Die Römischen Verträge sind das erste Vertragswerk der Neuzeit, das ohne Sprachdiskriminierung einen Zusammenschluß verschiedensprachiger Länder vorsieht. Aber schon der Kompromiß, der für die Gestaltung des Europapasses gefunden wurde, erfüllt nicht lupenrein diesen sprachneutralistischen Grundsatz, sondern folgt — wenn auch unauffällig — der Forderung des sogenannten Bilingualismus, nämlich Englisch und Französisch als untereinander gleichrangige Verständigungssprachen gegenüber allen anderen Sprachen zu privilegieren. Aus der sprachlichen Privilegierung würde sich eigengesetzlich eine allgemein kulturelle, eine wissenschaftliche, eine wirtschaftliche und eine politische Verstärkung des Einflusses der beiden Sprachräume entwickeln. Unverzichtbar ist aber eine breite, interne Kommunikationsfähigkeit in der EG. Sie kann unter Wahrung des Sprachneutralismus weder von der Sprachpädagogik (durch Vermittlung ausreichender Sprachkenntnisse in allen EG-Sprachen an alle EG-Bürger) noch mittelfristig von der Sprachkybernetik (durch „Taschendolmetscher" für alle EG-Sprachen) erzeugt werden. Daher kann der ernsthaften Auseinandersetzung mit der einzig verbleibenden Lösung auf die Dauer nicht ausgewichen werden, nämlich mit den verschiedenen Forderungen zur Einführung einer gemeinsamen, also neutralen Zweitsprache. Von verschiedenen Verbänden werden hierfür einerseits Latein, andererseits mehrere interlinguistische Plansprachen (Internacia Lingvo Esperanto, kurz: ILo; Ido; Interlingua; Occidental) erprobt und vorgeschlagen. Jeder dieser Vorschläge ist politisch realisierbar. Keiner ist in jeder Hinsicht den anderen überlegen, jedoch vereinigt ILo die meisten Vorzüge. Da jedoch für eine innovative Lösung des Sprachproblems eine Informiertheit und Aufgeschlossenheit der Bevölkerung insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland noch fehlen, kann das kurzfristige politische Ziel nur darin bestehen, die vernünftigen sprachneutralistischen Lösungen als Optionen zu sichern.
Aufgaben, Lösungsangebote und Schwierigkeiten
Der Kompromiß, auf den sich die zehn europäischen Regierungen bei der Gestaltung des künftigen europäischen Passes einigten, wird für den EG-Bürger ein erstes, in Massenauflage verbreitetes Dokument der Schwierigkeit einer europäischen Sprachpolitik sein.
Der Einführung eines einheitlichen Passes wurde nicht zuletzt von deutscher Seite eine besondere europapolitische Wichtigkeit beigemessen, so daß nach zähem Ringen auf eine lupenreine Erfüllung der vertraglich vereinbarten Gleichrangigkeit aller offiziellen Sprachen der EG verzichtet wurde. Aus technischen Gründen hatten verschiedene Staaten gefordert, für den Europäischen Paß nur Englisch, Französisch und die betreffende Landessprache zu verwenden. Dagegen forderte die Bundesregierung von Anfang an die mindestens grundsätzliche Anwendung der „Allsprachenlösung", d. h.der Beschriftung in allen offiziellen EG-Sprachen und außerdem in Irisch. Damit sollte dem europäischen Bürger überzeugend gezeigt werden, daß sich die EG als Vereinigung einer auch sprachlich gleichberechtigten Vielheit europäischer Nationen versteht.
Diesem an sich legitimen Gleichrangigkeitsanspruch wurde schließlich insofern wenigstens abgeschwächt genügt, als auf der ersten Seite alle offiziellen EG-Sprachen erscheinen, während für die späteren Seiten außer der Landessprache nur noch Englisch und Französisch vorgesehen sind — jedoch unter Hinzufügung eines Zahlenschlüssels für die im Paß eingedruckte Übersetzung auch in die anderen offiziellen Sprachen. Diese Lösung wird zweifellos von breitesten Bevölkerungskreisen innerhalb der gesamten EG angenommen werden, zumal jeder Bürger in seinem Paß seine Sprache nicht nur ohne Anzeichen einer Zweitrangigkeit findet, sondern sogar dadurch scheinbar aufgewertet, daß sie sichtbar zusammen mit Englisch und Französisch gegenüber allen übrigen Sprachen hervorgehoben ist.
Nur sprachpolitisch sensibilisierte EG-Bürger protestieren. Ob es ihnen gelingen wird, auch in der sprachpolitisch bisher uninteressierten deutschen Öffentlichkeit beachtet zu werden, hängt davon ab, ob die Form des Europäisches Passes ein einmaliger Kompromiß zwischen Grundsatztreue und Machbarkeit bleibt oder zum Präzedenzfall nicht nur für die künftige Kennkarte wird, sondern allgemein für eine stufenweise Aufgabe des Anspruchs auf sprachliche Gleichberechtigung.
Je weiter der politische Einigungsprozeß Europas voranschreitet, desto schwerer wird es sein, dabei sprachpolitischen Problemen auszuweichen. Da außenpolitische Aufgaben von den EG-Ländern zunehmend gemeinsam wahrgenommen werden, wird innerhalb der selbständigen deutschen Außenpolitik die deutsche Sprachpolitik einen immer höheren Rang einnehmen. Der folgende Versuch einer Übersicht über die anstehenden Aufgaben und angebotenen Lösungen sowie einer kritischen Beurteilung mögen einer Belebung und Vertiefung der hierfür in allen politischen Lagern noch zu leistenden programmatischen Arbeit dienen.
I. Ausgangssituation
Abbildung 2
Bild 2: Lernerleichterung der ersten Schulfremdsprache durch vorherige Beschäftigung mit einem Sprachlehrstoffmodell
Bild 2: Lernerleichterung der ersten Schulfremdsprache durch vorherige Beschäftigung mit einem Sprachlehrstoffmodell
1. Zur „linguistischen Struktur" Europas Innerhalb des geographisch nur unbefriedigend umgrenzbaren, 12 Millionen Quadratki-lometer großen Quasikontinents Europa (ohne Kaukasus) zählte L. Tenire in den zwanziger Jahren 72 Sprachen. Nach Streichung einiger von ihm nur als Dialekte eingestufter oder inzwischen „ausgestorbener 2 Sprachen kam G. Dcsy ein halbes Jahrhundert später noch auf wenigstens 62 Sprachen. Im Durchschnitt mißt also in Europa jeder Sprachraum 194 000 km 2, im Gegensatz zu nur rund 15 000 bzw. 10 000 km in Afrika bzw. im indischen Subkontinent. Von den zehn offiziellen Sprachen der jetzigen EG-Länder und der Erwartungsländer Portugal und Spanien liegen hinsichtlich der flächenmäßigen Verbreitung fünf über dem europäischen Durchschnitt, nämlich (nach abnehmender Verbreitung in Europa:) Französisch, Spanisch, Deutsch, Italienisch und Englisch. Auch der innerhalb des EG-Gebiets liegende Teil des deutschen Sprachraums ist flächenmäßig noch überdurchschnittlich groß, hier aber kleiner als der englische.
Fünf „große“ Sprachen mit je mehr als 50 Millionen Muttersprachlern werden von zusammen mehr als der Hälfte aller Europäer gesprochen, nämlich (in dieser Rangfolge) Russisch, Deutsch, Englisch, Italienisch und Französisch. Von den anderen Sprachen der EG-(einschl. aller Erwartungs-) Länder folgen als „mittelgroße“ Sprachen (10— 50 Millionen Sprecher) auf den Rangplätzen 8 und 9 Spanisch bzw. Niederländisch. Mit jeweils 1— 10 Millionen Sprechern in Europa finden sich auf den Rängen 13— 36 als „kleine Sprachen" Portugiesisch (Rang 13), Griechisch (15), Dänisch (19), Türkisch (Rang 23 — bei Einbeziehung der Gesamttürkei Rang 9, vor Niederländisch) und Bretonisch (33). Auf dem Gebiet der jetzigen EG sind sechs „Kleinstsprachen" (mit je mehr als 100 000 Sprechern) zu Hause, nämlich Baskisch (Rang 37), Irisch (38), Kymrisch (40), Luxemburgisch (44), Friesisch (45) und Schottisch-Gälisch (53), von denen bisher erst Irisch den Rang einer Staatssprache (wieder) erlangte. Der Sprecherzahl nach noch kleinere, sogenannte Zwergsprachen fehlen im jetzigen und voraussichtlich künftigen EG-Bereich. Die Rangfolge der Sprachstärken befindet sich in Bewegung. Insbesondere nahm in den zwanziger Jahren noch Deutsch vor Russisch den Platz 1 ein. Hinsichtlich des prozentualen Wachstums während eines halben Jahrhunderts steht unter allen europäischen Sprachen die Kleinstsprache Isländisch mit 80% an der Spitze; auf dem möglichen EG-Territorium betragen die Zuwachsraten für Türkisch 70%, für Irisch 61 %, für Portugiesisch 31 %, für Niederländisch 28%, für Luxemburgisch 15%, für Spanisch 14%, für Dänisch 11 %, für Italienisch 7% und für Französisch 3% — die anderen Sprachen des EG-Bereichs verloren von 1922 bis 1972 an Stärke in Europa. Sprachpolitisch interessant ist auch die Rangfolge der Sprachen nach der Länge der Sprachgrenze, längs welcher intensive Sprachkontakte mit Nachbarstaaten stattfinden und alltägliche Sprachgrenzwiderstände zu überwinden sind. Wieder steht Russisch an der Spitze — unmittelbar vor Deutsch, das längs einer fast 5 000 km langen Sprach-grenze an 14 andere Sprachbereiche stößt. Unter den Sprachen des (möglichen künftigen) EG-Bereichs (ohne Türkisch) folgt erst auf Platz 7 Französisch, dann Spanisch (13) und Italienisch (20); die Grenzen aller weiteren Sprachbereiche sind kürzer als 1000 km. Die genannten Zahlenmerkmale sind durch politische Entscheidungen nicht kurzfristig veränderbar. Zu weniger stabilen Werten kommt man, sobald man die zwischenstaatlichen politischen Bindungen und die unterschiedliche Wirtschaftskraft berücksichtigt.
In den europäischen politisch-wirtschaftlichen Gruppierungen entstanden unterschiedliche sprachpolitische Normen und Realitäten. Besondere Beachtung verdienen 1. die jetzt 21 Länder umfassende Staaten-gruppe, die im Europarat (gegründet 1948) vertreten ist;
2. die 1949 mit zehn sozialistischen Ländern gegründete Staatengruppe des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW);
3. als wirtschaftlich und politisch besonders eng zusammenarbeitende Teilgruppe der im Europarat vertretenen Länder die ursprünglich (1957), sechs, seit 1973 neun und seit 1981 zehn EG-Länder (mit den Erwartungsländern Portugal, Spanien und evtl. Türkei).
Keine offizielle Sprachpolitik wurde 1960 anläßlich des Zusammenschlusses von sieben Staaten zur Europäischen Freihandelszone (EFTA) formuliert.
Deutsch ist die einzige natürliche Vermittler-sprache zwischen diesen großen politischen Gruppierungen Europas, denn nur Deutsch ist sowohl im Bereich der EG als in dem des RGW als auch im Bereich der EFTA als Amtssprache vertreten.
Einzelne Länder bilden schon innerstaatlich das europäische Sprachproblem mehr oder minder stark vereinfacht ab und zeichnen sich durch einen hohen Reifegrad der sprach-politischen Diskussion und Gesetzgebung aus: Jugoslawien, die Schweiz, Belgien, Finnland und Irland. Außerdem gehören aber noch fast fünf Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung zu Sprachminoritäten, d. h. sie leben in einem Staat, in welchem ihre Sprache (noch) nicht Amtssprache ist Von dieser Problematik sind die großen Sprachen in Europa verhältnismäßig wenig betroffen: Von den Sprechern des Deutschen leben nur 2, 5%, von denen des Italienischen nur 2, 2% und von denen des Französischen nur 0, 3% im europäischen Sprachausland. Andererseits gibt es zu keiner der oben erwähnten Kleinstsprachen Staatsge (außer Irisch) ein eigenes -biet, was eine keineswegs nur kulturelle Unterprivilegierung bedeutet.
Die Kernfrage der europäischen Sprachpolitik lautet: Kann und soll auf den ersten Plätzen der sprachlichen Rangskala eine Überprivilegierung (z. B. wie beim Europäischen Paß angedeutet) aufgebaut oder vermieden werden — und welche Sprachen sind dabei gegebenenfalls zu berücksichtigen?
Bild 1 gibt die Sprachverteilung in der EG und ihren Erwartungsländern für 1980 an, als nach Ausdehnung von vier auf sieben Sprach-bereiche das Sprachproblem bereits unabweisbar geworden war. Dabei hebt sich keine Sprache offensichtlich für eine privilegierte Position heraus. Unterstellt man, daß alle vier damaligen Erwartungsländer bis zum Jahre 2000 in unsere westlich-südliche europäische Föderation einbezogen sein werden, dann erhält man darüber hinaus schon ohne Berücksichtigung der oben erwähnten Wachstums-(undSchrumpfungs-) raten eine Verteilung ohne hervorstechende Sprungstelle, die als „vernünftige" Schnittstelle zwischen über-und unterprivilegierten Sprachen dienen könnte. Auch wenn man die zahlenmäßigen Stärken der einzelnen Sprachgemeinschaften mit deren Wirtschaftsleistung gewichtet, verstärkt sich zwar die französische Position deutlich gegenüber der italienischen und (weniger deutlich) auch gegenüber der englischen, wird jedoch ebenso wie diese beiden gegenüber der deutschen noch schwächer.
Weder bevölkerungsstatistisch, noch geographisch, noch wirtschaftsstatistisch ist also für die EG die Vorrangstellung von Englisch und Französisch zu rechtfertigen, die von den Anhängern des Bilinguismus gefordert wird. Auch hinsichtlich ihres Ausdrucksvermögens oder anderer linguistischer Qualitäten ragen diese beiden Sprachen keinesfalls aus den anderen EG-Sprachen heraus. 2. Manifeste und latente Sprachkonflikte Manifeste Sprachkonflikte sind Rebellionen gegen die Anwendung des Prinzips „cuius regio, eius lingua", einer Aktualisierung des bekannten Leitspruchs aus der Zeit der Konfessionskämpfe, zu dem Dcsy (1973, S. 171) schreibt: „Die staatliche Hoheit bestimmt die Zugehörigkeit der Untertanen zu dieser oder jener Gemeinschaft —... im 17. Jh. sollten die Untertanen das gleiche Glaubensbekenntnis, heute die gleiche Sprache haben.“ In der jeweils gegebenen machtpolitischen und darauf abgestimmten juristischen Situation können sich die Unterprivilegierten nur durch außer-gesetzliche Maßnahmen gegen die Anwendung dieses Prinzips wehren. Diese Konflikte sind im Verlaufe des Aufbaus der europäischen Föderation zweifellos für die jenseits der Grenzen des Mutterlandes lebenden Minoritäten durch eine geeignete Regionalpolitik zu beheben. Auch die viel stärkere Unterprivilegierung der Minoritäten ohne schützenden eigenen Staat könnte durch eine weitblickende föderalistische europäische Sprach-politik leichter als innerhalb des jeweiligen Nationalstaats gemildert werden.
Fast tabuiert sind die langfristig gefährlicheren, latenten Sprachkonflikte, die sich aus der vorausblickenden Erkenntnis ergeben: „cuius lingua, eius regio“. Unter Verschweigung dieses Motivs werden (meist vernünftige) Argumente zugunsten einer Überwindung des „kostspieligen und uneffektiven Sprachwirrwarrs" durch „Konzentration“ auf womöglich nur eine (dem Verfechter als Muttersprache oder von Berufs wegen geläufige) Sprache gesammelt und vorgebracht, ohne daß eine Bereitschaft zur ernsthaften Prüfung von Gegenargumenten bestünde. Nur die Offenlegung der zugrunde liegenden Interessen und das Bemühen um einen gerechten Interessenausgleich wenn nicht gar um eine ideale Synthese kann eine erfolgreiche europäische Sprachpolitik als stabilisierende Krönung des europäischen Einigungswerks ermöglichen. Im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein war Latein innerhalb der europäischen Wissenschaft eine neutrale Sprache, die insofern „demokratisch" war, als sie keine „angeborenen", nämlich muttersprachlichen Privilegien einzelner Wissenschaftler gelten ließ. Gesamtgesellschaftlich gesehen war jedoch das mittelalterliche Latein keine demokratische Sprache, sondern — wie der Londoner Völkerrechtler I. Lapenna hervorhebt — die (herrschaftssichernde) „gemeinsame Sprache der privilegierten Klassen des feudalen Europa“. Lapenna weist im einzelnen nach, daß, entgegen einer verbreiteten Meinung, anschließend nicht Französisch (und auch zu keiner Zeit Englisch) die Rolle des legitimen internationalen Verständigungsmittels übernahm; vielmehr schwelt seither der Sprach-konflikt. Wiederholt wurde nämlich bei wichtigen Anlässen festgestellt, daß die je aktuelle Benutzung des Französischen keinerlei Festlegung für künftiges Sprachverhalten bedeutet. Drei Beispiele mögen genügen:
1. Als 1753 bei englisch-französischen Wirtschaftsverhandlungen trotz aufgetretener Übersetzungsmängel die französische Seite weiterhin nur französischsprachige Texte entgegennehmen wollte, gab die englische Regierung ihren Unterhändlern eine Weisung, die (ausgedehnt auf alle EG-Sprachen-Paarel) Modell für die politische, aber auch die wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit innerhalb der EG werden könnte: »Wenn der Hof zu Versailles es für angemessen hält, mit Sr. Majestät in Latein zu verhandeln, wird der König gerne zustimmen ... Der König ordnet ausdrücklich an, künftig keiner-
lei Dokumente der französischen Unterhändler in ihrer eigenen Sprache mehr anzunehmen, es sei denn, sie verpflichten sich zur Entgegennahme der Antwort in Englisch."
2. 1815 hebt die Schlußakte des Wiener Kongresses ausdrücklich hervor, daß sich aus der Benutzung des Französischen keinerlei Folgen für die Zukunft ergeben, vielmehr alle Mächte sich vorbehalten, die zuvor in diplo-matischen Beziehungen benutzte Sprache — also Latein — zu benutzen.
3. 1919, bei der Formulierung des Vertrags von Versailles, setzten England und die USA nach langen Auseinandersetzungen gegen Frankreich den Artikel 440 durch, nach welchem sowohl die französische als auch die englische Textfassung maßgebend sein sollten. Der Völkerbund privilegierte dann beide Sprachen als die hier „üblichen“, verzichtete aber ausdrücklich auf eine „offizielle" Sprache.
Bei der Konferenz von San Francisco 1945 wehrte Frankreich erfolgreich den US-amerikanischen Vorschlag ab, die Debatten primär in Englisch zu führen. Aufgrund eines chinesischen Vorschlags kam es zu einer Einigung auf Englisch und Französisch als den . Arbeitssprachen" neben den drei anderen „offiziellen" Sprachen Chinesisch, Spanisch und Russisch, die nach Artikel 111 der UN-Charta juristisch gleichgestellt sind. Auch diese geteilte Vorrangstellung mußte bekanntlich später immer mehr aufgegeben werden. Jede Hinzunahme einer weiteren Sprache begründeten die Befürworter mit den Zielen und Idealen der UN, während die Gegner ihre Position mit dem Hinweis auf die erhebliche Kostenerhöhung verteidigten. Andere Interessen wurden nicht angesprochen.
Auch in Europa blieb die juristische Absicherung einer einzigen offiziellen Sprache aus Artikel 12 der Satzung des Europarats legte Französisch und Englisch als Amtssprachen fest; seit 1971 sind Deutsch und Italienisch als „zusätzliche Arbeitssprachen" zugelassen. Dagegen sichert der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe die offizielle sprachliche Gleichrangigkeit aller seiner Mitglieder durch Artikel XIV, 1, ab, hebt aber dann aus den sieben „offiziellen" Sprachen Russisch als . Arbeitssprache des Rats" heraus. Erst die Römischen Verträge der EG vermeiden streng jede Sprachdiskriminierung — der Konflikt wurde auf die Ebene der tatsächlichen Durchführung verschoben und verschärft sich bekanntlich mit dem Quadrat der wachsenden Zahl offizieller Sprachen.
Die Forderung nach einer gemeinsamen europäischen „Verkehrssprache" ist populär. Am Ende seiner Amtszeit als Ratspräsident erklärte 1973 der Däne Norgaard: „Eine europäische Sprache ist hundertmal wichtiger als eine europäische Währung.“ Staatspräsident Pompidou schlug dafür Französisch vor, da die Wahl von Englisch zu einer Begünstigung des US-amerikanischen Einflusses auf den Gemeinsamen Markt führen würde. Dies war eine der wenigen Stellungnahmen, bei welchen unverschleiert ausgesprochen wurde, daß Sprachhegemonie ein wirtschaftliches Privileg ist und letztlich zur Wirtschaftshegemonie führen kann -Alle sprachpolitischen Diskussionen gehen am Kern des Problems vorbei, wenn sie nicht von folgenden, mindestens größenordnungsmäßig zutreffenden, quantitativen Sachverhalten ausgehen:
1. Wird Englisch (oder eine andere ethnische Sprache) als erste Fremdsprache gelernt, dann werden dafür bis zum Abitur mindestens 1 500 Lernstunden aufgebracht, was ungefähr einem Arbeitsjahr, im Mittel also etwa 3% eines Arbeitslebens und damit 3% des Bruttosozialprodukts entspricht. Schon weil diese Investition im englischen (bzw.dem etwaigen anderen) Sprachraum nicht aufgebracht werden muß, ergäbe sich aus einer etwaigen Vorrangstellung dieser Sprache eine Wettbewerbsverzerrung, die auf Dauer zur Hegemonie führte.
2. Nur etwa jeder Dreizehnte kann erwarten, nach den rund 1 500 schulischen Lernstunden die Vorrangsprache (Englisch) so gut zu beherrschen, daß er im späteren Berufsleben gegenüber Fachkollegen mit dieser Muttersprache nicht schon aus sprachlichen Gründen unterlegen ist von der fachlichen Unterlegenheit abgesehen, die durch den relativen Zeitverlust wegen des Sprachenlernens zuungunsten der fachlichen Perfektion entstand. Alle anderen Lerner (insbesondere auch fast alle Nichtabiturienten) gehen mit niedrigerem Niveau oder mit erhöhter Anstrengung in die spätere Konkurrenz oder sie müssen Wettbewerbssituationen vermeiden. Nach den Gesetzen der Evolutionstheorie ist daher zu erwarten, daß nach einigen Generationen die Kulturen, die durch den (sprachpolitisch erzeugten oder zugelassenen) Selektionsnachteil belastet wurden, sich nur noch als Unterschicht oder in „Nischen" finden. (Am Modell internationaler Kongresse mit nur Englisch als Arbeitssprache ist diese Entwicklungstendenz deutlich abzulesen.) 3. Möglichkeiten und Grenzen der Fremdsprachpädagogik Das europäische Sprachproblem könnte ohne kreativen Neuansatz der Sprachpolitik auf pädagogischem Wege gelöst werden, wenn jeder Bürger der jetzt sieben-bis achtsprachigen Gemeinschaft in mindestens sechs EG-Fremdsprachen eine befriedigende Kompetenz erreichen würde, oder, was lernpsychologisch etwa dasselbe Problem ist, wenn das Lernen von Englisch oder einer anderen EG-Sprache so stark erleichtert werden könnte, daß der erforderliche Lernaufwand zu gering wird, als daß er noch als Nachteil empfunden würde, so daß ihn jeder gerne außerhalb der Schule als Freizeitbeschäftigung erbringt — vergleichbar dem Besuch eines Tanzkurses. Selbst bei äußerst optimistischer Einschätzung des künftigen Fortschritts der Bildungswissenschaft ist damit nicht zu rechnen. Damit ist der latente Sprachkonflikt dem Schulwesen zugeschoben, das ohne Legitimation Präferenzen festlegen muß.
Das Hamburger Abkommen der Ministerpräsidenten von 1964 verwandelte den latenten Konflikt in einen manifesten, indem es festlegte: „Die erste Fremdsprache ist in der Regel Englisch oder Latein." Dies verstieß, wie Staatspräsident Pompidou in einem Schreiben vom 18. August 1970 an Bundeskanzler Brandt feststellte, gegen Abschnitt C des deutsch-französischen Vertrags vom 22. Januar 1963. Demgemäß wurde 1971 die Einschränkung „in der Regel Englisch" durch die Worte „eine lebende Fremdsprache" ersetzt. Daß aber der scheinbar größere Spielraum nicht durch örtliche Entscheidungen genutzt werden kann, wurde durch einen Zusatz sichergestellt: „Die Erfordernisse der Einheitlichkeit im Schulwesen und der Durchlässigkeit zwischen den Schulformen sind zu berücksichtigen." Verbesserungen des Ergebnisses unseres schulischen Fremdsprachunterrichts ohne Erhöhung der Stundenzahl erscheinen durch Einsatz neuerer bildungstechnologischer Methoden und Medien denkbar. Dieser Weg wurde in den sechziger Jahren — der Blütezeit der Programmierten Instruktion und Mediendidaktik — überbewertet und nach der „antitechnokratischen Wende" bis heute sicher unterbewertet. Eine erwartbare Wirkungssteigerung auf diesem Wege zwischen 10% und 40% sollte jedenfalls nicht ungenutzt bleiben, reicht aber allein keinesfalls aus, die entstehenden sprachpolitischen Aufgaben pädagogisch zu lösen.
Weit mehr ist von einer lehrplantheoretischen Innovation zu erwarten, für welche die Bezeichnung „Sprachorientierungsunterricht eingeführt wurde Hier wird der Lernfort schritt des Schülers durch eine Vororientierung beschleunigt, die — vor dem eigentlichen Fremdsprachunterricht — grundsätzliche strukturelle Möglichkeiten sprachlicher Kommunikation aufdeckt, wodurch die Lernleichtigkeit sprunghaft erhöht wird. Der naturwissenschaftliche Unterricht nutzt für eine solche Vororientierung zweckmäßig konstruierte — d. h. einfache, regelmäßige und deutliche — Lehrstoffmodelle. Für Sprachen wurden derartige Modelle (wenngleich mit weitergehender Absicht) von der Interlinguistik als „Plansprachen" konstruiert, zu denen insbesondere die Internacia Lingvo (kurz: ILo) gehört, die unter ihrem Zweitnamen „Esperanto“ populär wurde. (Diesen vermeiden wir im folgenden, da er seit dem Verbot durch Hitler in der deutschen Öffentlichkeit emotional negativ wirkt.) Es lag nahe, in der folgenden Weise ILo zur Vorbereitung des weiteren Fremdsprachunterrichts zu nutzen.
Der Lernfortschritt (Kompetenzzuwachs) beim Erwerb der ersten Schulfremdsprache, wie er vereinfacht durch die flach ansteigende Lernkurve in Bild 2 dargestellt wird, müßte nach-einer vororientierenden Einführung in die ILo erheblich rascher erfolgen. Dies stimmt mit Beobachtungen überein, die schon früher in den USA und in Finnland für Französisch bzw. Deutsch als erste Schulfremdsprache gemacht wurden: Die Schüler-gruppe, die sofort diese Sprache lernte, wurde schon vor Ende des zweiten Jahres von einer Parallelklasse überrundet, „obwohl" (nach der Theorie: „weil"!) diese im ersten Jahre statt dessen ILo lernte.
In Deutschland verhindert das zitierte Hamburger Abkommen die unmittelbare Nachprüfung dieses Effekts. Daher wurde (in NRW) als freiwilliges außerschulisches Angebot bzw. (in Niedersachsen) im Rahmen eines Schulversuchs ILo in einem wöchentlich zweistündigen Sprachorientierungsunterricht im 3. und 4. Grundschuljahr vermittelt. Die gemessenen Erfolge entsprachen der Erwartung. Günstige Nebenwirkungen auf andere Fächer und das Zustandekommen von Kinderkorrespondenzen in ILo mit gleichaltrigen Gruppen im Sprachausland sind zusätzliche Argumente für die Einführung des Sprachorientierungsunterrichts. (Er ist nicht durch den ebenfalls versuchten Frühenglischunterricht zu ersetzen, der keinen Zeitgewinn bringen kann, da Englisch als ethnische Sprache naturgemäß nicht die erwähnten Eigenschaften eines Lehrstoffmodells hat.)
Eine weitere lehrplanerische Verbesserung des Fremdsprachunterrichts setzt eine bildungspolitische Zielkorrektur voraus: Es könnten mehrere Sprachen bis zu einer ausreichenden Kompetenz mit demselben Zeitaufwand gelernt werden, wenn man die nur von sehr wenigen erreichbare auch aktive, mündliche und schriftliche Beherrschung aus dem Katalog der für alle Schüler verbindlichen Ziele striche. Sicher nützt es dem Europäischen Einigungswerk mehr, wenn jeder Deutsche einen englischen und einen französischen Brief in richtigem Deutsch beantworten kann, als wenn fast jeder den englischen Brief nur in stümperhaftem Englisch und den französischen Brief überhaupt nicht zu beantworten vermag. 4. Sprachkybernetische Hoffnungen Verschiedentlich wird schon damit gerechnet, daß ein kreativer sprachpolitischer Neuansatz durch revolutionäre Fortschritte der ingenieurwissenschaftlichen Sprachkybernetik überflüssig würde, weil dann jeder die automatische Sprachübersetzung in der Tasche hätte. Ein solcher „elektronischer Taschendolmetscher" müßte im Prinzip nacheinander folgendes leisten:
1. Gesprochene Sätze des Gesprächspartners als Folge definierter Wörter aus dessen Sprache erkennen, und zwar schon während des Sprechens oder nach spätestens 1— 2 Sekunden; 2. die so erkannten Sätze sofort oder innerhalb von höchstens weiteren 1— 2 Sekunden in eine rechnerinterne Sprache übersetzen, also „verstehen";
3. das so Verstandene in der Sprache des Benutzers formulieren, also in diese weiterübersetzen, was wieder allenfalls 1— 2 Sekunden Zeitverzögerung bringen darf;
4. das Ergebnis hörbar machen.
Die bisherigen Entwicklungserfahrungen zeigen, daß jede dieser Aufgaben schwieriger ist als die jeweils nachfolgende, und daß für eine Plansprache, insbesondere für ILo, jede wesentlich leichter zu lösen ist als für die ethnischen Sprachen mindestens der EG Da ferner bei jetzt (einschließlich Irisch:) 8 (künftig evtl. EG-Sprachen 8x 7 = 56 (bzw. 11x 10 = 110) Übersetzungswege zu schaffen wären, empfiehlt sich eine Konzentration der Bemühungen auf die 8x 2 = 16 (bzw. 11x 2 = 22) Übersetzungswege zwischen diesen ethnischen Sprachen und ILo, zumal bei Übersetzungen über diese Zwischensprache der Informationsverlust geringer ist als bei Verwendung einer ethnischen Zwischensprache. Sehr zweifelhaft ist inzwischen allerdings, ob eine automatische Übersetzung in der oben geforderten „Echtzeit“ prinzipiell möglich ist, ohne daß durch erhebliche Veränderung der heutigen Rechnerstruktur spezielle „Sprachrechner“ entwickelt werden. Jedenfalls sind mittelfristig von der Ingenieurkybernetik nur Teilbeiträge (wenn auch sehr nützliche!) zur Bewältigung des europäischen Kommunikationsproblems zu erwarten. 5. Angebote der konstruktiven Interlinguistik Descartes, Leibniz, Comenius und andere führende Persönlichkeiten des europäischen Geisteslebens haben sich um die Entwicklung einer vernünftig geplanten internationalen Verständigungssprache, dem Anliegen der konstruktiven Interlinguistik"), bemüht und verdient gemacht. Descartes erkannte schon, daß der Verzicht auf Unregelmäßigkeiten und sonstige Komplikationen, also eine leichte für eine Plansprache Gegen-Lernbarkeit,im satz zu den geschichtlich gewachsenen Nationalsprachen (ethnischen Sprachen) wichtigstes Gütekriterium ist und nicht im Konflikt steht mit der weiteren Forderung, die ethnischen Sprachen hinsichtlich der Förderung des klaren Denkens und der Genauigkeit des Ausdrucks zu übertreffen.
Zahlreiche solcher Plansprachen wurden projektiert. Erst Martin Schleyer schuf zu seinem 1879 veröffentlichten Volapük auch eine Sprechergemeinschaft. Schon 1887 folgte diesem Beispiel unter dem Pseudonym „Dr. Esperanto" Ludoviko Zamenhof mit ILo, das offensichtlich weit überlegen war und daher den Großteil der Volapükisten an sich zog. Von dieser „Esperanto-Movado“ spaltete sich 1907 aufgrund des Versuchs einer Überarbeitung der ILo durch den Mathematiker Louis Couturat die Ido-Bewegung ab. Gute Kenner der ILo verstehen Ido in Schrift und Wort fast mühelos; die auch aktive Beherrschung ist weniger rasch als im Falle von ILo zu erreichen. Auch die späteren Sprachprojekte (von denen einige erst in den letzten Jahren veröffentlicht wurden) entstanden als Versuche, ILo durch eine bessere Plansprache zu ersetzen. Dabei wurde eines oder ein anderes der Gütekriterien stärker bewertet, z. B. eine bessere Modellierung gemeinsamer Merkmale romanischer Sprachen angestrebt (Occidental, Interlingua), oder eine stärkere Berücksichtigung englischer Wortwurzeln (Intal), oder noch weitergehende Kürze (Neo), oder eine noch leichtere Verarbeitbarkeit durch Rechner (a-priori-Sprachen). In allen Fällen mußten diese Vorzüge durch eine deutliche Verringerung der Lernleichtigkeit erkauft werden, und die Zahl der Sprecher aller jüngeren Plansprachen zusammen blieb unter einem Prozent der Sprecherzahl von ILo.
Den 1629 von Decartes für eine gut konstruierte Plansprache gesetzten Maßstab, nach weniger als sechs Lernstunden müßte „selbst der Ungebildete" in der Lage sein, sich mit Hilfe eines Wörterbuchs in ihr auszudrücken, erfüllt aber auch ILo nicht voll: Hierfür ist meist ein Aufwand von 20 bis 30 Lernstunden vorzusehen, und zahlreiche Versuche mit Studenten zeigten, daß weniger als 12 bis 15 Stunden fast nie ausreichen. (Bei Grundschülern sind 100 bis 150 schulische Lernstunden nötig.) Anschließend ist zumindest von Gebildeten (und Kindern!) in einem einwöchigen Ferienkurs in ILo-sprechender Umgebung zusätzlich eine ausreichende Sprechfähigkeit erreichbar. ILo ist also (aber auch die anderen Plansprachen) erheblich leichter als die ethnischen Sprachen des EG-Bereichs zu erlernen. 6. Unstrittige sprachpolitische Vorentscheidungen Als unstrittig dürfen die auch sprachpolitisch relevanten Klauseln der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen gelten, die z. T. auch in Art. 3 (3) des Bonner Grundgesetzes enthalten sind:
„Alle Rechte und Freiheiten, die in dieser Deklaration festgelegt sind, gelten in gleicher Weise für alle Menschen, ohne wie auch immer geartete Unterscheidung, gleichgültig ob hinsichtlich ... Sprache ... oder anderen Status.“ (Art. 2)
. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jegliche Diskriminierung.“ (Art. 7) . Jeder hat das Recht auf Freiheit der Meinung und der Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ... durch beliebige Mittel unabhängig von Landesgrenzen Information und Ideen zu erbitten, zu erhalten und zu beschaffen.“ (Art 19)
Für die Weiterführung des europäischen Einigungswerks darf auch als unbestritten gelten, daß dafür eine gute innereuropäische Kommunikation auf breitester Basis — nicht nur die Überwindung von Sprachbarrieren auf der Ebene der europäischen Instanzen — Voraussetzung ist und daher sprachpolitisches Ziel sein muß.
II. Perspektiven
Abbildung 3
Bild 3: Klassifikation der denkmöglichen Lösungen des Mehrsprachproblems.
Bild 3: Klassifikation der denkmöglichen Lösungen des Mehrsprachproblems.
1. Möglichkeiten einer europäischen Sprachpolitik Mit Bild 3 versuchten wir eine vollständige Klassifikation der denkmöglichen Lösungen des Kommunikationsproblems zu geben, ohne schon die Fragen der Verträglichkeit mit den unumstrittenen sprachpolitischen Vorentscheidungen, der Machbarkeit innerhalb der EG und der jeweiligen Vor-und Nachteile einzubeziehen.
Zwei a priori bestehende Möglichkeiten brauchen jedoch im Falle der EG nicht weiter bedacht zu werden, da sie an den empirischen Gegebenheiten scheitern: Weder kann jeder Bürger alle in der EG bestehenden Amtssprachen lernen, noch können jedem, bei Bedarf, zu bezahlbaren Bedingungen menschliche Übersetzerdienste verfügbar gemacht werden. Auch die sprachkybernetische Lösung mußten wir schon für die mittelfristige Politik ausschließen.
Praktiziert wird schon die sprachhelvetistische Lösung, bei der mehrere Fremdsprachen gelernt werden — zwar nicht jede Sprache durch alle, aber doch jede europäische Sprache durch einen Teil der jeweiligen Sprach-ausländer, wobei allerdings die Tendenz besteht, einige ausgewählte Sprachen, nämlich Englisch und Französisch, durch alle lernen zu lassen (sogenannte bilinguistische Sprach-politik). Dies kann auch als Anfang eines Weges zur Konzentration auf eine einzige dieser beiden Sprachen verstanden werden; diese heißt dann Vorrangsprache oder Leitsprache einer sprachhegemonistischen (oder „sprachfeudalistischen") Lösung des Kommunikationsproblems. In Indien herrscht noch ein Sprachneutralismus, insofern in weiten Bereichen als gemeinsame Zweitsprache eine externe National-sprache, nämlich Englisch, verwendet wird, was man einen „informationeilen Kolonialismus" nennen kann. Die negativen Assoziationen, die mit dieser Bezeichnung ausgelöst werden sollen, entfallen, wenn man sich auf eine erloschene Nationalsprache (z. B. Latein) einigt, womit diese Sprache wieder „auflebt". Es gibt kein wissenschaftlich vertretbares Argument, warum nicht (mindestens) ebensogut eine vernünftig geplante (interlinguistische) Sprache zur Sicherung einer gleichberechtigten Kommunikation in der EG eingeführt werden könnte.
Bei allen drei Spielarten des Sprachneutralismus ist zu unterscheiden, ob die neutrale Sprache die Rolle einer Ersatzsprache annehmen soll, also einer Einheitssprache, die alle bisherigen offiziellen Sprachen baldmöglichst oder allmählich ersetzen soll (Lantiismus), oder ob es sich nur um eine gemeinsame Zweitsprache auf Dauer handelt (gemäß dem von der überwiegenden Mehrheit der Sprach-neutralisten vertretenen Postulat der „demokratischen Zweisprachigkeit").
Zur Vollständigkeit der Klassifikation aller denkmöglichen Lösungen gehört schließlich die Idee, als Einheitssprache, die alle von ihr abweichenden bisherigen Nationalsprachen verdrängen würde, in der EG eine der heute hier schon amtlichen Sprachen durchzusetzen, z. B. Englisch oder Französisch. Eine solche als Sprachimperialismus zu bezeichnende Lösung wurde in der Geschichte der Menschheit fast immer dann gewählt, wenn ein Volk durch Unterwerfung anderer Völker ein Imperium aufgebaut hatte und nun zur Stabilisierung seiner Herrschaft die Sprachdifferenzen zu beseitigen trachtete („cuius regio, eius lingua“).
Die Vollständigkeit der in Bild 3 dargestellten Klassifikation wird auch durch undeutliche, gemischte oder zeitplanbestimmte sprachpolitische Strategien nicht überschritten, vielmehr wird von diesen nur eine deutliche, unbedingte Festlegung auf eine dauernde Lösung vermieden. Die Klassifikation grenzt nämlich die Standpunkte nur logisch gegeneinander ab, was fließende Übergänge nicht ausschließt. Beispielsweise muß der französisch-englische Bilinguismus, also eine Konkretisierung des Sprachhelvetismus, keine strenge Gleichgewichtigkeit der beiden Verständigungssprachen fordern, sondern kann im Extremfall sogar als taktische Verschleierung („trojanisches Pferd"), nämlich als uneingestandene Übergangslösung für eine eigentlich gewollte, sprachhegemonistische Lösung (z. B. mit Englisch als Vorrangsprache) auftreten. 2. Beurteilungskriterien Aufgrund der genannten unstrittigen sprach-politischen Vorentscheidungen ist unter den gegebenen Sachzwängen eine politische Entscheidung für (mindestens) eine europäische Verständigungssprache (im Hinblick auf das Menschenrecht sprachlicher Gleichberechtigung vielleicht sogar genauer für eine gemeinsame Zweitsprache) zu fordern. Für die Auswahl wurden mehrere Beurteilungsgesichtspunkte aufgestellt die sich zu sieben Gruppen zusammenfassen lassen. 1. Kriterien der Eignung für die zwischenmenschliche Verständigung: Die Verständigungssprache soll möglichst genaue und nuancierte Formulierungen ermöglichen, möglichst knapp sein, eine möglichst einfache Orthographie und Phonetik besitzen, auch bei Störgeräuschen verständlich bleiben und arm an Homonymen und Synonymen sein. 2. Kriterien der Eignung für die automatische Sprachverarbeitung: Die Eingabe in einen Rechner, Fernschreiber usw. soll möglichst wenig Änderungen an der Schreibweise erforderlich machen, die Grammatik muß durch den Rechner leicht analysierbar sein, und die Zahl der Wortteile, aus denen sich alle sprachlichen Ausdrücke systematisch zusammensetzen lassen, soll möglichst klein sein. 3. Kriterien der ästhetischen Akzeptierbarkeit:Die Sprache soll (auch in Gesangform) möglichst angenehm klingen, sowie Wortspiele, Reime, metrische Schemata u. ä. ermöglichen. 4. Kriterien der Ungefährlichkeit für Bewährtes:Die zu wählende Sprache soll als Europa-sprache den Fortbestand der bisherigen Sprachen möglichst wenig gefährden, sich schon hinreichend lange als Verständigungsmittel bewährt haben, mit möglichst wenig Änderungen an Bestehendem einführbar sein, in Europa ihren Schwerpunkt haben und hier kulturhistorisch verwurzelt sein. 5. Kriterien der Chancengleichheit: Die Verständigungssprache sollte innerhalb der EG möglichst gleichmäßig über alle Länder verbreitet sein und für alle Sprachgemeinschaften möglichst die gleichen Vorteile bringen, die Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Schichten möglichst verringern oder möglichst wenig vergrößern und von möglichst wenig Europäern schon als Muttersprache gesprochen werden. 6. Kriterien der pädagogischen Eignung und der bildungspraktischen Durchsetzbarkeit:
Nach der Entscheidung für diese Verständigungssprache und vor ihrer Durchsetzung sollen wünschenswerte Korrekturen noch leicht möglich sein; auch nichteuropäische Lerner sollen sie sich mit möglichst geringer Mühe aneignen können; sie soll den Erwerb weiterer europäischer Sprachen möglichst erleichtern; die Beschaffung von Lehrkräften und Unterrichtsmitteln soll möglichst problemarm sein.
Theoretisch müßte eine Sprache, die hinsichtlich aller dieser Kriterien allen anderen Vorschlägen überlegen wäre, ausgewählt werden. Selbst wenn es eine solche Sprache gäbe, würde der Nachweis dieser Optimalität nicht selten die Aufnahmefähigkeit oder Aufnahmewilligkeit derer überfordern, die es zu überzeugen gilt, die aber durch Zeitmangel, Desinteresse oder bestehende Vorurteile blockiert sind. Wenn man also eine Optimal-lösung nicht nur finden, sondern auch unverfälscht verwirklichen will, muß sie auch an einer siebenten Kriteriengruppe gemessen werden, was keineswegs bedeutet, opportunistisch oder fatalistisch nur diesen letzten Kriterien zu folgen:
7. Kriterien der politischen Durchsetzbärkeit: Die in Frage kommende Sprache soll schon von möglichst vielen Europäern gelernt worden sein, ein möglichst reichhaltiges Schrifttum besitzen, in Europa und darüber hinaus möglichst verbreitet und auch von internationalen Organisationen anerkannt sein, ohne Beeinträchtigung der Menschenrechte und ohne Provozierung von Gewalttätigkeiten seitens dadurch benachteiligter Gruppen eingeführt werden können und verbreitungswürdig schon unabhängig von der Entscheidung zur Einführung als europäische Verständigungssprache sein.
3. Standortabhängige Wertungen
Die Präferenzfolge der in Frage kommenden Verständigungssprachen hängt offensichtlich davon ab, welchen Beurteilungskriterien man ein größeres und welchen ein kleineres Gewicht beimißt. Dies wieder hängt ab vom eingenommenen Standort innerhalb des Werte-dreiecks zwischen unbedingter Bevorzugung der persönlichen Freiheit, unbedingter Bevorzugung der interindividuellen Gleichstellung und unbedingter Bevorzugung einer stabilen Ordnung. Je stärker man zu einer konservativen Haltung neigt, desto mehr gewinnt im allgemeinen die vierte Kriterien-gruppe an Gewicht; eine stärker egalitäre Wertung muß sich in einer stärkeren Gewichtung der fünften Kriteriengruppe ausdrücken, während bei einer liberalen Werthaltung diese Kriterien eher hinter die der sechsten Gruppe zurücktreten. — Je weniger energisch man im übrigen eine zukunftsweisende Politik zu verfolgen bereit ist, desto mehr wird man sich von den Kriterien der Durchsetzbarkeit leiten lassen.
Da die Gewichtsverteilung subjetiv ist, möge der Leser selbst entscheiden, ob er die einzelnen Kriterien für sehr wichtig (+ + +), wichtig (+ + ), kaum wichtig (+) oder gar abträglich (—) hält. In welchem Grade die in Frage kommenden (EG-oder neutralen) Sprachen die einzelnen Kriterien erfüllen, wird in Einzelfällen sogar zwischen Fachleuten strittig sein, doch dürften meist die Einschätzungen auch durch Laien unter Berücksichtigung der oben mitgeteilten Tatsachen gut miteinander übereinstimmen. Wer keine ungewöhnlichen Gewichte setzt, wird dann zu dem Schluß kommen, daß wenigstens als „ferne Ideallösung" eine gemeinsame, also neutrale Zweit-sprache, also eine Lösung im Sinne der „demokratischen Zweisprachigkeit", den Vorzug verdient.
4. Purismus, Fatalismus und Pragmatismus in der Sprachpolitik
Wer jemals versuchte, die verschiedenen möglichen Lösungen des europäischen Sprachproblems möglichst unvoreingenommen zu durchdenken und sich dazu über die maßgebenden Eigenschaften der in Frage kommenden Sprachen informierte, wird in der Regel die Überlegenheit nicht nur allgemein einer sprachneutralistischen Lösung erkennen, sondern sogar — wenigstens zunächst — in Versuchung kommen zu fordern, die als „Bestlösung" gefundene neutrale Sprache (sei sie Latein, sei sie eine Plansprache) unverzüglich und kompromißlos durchzusetzen. Mit einem solchen Purismus wird politisch jedoch nichts bewegt; in den Augen der Mehrheit, die ja die entscheidende Information nicht zur Kenntnis nahm, muß im Gegenteil der Eindruck des Weltverbesserertums entstehen.
Andererseits besteht angesichts der zunehmenden Mündigkeit der Völker und ihrer Zusammenschlüsse immer weniger Grund, die heutigen Sprachverhältnisse in Europa und ihre Entwicklungstendenzen als ungestaltbares Schicksal hinzunehmen. Einen solchen Sprachfatalismus läßt Dcsy (1973, S. 240) durchblicken, wenn er angesichts der drohenden Sprachhegemonie meint, die Geschichte habe „schon ihre Entscheidung getroffen", in den Organen der EG stehe nur noch die „rechtliche Bestätigung" aus. Es überrascht auf den ersten Blick, daß selbst Stalin 1950 — drei Jahre vor seinem Tod — zum Sprachfatalismus neigte, allerdings mit einer neutralistischen Vision: der „Verschmelzung der Sprachen zu einer gemeinsamen Sprache". Er verkündete in seinen „linguistischen Arbeiten": „Nach dem Siege des Sozialismus im Welt-maßstab ... werden ... Hunderte von Nationalsprachen ... zu einer gemeinsamen internationalen Sprache verschmelzen, die natürlich weder die deutsche noch die russische noch die englische, sondern eine neue Sprache sein wird, die die besten Elemente der nationalen und zonalen Sprachen in sich aufgenommen hat“ Anzudeuten, daß die visionär geschaute Zukunftssprache in wesentlichen Zügen mit einer (diese Evolution planerisch antizipierenden) Konstruktion der Interlinguistik übereinstimmen müßte, war nicht wegen der vorausgegangenen Esperantistenverfolgung ausgeschlossen, sondern weil die „linguistischen Arbeiten" ja Sprache (und Logik) aus dem „überbau" herausnahmen und daher nicht mehr als mögliches Objekt der Planung und politischen Entscheidung darstellen konnten.
Es ist ein fatalistischer Irrtum anzunehmen, eine Sprache „setze sich durch": Sie wird durchgesetzt, falls einerseits starke Interessengruppen dieses Ziel mit Nachdruck Verfolgen und andererseits die Widerstände nicht zu groß sind, die in dieser Sprache selbst oder in den Interessen derer liegen, denen sie aufgezwungen werden soll. Sprachpolitische Entscheidungen haben daher eine nur allmähliche, aber langanhaltende Wirkung. Daher werden von vorsichtigen Befürwortern einer neutralen Sprachpolitik provisorisch-pragmatische Lösungen vorgeschlagen, die den Weg zur späteren, besseren Lösung ebnen oder zumindest freihalten sollen, statt ihn zu verbauen. Kernpunkte solcher Vorschläge sind u. a.:
1. Statt sofort eine Entscheidung über die Bewältigung des innereuropäischen Kommunikationsproblems zu treffen, soll zunächst ein paritätisch zusammengesetzter Sachverständigenkreis mit der Aufgabe gebildet werden, in mehrjährigen Studien und Beratungen Antworten auf gezielte Bewertungsfragen zu den einzelnen vorgeschlagenen Lösungen zu erarbeiten. 2. Einstweilen soll die grundsätzliche Gleichrangigkeit aller EG-Sprachen konsequent gewahrt werden.
3. Wo ILo nachweislich unmittelbar nützlich ist, sollen hemmende Bestimmungen aufgehoben werden, ohne daß dies im übrigen den einzuschlagenden sprachpolitischen Weg präjudiziert. 4. Wo „aus praktischen Gründen" die Zahl der zugelassenen Sprachen eingeschränkt werden muß, soll als prinzipielle Ausweichmöglichkeit für die Benachteiligten — oder auch nur als symbolische Repräsentantin für deren grundsätzlich weiterhin gleichrangige Sprachen — wenigstens auch ILo (und/oder Latein) hinzugenommen werden. 5. Gegenwärtige Tendenzen und Präferenzen Die Zahl derer, die ILo mehr oder weniger gut lesen können, wird heute schon mit etwa 16 Millionen, die Zahl der (mehr oder — meist — minder perfekten) Sprecher mit etwa 1 Million veranschlagt. ILo hat also bereits den Rang einer „kleinen Sprache" erreicht: es könnte hinsichtlich der Sprecherzahl zwischen Dänisch und Irisch eingeordnet und ungefähr dem Bretonischen oder Baskischen gleichgestellt werden. Allerdings lebt nur ein Teil der Sprecher in Europa und von diesem der überwiegende Teil im RGW-Bereich. Die wichtigsten internationalen Einrichtungen der Esperanto-Movado haben dagegen ihren Sitz in EG-Ländern. Nimmt man die Zahl der organisierten Esperantisten als Indiz für die Zahl der Kenner dieser Sprache (erfahrungsgemäß schließen sich kaum mehr als 1 % einem Verband an), dann erkennt man, daß im Hinblick auf die Pro-Kopf-Verbreitung der ILo die Bundesrepublik Deutschland derzeit innerhalb der zehn EG-Länder vor England und Irland an drittletzter Stelle rangiert. Luxemburg steht an der Spitze mit deutlichem Abstand vor Belgien, dem seinerseits Dänemark dicht folgt. Es schließen sich wieder in größerem Abstand die Niederlande und Griechenland an. Nach einem erneuten Abstand folgen nacheinander Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Irland. Die Zahl der Ido-Sprecher ist heute immer noch dreistellig. Die Sprecherzahl der — vor allem für wissenschaftliche Texte — in den USA entwickelten und 1951 veröffentlichten Plansprache Interlingua ist z. Zt. zweistellig, die Sprecherzahl von Occidental und Volapük jeweils noch einstellig. Andere Plansprachen haben entweder nie „gelebt“ (mehrere Hundert!) oder sind inzwischen „erloschen" (Neo). Dem Begriff „lebende Sprache" könnte im Zusammenhang mit Formulierungen wie im oben zitierten Hamburger Abkommen wachsende Bedeutung zukommen, zumal 1981 Bulgarien, das z. Z. weltweit die höchste relative ILo-Sprecherzahl aufweist, nach Russisch als erster Schulfremdsprache und nach der Wahlpflichtsprache (Englisch oder Deutsch oder Französisch), als einzige dritte Schulfremdsprache (im 9. und 10. Schuljahr) ILo einführte. Es ist schwierig, den Begriff der „lebenden" Sprache so zu definieren, daß zwar ILo ausgeschlossen wird, aber nicht zugleich auch die zu Nationalsprachen erhobenen Plansprachen (Nynorsk, Bahasa Indonesia) oder andererseits jene ethnischen Sprachen, die nirgends Nationalsprachen sind. Denn die Literatur in ILo war schon vor dem Zweiten Weltkrieg auf eine fünfstellige Bandzahl angewachsen, die jährlichen Weltkongresse der UEA ziehen regelmäßig eine vierstellige Zahl von Teilnehmern an, je dreistellig sind die Zahlen der jährlich in ILo erscheinenden neuen Bücher und durchgeführten internationalen Tagungen, der regelmäßig in ILo erscheinenden Zeitschriften und der Sprecher, für die ILo Muttersprache ist. Zweistellig ist die Zahl internationaler wissenschaftlicher oder anderer fachlicher Gesellschaften, die (auch oder nur) ILo als Arbeitssprache verwenden, sowie seit auch mehreren Jahren die Zahl der regelmäßigen wöchentlichen Rundfunksendungen in ILo und der beteiligten staatlichen zu denen im deutschen Sender, Sprachraum der österreichische Rundfunk sowie Radio Bern gehören; Radio Warschau und neuerdings Radio Peking bringen sogar mehrmals täglich halbstündige Sendungen in ILo.
Unter den in 76 Ländern gesammelten rund 900 000 Unterschriften unter eine 1950 der UN vorgelegten Petition um Unterstützung der Verbreitung der ILo (sie bewirkte 1954 einen positiven UNESCO-Beschluß) standen die deutschen Unterschriften der Zahl nach an der Spitze, und eine der (weltweit 492) Unterzeichnerverbände war der DGB. 1966 trug ein zweiter Vorstoß bei den UN wieder rund 900 000 persönliche Unterschriften (darunter u. a. jene von Francois Mitterrand und Walter Hallstein), und unter den nahezu viertausend Unterzeichnerorganisationen finden sich die IG Metall und die SPD Das bedeutet nicht, daß in der bundesdeutschen Öffentlichkeit oder auch nur bei den drei im Bundestag vertretenen Parteien sprachpolitische Konzeptionen sich schon entwickelt hätten — beim sprachpolitischen Kolloquium der Europäischen Akademie Otzenhausen zeigte sich, daß ein vereinzelter Ansatz dazu allenfalls bei den Liberalen in deren Beschluß vom 3. 2.
1979 zur Befürwortung des Sprachorientierungsunterrichts in den EG-Ländern gesehen werden könnte.
Künftige Sprachlehrer können in der Bundesrepublik Deutschland sich während ihres Universitätsstudiums mit der Interlinguistik im allgemeinen und mit ILo im besonderen nur an den Universitäten Hamburg, Saarbrücken und Paderborn befassen, und auch hier nur in Kursen von Lehrbeauftragten ohne Prüfungsberechtigung — obgleich mindestens elementare Kenntnisse der Interlinguistik von Philologen aus denselben sachlogischen Gründen erwartet werden sollten, wie ein erster Einblick in das, Bauingenieurwesen von Architekten und'Grundkenntnisse der Informatik Hier von Mathematikern. wirksamste der Ansatzpunkt für eine Hebung des sprach-politischen Reflexionsniveaus der deutschen Öffentlichkeit, zumal Sprachpädagogen naturgemäß kaum dem gängigen Irrtum verfallen, heutige die Verbreitung von Englisch als Schulfremdsprache zwinge zu deren Offizialisierung als Verständigungssprache: Durch neue schulpolitische Entscheidungen kann ja die Verteilung der Fremdsprachenkenntnisse in der Bevölkerung in fast beliebiger Richtung innerhalb nur einer Generation völlig verschoben werden. Daß dabei — wegen der besonderen Lernleichtigkeit — sogar ein lawinenartiger Anstieg der ILo-Kenntnisse möglich ist, beweisen derzeit die Erfolge des ILo-Unterrichts im Iran.
Im Gegensatz z. B. zu England und Italien gibt es in der BR Deutschland keinen Arbeitskreis von Parlamentsangehörigen mit dem Ziel, eine neutrale europäische Amtssprache durchzusetzen. Naturgemäß fehlt auch eine Lobby. Vordergründige Interessen könnten bei Eltern-und Schülervertretungen der Hauptschulen mobilisiert werden, denn der Englischunterricht wird dort aufgrund des un-terschiedlichen Lernerfolgs für zwei Gruppen getrennt erteilt, wobei die schwerer lernende keinen nützlichen Kompetenzgrad erreicht, also Zeit verliert. Umfangreiche Versuche an der Hauptschule Paderborn-Elsen ergaben in den letzten Jahren, daß diese Schüler aber größtenteils eine für die Auslandskommunikation ausreichende ILo-Kompetenz erreichen konnten; der Antrag, sie demzufolge vom weiteren Englischunterricht zu befreien, mußte aufgrund der geltenden Bestimmungen abgelehnt werden.
Verschiedene örtlich, regional, national oder international arbeitende Vereinigungen bemühen sich um bessere zwischensprachliche Verständigung, wobei manchmal in den anglophilen und vereinzelt auch in den francophilen Gruppierungen der Anspruch auftritt, dabei „die" künftige Europasprache zu fördern. Im Gegensatz dazu fordern die Esperanto-Verbände ebenso wie die Vereinigungen zur Förderung von Latein bzw. Ido konsequent die Nutzung der von ihnen jeweils gepflegten Sprache als gemeinsame europäische Zweit-sprache.Andere Gesellschaften — so der Europa Klub — setzen sich ohne konkrete Festlegung für eine neutrale Sprachpolitik in Europa ein
Wirksamer dürfte die zunehmende Verwendung von wer ILo als Wissenschaftssprache -
den. Um in ILo publizieren zu können, benötigt ein deutscher Wissenschaftler meist wesentlich weniger Lernzeit, als er zusätzlich bräuchte, um seine schon vorhandenen Englischkenntnisse hinreichend verbessern zu Dies veranlaßte die Association Internationale de Cyberntique, die auch fachlich an der Kommunikationsrationalisierung interessiert ist, seit 1980 ILo als dritte Arbeitssprache nach Französisch und Englisch zuzulassen, wovon sofort schon ein Viertel der Referenten des damaligen Kybernetikweltkongresses Gebrauch machte -Infolgedessen veröffentlicht seit 1982 die erste deutschsprachige Fachzeitschrift für Kybernetik Beiträge auch in Französisch, Englisch und ILo; ähnliche Absichtserklärungen zugunsten einer sprachpragmatischen Regelung mehren sich.
Ausblick Solange der Weltfriede vom militärischen Gleichgewicht zwischen der NATO und den Staaten des Warschauer Pakts abhängt, werden die beiden Führungsmächte dabei ihre Rolle unter ausschließlicher Verwendung je ihrer Sprache erfüllen. Eine andere Verständigungssprache für die EG einzuführen ist aber nicht nur politisch möglich, sondern aus sehr vielen Gründen auch vorzuziehen. Obwohl die sofortige Durchsetzung des Prinzips der demokratischen Zweisprachigkeit für Europa äußerst nützlich und theoretisch auch möglich wäre, kann dies aus praktischen Gründen zunächst nur eine Option sein, für die eine pragmatische Sprachpolitik zu verfolgen ist, bis auch die breite Öffentlichkeit für eine vernünftige, einem mündig werdenden Europa angemessene, nämlich neutrale Lösung des europäischen Kommunikationsproblems reif wird. Eine solche Lösung innerhalb der EG durchzusetzen ist in erster Linie die BR Deutschland in der Lage, da sie mit den besten Gründen auf die Annahme ihrer Sprache als der nichtneutralen Alternativlösung bestehen könnte.
Helmar G. Frank, Dr. phil., geb. 1933; Studium der Mathematik, Physik und Philosophie in Stuttgart, Tübingen und Paris; seit 1972 o. Professor der Kybernetischen Pädagogik und Bildungstechnologie an der Universität/GH Paderborn (1972— 1981 auch Leiter des FEoLL-Instituts für kybernetische Pädagogik). Veröffentlichungen u. a.: Einführung in die kybernetische Pädagogik (mit B. S. Meder), München 1971; Rechnerkunde (mit I. Meyer), Stuttgart 1972; Neue Bildungsmedien und -technologien in der Schul-und Berufsausbildung, Göttingen 1975; Lingvokibernetiko/Sprachkybernetik (mit Yashovardhan und B. Frank-Böhringer), Tübingen 1982.
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