistung führte hier zu außerordentlichen Forderungen an die Fähigkeit des Systems, den Energiestrahl ohne Abweichung und Strahlverzittereffekten einige Sekunden über mehrere Tausend Kilometer Entfernung auf einen Zielpunkt von wenigen Zentimetern Durchmesser zu fixieren. Weitere Nachteile liegen im Gewicht des Systems, das, um seine volle Operationsfähigkeit zu erreichen, über 200 Space-Shuttle-Ladungen beanspruchen mag.
Außerdem ist die „Schußkapazität" dieses Systems begrenzt. Schließlich sind auch dessen Kosten und das Verhältnis von Systemkomplexität und Funktionserfordernissen (Tests, Kalibrierung, Wartung) derart ungünstig, daß mit einer vollen Systementwicklung nicht mehr gerechnet werden kann.
Seit 1982 wird verstärkt die Eignung anderer Laser kürzerer Wellenlänge (höhere Energie-leistung) und geringeren Gewichts untersucht. Insbesondere der freie Elektronenlaser (FEL) gilt als mögliche Alternative zu chemischen Lasern.
Welcher Typ von HEL-Systemen im erdnahen Weltraum aber auch immer disloziert werden soll, all diese Systeme müssen bestimmte technologische Hürden in den folgenden Bereichen überwinden:
T sehr präzise Hochtemperaturoptik;
- adaptive Optik, um den HEL-Strahl zu bünnein und zu führen; — Konstruktion großer Gerüststrukturen im Weltraum und die Möglichkeit der langfristigen Lagerung von Material, das komplexen kältetechnischen Forderungen genügen muß; — zuverlässige Quellen für die Erzeugung großer Energiemengen;
— fortgeschrittene Methoden zur Beseitigung von Abfallwärme;
— hochleistungsfähige überwachungs-, Zielerfassungs-, Führungs-und Kommunikationssysteme; — ein leistungsfähiges Raumtransportsystem. Die zweite, von der ersten grundlegend verschiedene Konzeption für die Nutzung von Lasern zur Raketenverteidigung ist die der „Fighting Mirrors". In diesem Systementwurf bleibt die Energiequelle des Lasers erdgestützt. Die erzeugte Energie soll hier von der festen Anlage aus an die die Erde umkreisenden Spiegel abgestrahlt werden, die dann den Energiestrahl neu bündeln und ins Ziel lenken. Die Schwierigkeiten dieser Konzeption resultieren u. a. aus der durch die Atmosphäre verursachten Streuung und Energieverlusten des Strahls. Dieser Wirkungsverlust müßte u. a.
durch Zusatzanforderungen an die Größe und Oberflächenbearbeitung der Spiegel kompensiert werden. Weil die Durchlässigkeit der Atmosphäre im Bereich kurzer Wellenlängen am günstigsten ist, kommen vor allen Dingen kurzwellige Laser für diesen Systementwurf in Betracht.
Die räumliche Trennung von Energiequelle und Spiegel ermöglicht große Anlagen zur Energieproduktion, wodurch das Problem der kontinuierlichen Erzeugung großer Energie-mengen, im Gegensatz zu vollständig weltraumgestützten Systemen, sehr viel leichter zu lösen ist. Daher kommen hier auch Laser in Frage, deren Energiebedarf sehr hoch ist und deren Energieerzeugungsanlagen große Abmessungen haben.
Abgesehen von den Anwendungsmöglichkeiten der Laser zur Raketenabwehr und Satellitenverteidigung existiert eine Vielzahl von Programmen, die die Nutzungsmöglichkeiten von Lasern zur Luftverteidigung sowie zu Kommunikations-und Aufklärungszwecken untersuchen. So hat die amerikanische Luftwaffe bereits Experimente durchgeführt, die den Nachweis erbrachten, daß Luft-Luft-Raketen von flugzeuggestützten Lasern zerstört werden können. Ein solches System könnte Ende der achtziger Jahre zur Einsatzreife ge37 langen. Die amerikanische Marine verfolgt die Nutzung von Lasern zur satellitengestützten Kommunikation und zur Suche nach U-Booten
Die Nutzung von Lasern zur Einsteuerung präzisionsgesteuerter Waffen wird bereits seit einer Anzahl von Jahren beherrscht und ist von den hier diskutierten Anwendungen zu unterscheiden. Der Gebrauch von Lasern zur „Beleuchtung" von Erdkampfzielen könnte aber in ferner Zukunft durch den Gebrauch von Lasern (Satelliten-, lüft-oder bodengestützt}» zur Bekämpfung von Zielen auf der Erdoberfläche ergänzt werden.
Im Bereich der Partikelstrahlung, der Alternative zu Lasern für die Erzeugung hochenergetischer Strahlung, verfolgt gegenwärtig das amerikanische Heer mit den Los Alamos-Laboratorien das „White Horse" -Projekt: ein weltraumgestütztes System, das auf der Erzeugung neutraler Partikelstrahlungen beruht
III. Die ABM-Entwicklung in den USA bis 1972
Die amerikanischen Bemühungen um ein Raketenabwehrsystem reichen zurück bis 1953; als das Heer, die verantwortliche Teilstreitkraft für Luftverteidigung, Western Electric und die Bell Telephone Laboratories (BTL) aufforderte, die technische Möglichkeit eines ABM-Systems zu untersuchen. Western Electric und BTL hatten seit 1945 die Federführung des Nike-Projekts inne, eines Entwicklungsprojekts für ein Luftabwehrsystem gegen hochfliegende Bomber. Mit der Schlußfolgerung, daß eine modifizierte Version der Nike-Hercules-Luftabwehrrakete auch zur Verteidigung gegen Raketenangriffe geeignet sei, wurde 1957 das Nike-Zeus-Projekt begonnen. Es sollte daraus ein ABM-System zur Verteidigung von Ballungszentren entstehen.
Die 1958 gegründete Advanced Research Projects Agency (ARPA) wie auch die im selben Jahr neugebildete — und ARPA übergeordnete — Unterabteilung für Verteidigungsforschung und Ingenieurwesen (DDR & E) des amerikanischen Verteidigungsministeriums beurteilten allerdings die Erfolgschancen von Nike-Zeus mit außerordentlicher Skepsis: Sowohl die Beschleunigungswerte der Abfangrakete wie auch die Leistungsfähigkeit der Radaranlagen waren zur Lösung der gestellten Aufgabe zu gering. Das Nike-Zeus-Projekt wurde daher auf die Entwicklung elektronisch gesteuerter Radargeräte in Phasenanordnung (PAR) und einer Abfangrakete mit hoher Beschleunigungsfähigkeit umgestellt.
Von großer Bedeutung für die Neuorientierung des ABM-Projekts waren die Ergebnisse der „Re-entry Body Identification Group" des Pentagon, die die technischen Möglichkeiten der Unterscheidung von Gefechtsköpfen, Raketenfragmenten, Attrappen, Radardüppeln usw. untersuchte. Diese Gruppe war einer der Ausgangspunkte für die MIRV (multiple, independently targetable re-entry vehicles) -Entwicklung in den USA.
Die Zielsetzung des Heeres blieb weiterhin, mit dem zwischen 1961 und 1965 neukonfigurierten System (dann Nike-X genannt) Ballungszentren gegen einen sowjetischen Angriff zu verteidigen. Im Unterschied dazu verfolgte ARPA im Projekt „Defender" Lösungen für die Probleme der gehärteter Verteidigung Raketenstellungen und Gefechtsführungszentralen („hardsite defense"). Dieses Projekt war von seinen technischen Aspekten her betrachtet erfolgversprechender als das Heeresprojekt; keine der Teilstreitkräfte zeigte jedoch Interesse an einer Systementwicklung, und der damalige Verteidigungsminister McNamara stand aus politischen wie aus strategischen Gründen jeder ABM-Entwicklung ablehnend gegenüber.
Nachdem 1967 die Glassboro-Gespräche zwischen Präsident Johnson und Kossygin zeigten, daß ein beidseitiger ABM-Verzicht nicht erreicht werden konnte, traf McNamara unter Druck des Kongresses die Entscheidung zur Dislozierung einer reduzierten Version des Heeressystems („Sentinel"). Seine (beabsichtigte) geringe Leistungsfähigkeit beschränkte es auf die Abwehr kleiner und taktisch undifferenzierter Angriffe, wie sie von China oder nicht-identifizierten Angreifern ausgehen könnten, oder auf die Abwehr „nichtautorisierter" Angriffe.
Zu Beginn der Nixon-Regierung wurde der Schwerpunkt des ABM-Programms vollständig von der Verteidigung von Ballungszentren auf die Verteidigung von Minuteman-Raketenstellungen verlagert („Safeguard"). Es wurde jedoch weiterhin Gebrauch von den Sentinel-Systemkomponenten gemacht:
Spartan, — einer Abfangrakete, die im erdnahen Weltraum angreifende Gefechtsköpfe abfangen sollte;
Sprint, — einer Abfangrakete, die im oberen endoatmosphärischen Bereich operierte; sowie von zwei Radartypen, ein weitreichender Zielerfassungs-und -Verfolgungsradar und ein Gefechtsführungsradar, der die angreifenden Gefechtsköpfe im endoatmosphärischen Bereich erfaßte und verfolgte und die Sprint-Abfangrakete auf ihre Flugbahn einwies. Auch Safeguard war zur Lösung dieser ABM-Aufgabe unzureichend. Die Leistungsbeschränkung der EDV-Anlagen wie auch die Verwundbarkeit besonders der großen „perimeter acquisition radars" erlaubte nur wenig Vertrauen in die Funktionsfähigkeit dieses Systems gegenüber einem sowjetischen Angriff. Die Debatte, die durch die Dislozierungsentscheidung für Sentinel und dann Safeguard ausgelöst worden war, zeigte jedoch, daß „hardsite-defense" größere öffentliche Unterstützung genoß als die Verteidigung von Großstädten.
IV. Die ABM-Entwicklung in den USA nach 1972
Das SALT-I-Abkommen, dessen Teil der ABM-Vertrag war, wurde mit der Erwartung verhandelt, daß zumindest für die Dauer des auf fünf Jahre begrenzten Offensivwaffenabkommens die Sowjetunion weder ICBM der vierten Generation zur Einsatzreife bringen, noch die technischen Probleme der Entwicklung zielgenauer Mehrfachgefechtsköpfe, die, unabhängig voneinander, verschiedene Ziele angreifen können (MIRV), überwinden werde
Diese Fehleinschätzung der technischen Leistungsfähigkeit der UdSSR und mehr noch die Unterschätzung des Umfangs der eingesetzten Ressourcen hatten zur Folge, daß die USA über sehr viel weniger Zeit als erwartet verfügten, um dem sich abzeichnenden strategischen Problem der Verwundbarkeit silogestützter ICBM zu begegnen.
So war bereits in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre deutlich geworden, daß ein permanentes Offensivwaffenabkommen kaum noch möglich war, daß aber auch in der Kombination eines zweiten Interimsabkommens (SALT II), mit gewissen Modernisierungsmaßnahmen des ICBM-Potentials (MX), das Verwundbarkeitsproblem nicht mehr beherrscht werden könne. Solche Lösungen hätten damals schon die sowjetische Bereitschaft vorausgesetzt, einen großen Teil ihrer Investitionen in silogestützte, schwere ICBM abzuschreiben und die ungeheuren zusätzlichen Kosten der Restrukturierung ihrer strategischen Streitkräfte zu tragen.
Die Entwicklung des sowjetischen strategischen Dispositivs schritt (und schreitet) tatsächlich so schnell voran, daß die (ursprünglich für 1985 geplante) Dislozierung von MX an der Frage, welcher Stationierungsmodus noch zu erträglichen Kosten für einen ausreichenden Zeitraum ein adäquates Maß an Überlebensfähigkeit gewährt, seit Beginn der Reagan-Administration zu scheitern droht. Dabei handelt es sich nicht um die Frage, über welche Kräfte die Sowjetunion gegenwärtig verfügt, sondern darum, über welche sie zur Zeit der Indienststellung des MX-Systems und während seiner projektierten Lebensdauer verfügen wird. Und hier sind dann die Mittel, die die UdSSR im Laufe der siebziger Jahre in waffentechnologische Forschung und Entwicklung investiert hat, von größerer Bedeutung als die zum gegenwärtigen Zeitpunkt einsatzbereiten Waffensyste39 me. Diese Investitionen machten im genannten Zeitraum ca. ein Viertel ihrer gesamten Verteidigungsaufwendungen aus, so daß, selbst wenn die sowjetischen und amerikanischen Rüstungsausgaben annähernd gleichen Umfang hätten, der sowjetische Mitteleinsatz für Forschung und Entwicklung fast doppelt so groß wäre wie der der USA.
Was auch immer sonst daraus folgen mag: Eine Lösung des ICBM-Verwundbarkeitsproblems läßt sich daher weder allein durch eine weitere Härtung der ICBM-Startschächte gegen Kernwaffenexplosionen erreichen, noch durch komplexe Startschacht-oder Tunnelsysteme (MPS), in denen ICBM verborgen werden. In den Dislozierungsplänen für MX wurde daher seit 1978 zunehmend die Entwicklung von ABM-Systemen einbezogen.
Ein Meilenstein in der Verknüpfung von MX und ABM war die Entscheidung am 13. März 1978 zugunsten eines MPS-(„multiple protective structures") Modus für MX und zuungunsten einer flugzeuggestützten Systemversion. Beide Versionen waren mit unterschiedlich ausgelegten ABM-System-Konzepten assoziiert
MX/MPS wurde im Zusammenhang mit einem LoADS-ABM-System betrachtet. Dieses System sollte entweder in MX-Startschachtoder MX-Tunnelanlagen aufgestellt werden, wobei in der zweitgenannten Option Abfangrakete, Radar und EDV-Anlage eine mobile Einheit bilden sollten. In der erstgenannten Option war eine räumliche Trennung der Systemkömponenten vorgesehen, wobei die Abfangraketen in unbesetzten MX-Startschächten stationiert und demzufolge auch rotiert werden sollten — um nur diejenigen Gefechtsköpfe abzufangen, die einen besetzten Startschacht angreifen. Für die „erste Generation" von LoADS war eine Abfangrakete mit nuklearem Gefechtskopf vorgesehen. Nach Lösung der Entwicklungsschwierigkeiten sollte eine andere Abfangrakete mit Selbstannäherungsgerät und nicht-nuklearem Zerstörungsmechanismus in Dienst gestellt werden.
Ziel dieses Systems war es, die UdSSR zu zwingen, den Kräfteansatz für einen Angriff auf MX-Stellungen mindestens zu verdoppeln, um dadurch den möglichen taktischen Erfolg mit einer strategischen Niederlage bezahlen zu müssen MX/MPS und LoADS sollten daher zum gleichen Zeitpunkt den Beginn ihrer Operationsfähigkeit erreichen, um gleichzeitig disloziert werden zu können. Voraussetzung für den Erfolg dieser Systemlösung war, daß der sowjetische Zuwachs an Gefechtsköpfen unterhalb derjenigen Grenze bleibt, die einen derartigen Kräfteansatz ermöglicht — d. h. unter ca. 7 000 Gefechtsköpfen. Mit gewissen Vorbehalten akzeptierte daher die amerikanische Luftwaffe, die LoADS favorisierte und der MX, wie alle ICBM, unterstellt sein würde, den SALT-II-Vertragsentwurf; die dort bestimmte Begrenzung des sowjetischen Offensivwaffenpotentials hätte die Erfüllung dieser Bedingung gewährleistet. Aus dem Scheitern von SALT II folgte daher, daß die MX/MPS-LoADS-Kombination in Frage gestellt wurde Obwohl die Stationierung von MX in Transportflugzeugen großer Verweildauer abgelehnt worden war, nahm die Bedeutung des mit dieser Stationierungsmöglichkeit verbundenen ABM-Systems in der Folgezeit weiter zu. Es wurde zum „overlay", also der exoatmosphärischen Komponente, in der Konzeption eines „layered" ABM-Systems; LoADS wurde als „underlay" -Komponente beibehalten
Dieses System sollte u. a.der Verteidigung der Flugzeugstützpunkte, also „weicher" Flächenziele, dienen. Die exoatmosphärische Abwehr angreifender Gefechtsköpfe sollte durch eine modifizierte Minuteman-Rakete erfolgen, deren dritte Stufe ein Selbstannäherungsgerät mit nicht-nuklearem Gefechtskopf und ein Zielerfassungs-, -beschreibungs-und Zielzuweisungsgerät integriert. Diese dritte Stufe wird bereits als „homing overlay experiment" (HOE) in diesem Jahr erprobt werden. Zur weitreichenden Zielerfassung und -ver-folgung, wie zur Unterscheidung der Gefechtsköpfe von der sie umgebenden Materialwolke, wird ein optisches System entwikkelt, dessen Sensor im Bereich langwelliger Infrarotstrahlung arbeitet. Damit ist dieses System, im Unterschied zu LoADS, unabhängig von verwundbaren, bodengestützten Radaranlagen. Sobald die Frühwarnsysteme Vorbereitungen für einen sowjetischen Raketenstart melden, wird diese Sonde über die Atmosphäre geschossen. Nur die Gefechts-führung bleibt in dieser Systemkonzeption weiterhin in einer gehärteten, ortsfesten Anlage.
Obwohl möglicherweise die Berichte über die Skepsis Präsident Reagans gegenüber MX nicht vollständig zutrafen, verursachte seine Entscheidung, SALT II nicht zu ratifizieren und seine Ablehnung von MX/MPS, das erneute Aufbrechen des MX-Dislozierungs-Problems unter schwierigeren Bedingungen. Nicht nur stand eine erneute Festlegung des Dislozierungsmodus unter noch größerem Zeitdruck als 1978; im Kongreß regte sich zunehmend Widerstand gegen die Verzögerungen im MX-Projekt (der dann 1982 und 1983 zur Streichung der Mittel für die Produktion dieser ICBM führte) Auch täuschte die nur schwache Hoffnung, daß es gelingen könnte, mit der Sowjetunion einen Vertrag über die Reduzierung bestehender und die Entwicklungsbeschränkung zukünftiger strategischer Offensivwaffen — also eine Art „umgekehrten" ABM-Vertrag — abzuschließen, nicht darüber, daß sich mit jeder weiteren Verzögerung Verwundbarkeit Problem der von ICBM bis zur Obsoleszenz im Planungsstadium jeder MX-LoADS-Kombination verschärfen wird.
1981 wurde daher das Townes-Panel bestellt, um noch einmal alle bisher diskutierten Dislozierungsoptionen für MX zu analysieren. In dessen Bericht wurde dann auch tatsächlich die Ablehnung von MX/MPS-LoADS begründet
Im gleichen Jahr unternahm das Verteidigungsministerium eine Überprüfung des ABM-Entwicklungsprogramms des Heeres. In dessen Folge wurde die Komponentenintegration eines „kombinierten" („layered") ABM-
Systems beschlossen, um bis 1986 einen Prototyp entwickeln zu können. Seine Auslegung sollte zur Verteidigung von ICBM, Bomberbasen, Führungs-, Kommunikations-, Warnungsund Aufklärungsanlagen befähigen. Es wurde allerdings nicht verhohlen, daß ein solches System nicht vor Beginn der neunziger Jahre in Dienst gestellt und operationsfähig gemacht werden könnte — selbst dann nur, wenn hohe Entwicklungsrisiken und -kosten in Kauf genommen würden. Im Unterschied dazu hätte LoADS bis 1987/88 den Beginn seiner Operationsfähigkeit erlangen können Jedoch konnten weder das Townes-Panel noch die Überprüfung des ABM-Programms eine endgültige Antwort auf die Frage geben, wie, wann und wo MX in Dienst gestellt werden sollte. Mittlerweile war nur Einigkeit darüber erzielt worden, daß über die MPS-Lösung die Entwicklung entweder hinweggegangen war oder diese Lösung von Anbeginn zu viele Schwächen aufwies. So schlug Verteidigungsminister Weinberger 1982 den „dense pack'-Modus vor, in dem in geringem Abstand voneinander (600— 700 m) in 2 000 bis 3 000 hochgehärteten Kanisterschächten 200 bis 300 MX-Raketenkapseln verborgen werden sollten. Der geringe Abstand kann zur Überlebensfähigkeit auf diese Weise dislozierter ICBM beitragen, weil damit die gegenseitigen Interferenzwirkungen nuklearer Explosionen („Fratrizideffekt") genutzt werden Dieser Vorschlag scheint jedoch wieder fallengelassen worden zu sein; eine große Zahl alternativer Systemlösungen bleibt im Gespräch. Es ist gegenwärtig kaum vorhersehbar, für welche Lösung die endgültige Entscheidung fallen wird. Fest steht jedoch, daß sich allein durch diese Ungewißheit die ABM-Entwicklung aus der Verklammerung mit dem MX-Problem zu lösen beginnt — sowohl was den Zeithorizont für die Systementwicklung als auch was die Fülle der technischen und strategisch-operativen Möglichkeiten betrifft.
Obwohl bis zur ersten Einsatzreife eines solchen Systems sicher noch mindestens zehn bis fünfzehn Jahre vergehen werden, wirkt sich die Möglichkeit der Entwicklung von Abwehrsystemen, die auf der Beherrschung gerichteter, hochenergetischer Strahlung (insbesondere Laser) beruhen, bereits heute auf strategische Entscheidungen aus. Mit den verschiedenen Lösungsphasen der bisher überwältigenden technischen (und finanziel-len) Probleme könnten, Schritt um Schritt, die Aufgaben der Verteidigung gegen ballistische Raketen, der Satellitenverteidigung, sogar der Luftverteidigung und der Bekämpfung von Zielen auf der Erdoberfläche in einem Systemkonzept integriert werden. Die volle strategische und politische Bedeutung dieser Entwicklung ist heute noch nicht abzusehen. Absehbar ist jedoch, daß Kernwaffen ihre bisherige Vorherrschaft verlieren werden und damit die aus ihr gewachsenen Strukturen internationaler Beziehungen und internationaler Politik.
Trotz der weitreichenden Folgen, die wohl eine neue Büchse der Pandora öffnen, aber auch das nukleare Damoklesschwert stumpf werden lassen wird, scheint es nicht sehr wahrscheinlich, daß die USA oder die Sowjetunion die Entwicklung von ABM-Systemen vertrauterer Wirkungsweise überspringen werden. Es ist eher denkbar, daß ABM-Systeme der übernächsten Generation eine Komponente gerichteter Strahlung haben werden, deren Operationsfeld der erdnahe Weltraum sein wird.
Das amerikanische Interesse an der Nutzung gerichteter Energiestrahlen zur Verteidigung gegen Raketenangriffe ist in bedeutender Weise durch die forcierten sowjetischen Entwicklungsprogramme in diesem Bereich stimuliert worden. Eine zentrale Rolle kam hier dem ehemaligen Direktor der Defense Intelligence Agency, Daniel O. Graham, zu, der seit Mitte der siebziger Jahre immer wieder auf die sowjetischen Forschungs-und Entwicklungsanstrengungen verwies. Er argumentierte damit gegen die weitverbreitete Skepsis gegenüber den Erfolgsaussichten dieser Programme. Besonders zwei Gesichtspunkte legten eine vorsichtigere Bewertung der sowjetischen und, a forteriori, amerikanischen Versuche, das militärische Potential hoch-energetischer, gerichteter Strahlen zu verwerten, nahe.
Die Extrapolation von der Leistungsfähigkeit der gegenwärtig verfügbaren Laser auf die geforderte Energieleistung effektiver Laserwaffensysteme, die zur Dislozierung im Weltraum geeignet sind, ist mit außerordentlichen technischen Schwierigkeiten verbunden, deren Lösung möglicherweise mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Noch größer ist allerdings die Lücke zwischen der heutigen Leistungsfähigkeit von Aufklärungs-, Gefechtsführungs-und Kommunikationssystemen und der für die Führung solcher Waffensysteme geforderten Leistungsparameter.
Eine untergeordnete, aber keineswegs nebensächliche Rolle spielten zwei politische Argumente: Die Ausrichtung des amerikanischen Forschungs-und Entwicklungsprogramms auf eine Systementwicklung wäre verfrüht und der späteren Dislozierung eines ausgereiften Systems abträglich, denn die voraussehbar hohen Entwicklungskosten und Kostenüberschreitungen für Systeme, deren Defekte und Leistungsmängel bald die strategische Debatte beherrschen würden, könnten zurückschlagen auf die politische Durchsetzbarkeit einer Systementwicklung überhaupt; ein negativer Willensbildungseffekt würde, ähnlich der Sentinel-Safeguard-Debatte, eintreten. Auch stünde eine solche verfrühte Systementwicklung in Konkurrenz zu den unmittelbar notwendigen Investitionen in die Modernisierung der strategischen Streitkräfte. Obwohl diese Auffassungen von großen Teilen des Militärs und des amerikanischen Verteidigungsministeriums mitgetragen wurden, setzte sich doch die Auffassung durch, daß, wenn auch Ergebnisse nur langfristig erzielt werden können, diese Technologien doch mit Nachdruck und angemessenem Mitteleinsatz verfolgt werden müssen.
Entscheidend dafür war nicht nur der seit 1980 zunehmende Druck einer Anzahl republikanischer Senatoren und Kongreßabgeordneter auf die Reagan-Administration, die Entwicklung von hochenergetischen Lasern zu forcieren; den sowjetischen Fortschritten in diesem Bereich konnte nicht mehr mit dem offiziellen Gleichmut begegnet werden, der noch 1980 vorherrschte Die Befürchtung, daß die UdSSR kurz vor der Erprobung eines, wenn auch leistungsbegrenzten, Waffensystems stünde, mochte übertrieben sein. Es war jedoch kaum noch zu bezweifeln, daß die UdSSR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mit der Systemerprobung beginnen könnte
Von großer politischer Bedeutung war auch die 1982 erfolgte Veröffentlichung der „HighFrontier" -Studie der Heritage Foundation, die der Reagan-Administration nahesteht. Diese Studie, an der Daniel O. Graham federführend beteiligt war, faßte mit großem Gespür für Offentlichkeitswirkung alle Entwicklungsansätze der Verteidigung im erdnahen Welt raum, in der Forderung nach einer integrierten und forcierten Systementwicklung zusammen. Schwerpunkt der Argumentation war die Notwendigkeit eines dreischichtigen ABM-Systems, das die nicht-nukleare Version der „underlay" -Komponente und die „overlay" -Komponente des „layered defense Systems" einbezog, und ein HEL-System, das gegnerische Raketen in Start-und Anfangsphase ihrer ballistischen Flugbahn bekämpft
Außerdem wurde die Entwicklung eines Satellitenabwehrsystems gefordert; zahlreiche, mit Selbstannäherungsgeräten ausgerüstete Abfangraketen sollen auf Trägersatelliten stationiert werden, um sowjetische Kampfsatelliten angreifen und zerstören zu können.
Diese Studie ist von weiterwirkender Bedeutung; sie war Ausdruck einer sich verstärkenden Tendenz, den Gordischen Knoten des ICBM-Verwundbarkeitsproblems durch eine grundlegende Veränderung der Entwicklungsrichtung der strategischen Streitkräfte zu durchschlagen Sie machte auch zum ersten Mal deutlich, daß die Trennung zwischen der Verteidigung militärischer Ziele und der Verteidigung von Städten, auf der noch das „layered defense System" des Heeres beruhte, aufgehoben werden kann. Selbst wenn man die Leistungsgrenzen der in der „High-Frontier“ -Studie vorgeschlagenen Abwehrsysteme in Betracht zieht, so rückt doch die kumulative Wirkung der vorgeschlagenen drei Verteidigungsschichten selbst auf einen massiven Angriff, die Möglichkeit der Flächenverteidigung der USA, ins strategische Blickfeld. Der Zusammenhang zwischen der sukzessiven Ausdünnung eines mehrere Tausend Gefechtsköpfe umfassenden Angriffs mit der taktischen Dominanz des Verteidigers über den Angreifer und der Möglichkeit, die Verteidigung aller Zielkategorien in einer Systemkonzeption zu integrieren, wird die weitere ABM-Entwicklung der USA beherrschen.
V. Die ABM-Entwicklung in der UdSSR bis 1972
Informationen über das sowjetische ABM-Programm sind naturgemäß sehr viel bruchstückhafter als über das der USA. Dieses Programm muß allerdings genauso weit zurückreichen wie das der Vereinigten Staaten. So erklärte im Oktober 1961 Marschall Malinowski, daß die Sowjetunion das Problem, Raketen im Flug zu zerstören, gelöst habe. Im Juli 1962 verwies Nikita Chruschtschow erneut auf die Erfolge der sowjetischen Raketenverteidigung. Diese Erklärungen waren sicher keine leeren Behauptungen. Der Weg aber, von der prinzipiellen Lösung des Problems, eine einzelne Rakete abzufangen, bis zur Entwicklung eines leistungsfähigen ABM-Systems, ist weit und schwierig.
Bei der Parade zu den Revolutionsfeierlichkeiten 1964 wurde zum ersten Mal eine mehrstufige Abfangrakete (Galosh) vorgestellt, deren Reichweite auf mehrere hundert Kilometer geschätzt wurde. In der Folgezeit wurde diese Rakete Bestandteil eines ABM-Gürtels um Moskau, dessen Radaranlagen damals weit weniger leistungsfähig waren als diejenigen des Sentinel-und Safeguard-Systems der USA. Der Galosh-Gürtel scheint jedoch nicht bis zu seiner ursprünglich geplanten Dichte aufgebaut worden zu sein.
Zu den Revolutionsfeierlichkeiten 1963 wurde eine Abfangrakete (SA-5, Griffon) gezeigt, von der längere Zeit vermutet wurde, daß sie und die mit ihr assoziierten Radaranlagen zumindest auch ABM-Funktionen übernehmen könne. Sie war Teil des sogenannten Tallin/Leningrad-Abwehrsystems, dessen Aufbau offensichtlich auch abgebrochen wurde. Es wird heute angenommen, daß dieses System zur Abwehr hochfliegender Bomber (wie der von den USA aufgegebenen B-70) entwickelt wurde. Diese Vermutung wird dadurch erhärtet, daß in der Folge des israelischen Libanon-Feldzugs SA-5 in Syrien stationiert wurden.
Als die SALT-Verhandlungen 1969 aufgenommen wurden, war so die UdSSR noch weiter 20 von einem funktionsfähigen ABM-System entfernt als die USA. Wie die USA in den fünfziger und sechziger Jahren, hatte sich die Sowjetunion auf die Verteidigung von Ballungszentren (Moskau) konzentriert Die Beibehaltung dieser Ausrichtung des sowjetischen Programms mag aus der, im Vergleich zu Washington, größeren strategisch-politischen Bedeutung Moskaus resultieren, aber auch aus der Möglichkeit, dem Problem der (wenn auch nur langsam) wachsenden Verwundbarkeit ihrer ICBM durch Maßnahmen, die die Weite und relative Leere des sowjetischen Territoriums nutzen, zu begegnen. Auch erscheint die Indienststellung eines nur wenig leistungsfähigen ABM-Systems dann sinnvoll, wenn man in Betracht zieht, daß drei kleine Atommächte (Frankreich, Großbritannien, China) mögliche Kriegsgegner der UdSSR sind. Deren Dispositiv war bis in die siebziger Jahre im allgemeinen ausreichend undifferenziert, um eine begrenzte Effektivität des Galosh-Systems zu gewährleisten. So verzichtete die Sowjetunion nach Abschluß des ABM-Vertrages, im Unterschied zu den USA, die 1975 das Minuteman-Verteidigungssystem um Grand Forks, North Dakota, einmotteten, auf die Demontage des sehr viel weniger effektiven Galosh-Gürtels um Moskau.
VI. Die ABM-Entwicklung in der UdSSR nach 1972
Die sowjetische ABM-Forschung und Entwicklung nach 1972 nahm einen etwas anderen Verlauf als die der Vereinigten Staaten. Neben den außerordentlich hohen Investitionen in strategische Offensivwaffen begann die UdSSR ein forciertes Programm der wissenschaftlich-technischen Exploration hoch-energetischer, gerichteter Strahlung, dessen genauer Charakter aus der offenen Literatur nicht zu ermitteln ist. Auf jeden Fall aber scheinen neutrale Partikel-und Elektronen-strahlung, nuklear gepumpte Röntgenlaser, elektrisch angeregte Kohlenmonoxid-Laser und vor allen Dingen freie Elektronenlaser im Zentrum ihrer Anstrengungen zu stehen. Abgesehen von Gerüchten gibt es aber keine sichere Information darüber, ob in der Sowjetunion ortsfeste Laser tatsächlich in einem Satellitenbekämpfungsmodus erprobt wurden.
Relativ zweifelsfrei ist jedoch, daß die UdSSR seit mindestens zehn Jahren große Anstrengungen unternimmt, ein System zur Bekämpfung von Satelliten auf niedrigen Umlaufbahnen zu entwickeln.
Die sowjetischen Bemühungen um Modernisierung und Weiterentwicklung ihres Moskauer ABM-Gürtels wurden jedoch erst gegen Ende der siebziger Jahre voll sichtbar. 1980 wurde die Hälfte der verbliebenen Galosh-Startanlagen (32) demontiert und die noch mechanisch gerichteten Radaranlagen durch elektronisch gesteuerte Radargeräte in Phasenanordnung ersetzt. Außerdem waren sprintähnliche hypersonische Abfangraketen entwickelt worden, die den Charakter des Moskauer ABM-Systems wesentlich verändern Die vermutete Systemauslegung läßt darauf schließen, daß Moskau weniger wie ein weiches Flächenziel verteidigt werden soll, als wie eine Kumulation von Punktzielen. Diese Vermutung wird auch dadurch gestützt, daß, im Unterschied zu den USA, alle entwikkelten ABM-Abfangraketen nur mit nuklearen Gefechtsköpfen ausgerüstet sind. Ähnlich aber wie in den Vereinigten Staaten zwischen 1972 und 1979, scheinen die sowjetischen Anstrengungen zur Modernisierung ihres Moskauer ABM-Systems darauf gerichtet zu sein, über ein schnell dislozierbares, relativ modernes ABM-System zu verfügen für den Fall, daß der ABM-Vertrag gekündigt wird. Das, was an Evidenz bekannt ist, mag auch darauf hindeuten, daß die UdSSR die Phase der Entwicklung nicht-nuklearer Abfangraketen überspringen könnte zugunsten verstärkter Entwicklungsanstrengungen im Bereich ortsfester wie auch weltraumgestützter Waffensysteme, die auf der Erzeugung hochenergetischer Strahlung beruhen. Möglicherweise werden auch die erprobten Satellitenbekämpfungssysteme eine gewisse Fähigkeit zur Bekämpfung angreifender Gefechtsköpfe erhalten; mit Sicherheit haben jedoch diese Systeme eine erhebliche Fähigkeit zur Bekämpfung mancher satellitengestützten Aufklä rungs-, Frühwarn-, Gefechtsführungs-und Kommunikationsmittel, von denen sowohl das strategische Offensivwaffendispositiv der USA abhängt als auch das prospektive ABM Dispositiv. Die UdSSR befinden sich hier jedoch auch in einem Dilemma, das durch die Vorherrschaft silogestützter ICBM in ihrer strategischen Streitkräftestruktur bestimmt ist, der ABM in gewisser Weise „systemfremd" ist — jedenfalls insofern, als ABM die strategische Bedeutung von ICBM zunehmend vermindern wird. Zwar ist die sowjetische Streitkräfteentwicklung seit Mitte der siebziger Jahre gleichgewichtiger geworden (besonders durch den neuen Schwerpunkt im Bereich raketen-tragenderU-Boote); dennoch wird die jetzt zunehmende Schrittfolge der amerikanischen ABM-Entwicklung erneut die Sowjetunion vor wachsende Strukturprobleme in ihren strategischen Streitkräften stellen.
Insgesamt aber wird sich auch die Sowjetunion genauso wenig wie die USA dem beginnenden, grundlegenden strategischen Wandel entziehen können, der nicht zuletzt durch ihr Offensivwaffenprogramm ausgelöst wurde.
VII. Ausblick
Im Hinblick auf die möglichen politischen und strategischen Konsequenzen der zukünftigen ABM-Entwicklung sollen einige Thesen formuliert werden, die mögliche Dimensionen des beginnenden, grundlegenden Wandels ansprechen.
1. Seit Kernwaffen das beherrschende Element der amerikanischen und der sowjetischen Streitkräfte wurden, beruhte Abschrekkung auf der Drohung nuklearer Vergeltung. 2. Diese Drohung hat einen Krieg zwischen den USA und der UdSSR und auch militärische Konflikte, die das Risiko eines solchen Krieges in sich bergen (z. B. in Europa), verhindert. 3. Die Intensität des politischen Gegensatzes zwischen den USA und der UdSSR, zwischen dem westlichen und dem östlichen Bündnis-system, ließ einen militärischen Konflikt nie ganz so unwahrscheinlich erscheinen, wie es die konkreten Konsequenzen nuklearer Vergeltung erfordern würden. Nukleare Angst ist dadurch eines der beherrschenden Merkmale der westlichen Kultur geworden.
4. Die Suche nach Auswegen aus diesem Dilemma kennzeichnet die strategische und politische Entwicklung der Ära nuklearer Abschreckung — sei es in der Entwicklung der strategischen Doktrinen, der wachsenden Akzentuierung nicht-nuklearer Verteidigung, sei es in Rüstungskontrolle oder ABM.
5. Die technologische Entwicklung hat bisher diese Form der Abschreckung nicht nur begünstigt, sondern erzwungen; alle Versuche, einen dauerhaften Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, scheiterten bisher daran, daß ihre Voraussetzungen durch die Entwicklungsdominanz der Offensivwaffentechnolog'en untergraben wurden. 6. Der sich abzeichnende Wandel zur Entwicklungsdominanz nicht-nuklearer, defensiver Waffentechnologien könnte das Grundproblem nuklearer Abschreckung auflösen. 7. Dieser Prozeß ist langfristig und wird sich über Jahrzehnte erstrecken. 8. Er ist mit großen Unsicherheiten verbunden und kann zur Verschärfung der Rüstungskonkurrenz, zu erhöhten Verteidigungslasten, zusätzlichen Belastungen von Rüstungskontrollverhandlungen,. zur Steigerung politischer Konflikte führen. Auf welche Weise die politischen Folgen dieses Transformationsprozesses gesteuert werden, wird für lange Zeit Mittelpunkt des strategischen Verhältnisses USA — UdSSR bleiben.
9. Langfristig wird sich der Umrüstungsprozeß auch unter Präsidenten der demokratischen Partei durchsetzen, die möglicherweise Verteidigungsfragen einen geringeren Rang beimessen werden als die gegenwärtige Regierung der USA.
10. Dieser Prozeß wird sich auch unter demokratischen Präsidenten deswegen durchsetzen, weil die, wenn auch nur langfristig realisierbare Möglichkeit zur effektiven Flächen-verteidigung der USA (also auch der Bevölkerungszentren) die Fortgeltung von Strategien „gesicherter Zerstörung" öffentlich zunehmend inakzeptabel machen wird. 11. Weil die Schwerpunktentscheidungen nukleartechnologischer Forschung und Entwicklung „synergistischen" (sich gegenseitig verstärkenden) Prozessen unterliegen, werden alle militärischen Forschungs-und Technologieprogramme zunehmend auf ihre defensiven Möglichkeiten hin, wenn nicht angelegt, so doch auch untersucht werden. 12. Im Verlauf dieses Prozesses wird sich der Charakter nuklearer Offensivwaffen grundsätzlich verändern, z. B. durch die Entwicklung agiler, überschallschneller, sich passiv verteidigender Cruise Missiles sehr großer Reichweite, wie auch der Charakter der See-, Land-und Luftstreitkräfte insgesamt.
13. Es werden extreme Spannungen in der Streitkräfteentwicklung auftreten, besonders aber im Bereich von Doktrin und Strategie. 14. Die UdSSR, die in den siebziger Jahren diesen Prozeß wesentlich stimuliert hat, wird sich dessen Konsequenzen nicht entziehen können: Sie hat einen Rüstungswettlauf in einem USA begonnen, im dem die ihre Leistungsfähigkeit durch technologische begünstigt sind.
15. Die Entwicklung defensiver Waffensysteme hat weitreichende Folgen für die Nuklearrüstung Frankreichs und Großbritanniens: Ihre nuklearen Waffensysteme stellen eine zusätzliche, schwerwiegende Belastung für die Forderung an die Leistungsfähigkeit sowjetischer ABM-Systeme dar; sobald allerdings die UdSSR effektive Systeme in Dienst stellen kann, die auf der Erzeugung hochenergetischer, gerichteter Strahlung beruhen, werden deren ballistische Raketenwaffen zunehmend „marginalisiert" werden.
16. Die Möglichkeit der Bekämpfung von Gefechtsköpfen ballistischer Raketen sind nicht auf Raketen interkontinentaler Reichweite beschränkt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die ABM-Entwicklung im Laufe der achtziger Jahre auch die Fragen der europäischen Verteidigung einbeziehen wird. 17. Es ist wahrscheinlich, daß Ende der achtziger Jahre ein Prototyp für ein „Kombiniertes" ABM-System und auch Satellitenverteidigungssysteme erprobt werden können; im Verlauf der neunziger Jahre wird möglicherweise ein weltraumgestütztes HEL-Waffensystem erprobt werden können und eine Anzahl von Laserwaffen taktisch-operativer Anwendung (z. B. Luftverteidigung) ihre anfängliche Operationsreife erlangen.
Ren Herrmann, Dr. phil., geb. 1945; Studium in Mainz, Bonn und Harvard; 1973— 1979 wiss. Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen; 1980-1982 der Rand-Corporation, Santa Monica; seit Mai 1983 des Atlantic Institute, Paris; Lehrbeauftragter an der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a. zu Themenstellungen aus dem Bereich der Konfliktforschung, zu Fragen der westlichen Verteidigungspolitik, modernen strategischen Denkens und der strategischen Politik der USA
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