Im Zuge der Diskussion über den „Nachrüstungsbeschluß" der NATO vom 12. Dezember 1979 kam es nicht zuletzt zu Stellungnahmen zum Fragenkomplex, inwieweit die Aufstellung von Mittelstreckensystemen auf westlicher Seite die Gefahr eines auf Europa bezogenen Kernwaffenkrieges erhöhe. Hierbei wurden sehr unterschiedliche Positionen bezogen, die von einer Bejahung bis zu einer vorsichtigen Verneinung reichten. Auf westlicher Seite hat man es oft unterlassen, die Frage der eurostrategischen Waffen in den Gesamtrahmen der strategischen Doktrin der USA einzuordnen. Diese Doktrin hatte schon seit der Formulierung der „Flexible Response", besonders aber seit dem „Schlesinger-Konzept“ von 1974, großes Augenmerk auf die „Begrenzung" eines atomaren Konflikts zum Zwecke der Schadensverringerung und einer möglichst raschen Kriegsbeendigung gelegt. Die geplante Aufstellung von 572 Mittelstreckensystemen dient daher nicht der Führung eines begrenzten Nuklearkrieges unter Schonung des amerikanischen Kernlandes, sondern vielmehr zur Verklammerung der strategischen und eurostrategischen Arsenale, um die Glaubwürdigkeit der Abschreckung nicht allein von den strategischen Waffen der USA abhängig zu machen. Keinesfalls wird durch die TNF-Nachrüstung eine westliche „Erstschlagsoption" angestrebt, wie von sowjetischer Seite oftmals behauptet wird, da u. a. hierzu die Cruise Missiles technisch und operativ gar nicht in der Lage wären. Wenn auch die sowjetische Doktrin eine Begrenzung eines einmal ausgebrochenen Nuklearkrieges offiziell für unrealistisch erklärt, gibt es dennoch in der Fachliteratur Formulierungen, die eine solche Begrenzung nicht völlig von der Hand weisen. Es hängt viel davon ab, ob man die absichtliche Schonung sowjetischen Territoriums als Angebot einer „Kriegsbegrenzung" auffassen will. Die Bedeutung der amerikanischen TNF liegt aber vielmehr in der Option, die von einem massiven Einsatz gegen die nachzuführenden Verbände der zweiten strategischen Staffel des Warschauer Paktes im Falle eines Großangriffes gegen Westeuropa ausgeht: diese Option gilt auch unter konventionellen Voraussetzungen. Diese als „Rogers-Plan" bekanntgewordene Variante könnte wesentlich zur Hebung der atomaren Schwelle beitragen.
I. Grundsätzliche Fragen
Die verschiedenen Aktionen zur Verhinderung der NATO-Nachrüstung im Mittelstrekkenbereich führten als Hauptargument ins Treffen, daß die vorgesehene Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen in Westeuropa die „Regionalisierung" eines Atomkrieges in Europa bedeute und daher das atomare Risiko in diesem Raum bedenklich erhöhe. Dieses Hauptargument wurde in abgewandelter Form — „Europäisierung des Atomkrieges", „Schießplatz der Supermächte" — immer wieder vorgebracht und trug dazu bei, die Argumentation der Befürworter des „Nachrüstungsbeschlusses" in Verlegenheit zu bringen. Insbesondere wurde herausgestellt, daß die Bundesrepublik Deutschland, auf die bereits seit Jahren eine Vielzahl sowjetischer SS-4/5-Raketen sowie taktische Atomwaffen gerichtet wären, ohnehin ein großes nukleares Risiko zu tragen hätte. Es wäre daher kaum zumutbar, dieses Risiko weiter zu erhöhen.
Neben dieser Position in der Debatte besteht eine andere, vor allem von sowjetischer Seite geübte Argumentationsweise darin, die „Regionalisierung" eines Atomkrieges in doppeltem Sinne zu gebrauchen: Einerseits werde die „Nachrüstung" den Westeuropäern ein bedeutend höheres Risiko im Falle einer nuklearen Auseinandersetzung in Europa bringen, indem sie die Staaten Westeuropas zu „nuklearen Geiseln" mache andererseits sei eine solche „Regionalisierung" kaum vorstellbar, da jeder nukleare Angriff auf sowjetisches Territorium durch eurostrategische Waffen von der UdSSR als strategische Herausforderung betrachtet und auch mit strategischen Mitteln beantwortet werde.
Die Installierung neuer Mittelstreckenwaffen durch die USA diene somit nicht der Verteidigung Westeuropas, sondern sei für den „Erstschlag gegen strategische Objekte im europäischen Teil der UdSSR bestimmt“ Von sowjetischer Seite wurde weiter dazu erklärt, daß ein Atomkrieg, einmal in Gang gesetzt, nie begrenzt bleiben würde und daß die Eskalation im Grunde genommen unvermeidlich wäre: „Falls die amerikanischen Mittelstreckenraketen sowjetisches Territorium treffen, wird der Gegenschlag nicht nur gegen jene Länder gerichtet sein, in denen sie abgefeuert wurden, sondern auch gegen die Vereinigten Staaten, und zwar genauso, als wenn die Raketen in Montana gestartet worden wären.“
Eine dritte Position zu diesem Thema besagt, daß gerade die beabsichtigte Stationierung amerikanischer Mittelstreckenwaffen in Westeuropa zu einer „Verklammerung" (coupling) des westeuropäischen mit dem amerikanischen Nuklearpotential führen und damit der Tendenz der „Regionalisierung" eines Kernwaffenkrieges entgegenwirken würde. Die dementsprechende Gedankenfolge lautet, daß sich die Führung der amerikanischen Streitkräfte in Westeuropa im Falle eines Krieges mit dem Warschauer Pakt relativ früh entscheiden müßte, ob sie diese Waffen der Zerstörung preisgeben oder gegen die UdSSR einsetzen wolle. Im Falle der zweiten Alternative, dem Angriff gegen Ziele auf sowjetischem Boden, müsse man mit einem sowjetischen strategischen Gegenschlag gegen das Territorium der USA rechnen, womit das besagte Streben nach Regionalisierung letztlich gescheitert sei
Die Frage nach der Regionalisierung eines Kernwaffenkrieges ist somit mit extrem voneinander abweichenden Aussagen belastet, die offenbar von Voraussetzungen ausgehen, die sich im Grundsätzlichen unterscheiden. Zur Präzisierung des Themas sei zunächst vorausgeschickt, daß die Frage der „Regionalisierung" in den Bereich derjenigen Überlegungen gehört, die mit der Begrenzung atomar geführter Kampfhandlungen in Europa zu tun haben. Hierbei sind dreierlei Arten von Begrenzungen zu beachten: 1. zeitliche Begrenzung von Kampfhandlungen; 2. Begrenzung der Waffenwirkung und des Ausmaßes der Zerstörungen, d. h. qualitative Begrenzung, die auch mit dem Begriff der „Schadenskontrolle" umschrieben wird;
3. regionale, geographische Begrenzung.
II. Der Begriff der „Begrenzung" in der strategischen Doktrin der USA
Soweit faßbar, taucht der Begriff der „Begrenzung" oder „Regionalisierung" eines Krieges erstmals in den Grundsatzerklärungen des Nationalen Sicherheitsrates, der NSC-30 vom 10. September 1948 und der NSC-68 vom 14. April 1950, auf, die durch die Unterschrift des Präsidenten der USA Weisungscharakter erhielten. Die Absicht einer Begrenzung konventioneller und nuklearer Konflikte kommt noch deutlicher in der Doktrin der „Flexible Response" ab 1961 zum Ausdruck, wonach ein möglicher Krieg, z. B. in Europa — falls die Abschreckung versagt — mit verschiedenen, „abgestuften" und der Lage angepaßten Mitteln geführt werden sollte. Gleichzeitig sollte das Bestreben maßgeblich sein, einen solchen Krieg auf einer möglichst niedrigen Eskalationsstufe zu beenden
Ein einkalkuliertes Unterlaufen des nuklearen Risikos durch die überlegenen konventionellen Streitkräfte der Sowjetunion wollte man seitens der NATO mittels Kontrolle dieses nuklearen Risikos durch konventionelle Kräfte in geographisch begrenzten Räumen verhindern. Daß diese Doktrin jedoch erhebliche Schwächen und Risiken in der Durchführung auf Grund verschiedener technischer Unzulänglichkeiten, etwa hinsichtlich der Zielgenauigkeit der landgestützten Interkontinentalraketen (ICBM), aufwies, stand auf einem anderen Blatt.
In der Folge kam es ab 1969 im Zuge Konzepts der „Realistic Deterrence" unter der Präsidentschaft Nixons zu einer weiteren Ausformung des Begriffes „Regionalisierung" im Sinne einer geteilten Verantwortung zwischen den USA und den verbündeten Nuklearmächten, wobei die Regionalmächte die Hauptverantwortung für die konventionelle in ihrer Verteidigung Region übertragen erhielten. In erster Linie waren für die Formulierung dieses Konzepts die Erfahrungen der Vereinigten Staaten im Vietnam-Krieg maßgeblich. Das besagte Konzept wurde im politischen Bereich mit der Kurzformel „Hilfe zur Selbsthilfe" bezeichnet.
Die Schaffung der Mittel zur Durchführung der flexiblen und begrenzten Optionen war ein wichtiges Anliegen der USA in den siebziger Jahren, wozu im Nuklearbereich etwa die Einführung der Kurzstreckenrakete Lance, die Konstruktion der Mittelstreckenrakete Pershing II und von Marschflugkörpern (Cruise Missiles) sowie die laufende Verbesserung der Zielgenauigkeit von Geschossen und Lenkwaffen zählten. Operative Maßnahmen, wie etwa die Stationierung von ca. 170 schweren Jagdbombern vom Typ F-lll in Südostengland, sollten die Möglichkeiten einer angemessenen Erwiderung auf dem europäischen Kriegsschauplatz ergänzen.
Im sogenannten Schlesinger-Konzept von 1974 erhielt die Tendenz zur „Begrenzung" eine Formulierung, wonach „die Notwendigkeit von Selektivität und Beschränkung zum Zwecke einer Minimalisierung von kollateralem Schaden und der größtmöglichen Vermeidung von Zivilopfern sowohl auf die taktisch-nukleare Kriegführung wie auf die strategische Kriegführung zutrifft"
Es ist wichtig festzuhalten, daß etwa ab Mitte der siebziger Jahre die technischen Voraussetzungen für eine den Lagebedingungen angepaßte Zielauswahl bzw. für einen raschen Zielwechsel eine neue Qualität für einen möglichen Konflikt in Europa geschaffen haben. Im Großangriffs auf -Falle Westeu der ropa hat Warschauer Pakt theoretisch nur mit dem Risiko einer begrenzten strategischen Konfrontation mit den USA zu rechnen.
ruht die Damit Abwehr eines solchen Angrif-fes in vermehrtem Maße als bisher auf den Schultern der in Europa vorhandenen NATO-Kräfte Der Stärkung der konventionellen Kampfkraft wird erhöhte Bedeutung beigemessen. Trotzdem soll der kontrollierte Einsatz von Kernwaffen neben der Erzielung von Zeitgewinn dazu dienen, den gegnerischen Angriff auf möglichst niedriger Ebene konform zu den politischen Interessen der Bündnispartner zum Stehen zu bringen. Man erkennt unschwer, daß bereits durch das „SchlesingerKonzept" eine Begrenzung von Kriegshandlungen im Sinne der oben angeführten drei Arten sowie im Sinne einer möglichst raschen Kriegsbeendigung ins Blickfeld rückt.
Die angestrebte Verbesserung der „Kriegführungsfähigkeit" im Nuklearbereich hat massive Kritik, vor allem durch sowjetische Politiker und Militärs, hervorgerufen, ist aber auch im Westen nicht unwidersprochen geblieben. Demgegenüber hat man seitens der NATO immer wieder und mit Entschiedenheit hervorgehoben, daß eine verbesserte Fähigkeit zur Durchführung nuklearer und konventioneller Kampfhandlungen, deren wirksame Ergänzung angestrebt wird, auch die Glaubwürdigkeit der Abschreckung erhöhe und damit zur Friedenssicherung beitrage Die Kombination konventioneller und nuklearer Verteidigungsoptionen erhalte angesichts der beträchtlichen Unterlegenheit der NATO in Europa auf konventionellem Gebiet großes Gewicht. Einer der Hauptvertreter dieser Denkschule ist Colin S. Gray, der die angestrebte verbesserte „Kriegführungsfähigkeit''ebenfalls im Sinne einer glaubhaften Abschrekkung, aber nicht im Sinne einer erhöhten Kriegsdrohung vertritt.
In diesem Zusammenhang steht der NATO-Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979, der nicht in der Absicht gefaßt worden ist, der wachsenden Zahl an sowjetischen SS-20-Raketen und Mittelstreckenbombern (Backfire, Su-24) ein gleich großes Potential ähnlicher Waffen entgegenzustellen, sondern in der Absicht, eine „Verklammerung" des westeuropäischen mit dem amerikanischen Potential zu erzielen Dezember 1979, der nicht in der Absicht gefaßt worden ist, der wachsenden Zahl an sowjetischen SS-20-Raketen und Mittelstreckenbombern (Backfire, Su-24) ein gleich großes Potential ähnlicher Waffen entgegenzustellen, sondern in der Absicht, eine „Verklammerung" des westeuropäischen mit dem amerikanischen Potential zu erzielen 10). (Eine Parität mit dem sowjetischen Mittelstreckenarsenal schied von vornherein aus, da auf beiden Seiten ein unterschiedliches Bedrohungskalkül vorlag, das einer näheren Betrachtung wert wäre. 11)
Diese „Verklammerung" dient dazu, einen Zusammenhang der Kräftearsenale, aber auch der Zielplanung, sicherzustellen, wie er sich nach der Präsidenten-Weisung Nr. 59 vom 25. Juli 1980 und dem damit verbundenen Konzept der „Countervailing strategy" ergibt. Hierin wurde nochmals die Absicht, über selektive Optionen und eine überlebensfähige Kommandostruktur zu verfügen, betont, um die Durchführbarkeit von „Counterforce" -Optionen, d. h. von Angriffen auf militärische Ziele in der Sowjetunion, zu verbessern 11). Allerdings hat man an diesem Konzept bemängelt, daß auch ein eventueller „selektiver" Einsatz strategischer Waffen durch die USA die Gefahr eines massiven sowjetischen „Entwaffnungsschlages" gegen militärische Einrichtungen der NATO in Westeuropa heraufbeschwöre 12).
Die besagte „Verklammerung" bezweckt zwar einerseits, einen Rückgriff auf die strategischen Waffensysteme der USA möglichst lange hinauszuschieben, bietet jedoch aus europäischer Sicht den Nachteil — falls die Abschreckung versagen sollte —, die nukleare Kriegführungsoption zu erhöhen, d. h. mehrere Kernwaffen-Szenarien zuzulassen. Es wurde allerdings kritisch vermerkt, daß auch den „selektiven Optionen" sehr viel Theorie anhafte und diese keineswegs die Gewähr böten, einen weltweiten Kernwaffen-krieg zu vermeiden.
Als Zwischenergebnis kann man festhalten: Aus der Sicht der amerikanischen Doktrin der „Flexible Response" und ihrer späteren Ausformungen liegt die Tendenz vor, der Drohung eines Kernwaffenkrieges, aber auch eines konventionellen Krieges mit der Begrenzung in zeitlicher, geographischer und qualitativer Hinsicht zu begegnen. Die Höhe der atomaren Schwelle bleibt zwar weiterhin un-bestimmt, es besteht jedoch offenkundig die Absicht, diese nach Möglichkeit anzuheben Daß die europäische Perspektive in manchen Dingen — etwa hinsichtlich der Vermeidung von Zerstörungen — von den amerikanischen Vorstellungen abweicht, umreißt die politischen Dimensionen der „Nachrüstung".
III. Die sowjetischen Optionen
Die bisherigen Ausführungen münden in das Zentralproblem, ob nämlich die sowjetische Führung bereit wäre, ebenfalls eine Kriegsbegrenzung und -regionalisierung zu akzeptieren, bzw. welche anderen Optionen erfolgversprechender erschienen.
Wie man einer tiefschürfenden Untersuchung über die verschiedenen militärischen Wahlmöglichkeiten entnehmen kann halten sich Vorteile und Nachteile eines konventionell oder unter Einschluß nuklearer Mittel geführten sowjetischen Großangriffs gegen NATO die etwa die Waage. Wenn man nur die Option eines konventionell geführten Großangriffs des Warschauer Paktes betrachtet, so hat es den Anschein, daß ein Überraschungsangriff, u. U. „aus dem Stande“, leichte Vorteile gegenüber einem Angriff nach längerer Vorbereitungs-und Vorwarnzeit besitze, wobei es ein Hauptanliegen sein müßte, einen taktisch-nuklearen Gegenschlag der NATO zu „unterlaufen"
Aus der Sicht der Führung des Warschauer Paktes dürfte bei einem konventionellen Angriff sowohl unter der Voraussetzung des Überraschungsmoments („Blitzkrieg") als auch unter der Annahme einer längeren Vorbereitungszeit das Nachführen der zweiten strategischen Staffel aus Ostpolen und aus den drei westlichen Militärbezirken der UdSSR entscheidende Bedeutung besitzen. Die Gefährdung des Heranführens dieser Kräftegruppierung an die Hauptfront in Mitteleuropa mittels konventioneller Abriegelung in der Tiefe des Raumes, noch mehr aber mittels nuklearer Einsätze — F-lll, F-4, Tornado, Pershing-IA —, erscheint als ein wichtiges militärisches Problem. Die neuen nuklearen Mittelstreckenwaffen (INF) der NATO werden dieses Problem verschärfen. Verschiedene Hinweise auf westlicher Seite haben keinen Zweifel daran gelassen, daß diese stra-tegisch/operative Schwäche des Warschauer
Paktes erkannt worden ist Aber auch die Gefährdung der grenznah eingesetzten zweiten Staffel kann nicht übersehen werden. Die in den Räumen der östlichen DDR stationierten sowjetischen Divisionen werden voraussichtlich eine Spanne von 15 bis 20 Stunden benötigen, um an die deutsch-deutsche Grenze zu gelangen. Hierin besteht ebenfalls die Möglichkeit einer weitreichenden atomaren oder konventionellen Gefechtsfeldabriegelung durch die NATO
Ohne näher auf die Einsatzkriterien der vorgesehenen Mittelstreckensysteme der NATO einzugehen, soll jedoch betont werden, daß diese Systeme nicht dazu dienen, das gegen Westeuropa gerichtete sowjetische Kernwaffenpotential auszuschalten. Deshalb kann auch nicht von der Absicht seitens der NATO die Rede sein, mit diesen Mittelstreckenwaffen, von denen sich die Cruise Missiles rein technisch gar nicht dazu eignen, einen Präventivschlag gegen Kernwaffenstellungen in der westlichen Sowjetunion zu führen. Nach bisherigen Erkenntnissen werden nukleare Ziele im westlichen Teil der UdSSR überwiegend von Atomwaffen mit interkontinentaler Reichweite abgedeckt. Die vorgesehenen Mittelstreckensysteme dienen in erster Linie für selektive Einsätze militärischer Natur in der Tiefe des Raumes, wobei der Gegner die damit verbundenen Begrenzungen erkennen soll
An dieser Stelle sei noch eingefügt, daß man sich unter dem Begriff „konventionell" nicht etwa jene Art von Kriegführung vorstellen darf, wie sie noch am Ende des Zweiten Weltkrieges gebräuchlich gewesen ist. Es soll mit diesem Begriff nur der Unterschied zur nuklearen Kategorie betont werden. Es steht fest, daß der Typ der „konventionellen" Kampfführung, wie er auf Grund der beiderseitigen Vorstellungen in Europa zur Austragung kommen könnte, gegenüber 1945 eine neue Dimension des Waffeneinsatzes und der Waffenwirkung erschließt.
Wendet man sich nun der Option eines umfassenden nuklearen „Entwaffnungsschlages" gegen Westeuropa durch den Warschauer Pakt zu, so ergibt sich, daß zwar eine präventive Ausschaltung der nuklearen Systeme in Westeuropa durchaus denkbar ist, daß jedoch diese Variante ebenfalls bedeutende Nachteile aufweist. Darunter fallen etwa der vorsätzlich hohe Grad der Eskalation, das große Ausmaß der zu erwartenden Zerstörungen in einem als „Beute“ gedachten Westeuropa und das Kalkül, daß die Führungen der USA und anderer NATO-Staaten kaum mehr Hemmungen bei der Auslösung eines nuklearen Gegenschlages mit den noch verbliebenen Kernwaffensystemen besitzen dürften. Auch das noch vorhandene französische und — unter gewissen Voraussetzungen — britische Arsenal wäre zu berücksichtigen.
Die Risikoerwartung der östlichen Führungsstellen wird somit in diesem Fall kaum niedriger sein als bei der Option eines rein konventionellen Großangriffes. Verschiedene sowjetische Äußerungen deuten daher auf die Vorteile eines in der ersten Phase rein konventionell geführten Krieges hin, wobei der Über-gang zum Kernwaffeneinsatz als ausgesprochen kritischer und schwieriger Moment beurteilt wird Im übrigen sei betont, daß die Risikoerwartung auf östlicher Seite derart betrachtet werden muß, daß hierbei immer das Kalkül einer „Worst case analysis" einbezogen sein dürfte.
Dergestalt kann man den sowjetischen Überlegungen entnehmen, daß die Führungsstellen des Warschauer Paktes insgesamt gesehen dem Arsenal taktischer Nuklearwaffen (TNF) der NATO einen hohen Abschrekkungswert beimessen und auch einen entsprechenden Respekt zollen. Die vehemente Kritik am „Nachrüstungsbeschluß“ der NATO kann hierbei als indirekte Bestätigung gelten. Es wird daher sehr darauf ankommen, ob sich die sowjetische Führung bei einem Kernwaffeneinsatz der NATO gegen die zweite strategische Staffel oder gegen andere militärische Ziele im Hinterland, etwa auf dem Boden Polens oder der CSSR, bewegen läßt, diesen als „begrenzte Option" zu betrachten, sofern sowjetisches Territorium verschont worden ist. Tut sie dies, so liegt der Schluß nahe, daß die sowjetischen Führungsstellen ebenfalls unter Einsatz „begrenzter" Mittel reagieren werden.
Man muß hierbei berücksichtigen, daß gerade die schnelle Zunahme des SS-20-Potentials mit hoher Treffgenauigkeit (Streukreisradius: 200— 400 m), mit Nachladefähigkeit und geringer Verwundbarkeit nicht allein dem Aufbau einer Drohposition dient, sondern auch eine erheblich gesteigerte „Kriegführungsfähigkeit" in sich birgt. Dies gilt z. B. im Vergleich zu den älteren SS-4/5-Raketen.
Von den SS-20 sind mit Stichtag l. Juli 1982 laut NATO-Angaben insgesamt 315 Raketen mit 945 Gefechtsköpfen in 35 Stellungen vorhanden gewesen Andere Berichte sprachen Mitte Februar 1983 sogar von 351 SS-20 mit 1 053 Sprengköpfen. Zu diesem Mittelstreckenpotential kommen ca. 75 Backfire-Bomber, ca. 450 schwere Jagdbomber Su-24 Fencer, die neuerdings auch außerhalb der UdSSR stationiert werden, sowie eine große Anzahl von Jagdbombern mit Reichweiten über 1 000 km (MiG-27, Su-7, Su17/20). Es erscheint daher unglaubwürdig, wenn man von der Hand weisen wollte, daß alle diese Mittel nicht auch die Möglichkeit einer flexiblen Begrenzung und Regionalisierung eines Krieges in Europa böten
Verschiedene sowjetische Äußerungen lassen im Rückschluß erkennen, daß — entgegen anderer Stellungnahmen — „Selektivität" im Kernwaffeneinsatz nicht ausgeschlossen ist, jedoch einer anderen Wertung als der in der NATO üblichen unterliegt. Die zahlreichen Manöver des Warschauer Paktes der vergangenen Jahre, bei denen man den Aktionen unter atomaren Bedingungen eine gewisse Bedeutung eingeräumt hat, unterstützen diese Überlegungen. Im militärischen Schrifttum der UdSSR liegen genug Hinweise vor, die die Variante eines begrenzten, lokalisierten Krieges nicht völlig ausschließen Die sowjetische Führung verfügt über viel mehr nukleare „Anpassungsfähigkeit", als man ih-ren deklaratorischen Aussagen entnehmen kann
Im allgemeinen wird jedoch aus östlicher Sicht viel stärker als in der westlichen Diskussion das Moment der Ungewißheit und Unberechenbarkeit von Abläufen und Reaktionen im Falle eines überschreitens der atomaren Schwelle betont
Zusammenfassend kann man vorsichtig formulieren, daß sich die sowjetische Führung bzw. die Führung des Warschauer Paktes u. U. künftig näher mit den Möglichkeiten eines begrenzten Kernwaffeneinsatzes befassen dürfte, falls sie den Eindruck gewinnt, daß auch die Gegenseite einer solchen Option zuneigt
Ein zusätzlicher Aspekt zur „Regionalisierung" besteht darin, daß in Europa nach 1945 bereits zwei begrenzte Konflikte im sowjetischen Machtbereich stattgefunden haben, nämlich in Ungarn 1956 und in der CSSR 1968. In beiden Fällen kam die bewaffnete Macht, wenn auch innerhalb der eigenen Einflußsphäre, zur Lösung des Konflikts zur Anwendung. Außerdem sei nicht vergessen, daß an der europäischen Peripherie, etwa im Zuge des griechisch-türkischen Konflikts um Zypern 1974, begrenzte Streitigkeiten zur militärischen Austragung kamen, bei denen von vornherein nicht feststand, ob es bei einer Lokalisierung bleiben werde. Die sowjetische Führung hat somit politisch wie auch militärisch sehr wohl Gelegenheit gehabt, praktische Erfahrungen bei der Austragung begrenzter Konflikte in Europa nach 1945 zu sammeln.
Kehrt man zum Ausgangspunkt des Themas zurück, so muß man letztlich die mehrmals vorgelegten Vorschläge der Sowjetunion, beiderseits auf einen nuklearen Ersteinsatz („first use") zu verzichten, erwähnen. Nachdem im April 1982 eine ausführliche Studie von vier amerikanischen Persönlichkeiten veröffentlicht worden war, die der NATO die Vorteile einer solchen Option vor Augen führen wollte kam es zu grundsätzlichen Stellungnahmen von offizieller Seite, darunter des Ober-befehlshabers der NATO in Europa, General Rogers.
Ausschlaggebend ist die auffallende Unterlegenheit der NATO bei den konventionellen Streitkräften. Bei den Divisionen liegt ein Verhältnis von 25 : 59, bei den Kampfpanzern ein solches von ca. 6 100 : 18 000 zuungunsten der NATO im Abschnitt Europa-Mitte vor. Trotz des Bestrebens der NATO, ihr konventionelles Potential zu stärken, ein ausdrücklicher Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen seitens der NATO u. a.den Nachteil, der sowjetischen Führung die Unwägbarkeiten bei einem konventionellen Angriff auf Westeuropa zu verringern. Erst nach einer ausreichenden Verbesserung der konventionellen Schlagkraft könne man sich mit dem „Verzicht auf einen nuklearen Ersteinsatz" näher befassen
Im Zuge der Stellungnahmen zu dieser Problematik wurden auch Einzelheiten einer Option seitens der NATO-Führung vorgelegt, die auf die Möglichkeiten einer weitreichenden Bekämpfung der zweiten strategischen Staffel des Warschauer Paktes durch rein konventionelle Kampfmittel und durch verbesserte Zielerfassungsgeräte eingingen. Auch aus diesen Äußerungen ist eine Tendenz zur Hebung der atomaren Schwelle bzw. zur Konfliktbegrenzung im qualitativen Sinne abzulesen
IV. Schlußbetrachtung
Schließlich sei hervorgehoben, daß es eine Verengung des Blickwinkels wäre, die besagte „Regionalisierung" als ein nur auf Europa bezogenes Problem zu betrachten. Die zahlreichen Konflikte der jüngsten Vergangenheit weisen verschiedene Versuche auf, Begrenzungen im Dienste der Erhaltung des Weltfriedens anzustreben. Außerdem wäre es zielführend, im Gesamtraum Europa Unterscheidungen auf die Unterbereiche Nord-, Mittel-und Südeuropa hin vorzunehmen.
Zusammenfassend kann man festhalten:
1. Die nukleare und nichtnukleare Doktrin der USA befaßt sich hinsichtlich des Falles eines dem Westen aufgezwungenen Krieges in zunehmendem Maße mit der Variante einer Begrenzung und Regionalisierung dieses Konflikts unter dem Leitgedanken der Schadensminderung und raschen Wiederherstellung des Friedenszustandes.
2. Die sowjetischen Überlegungen bezweifeln zwar entschieden und in sehr hohem Maße die Anwendbarkeit einer solchen Konzeption, weisen aber indirekt die Aufgabe, sich mit dieser Art des Krieges zu befassen, nicht völlig von der Hand.
3. Trotz der Hinweise, die von der verbesserten Fähigkeit atomarer Waffensysteme für den Einsatz auf dem Gefechtsfeld sprechen, dienen diese Waffen im Verbund mit den konventionellen Kräften vor allem der gegenseitigen Abschreckung. Dieser Abschrekkungswert wird seine Wirkung in dem Maße nell geführten Angriffes auf Westeuropa vor Augen zu führen. Mit neuen Präzisionslenkwaffen sollen möglichst viele Schwachstellen in der Tiefe des gegnerischen Raumes bedroht werden, wobei man westlicherseits davon ausgeht, daß sich ca. 52% der beweglichen und vorrangig zu bekämpfenden Ziele und sogar 96% der festen „Vorrangziele" außerhalb einer 30-km-Zone östlich der Grenze zur DDR und ÖSSR befänden Allerdings hat General Rogers niemals Zweifel daran gelassen, daß die Option eines nuklearen Erst-einsatzes in Anbetracht der konventionellen Unterlegenheit der NATO-Streitkräfte aufrechterhalten bleibt.
Das Gesamtproblem mündet in die Frage nach der sowjetischen Stellungnahme zu den beibehalten, in dem sich die Verantwortlichen der Folgen eines Kernwaffeneinsatzes, auf welcher Ebene auch immer, bewußt sind. In Ergänzung des Voranstehenden sei angefügt, daß der sogenannte Rogers-Plan in den letzten Monaten eine sehr deutliche Erläuterung erfahren hat, wobei die erklärte Absicht darin besteht, einerseits die Nuklearschwelle anzuheben, andererseits dem Warschauer Pakt die Risiken eines auch rein konventiowestlichen Konzepten, zum Rogers-Plan, zur INF-Stationierung sowie zur Theorie des „begrenzten Krieges" im allgemeinen. Vereinfacht ausgedrückt läßt sich sagen, daß die sowjetische Führung alle diesbezüglichen Aus-sagen über die amerikanischen Vorstellungen zu den selektiven und begrenzten Optionen unter dem Aspekt eines Strebens nach Erlangung der strategischen Überlegenheit und einer „Kriegführungsfähigkeit" deutet
Selbst die angekündigte Aufstellung der 572 amerikanischen Mittelstreckensysteme wird unter diesem Gesichtspunkt betrachtet; man geht dabei soweit, diese Systeme ausdrücklich als „Erstschlagswaffen“ zu bezeichnen was jedoch auf die Cruise Missiles technisch und operativ gesehen nicht zutrifft. Abgesehen davon kommt den sowjetischen Experten zugute, daß innerhalb des westlichen Bündnisses unterschiedliche Interpretationen des Begriffes „selektive und begrenzte Optionen“, auch von offizieller Seite, kursieren.
Die sich häufende Literatur über die Begrenzbarkeit bzw. Nichtbegrenzbarkeit eines Kernwaffenkrieges in Europa betont im wesentlichen immer wieder die außerordentlichen Gefahren des Versuches, einen einmal ausgebrochenen Nuklearkrieg unter Kontrolle zu halten, ohne die voneinander abweichenden Doktrinen in West und Ost näher zu berücksichtigen -Aus mancherlei Aussagen ist jedoch zu entnehmen, daß zwar eine „Regionalisierung“ weitgehend theoretischen Charakter besitzt, daß jedoch die Komplexität des modernen Kriegsbildes, die Einsatzkonzeption der Waffensysteme, dr operative Ansatz und die Unwägbarkeiten der Lageentwicklung den Rückgriff auf Nuklearwaffen, in welchem Rahmen auch immer, nicht ausschließen. Daraus folgt, daß die Führungsstäbe in West und Ost trotz aller Unwägbarkeiten, die mit der Möglichkeit des „begrenzten Krieges" einhergehen, diese Option mit der gebotenen Behutsamkeit untersuchen müssen. Proklamationen und Erklärungen, die sich wie magische Beschwörungsformeln anhören, gehen am Kern der Dinge vorbei.
Heinz Magenheimer, Dr. phil., geb 1943 in Wien; Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien; seit 1972 Referent am Institut für Strategische Grundlagenforschung der Landesverteidigungsakademie; seit 1977 Redaktionsmitglied der österreichischen Militärischen Zeitschrift, Lehrbeauftragter an der Universität Salzburg. Veröffentlichungen u. a. in Fachzeitschriften zum Thema Wehrwesen, Entwicklung der Streitkräfte, Sicherheitspolitik und Kriegsgeschichte; Abwehrschlacht an der Weichsel 1945, Freiburg i. Br. 1976.
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