Kooperation und Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa in den achtziger Jahren
Ist die NATO noch zu retten? Bis zu dieser überspitzten Frage scheint sich der Streit in der Atlantischen Gemeinschaft schon zugespitzt zu haben. Das ist ein Alarmzeichen, das nicht überhört, sondern zum Anlaß einer nüchternen Bestandsaufnahme gemacht werden sollte. Immerhin wird die NATO im nächsten Jahr 35 Jahre alt sein. Die Welt, in der sie entstand, gibt es heute nicht mehr. Die Westeuropäer haben politisch und wirtschaftlich mit den USA gleichgezogen, England und Frankreich sind sogar zu Nuklearmächten aufgerückt. Europa ist aus dem Zentrum der Welt an deren Peripherie verwiesen worden und hat dabei auch den Ost-West-Konflikt mitgenommen. Im Vordergrund steht jetzt der Nord-Süd-Konflikt; in der Dritten Welt, weniger in Europa, ist ein Zusammenstoß der Supermächte zu befürchten. Gerade dort aber ist die NATO unzuständig, also auch weitgehend unbrauchbar. Kann man sie erweitern? Soll man sie ersetzen durch eine neue Figur der westlichen Zusammenarbeit? Und vor al
I . Die NATO und der Ost-West-Konflikt
In ihrer Substanz und ihrem Selbstverständnis ist die Atlantische Gemeinschaft ein Produkt des Kalten Krieges mit der Sowjetunion. Das Verteidigungsbündnis der NATO bildet dementsprechend das Herzstück der Gemeinschaft. Hier sind deutliche und gravierende Schäden zu verzeichnen, weil Amerikaner und Europäer in der Interpretation des Ost-West-Konfliktes nicht mehr übereinstimmen -Daraus ergeben sich unterschiedliche Strategien und politische Konflikte.
Für die Europäer ist der Ost-West-Konflikt schon aufgrund ihrer geographischen Lage vielleicht nicht mehr der einzige, aber noch immer der wichtigste Herd eines militärischen Konfliktes. Da Ausbruch und Austrag eines Krieges für sämtliche Westeuropäer, lem: Braucht man sie eigentlich in Europa noch? Ist sie nicht dort schon für die Europäer ein Hindernis der Entspannung geworden und für die Amerikaner nur noch ein Hemmschuh in Gestalt zahlungsunwilliger und konfliktscheuer Alliierter?
Wenn sich die Zeiten wandeln, wandeln sich auch die Interessen. Andererseits muß Wandel keineswegs Veränderung, schon gar nicht das Ende einer politischen Figur heraufführen. Er kann durch Anpassung aufgefangen, sogar in neue Stärke verwandelt werden. Die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Basis des Westens ist unverändert stabil — warum soll nicht auch die NATO, das Kernstück der Gemeinschaft, stabil bleiben? Schließlich hat es immer schon Streit in der Allianz gegeben — bei 16 Nationen ist dies ebenso natürlich wie unvermeidlich. Laufen also die Divergenzen von heute nicht doch nur auf den alten „Familienstreit" hinaus? Es ist eine alte Frage, die hier erneut beantwortet werden will. wenn auch in einer Ost-West-Staffelung, das physische Ende bedeuten würden, sind sie primär an dessen Vermeidung interessiert. Sie halten dementsprechend an dem im Harmel-Bericht von 1967 gefundenen Doppelkonzept von Verteidigung und Entspannung fest Auf der Grundlage einer zentralen Gleichgewichtspolitik kommt es darauf an, „Spannungen zu kontrollieren, abzubauen und soweit wie möglich zu überwinden" Für die Bundesrepublik tritt noch hinzu, daß sie durch die Entspannungspolitik nicht nur ihr internationales Renomm steigern, sondern auch die Voraussetzungen für die Wiederherstellung der innerdeutschen gesellschaftlichen Kontakte schaffen konnte. Die Schlußakte von Helsinki enthält für Bonn das Programm, dem die Ostpolitik des Westens fo- gen sollte. Eine Abkehr wäre „ein schwerer Fehler des Westens" 4).
Die Politik der Europäer entspricht ihrer traditionellen Analyse des Ost-West-Konfliktes und ihrem Überlebensinteresse. Für sie gibt es, wie schon Kissinger gesagt hatte, zur Entspannung „keine Alternative". Dies gilt auch für die neue deutsche Bundesregierung. Außenminister Genscher hat in einem durchaus als programmatisch zu bezeichnenden Aufsatz im Herbst 1982 betont, daß die Entspannung eine Säule der westlichen Politik bleiben müsse, weil eine „einteilige Politik reiner Gegnerschaft im Nuklearzeitalter nicht mehr möglich ist" 5). Europa sieht zwar, wie die Vereinigten Staaten auch, daß die Sowjetunion durch die Aufrüstung seit 1963 ihre militärische Position erheblich ausgebaut, sich zu einer Supermacht entwickelt hat, die Anfang der siebziger Jahre auf strategischem Gebiet mit den Vereinigten Staaten gleichgezogen hat. Daraus leiten die Europäer um so dringender die Forderung nach weiterer Entspannung und Rüstungskontrolle ab. Dabei wird auch die neue deutsche Regierung bleiben, auch wenn der erwähnte Aufsatz von Außenminister Genscher eine gewisse Verschiebung hin zu stärkerer Betonung militärischer Stärke und militärisch implementierten Drucks auf die Sowjetunion erkennen läßt.
In der Sicht der Vereinigten Staaten hingegen stellt sich der Konflikt mit der Sowjetunion ganz anders dar. Er hat sich, infolge der sowjetischen Aufrüstung, längst von Europa getrennt und sich auf die ganze Welt ausgedehnt. Die Unterstützung Vietnams und Kubas läßt den politischen, der Eingriff in Angola und Äthiopien schon den — wenn auch vermittelten — militärischen Expansionismus Moskaus erkennen. Der Aufbau der sowjetischen Marine macht der amerikanischen die Kontrolle der Seewege streitig; der Ausbau des sowjetischen Raketenarsenals könnte tendenziell aus der Parität eine Superiorität der Sowjetunion entstehen lassen. Allerdings hatten sich die Vereinigten Staaten auch mit der Parität niemals recht abgefunden. Seit 1976 ist in den Vereinigten Staaten eine Strömung erkennbar, die, mitgetragen von der Rechtsverschiebung des politischen Zentrums, den Akzent wieder auf die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten und ihre Vormachtrolle rückt. Diese Strömung hat Präsident Reagan an die Macht getragen ist jedoch nicht auf den extremen Konservatismus beschränkt. Den USA ist durch die sowjetische Aufrüstung ein Rivale entstanden, der militärisch in entscheidenden Bereichen gleich stark geworden ist und weiterrüstet. Er tritt ihnen, wenn auch nur punktuell erfolgreich, in allen Weltteilen entgegen, sogar in Zentralamerika. Von Washington aus gesehen nimmt der Konflikt mit der Sowjetunion eine ganz andere Qualität an. Er stellt sich dar als eine bilaterale Machtrivalität, als klassischer Großmachtdualismus weltweiten Ausmaßes. Für die USA ist der Ost-West-Konflikt keinesfalls mehr europazentriert, sondern weltweit.
Dieser ersten amerikanisch-europäischen Differenz folgt die zweite, noch wichtigere: Einem Gegner, der sich zu einer weltweiten militärischen Herausforderung anschickt, kann man nicht sinnvoll Entspannung, sondern nur Aufrüstung, Nachrüstung entgegenbringen. Diese Konsequenz hatte schon Präsident Carter 1978 gezogen. Die sowjetische Invasion in Afghanistan und der Regierungsantritt Reagans verschärften sie zu einem immensen Aufrüstungsprogramm, das von einer „kämpferischen" Rhetorik getragen wird
Im Zentrum der Atlantischen Gemeinschaft hat sich damit eine Meinungsverschiedenheit eingestellt, die das atlantische Bündnis eines Tages sprengen könnte. Sie betrifft dessen Verständnis und dessen Strategie. Wenn es nicht mehr um die europäische Sicherheit und um die Entspannung mit der Sowjetunion geht, stehen der Allianz nur zwei Möglichkeiten offen. Sie kann, einmal, zum Appendix amerikanischer Weltpolitik degradiert und zur Aufgabe der Entspannungspolitik veranlaßt werden — für diese Tendenz gibt es durchaus Anzeichen Zum anderen könnten sich die Europäer der amerikanischen Sicht einer Globalisierung der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion anschließen und einen Beitrag dazu zu leisten versuchen, der sowohl ihren wie den amerikanischen Interessen ent-gegenkommt Dafür gibt es Ansätze aber keine Anzeichen.
Die beiden Möglichkeiten geben andererseits keine Alternative, sondern lediglich Richtpunkte in der sich entwickelnden Auseinandersetzung innerhalb der Atlantischen Gemeinschaft ab. Dabei reaktivieren die USA ihren Führungsanspruch innerhalb der Militär-allianz. Sie verlangten von ihren Verbündeten die Befolgung der einseitig verhängten Boykotte gegen die Sowjetunion, angefangen vom Olympia-Boykott Präsident Carters bis zum praktischen Verbot der Belieferung der sowjetischen Erdgas-Pipeline. Diese Forderungen richteten sich besonders an die Bundesrepublik, deren Ostpolitik zunehmend kritischer gesehen wird. Aber auch englische und französische Firmen bekamen den amerikanischen Druck zu spüren. Die Vereinigten Staaten unter Reagan versuchen zweifellos, das Geflecht wirtschaftlich-politischer Beziehungen, das die Westeuropäer mit Osteuropa und der Sowjetunion unterhalten, zugunsten der Rückkehr zu einer schärferen Konfrontationspolitik abzubauen
Bei diesem Versuch der Korrektur macht sich eine Schwäche der Atlantischen Gemeinschaft erneut bemerkbar, die über lange Strecken der Kooperation hin nicht zu sehen war: die Asymmetrie zwischen der Super-macht USA und den europäischen Staaten sowie die daraus folgende Tendenz der USA zum Unilateralismus. Beide bilden Strukturmerkmale der Allianz, die sich nicht leicht verändern lassen. Die Vereinigten Staaten können sich ihre Strategie nicht von den kleinen Alliierten aufzwingen lassen, sondern müssen darin freie Hand behalten. Unilateral hatten sie die . flexible response'eingeführt, strategische Grundsatzentscheidungen wie die PD 59 getroffen sowie zweimal über die Neutronenbombe entschieden. Unilateral haben die Vereinigten Staaten auch die verschiedenen Boykotte gegen die Sowjetunion festgesetzt. Unilateral haben sie schließlich die neue Strategie der „horizontalen Eskalation" entwickelt, vor allem unter Präsident
Reagan Die NATO wird davon mehrfach betroffen. Die Westeuropäer können nicht darüber entscheiden, wo eskaliert wird, müssen aber entsprechende amerikanische Truppenabzüge kompensieren. Vor allem müssen sie damit rechnen, daß die amerikanische Marinerüstung zu Lasten amerikanischer Präsenz in Europa gehen wird.
Der Unilateralismus der Vereinigten Staaten beherrscht auch das entscheidende Gebiet der Rüstungskontrolle. Die Westeuropäer haben sich stets für die beiden SALT-Verträge eingesetzt, haben auf die START-Verhandlungen ebenso gedrängt wie auf die über die Mittelstreckenraketen, haben sie schließlich auch durchgesetzt. Einen Einfluß auf den Gang der Verhandlungen besitzen sie jedoch nicht, sind damit auch nicht in der Lage, auf die Bedingungen einzuwirken, unter denen der Doppelbeschluß vom Dezember 1979 verwirklicht werden wird. Zwar ist die Regierung der Bundesrepublik wie die von Italien und Großbritannien bereit, die 572 Pershing II und Cruise missiles zu stationieren, wenn es nicht zu einer Einigung in Genf kommt. Ob sich Ende 1983 diese Entscheidungen auch durchsetzen lassen werden, ist jedoch offen. Die britische Labour Party hat auf ihrem Kongreß im Herbst 1982 in Blackpool sich für den einseitigen Verzicht auf Nuklearwaffen und die Schließung aller amerikanischen Stützpunkte in Großbritannien ausgesprochen. Die holländische und die belgische Regierung werden eine Stationierung kaum verwirklichen können. Die seit dem 1. Oktober 1982 in Bonn regierende konservativ-liberale Koalition wird dies versuchen, dabei aber auf erheblichen innenpolitischen Widerstand stoßen. Die Sozialdemokratische Partei hatte sich auf ihrem Kongreß im April in München 1982 nur mit Mühe dazu bekannt, einen Beschluß zu vertagen. Sie bekräftigte aber ihren Parteitagsbeschluß vom Dezember 1979, daß es „keinen Automatismus der Stationierung geben" dürfe, und verlangte darüber hinaus auch Stationierungsmoratorien für taktische Gefechtsfeldwaffen
Mit der Ausnahme von Frankreich, das weder eine nennenswerte Friedensbewegung noch eine intensive öffentliche Diskussion von Si-cherheitsproblemen kennt, nimmt die westeuropäische Öffentlichkeit zunehmend aktiven Anteil an sicherheitsrelevanten Entscheidungen. Sicherheitspolitik hat aufgehört, ein Glasperlenspiel von Regierungen und Experten zu sein; sie ist in das Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. Dazu hat der Generationswechsel beigetragen sowie vor allem die insgesamt verbesserte Ausbildung und Information dieser neuen Generation. Sie artikuliert sich nicht nur in der über ganz Westeuropa verbreiteten Friedensbewegung, sondern auch in der parteiinternen und in der seriösen öffentlichen Diskussion. Die Angst der jungen Generation verbindet sich hier mit der Sorge der Älteren und schafft ein beträchtliches kritisches Potential, das überzeugt und nicht nur geführt werden will.
Eine parallele Erscheinung dazu findet sich in den Vereinigten Staaten. Eine kräftige, auch von den Kirchen mitgetragene Friedensbewegung wird verstärkt und erweitert durch ein quer durch alle Bevölkerungsschichten laufendes Interesse, den Rüstungswettlauf durch ein Einfrieren aller Waffensysteme zunächst einmal zu stoppen. Diese „Freeze-Bewegung" hat zahlreiche Resolutionen von Gebietskörperschaften in den Vereinigten Staaten ausgelöst, im Auswärtigen Ausschuß des Hauses eine positive Resonanz gefunden und sie im Haus selbst nur knapp verfehlt
In der Atlantischen Gemeinschaft bildet sich damit auf dem sensitiven Gebiet der Sicherheit eine neue Gemeinschaft heraus: die der gesellschaftlichen Umfelder. Sie ist nicht sehr eng und (noch) nicht organisiert. Es handelt sich vielmehr um eine latente Gemeinsamkeit, die aus getrennten, aber parallelen Anforderungen der gesellschaftlichen Umfelder an die jeweiligen politischen Systeme besteht. Sie werden auf unterschiedlichen Ebenen erhoben, von den Friedensbewegungen bis hinauf zur politischen Elite. Sie sind auch unverkennbar eingebettet in die jeweiligen Nationalinteressen, die sie, wenn auch schwach, widerspiegeln. Es kann also keine Rede davon sein, daß innerhalb der Atlantischen Gemeinschaft eine gemeinsame Öffentlichkeit entstanden sei. Wohl aber ist eine Öffentlichkeit entstanden, die, wenn auch getrennt, das gleiche Ziel verfolgt: die politischen Systeme zu einer Korrektur der bisherigen Rüstungskon-
trollpolitik zu veranlassen. Die Atlantische Gemeinschaft der achtziger Jahre wird, jeden-
falls auf dem Gebiet der Sicherheit, von einer intensiven inner-und zwischengesellschaftlichen Diskussion geprägt sein, die dementsprechend stark auf die politischen Systeme und deren Auseinandersetzung einwirkt.'
Es ist interessant, daß sich in dieser öffentlichen Diskussion, die auf die Kritik an den Regierungen und auf Rüstungsminderung gerichtet ist, die klassischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa wiederfinden. Wenn McGeorge Bundy et al. fordern, auf den Ersteinsatz der Atomwaffen zu verzichten so klingt darin neben der Kritik an der offiziellen NATO-Doktrin der „flexible response" auch das Interesse an, die USA von einem möglichen Konflikt in Zentraleuropa abzukoppeln. Zwar wollen die Autoren die amerikanische Sicherheitsgarantie für Westeuropa und insbesondere für die Bundesrepublik nicht abschwächen indem sie aber als Konsequenz des Verzichtes auf den Ersteinsatz eine stärkere Konventionalisierung der Verteidigung Westeuropas anregen, nehmen sie Forderungen auf, die auch in der offiziellen NATO-Diskussion als klassisch neuralgisch zu gelten haben. In Westeuropa und vor allem in der Bundesrepublik ist die Androhung des Erst-einsatzes stets als unverzichtbares Element der Abschreckung angesehen worden, insofern nur die unkalkulierbaren Risiken eines Nuklearkrieges den definitiven Verzicht auf den Krieg in Mitteleuropa sicherstellen. Darauf sind die vier Autoren von vier Deutschen deutlich aufmerksam gemacht worden Das bundesdeutsche Interesse an der Beibehaltung rascher Eskalation und damit automatischer Ankoppelung des stategischen Nuklearpotentials der Vereinigten Staaten an die europäische Sicherheit ist durch die zu Beginn der achtziger Jahre verstärkt einsetzende Diskussion um die Möglichkeit begrenzter Kriegführung in Europa noch intensiviert worden. Sie war in der Konzeption der „flexible response" von Anfang an enthalten, wurde aber erst durch die verbesserte Treffsicherheit der Nuklearwaffen realisierbar und erst durch die Popularisierung der Diskussion in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gehoben. Die strategische Interessendivergenz zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa, die die Vereinigten Staaten zur Aufgabe der Strategie der „massiven Vergeltung" zwang und seitdem die NATO als unlösbares Problem belastet konnte auf dieser Ebene der öffentlichen Diskussion, trotz umgekehrter Blickrichtung, nicht gelöst werden.
Auf amerikanischer Seite ist ein weiterer, traditioneller Beitrag zu dieser Auseinandersetzung zu verzeichnen, und zwar mit dem Stichwort des „bürden sharing". Es wird gleichermaßen von Konservativen und Liberalen verwandt, wobei die einen den Europäern mangelnde Leistungen vorwerfen, die anderen die Verteidigungsausgaben insgesamt senken wollen. Seit den Tagen der Mansfield-Resolution hat das Stichwort auch immer wieder dazu gedient, den Rückzug der amerikanischen Truppen aus Europa zu fordern und damit die Europäer unter Druck zu setzen.
Im Hintergrund dieses Arguments taucht eine besondere Form des amerikanischen Unilateralismus auf: der Isolationismus in der Version der „Festung Amerika". Es ist unverkennbar, daß die Aufrüstungspläne der Administration Reagan, insofern sie auf die Wiedererlangung der militärischen Überlegenheit der Sowjetunion abzielen, diesen Tendenzen Auftrieb geben und die Europäer zunehmend vor die Alternative stellen werden, entweder Folge zu leisten oder die Folgen zu ertragen. Die Tendenz zu einem solchen Unilateralismus war in der amerikanischen Europa-Politik schon einmal sichtbar geworden, wenn auch unter ganz anderem Vorzeichen. Die Politik der Entspannung mit der Sowjetunion entlastete die Vereinigten Staaten in ihrer Sicherheitsgewährleistung für Westeuropa so weit, daß Außenminister Kissinger das Jahr 1973 zum „Jahr Europas" erklären und den Europäern dabei die Rechnung von militärischer Sicherheit und wirtschaftlichen Konzessionen aufmachen konnte. Dies gelang seinerzeit genauso wenig, wie eine Politik der strategischen Überlegenheit über die Sowjetunion (abgesehen davon, daß sie sich nicht mehr verwirklichen läßt) die USA von der Notwendigkeit befreien wird, mit Westeuropa militärisch zu kooperieren. Andererseits ist klar, daß eine zunehmende militärische Stärke der USA die Abhängigkeit der Europäer immer stärker hervortreten lassen wird.
Angesichts dessen haben Vorstellungen, wie sie von prominenten SPD-Mitgliedern zur europäischen Sicherheit entwickelt wurden, kaum Realisierungschancen Auch der Palme-Kommission dürfte es kaum gelingen, ihren Plan einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa durchzusetzen Vielmehr ist den meisten Politikern in der SPD und in der CDU klar, daß sie jeden Preis, auch den der Nachrüstung, bezahlen müssen, um den einzigen verläßlichen und bezahlbaren Schutz europäischer Sicherheit zu erhalten: die Ankoppelung an das amerikanische Nuklearpotential Wie weit es sich dabei trotz allem um einen „Mythos" handelt, kann hier offenbleiben, weil er auch für die Sowjetunion reale Bedeutung besitzt.
Freilich dürfte er wohl auf Dauer unbezahlbar bleiben. Mit der Rogers-Doktrin setzt sich in der NATO eine stärkere Konventionalisierung der europäischen Verteidigung durch. Sie nimmt einerseits Rücksicht auf die Kernwaffenängste der europäischen Öffentlichkeit, insofern sie die Reduktion der taktischen Gefechtsfeldwaffen erlauben soll. Sie nimmt Rücksicht auf die Sorgen der amerikanischen Öffentlichkeit, über die Eskalationsgeschwindigkeit eines europäischen Konfliktes direkt in Mitleidenschaft gezogen zu werden und trägt damit auch dem Aspekt des „no first use" Rechnung. Gleichzeitig erhöht sie aber mit der Konventionalisierung erneut die Möglichkeit eines begrenzten Krieges in Europa, der in erster Linie zu Lasten Deutschlands, sicherlich aber auch Frankreichs und der osteuropäischen Staaten gehen müßte. Schließlich setzt sie voraus, daß die Europäer einen höheren Verteidigungsbeitrag leisten: konventionelle Waffen sind teurer als nukleare. Entscheidend ist jedoch, daß auch die Rogers-Doktrin den Akzent nicht auf Rüstungskontrolle und Entspannung, sondern auf Aufrüstung und Konfrontation setzt Die Interessendivergenz zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten wird damit, trotz der Rücksichtnahme auf den Widerstand gegen die Nuklearisierung, mittelfristig verstärkt werden. Für die Vereinigten Staaten unter Reagan — und das kann durchaus heißen bis 1988 — haben ihre globalen Interessen Vorrang, „und sie befinden sich in Konflikt mit denen der Sowjetunion, deren Weltpolitik der unseren feindlich begegnet" In diesem militärischen Weltkonflikt mit der Sowjetunion, auf den sich die Vereinigten Staaten zunehmend einrichten, spielen NATO und Atlantische Gemeinschaft nur eine Nebenrolle.
Amerikas Blick richtet sich stärker nach Asien, nach Lateinamerika, nach Afrika. Dabei wird die europäische Sicherheitsgewährleistung zunehmend den Europäern selbst zugewiesen und eine Arbeitsteilung verwirklicht, die die USA schon in der Frühzeit der NATO angestrebt, dann aber wegen der Bedeutung und der Bedrohung Europas vernachlässigt hatten. Sie setzt sich wieder durch, nachdem die Globalisierung des Konfliktes der USA mit der Sowjetunion die außereuropäische Welt in den Vordergrund des amerikanischen Interesses gehoben hat. Die sich hier durchzeichnende Interessendivergenz mit Westeuropa ist unverkennbar und auch unaufhebbar. Zu fragen ist, ob sie die Atlantische Gemeinschaft nur übergreift oder auch sprengt.
II. Weltpolitik
Für die Westeuropäer ist die Antwort klar: Die Globalisierung des Konfliktes übergreift die NATO, relativiert sie aber nicht und steigert zudem noch die Bedeutung der Atlantischen Gemeinschaft. Während die Vereinigten Staaten ein neues, abweichendes Bild vom Konflikt entwerfen, sind mit Sowjetunion der die Europäer bei dem traditionellen geblieben. Für sie handelt es sich nach wie vor um eine europazentrierte Auseinandersetzung, die hier einen hohen und gefährlichen Grad militärischer Spannung erreicht hat. In der Welt hingegen diagnostizieren die Westeuropäer eine Fülle unterschiedlicher regionaler und lokaler Konflikte, teils gesellschaftlicher, teils politischer Provenienz. Sie sind dem Ost-West-Konflikt kaum verbunden, werden auch gerade von den Bündnisfreien scharf davon getrennt. Die Sowjetunion versucht, diese Konflikte zur Einflußgewinnung auszunutzen, ist darin teilweise erfolgreich (Angola, Horn von Afrika), teils erfolglos (Naher Osten). Gegenüber dem einzigen gemeinsamen Interesse der Dritten Welt, nämlich dem an der Entwicklung, stellt sich die Atlantische Gemeinschaft als Erste, als entwickelte Welt dar. Sie bildet zwar kein geschlossenes politisches oder gar militärisches Potential, hält aber gerade in ihrer diffusen Auffächerung das bereit, woran der Dritten Welt besonders gele-gen ist: wirtschaftliche Austauschmöglichkeiten und damit Chancen der Entwicklung.
Die Westeuropäer entwickeln dementsprechend ein sehr differenziertes Weltbild, in dem der Ost-West-Konflikt nach wie vor auf Europa konzentriert und vom Nord-Süd-Konflikt deutlich getrennt, jedenfalls trennbar ist. Dieses Weltbild wird keineswegs von der Sowjetunion ausgefüllt, wenngleich deren Expansionsinteressen nicht verkannt werden. Dieses Bild teilt vielmehr die Welt in unterschiedliche Problemzonen auf, die eine unterschiedliche Politik erfordern. Entspannungspolitik mit der Sowjetunion in Zentraleuropa zu betreiben, heißt für die Westeuropäer nicht, auf eine entschlossene, antisowjetische Stabilisierungspolitik in der Dritten Welt zu verzichten. Und umgekehrt: Aus dem sowjetischen Expansionismus in der Dritten Welt ziehen die Westeuropäer nicht die Konsequenz, auf die Entspannung mit Moskau im Bereich Europas und der Rüstung zu verzichten, im Gegenteil. Die Bundesrepublik möchte, wo immer es möglich ist, die Zusammenarbeit auch zwischen Ost und West vertiefen, möchte die Blockfreiheit unterstützen, das offene Weltwirtschaftssystem aufrechterhalten und eine „globale Ordnung stabiler Zusammenarbeit" schaffen Ihr geht es darum, die Unabhängigkeit der Dritten Welt von Moskau zu gewährleisten und zu stärken, und sie will dazu beitragen, indem sie zur Regelung lokaler und regionaler Konflikte beiträgt und Hilfe zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung leistet Ebenso argumentiert das britische Verteidigungsweißbuch von 1980. Es sieht die beste Möglichkeit, Intervention von außen zu beschneiden, in der Beseitigung der Ursachen regionaler Instabilität. Militärische Maßnahmen können dazu gelegentlich beitragen, doch werden „Diplomatie, Entwicklungshilfe und Handelspolitik in der Regel einen größeren Beitrag zu leisten haben"
Analyse und Strategie sind selbstverständlich auch bedingt durch die geopolitische Position Europas. Es leidet in erster Linie unter der örtlichen Konfrontation mit der Sowjetunion. Deren Expansion in die Dritte Welt gilt als nachrangig und als primär politisch-wirtschaftliches Problem. Die Vereinigten Staaten hingegen, aufgrund ihrer bis in die Mitte der siebziger Jahre reichenden tonangebenden Machtfülle, stehen vor dem Problem, ob sie diese Machtfülle freiwillig einschränken und die Sowjetunion auch politisch als gleichberechtigten Partner in der Weltpolitik akzeptieren sollen. Sie konnten — und können — Moskau kaum daran hindern, die militärische Parität zu erringen und beizubehalten. Sollen sie sie deswegen auch als politisch gleichberechtigt behandeln und, wenn auch nicht alle, so doch einige Einflußerweiterungen Moskaus hinnehmen? Hier stellt sich eine Macht-frage, und sie stellt sich nur den USA, weil nur sie aufgrund ihrer militärischen Vormachtstellung als Adressat in Frage kommen. Bei den Europäern indes wird ihre prinzipiell andere Bewertung der sowjetischen Weltpolitik durch ihre militärische Schwäche verstärkt. Die Differenz datiert von 1978. Kissingers „linkage" -Politik wurde unter Carter zunächst fortgesetzt, wenn sie auch schon nicht mehr unumstritten war. Noch 1980, also nach der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan, hielt Außenminister Vance daran fest, regionale Balancen zu fördern und durch die Lösung lokaler Konflikte sowjetische Eintritts-chancen zu vermindern Im Grunde aber hatte sich schon seit 1978 das Konzept Brzezinskis durchgesetzt, das erneut die militärische Stärke zur Abwehr sowjetischer Über-griffe betonte. Es beherrscht die amerikanische Weltpolitik unter Reagen vollkommen. Sie hat den Verteidigungsauftrag für die amerikanischen Streitkräfte, der unter Nixon auf die Führung von 11/2 Kriegen beschränkt worden war, nicht nur auf die alte Zahl von 21/2 heraufgesetzt, sondern praktisch unbegrenzt gestaltet. Dementsprechend wurde die Rapid Deployment Force, die Präsident Carter für den Nahen Osten einrichten wollte, zu einer Eingreiftruppe mit weltweitem Auftrag erweitert In den neunziger Jahren soll die amerikanische Marine über 600 Schiffe verfügen und wieder die absolute Kontrolle über die Seewege ausüben können Damit hat sich gegenwärtig in den Vereinigten Staaten diejenige strategische Schule durchgesetzt die die amerikanische Weltpolitik unilateral vor allem durch Seemacht gestalten will; die andere Schule, die multilateral mit den Alliierten kooperieren und deren Landmacht miteinbeziehen will, verlor an Einfluß Beide Schulen sind sich jedoch darin einig, daß diese amerikanische Weltpolitik in erster Linie militärisch zu instrumentieren ist. Diese Differenzen in der Weltpolitik belasten die Atlantische Gemeinschaft und weisen erneut auf ihr Strukturproblem hin. Westeuropa ist einerseits zufrieden damit, daß die Vereinigten Staaten das Vietnam-Trauma offensichtlich hinter sich gelassen haben. Sie haben es aber mehr verdrängt als überwunden und verarbeitet, greifen auf Perzeptionen und Strategien der fünfziger Jahre zurück, die über eine Konfrontation mit der Sowjetunion in der Dritten Welt auch Westeuropa in den Strudel bewaffneten Konfliktes hineinreißen könnten.
Nur so versteht man in Westeuropa die Taiwan-Politik der Reagan-Administration. Sie scheint weniger dem Kalkül als der Erinnerung (und der konservativen Klientel) verpflichtet zu sein. Sie hat aber eine erneute chinesisch-sowjetische Annäherung und damit die Wiederherstellung einer weltpolitischen Konstellation zur Folge, wie sie vor der Entspannungspolitik Präsident Nixons herrschte. Auch damit verändern die USA in den Augen Westeuropas die Funktionsbedingungen der Atlantischen Gemeinschaft. Ihrerseits halten die USA den Westeuropäern vor, die weltpolitischen Folgen der sowjetischen Aufrüstung unterschätzt und auf Teheran, Afghanistan und Polen nur auf erheblichen amerikanischen Druck und auch dann nur schwächlich reagiert zu haben. Wie häufig in solchen Fällen, hat jede Seite recht bei der Analyse der Schwächen des anderen. Aufgrund der Asymmetrie wird sich die amerikanische Interpretation der Weltpolitik schon deswegen durchsetzen, weil die USA sie praktisch implementieren können. Hier zeigt sich das Strukturproblem der Atlantischen Gemeinschaft, das durch die Asymmetrie der Größenverhältnisse begründet wird.
Hinzu kommt aber, daß in diesem Fall die amerikanische Interpretation jedenfalls teilweise richtiger ist als die europäische. Während Westeuropa recht hat darin, daß es in der militärischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion keine Alternative zur Entspannung gibt, trifft der amerikanische Hinweis zu, daß die Sowjetunion auch außerhalb des in Art. 6 des NATO-Vertrages genannten Gebietes Probleme aufwirft, von denen die Europäer betroffen werden. In der Tat hat die Sowjetunion mit ihrer Invasion in Afghanistan in die Konfliktzone des Nahen und Mittleren Osten sowie des Indischen Ozeans ein militärisches Element hineingetragen, auf das auch die Europäer reagieren müssen. Die weltpolitischen Interessen Westeuropas gehen über die NATO hinaus, dafür ist sie zu eng. Welche anderen Möglichkeiten stehen der Atlantischen Allianz zur Verfügung, um auf solche Konflikte zu reagieren? Das ist das Hauptproblem der achtziger Jahre.
Die Antwort darauf kann sich nicht nur nach den organisatorischen Möglichkeiten, sondern muß sich auch nach der Analyse der Konfliktursachen richten. In der Kombination beider liegt das Problem.
Prinzipiell stehen drei organisatorische Modelle zur Verfügung. Die NATO könnte ihr Vertragsgebiet bis in den Mittleren Osten und in den Südatlantik hinein erweitern. Konzepte dieser Art wurden in den siebziger Jahren vor allem zum Schutz der Kap-Route diskutiert, dann aber verworfen. Die Gründe, die 1949 zu dieser Eingrenzung geführt hatten, wirken noch heute: Eine automatische Bei-Standsverpflichtung außerhalb des Nordatlantiks und Europas wollen viele Vertragspartner nicht eingehen.
Das zweite Modell sieht ein „Direktorat" der USA Frankreichs, Großbritanniens, der Bundesrepublik Deutschland und Japans vor Sie bilden die Kerngruppe von „Schlüsselstaaten", die sich jeweils regionalspezifisch zusammensetzen und die geeignete politisch-militärische Antwort geben und ausführen sollen. Das Konzept hat den unbestreitbaren Vorteil hoher Flexibilität; es stellt zudem auf diejenigen Staaten ab, die in erster Linie für eine Implementierung der Weltpolitik der Atlantischen Gemeinschaft in Frage kommen. Seine Schwäche besteht darin, daß es das Strukturproblem dieser Gemeinschaft, die Asymmetrie, noch verstärkt. Großbritannien, Frankreich, die Bundesrepublik und Japan könnten gegenüber den Vereinigten Staaten nur die Rolle von Ausführungsorganen spielen. Das muß kein Fehler sein, wenn die Voraussetzung übereinstimmender Analyse gegeben ist. Gerade sie fehlt.
Das dritte Konzept betont die Europäische Gemeinschaft. Kurzfristig bietet es sicherlich die größten Realisierungsschwierigkeiten, mittel-und langfristig stellt es dasjenige Konzept dar, das allein die strukturelle Asymmetrie beseitigen und die Atlantische Gemeinschaft als Ellipse mit zwei Brennpunkten konstituieren kann. Dabei zeichnet sich auch in der Europäischen Gemeinschaft eine Kern-gruppe ab, zu der Großbritannien, Frankreich, Italien und die Bundesrepublik zusammen mit den Benelux-Ländern zählen. Nicht zufällig sind dies die Mitgliedstaaten der Westeuropäischen Union, deren Versammlung Ende 1980 sich empfehlend zu solchen Perspektiven geäußert hat
Von deutscher und von italienischer Seite wird das Konzept einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit auch in Fragen der Außen-und Sicherheitspolitik energisch gefördert. Beide Staaten haben am 4. November 1981 den entsprechenden Vorschlag einer „Europäischen Union" vorgelegt Er geht über den vier Wochen zuvor von den europäischen Außenministern verabschiedeten „Londoner Bericht" noch hinaus Die Entwicklungschancen dieses europäischen Modells sollten nicht überschätzt werden, obwohl sie durch die Direktwahl zum europäischen Parlament erheblich verbessert werden. Großbritannien und Frankreich ziehen noch immer die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten der Kooperation mit der Bundesrepublik Deutschland vor, die sich ihrerseits eher den USA unterordnet als den französischen Nachbarn. Zu erwarten ist also kein europäisches Machtpotential, es ist auch nicht wünschbar. Eine stärkere europäische Zusammenarbeit zugunsten europäisch definierter Ziele reichte aus. Dann würden Großbritannien und Frankreich den militärischen, die anderen Staaten den politisch-finanziellen Beitrag erbringen. Eine solche Arbeitsteilung gibt es gegenwärtig im Nahen Osten. Großbritannien und Frankreich haben ihre maritime Präsenz im Indischen Ozean erheblich verstärkt, die Bundesrepublik hat die finanzielle Sanierung der Türkei übernommen.
Ein solches Modell verstärkter europäischer Kooperation besitzt ebenfalls eine hohe Flexibilität, bindet sie aber an europäische Perzeptionen und Interessen und sorgt insofern für einen Ausgleich innerhalb der Atlantischen Gemeinschaft. Die Führungsrolle der Vereinigten Staaten wird dadurch nicht beeinträchtigt, wohl aber eingebettet in die Kooperation mit einer Europäischen Gemeinschaft, die sich auch politisch als Interessengemeinschaft versteht. Als solche kann sie, kann auch die Bundesrepublik den verstärkten, notfalls auch militärischen Beitrag zur Lösung weltpolitischer Probleme leisten, um den Westeuropa nicht herumkommt. Nah-und Mittelost berühren nicht nur wegen der Öl-Abhängigkeit, sondern auch wegen der geographischen Nähe und der traditionellen Beziehung zu dieser Region in erster Linie 'Westeuropa. Das gilt besonders für den Mittelmeerraum, für Nord-und Schwarzafrika. Die EG unterhält enge wirtschaftliche Beziehungen zu diesen Ländern, trägt zu deren sozialer und wirtschaftlicher Stabilität bei. Dazu muß für den auswärtigen Notfall, sollte die Sowjetunion ihn auslösen, auch eine militärische Schutzfunktion treten können, die Europa nicht einfach den USA zuschieben darf. Gerade wenn es seine — richtige — Analyse der politischen, wirtschaftlichen und regionalen Ursachen der Weltkonflikte durchsetzen will, muß Europa die notfalls dazu erforderliche militärische Macht selbst aufbringen können. Nur dann läßt sich in der Atlantischen Gemeinschaft die neue Arbeitsteilung durchsetzen, die mit der Asymmetrie auch die Neigung der Reagan-Administration kompensiert, ihre militärischen Machtmöglichkeiten zum Okular ihrer Weltansicht zu machen.
lli. Europäer und Amerikaner
Stärker als zuvor wird in den achtziger Jahren die öffentliche Meinung Einfluß auf die Verteilung von Kooperation und Konflikt in der Atlantischen Gemeinschaft nehmen. Bessere und verbreiterte Bildung hat zusammen mit erheblich ausgeweiteter Information ein Aufmerksamkeitspotential für außenpolitische Fragen geschaffen, das noch vor zwanzig Jahren nicht anzutreffen war. Darauf müssen die politischen Systeme Rücksicht nehmen. Sie können, insofern sie demokratisch sind, über gesellschaftliche Anforderungen zu Verhaltensweisen veranlaßt werden, die sich auf die Atlantische Gemeinschaft auswirken.
Zu Beginn der achtziger Jahre geschah dies sehr selektiv. Die Regierungen der USA reagierten zunehmend kritisch auf Strömungen in Westeuropa, die sie als pazifistisch, neutralistisch und anti-amerikanisch ansahen. Erst die plötzlich, aber dann sehr stark anschwellende Friedensbewegung innerhalb der Vereinigten Staaten hat darauf hingewiesen, daß es sich nicht um ein europäisches, sondern um ein atlantisches Phänomen handelt. Es bedarf freilich sehr behutsamer und sorgfältiger Bewertung. Sie fällt nicht leicht, weil zuverlässiges Umfragematerial fehlt. Der nationale „bias" der gegenwärtigen Demoskopie ist unverkennbar. Die europäische Friedensbewegung, mit ihren Wurzeln im Christentum, im Pazifismus und, zunehmend, in einer Alternativkultur muß als außerordentlich heterogen gelten. In der Bundesrepublik hat sie Vorläufer in der Ohne-mich-Bewegung von 1950 und vor allem in der Bewegung „Kampf dem Atomtod". In dieser Tradition haben sich Anhänger einer alternativen Kultur, insbesondere aus der jüngeren Generation, angesiedelt, die als weitgehend depolitisiert zu gelten haben. Demgegenüber argumentiert die christlich motivierte Friedensbewegung stärker politisch, kann aber den internen Konsens nur auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau stabilisieren Ein dritter Zufluß entstammt schließlich der Ökologie-Bewegung, deren Interesse freilich primär nicht außen-, sondern innenpolitisch gerichtet ist. Schließlich ist, wenn auch erst schwach ausgebildet, bei einigen linken Gruppierungen die Tendenz erkennbar, innerhalb der Friedensdiskussion die nationale Frage aufzuwerfen und ihre Antwort in einer möglichen Neutralisierung Deutschlands zu suchen.
Die Heterogenität dieser Gruppen macht es unmöglich, sie auf einen einheitlichen politischen Begriff zu bringen. Geeint sind sie lediglich in der Kritik an der Aufrüstung; die Basis der deutschen — und der europäischen — Friedensbewegung ist die Enttäuschung über die ausgebliebene Abrüstung und das sich fortsetzende Wettrüsten. In der Analyse der Ursachen des Ost-West-Konfliktes und den Präferenzen für eine Korrektur gehen die Meinungen weit auseinander, bleiben zumeist auch diffus.
Die deutsche Friedensbewegung ist politisch nicht so relevant, wie es nach der Aufmerksamkeit, die sie erregt, scheinen möchte. Im langfristigen Vergleich zeigt sich, daß pazifistische Interessen in den siebziger Jahren sehr viel stärker ausgeprägt waren als in den Achtzigern daß mehr als die Hälfte aller Bundesbürger in der Abschreckung die beste Friedenssicherung sehen und in der Militärallianz der NATO den besten Schutz Demgegenüber stellen die Friedensbewegungen eine Minderheit dar, deren Existenz entscheidend von der Zukunft der Rüstungskontrolle und Abrüstung abhängt.
Weitaus wichtiger ist die gewachsene Aufmerksamkeit der gesamten Bevölkerung für Fragen der Rüstung und der Rüstungskontrolle. Sie schlägt sich in den Beschlüssen des Münchener Parteitags der SPD von 1982 deutlich nieder, wird aber auch von der CDU zunehmend reflektiert Der Fokus dieser
Sensibilität ist der Doppelbeschluß der NATO von 1979 und die mögliche Nachrüstung im Herbst 1983.
In den Vereinigten Staaten findet sich eine parallele Entwicklung. Um den Kern der Friedensbewegung hat sich mit dem „freeze" -Vorschlag ein sehr viel größeres, die Mittel-schichten erfassendes und zahlreiche Eliten-mitglieder einschließendes Aktivitätspotential gelegt das für die Entscheidungen des politischen Systems maßgebend werden kann. „Freeze" verspricht, zum Hauptthema der Präsidentschaftswahl von 1984 zu werden Voraussetzung für diese Entwicklung war ein erneuter Wandel im Trend der öffentlichen Meinung der Vereinigten Staaten. Sie hatte sich nach der Überwindung des Vietnam-Traumas dem militärischen Machtverlust gegenüber der Sowjetunion zugewendet und größere Rüstungsanstrengungen der USA, auch zu Lasten der Sozialausgaben, gefordert — wenngleich neue Interventionen nach wie vor abgelehnt 1982 vollzog sie eine erneute Wendung um beinahe 180°, sprach sich gegen die Kürzung der Sozialprogramme und für weniger Rüstung aus. Fanden 1981 noch 51% der Amerikaner, daß die Vereinigten Staaten zu wenig rüsten, so war diese Zahl 1982 auf 19% abgesunken. Der Grund für diesen Wandel ist neben den nunmehr spürbaren Auswirkungen der wirtschaftlichen Rezession auf die Rhetorik des Präsidenten Reagan zurückzuführen, vor allem auf die These von dem „Fenster der Verwundbarkeit". Die amerikanische Öffentlichkeit wurde sich damit erstmals der direkten Bedrohung bewußt, deren Kenntnis in Europa das verbreitete Interesse an der Rüstungskontrolle motiviert. Parallel zueinander sind damit in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa starke Anforderungen der Öffentlichkeit nach Rüstungskontrolle und vor allem nach der Verminderung der Risiken eines Atomkrieges entstanden. Zwar gibt es kein gemeinsames Bewußtsein der Atlantischen Gemeinschaft; es existiert noch nicht einmal in Westeuropa, noch nicht einmal zwischen Deutschland und Frankreich Es bildet sich aber offenbar eine Interessenidentität der Gesellschaften in der sie gemeinsam betreffenden Frage des Atomkrieges heraus. Es ist unwahrscheinlich, daß daraus eine intergesellschaftliche Zusammenarbeit erwächst, die über Einzelaktionen hinausgeht. Zu erwarten ist jedoch eine identische Sensibilität der Bevölkerungen innerhalb der Atlantischen Gemeinschaft, die, bleibt sie unberücksichtigt, zu Konsensverlusten führen könnte. Auf derartige gesellschaftliche Anforderungen in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa ist die Einleitung der START-und TNF-Gespräche durch Präsident Reagan zurückzuführen; in der Bundesrepublik hat Bundeskanzler Kohl am Tage nach seiner Wahl angekündigt, daß er für eine Verschiebung der Nachrüstung eintreten wird. Der Druck der öffentlichen Meinung auf reale Fortschritte in der Rüstungskontrolle und in der Kriegsvermeidung wird zunehmen, und zwar in der gesamten Atlantischen Gemeinschaft, auch in Frankreich, wo er 1982 relativ gering ausgeprägt ist.
Verglichen mit dieser Mobilisierung der atlantischen Öffentlichkeiten, kann als zweitrangig und vorübergehend gelten, was gemeinhin als, Anti-Amerikanismus" bezeichnet wird. Die Dimension ist viel zu groß, zu grob und zu ungenau, um auch nur nationale Ressentiments von politischer Einzelkritik zu trennen. Wer den Konfrontationskurs der Reagan-Administration vorwirft, ist deswegen nicht anti-amerikanisch; er kann sich sogar den USA besonders eng verbunden fühlen. So muß wohl verstanden werden, daß der „AntiAmerikanismus" in England stark ausgeprägt ist, das den Amerikanern notorisch nahe-steht
Die Bundesrepublik, das ergab die gleiche Umfrage, wies den geringsten Anteil des „Anti-Amerikanismus" aus. Er findet sich fast ausschließlich bei der ökologischen Bewegung der „Grünen“ die heterogen wie sie sind, auch große Teile des linken politischen Spektrums aufgenommen haben. Dieser Anti-Amerikanismus verbindet die Erinnerung an den Vietnam-Krieg mit der Ablehnung der konfrontativen Rhetorik Reagans. Insofern weist er sich auch als beeinflußbares, vorübergehendes Phänomen aus.
Insgesamt kann von einem , Anti-Amerikanismus“ in der Bundesrepublik nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Im Herbst 1981 war die Stimmung derart pro-amerikanisch, daß nur noch im Mai 1965 höhere Anteile gemessen wurden Wenn sämtliche Parteiprogramme — ausgenommen das der Grünen und der Splittergruppen — die Freundschaft und Interessengemeinschaft mit den USA betonen, so gibt das die allgemeine Grundstimmung, auch die der meisten jungen Menschen wieder. Die amerikanisch-europäischen Kontroversen, von der um Entspannung und atomare Abrüstung einmal abgesehen, erreichen das öffentliche Bewußtsein ohnehin nicht.
IV. Kooperation oder Konflikt?
Kooperation und Konflikt in der Atlantischen Gemeinschaft zu bilanzieren, fällt nicht leicht. Dazu sind die Sachbereiche zu unterschiedlich, die Handlungszusammenhänge zu zahlreich und zu heterogen. Mit diesem „caveat" läßt sich sagen, daß die Atlantische Gemeinschaft durch ein Bewußtsein der politischen Gemeinsamkeit und der gegenseitigen Akzeptanz zusammengehalten wird. Es gründet sich ferner auf wirtschaftliche Interessenkonvergenzen, die streckenweise schon die Form der Integration angenommen haben und auf gemeinsame Verteidigungsinteressen im Ost-West-Bereich. Zentrifugale Kräfte wachsen der Gemeinschaft aus der veränderten internationalen Situation zu, die Europa und den Ost-West-Konflikt vom Zentrum der Weltpolitik an deren Peripherie gerückt und andere Konfliktformationen zutage gefördert haben. Unter ihnen ragt der amerikanisch-sowjetische Machtkonflikt hervor, flankiert durch den Nord-Süd-Konflikt und die auf eine neue Machtverteilung innerhalb der Dritten Welt selbst gerichteten Positionskämpfe der Entwicklungsländer. Diese Entwicklungen haben die Asymmetrie in der Atlantischen Gemeinschaft zwischen der Supermacht USA und den westeuropäischen Staaten deutlich hervortreten lassen, die während der Zeit des Kalten Krieges durch die gemeinsame Konzentration auf Zentraleuropa verdeckt worden war. Sie war deswegen niemals unsichtbar: George F. Kennan, beispielsweise, hatte sie als Planungschef des State Department schon gleich nach dem Zweiten Weltkrieg als Grundproblem des Westens gesehen und berücksichtigt, indem er eine sehr viel lockerere Verbindung zwischen den USA und Westeuropa vorschlug. In der Tat ist das Strukturproblem der Atlantischen Gemeinschaft, das die achtziger Jahre beherrschen wird, diese enge und dazu noch auf eine Militärallianz konzentrierte organisatorische Bindung zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa.
Das Problem kann heute freilich nicht mehr im Kennanschen Sinne gelöst werden; dazu sind insbesondere die wirtschaftlichen Interdependenzen inzwischen viel zu stark ausgebildet. Das Grundproblem ist jedoch geblieben: Die Asymmetrie kann nur beseitigt und die Atlantische Gemeinschaft auf eine dauerhaft tragfähige Grundlage gestellt werden, wenn sich Westeuropa nicht nur im Handels-bereich, sondern auch in dem der Währung, der Wirtschaft und der Rüstung stärker organisiert. Dazu bedarf es nicht der Ausbildung eines europäischen Superstaates, der weder zeitgemäß noch möglich ist. Eine stärkere Koordination und Kooperation, etwa im Bereich der Eurogroup, der Westeuropäischen Union, der EPZ und der Währungsunion — hier möglichst mit der Einrichtung einer europäischen Zentralbank — reichen vollauf. Sie sind, andererseits, unentbehrlich. Bleiben sie aus, können sehr wohl die zentrifugalen Kräfte, die aus der veränderten Weltsituation an der Gemeinschaft zerren, die zentripetalen beschädigen, obwohl sie die zahlreichen politischen, wirtschaftlichen, militärischen und sozialen Gemeinsamkeiten der Atlantischen Gemeinschaft historisch richtig widerspiegeln.