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Von der EVG zur EWG | APuZ 12/1983 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 12/1983 Von der EVG zur EWG Der Bund der Sozialdemokratischen Parteien der EG und die westeuropäische Integration Europäische Sprachpolitik

Von der EVG zur EWG

Hanns Jürgen Küsters

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Gründung der Europäischen Wirtschafts-und Euratomgemeinschaft geht nicht — wie gemeinhin dargelegt wird — auf die sogenannte relance europenne zurück. In Wirklichkeit fand nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) Ende August 1954 in der französischen Nationalversammlung eine Wiederbelebung des Europagedankens gar nicht statt, weil es nämlich keinen Stillstand der Integrationsbemühungen gegeben hatte. Die Verträge von Rom entstanden vielmehr in einer einmalig günstigen historischen Konstellation, die weder vorherzusehen noch bewußt herbeigeführt worden war. Dabei erwiesen sich die außen-und innenpolitischen Rahmenbedingungen, eine begrenzte Zahl von Akteuren sowie die Methode der Integrationsverhandlungen als die entscheidenden Faktoren. Mit der Regelung der westeuropäisch-atlantischen Sicherheitsprobleme in den Pariser Verträgen 1954/55 (Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO und die Westeuropäische Union) waren die Grundvoraussetzungen geschaffen, den Einigungsprozeß auch im wirtschaftlichen und politischen Bereich fortzuführen. Auf Initiative weniger Politiker und Beamte der Montanunionsländer konnten während der Außenminister-Konferenz von Messina im Juni 1955 Beratungen über weitere Integrationsmaßnahmen zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes und einer Atomenergie-Organisation vereinbart werden. Sie führten schließlich auf der Grundlage des Spaak-Berichtes im Juni 1956 zur Aufnahme von Regierungsverhandlungen unter den Sechs. Bedeutsam für die bereits im März 1957 vorgenommene Unterzeichnung des EWG-und des Euratom-Vertrages war vor allem der Ausgang der Suez-Krise im Herbst 1956. Sie gab der Regierung und dem Parlament in Frankreich den entscheidenden Anstoß, sich von ihrer antieuropäischen Haltung loszusagen. Für die inhaltliche Gestaltung und die Ratifizierung des Vertragswerkes zeichnet ein kleiner Kreis von Führungspersönlichkeiten, politischen Beamten und Technokraten verantwortlich, der von den langfristigen Vorteilen eines gemeinsamen westeuropäischen Marktes überzeugt war. Gegen zum Teil heftige Angriffe aus den Reihen der Bürokratie, der Parteien und der Interessenverbände gelang es ihnen bis auf wenige Abstriche, dem EWG-Vertrag ein marktwirtschaftliches Konzept zugrunde zu legen. Sie setzten sich damit gegen die Vertreter einer mehr dirigistischen Linie durch.

Der europäische Wiederaufschwung 1955— 1957

Während des Festaktes zum 25. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge äußerte sich der Präsident der EG-Kommission, Gaston Thorn, kritisch über den gegenwärtigen Stand des Zusammenhalts der Gemeinschaft. Trotz der eindrucksvollen Erfolge müsse man feststellen, „wie gefährdet und unzulänglich das bisher Erreichte ist, auch im institutionellen Bereich, angesichts der Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft. Der europäische Besitzstand erscheint mir schwer bedroht durch nationalistische und protektionistische Tendenzen wie auch durch ein Denken in kurzen Zeitabschnitten, das in den Mitgliedstaaten um sich greift... Wenn auch nicht viel Gemeinsamkeit zwischen der Lage Europas und der Welt in der ersten Nachkriegszeit besteht, so sind die tieferen Gründe für die europäischen Integrationsbemühungen der fünfziger Jahre auch genauso gültig wie heute damals vor dreißig Jahren." Seine Forderung nach Rückkehr zu Geist und Buchstaben der Verträge, bekräftigt durch eine „neue Konferenz von Messina", aber auch die aktuellen Diskussionen über die Reform der Gemeinschaft zeigen, wie dringlich es ist, die Ursachen für die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft zu analysieren und daraus Konsequenzen zu ziehen, um Klarheit für den Eintritt in eine neue Phase des Einigungsprozesses zu gewinnen.

Aus welchen Gründen es gelang, den europäischen Einigungsprozeß schon drei Jahre nach der Ablehnung des Vertrages Europäische die Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im August 1954 in der französischen Nationalversammlung mit der Schaffung der EWG und Euratom-Gemeinschaft fortzusetzen, darauf gibt die einschlägige Literatur nur wenig zufriedenstellende Antworten. Vier Erklärungsmuster tauchen immer wieder auf:

— Nach dem Scheitern der EVG und den damit verbundenen Beratungen über eine Europäische Politische Gemeinschaft sei der direkte Weg zur politischen Einigung Europas nicht mehr gangbar gewesen. Es habe daher ein Prozeß der Rückbesinnung auf die Ziele des Schuman-Plans eingesetzt, der eine Zusammenfassung der wirtschaftlichen Interessen beabsichtigt habe. Daraus sei die Wirtschaftsgemeinschaft erwachsen

— Die Integration im Bereich der Wirtschaft fortzuführen, habe sich gleichsam von selbst ergeben, weil hier versucht werden konnte, allmählich diejenigen Verbindungen zu schaffen, die sich im Falle des Gelingens der EVG sofort und ohne erforderliche Vorbereitung ergeben hätten. Darüber hinaus habe der wirtschaftliche Aufbau im Interesse aller Beteiligten gelegen, weil unter den Bedingungen des modernen Industriestaates die Integration auf dem Gebiet der Wirtschaft politisch vereinheitlichend wirken mußte

— Die Einigung auf wirtschaftlichem Gebiet sei leichter möglich gewesen als der politische Zusammenschluß, weil einerseits bereits wirtschaftliche Erfolge in der Montanunion erzielt worden waren und andererseits die wirtschaftlichen Fragen in der Öffentlichkeit weniger kontrovers diskutiert wurden als die politischen Probleme der Integration -

— Unter den Sechs habe weiterhin eine Interessenkoinzidenz darüber bestanden, die sich aus der Zersplitterung in viele kleine oder mittlere Nationalwirtschaften ergebenden Nachteile zu beheben. Die Liberalisierung des innereuropäischen Handelsverkehrs und die Herstellung der Konvertibilität der europäischen Währungen untereinander konnte nur auf dem Weg eines engeren wirtschaftlichen Zusammenschlusses zu einem den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion vergleichbaren Wirtschaftsgroßraum gelöst werden

Die Gründe sind zwar einleuchtend, doch werden damit zwei wichtige Fragen für die Entstehung der Wirtschaftsgemeinschaft nicht berührt:

Wie konnte es angesichts des integrationsfeindlichen Klimas in Frankreich überhaupt gelingen, die französische Regierung von den Vorzügen einer neuen Initiative zur Fortsetzung des Einigungsprozesses zu überzeugen, da sich doch eine Integration über den Bereich der Montanindustrie hinaus politisch offenbar nicht durchsetzen ließ. Zudem war mit der Regelung der westeuropäisch-atlantischen Sicherheitsbeziehungen in den Pariser Verträgen vom Oktober 1954 ein bis dahin wichtiger Motor für die europäische Einigung ausgefallen. Folglich stellt sich die Frage, warum den Römischen Verträgen nicht das gleiche Schicksal wiederfuhr wie dem EVG-Vertrag. Angesichts der damals in Expertenkreisen heftig geführten Diskussionen über die einzuschlagende Integrationsmethode bleibt darüber hinaus unklar, aus welchen Erwägungen heraus entschieden wurde, den Prozeß der wirtschaftlichen Einigung statt auf dem Wege sukzessiver Teilintegration — wie in der Montanunion für den Kohle-und Stahlsektor begonnen — nunmehr in der EWG mit einem gesamtwirtschaftlichen Integrationsansatz fortzusetzen, den Bereich der Atomenergie jedoch auszuklammern und in einer separaten Organisation — eben der Euratom-Gemeinschäft — zusammenzufassen.

I. Die Neuordnung der westeuropäisch-atlantischen Beziehungen

Das Scheitern des EVG-Vertrages brachte die im Jahre 1954 schwelende Krise der europäischen Einigungsbewegung zum Ausbruch und markierte zugleich ihren Höhepunkt. Die Auswirkungen waren weitreichend. Der mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Europäischen Politischen Gemeinschaft unternommene Versuch einer supranationalen sicherheitspolitisch-militärischen, politischen und wirtschaftlichen Integration Westeuropas wurde auseinanderdividiert und auf unterschiedliche Ebenen verlagert.

Für den wichtigsten Bereich, die Sicherheitspolitik, fand in den Pariser Verträgen das klassische Allianzmodell der NATO und die aus dem Brüsseler Pakt von 1948 hervorgegangene Westeuropäische Union, in welche die Bundesrepublik mit tatkräftiger Unterstützung Konrad Adenauers integriert wurde, Anwendung. Eine wichtige Voraussetzung war die Bereinigung der deutsch-französischen Streitpunkte über die Saarfrage und der Abschluß eines bilateralen Wirtschaftsabkommens.

Was die politische und wirtschaftliche Einigung Europas anbelangte, so waren diese Themen im Pariser Vertragswerk unangetastet geblieben. Verschiedene Gründe sprachen aber dafür, die Integration möglichst bald auch in diesen Bereichen fortzusetzen.

Die politischen und wirtschaftlichen Belastungsproben, denen Westeuropa zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion in Zukunft ausgesetzt sein könnte, und die politisch und ideologisch als bedrohlich empfundene Politik Moskaus rückten die Frage nach Entwicklungsmöglichkeiten schon bestehender europäischer Institutionen und der Weiterführung des Zusammenschlusses der westeuropäischen Staaten in den Vordergrund. Die wirtschaftlichen Probleme, zum Teil mittelbare Auswirkungen der Nachkriegsära, waren immer noch ungelöst. Protektionismus und Devisenzwangswirtschaft behinderten den Handels-und Kapitalverkehr. Neben den Zahlungsbilanzproblemen hatten die europäischen Staaten mit binnenwirtschaftlichen Störungen der Wirtschaftspolitik zu kämpfen. Nur auf dem Wege einer engeren Zusammenarbeit der westeuropäischen Staaten untereinander konnten Allokation und Distribution vorhandener Ressourcen verbessert, der Handel von Hemmnissen befreit und die Produktivität der einzelnen Volkswirtschaften erhöht werden. Unter den Integrationsanhängern herrschte nach dem Scheitern der EVG die Befürchtung, die Institutionen der in Ansätzen supranational arbeitenden Montangemeinschaft könnten vom Sog antiintegrationistischer Strömungen hinweggespült werden. Dem wollten sie entgegenwirken. Das in der Kohle-und Stahlgemeinschaft Erreichte sollte unter allen Umständen erhalten und durch zusätzliche Integrationsmaßnahmen fortgeführt werden, die möglichst nicht gleich Gefahr laufen, unüberwindbare politische Widerstände zu mobilisieren.

Führende Politiker in Westeuropa wie Adenauer, Hallstein, Spaak, Beyen und Monnet waren überzeugt, die Zeit werde gegen sie und die Europaidee arbeiten, wenn es nicht binnen kurzem gelänge, der Einigung einen neuen Impuls zu geben. Sie hielten aus grundsätzlichen Überlegungen an der Integrationspolitik fest.

Ein erneuter Anstoß mußte im wesentlichen zwei Faktoren Rechnung tragen: Zum einen würde die Integration in Form eines supranationalen Bundesstaates kurzfristig keine Realisierungschance mehr haben. Zum anderen war davon auszugehen, daß die westeuropäischen Staaten jeder für sich nicht in der Lage sein würden, die an sie gestellten politischen und wirtschaftlichen Aufgaben langfristig und wirksam im nationalstaatlichen Rahmen zu lösen.

Weil abzusehen war, daß die Regelung der sicherheitspolitischen Fragen neue Bemühungen um eine wirtschaftliche Einigung erheblich erleichtern würde, hatten weitere offizielle Schritte in diese Richtung erst Aussicht auf Erfolg, als die Pariser Verträge am 5. Mai 1955 endgültig in Kraft getreten waren.

Trotz der besseren Voraussetzungen waren sich die Befürworter des Integrationskurses sehr wohl darüber im klaren, wie schwer es sein würde, Frankreichs Mitte-Rechts-Regierung unter Führung von Edgar Faure (Radikalsozialist) zu bewegen, ihre bis dahin restriktive Haltung in der Europapolitik flexibler zu gestalten. Vor allem wegen des zu erwartenden Widerstandes der Gaullisten zeigte sich die Regierung nicht sonderlich interessiert, die Beratungen über Fortschritte zur europäischen Einigung im Kreise der EGKS-Staaten weiterzuführen. Die von den Partnern Frankreichs im Pariser Vertrag zugestandenen Sicherheitsgarantien, die Rückschläge in den französisch-sowjetischen Beziehungen und die schlechte Wirtschaftslage der IV. Republik brachten die Regierung Faure in eine schwierige Situation Einerseits wollte sie in der Nationalversammlung nicht erneut eine Diskussion über die europäische Integration entfachen. Andererseits konnte sie aber nicht von vorneherein alle Bemühungen der anderen Montanunionsländer um Fortsetzung des Einigungsprozesses ablehnen.

II. Die Phase der sogenannten relance europenne

Die Initiativen zur Fortführung der Integrationsberatungen gingen von drei politischen Persönlichkeiten aus. Sie verfolgten unterschiedliche Ziele und Methoden, zeigten sich jedoch in ihrem Urteil über die Dringlichkeit eines neuen europäischen Anstoßes einig. Eine der treibenden Kräfte war Jean Monnet. Sein Vorschlag, die Integration mit der Schaffung einer Europäischen Atomgemeinschaft als einen weiteren Teilbereich der Montanunion voranzubringen war ein grundsätzlich neuer, sachlich aber keineswegs zwingender Gedanke. Er schien besonders deshalb in-teressant zu sein, weil die EGKS-Staaten — mit Ausnahme Belgiens und Frankreichs — fast keine Kontakte auf dem Nuklearsektor miteinander hatten, überdies befand sich die Forschung über die friedliche Nutzung der Kernenergie noch in den Anfängen und war politisch wenig kontrovers Der bereits im November 1954 von Monnet angekündigte Verzicht auf eine erneute Kandidatur für das Amt des Präsidenten der Hohen Behörde erwies sich in dieser Situation als geschickter Schachzug. Die sechs Regierungen waren aufgefordert, zu seinen Plänen Stellung zu nehmen. Monnet, Spaak und Beyen nutzten dabei die Gelegenheit, ihre Vorstellungen von einer neuen Integrationsinitiative möglichst weit voranzutreiben.

Die um die Jahreswende 1954/55 in der belgischen, niederländischen und deutschen Regierung angestellten Überlegungen zur Gründung einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft knüpften an die Diskussion über den Satzungsentwurf der Europäischen Politischen Gemeinschaft an. Schon im Zusammenhang mit dem vom niederländischen Außenminister Beyen 1953 vorgelegten Zollunionsplan wurden Maßnahmen zur europäischen gesamtwirtschaftlichen Integration der Montanunionsländer in Form eines Gemeinsamen Marktes mit dem Kern einer Zollunion und gemeinsamen Wettbewerbsregeln als Unterbau der Politischen Gemeinschaft erörtert.

Diese Arbeitsergebnisse wurden von den Regierungen in Brüssel, Den Haag und Bonn überprüft und fortgeschrieben. Während Beyen zunächst nur eine Zollunion unter den Sechsen schaffen wollte, wurde in der Schuman-Plan-Abteilung des Bundeswirtschaftsministeriums dieser Plan zum Konzept einer gesamtwirtschaftlichen Integration mit binnenmarktähnlichen Verhältnissen auf einem gemeinsamen europäischen Markt weiterentwickelt. Daß die Entscheidung für eine neue Integrationsinitiative auf der Außenministerkonferenz der Montanunionsländer vom 1. bis 3. Juni 1955 in Messina überhaupt zustande kam, war angesichts der massiven Widerstände in der deutschen und französischen Administration bereits ein Erfolg. In Frankreich zeigten eigentlich nur die Republikanische Volksbewegung (MRP) und Außenminister Pinay (Unabhängiger Republikaner) Interesse an einer Wiederbelebung der totgesagten Europa-Idee. Innerhalb der Bundesregierung setzten sich besonders die Beamten um Wirtschaftsminister Erhard gegen den Sechser-Integrationsansatz zur Wehr. Sie strebten eine auf weltweiten Freihandel ausgerichtete, engere Zusammenarbeit der OEEC-Mitgliedstaaten an Allein in den Beneluxländern und in Italien gab es keine ernsthafte Gegnerschaft. In Anbetracht der unterschiedlichen Interessen und Ziele ließ sich unter den Außenministern lediglich darin Übereinstimmung erzielen, die neue Initiative in völliger Unverbindlichkeit für die Regierungen anzugehen. Ohne das allseitige Einvernehmen, vorerst keine Verträge auszuarbeiten und sich auf die Untersuchung des technisch Möglichen zu beschränken, hätte die französische Regierung, der aus verschiedenen Gründen hauptsächlich das Euratom-Projekt reizvoll erschien, der Resolution von Messina nicht zugestimmt.

Die Entschließung dokumentierte in erster Linie einen politischen Kompromiß, der allen Ansätzen gerecht zu werden suchte die Meinungs-und Interessenunterschiede über den einzuschlagenden Integrationsweg aber nicht beseitigte. Unumstritten war nur das Konzept, die europäische Einigung durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes fortzusetzen. Durch Verschmelzung der nationalen Volkswirtschaften sollte ein wirtschaftlicher Ordnungsrahmen entstehen, der — von kompetenten Institutionen gestützt — eine allgemeine wirtschaftspolitische Koordinierung ermöglicht. Für die engere Zusammenarbeit auf dem Atomenergiesektor sollte davon unabhängig eine Organisation eingerichtet werden.

III. Das neue Konzept des Spaak-Berichtes

Entscheidenden Einfluß auf den Gang der weiteren Beratungen, zu denen sich Experten und Beamte aus den sechs Mitgliedsländern, von der Hohen Behörde und aus Großbritannien von Juli bis Oktober 1955 in Brüssel trafen, hatte der belgische Außenminister Paul Henri Spaak. Obschon er wenig von der schwierigen Materie verstand, leitete er mit viel Vehemenz die Konferenz und setzte sein ganzes politisches Gewicht für den Fortgang des Einigungsprozesses ein Zudem wurden von den Regierungen meist jene Beamten benannt, die sich mit dem Ziel der Integration identifizierten und ein starkes Engagement mitbrachten.

In ihren Untersuchungen verschafften sich die Sachverständigen einen Überblick über die technischen Probleme einer wirtschaftlichen Integration. In der kurzen Zeit von drei Monaten und wegen der scheinbar kaum zu überbrückenden Auffassungsunterschiede ließ sich keine Verständigung über die zu ergreifenden Maßnahmen erzielen. Was die vier Ausschüsse für den Gemeinsamen Markt, für klassische Energie, für Kernenergie und für Verkehr und Verkehrswege Ende Oktober 1955 in ihren Berichten vorlegten, war ein Konglomerat vielfältiger Überlegungen und Lösungsansätze für die einzelnen Sachfragen, aber kein stringentes Konzept, auf dessen Grundlage Regierungsverhandlungen hätten aufgenommen werden können.

Der entscheidende Anstoß kam von Außenminister Spaak selbst, der sich nicht mit dem technischen Auftrag der Messina-Konferenz zufrieden gab. In seiner politischen Verantwortung ließ Spaak von einer kleinen Expertengruppe unter maßgeblicher Mitarbeit von Hans von der Groeben und Pierre Uri ein Integrationskonzept ausarbeiten, das trotz weiterhin bestehender Meinungs-und Interessenunterschiede bei den sechs Regierungen auf der Außenministerkonferenz von Venedig Ende Mai 1956 als Grundlage für Vertragsverhandlungen Anerkennung fand. Aus dem ursprünglich beabsichtigten technischen Bericht wurde somit ein politisches Handlungskonzept, das für die Regierungen nicht mehr völlig unverbindlich war, ihnen aber jederzeit die Möglichkeit ließ, von unannehmbaren Vorschlägen Abstand zu nehmen.

Richtschnur für die Ausarbeitung des soge-nannten Spaak-Berichtes war die simple Frage, was müssen die Mitgliedsländer tun, um die europäische Einigung wirtschaftlich voranzubringen. Den Sachverständigen gelang es, darauf theoretisch einfache und vor allem operationalisierbare Antworten zu geben. Der Bericht stellte ein in sich geschlossenes Ziel-Mittel-System dar, das nur begrenzt der Theoriediskussion über die Methoden der Integration entsprang. Dafür orientierte es sich mehr an den praktischen Erfahrungen internationaler Zusammenarbeit sowie an allgemein anerkannten Werten und Prinzipien volkswirtschaftlichen Handelns. Es wurde vorgeschlagen, eine gesamte Integration der Volkswirtschaften anzustreben mit Ausnahme des Atomenergiesektors, für den wegen der angeblich besonderen Bedingungen eine eigene Organisation aufgebaut werden sollte. Nach den Erfahrungen mit der Montanunion zeigte sich, daß die Teilintegration schon nach wenigen Jahren an ihre inneren Grenzen gestoßen war und somit dem Ziel der Gesamt-Integration keine neue Kraft mehr geben konnte. Die wirtschaftliche Integration würde also nur dann erfolgversprechend sein, wenn sie nicht einzelne Teilbereiche der Wirtschaft erfaßte, sondern die gesamte Volkswirtschaft in den Einigungsprozeß einbezog.

Die entscheidenden Akzente für die Fortentwicklung der Integration wurden durch die Auswahl der zu ergreifenden Instrumente und Methoden gesetzt, die den Gemeinsamen Markt mit einer Zollunion funktionsfähig machen sollten. Die Diskussionen über den wirtschaftlichen Ordnungsrahmen wurden von unterschiedlichen Grundpositionen geführt Die Vertreter des marktwirtschaftlichen Konzepts, speziell die Beamten aus dem Bundes-wirtschaftsministerium, im geringerem Maße die der Benelux-Länder, sahen in dem Gemeinsamen Markt ein geeignetes Instrument, in Westeuropa einen wirtschaftlichen Großraum zu schaffen. Dieser sollte zugleich Vorstufe eines weiterführenden politischen Zusammenschlusses sein, über dessen Reichweite und Finalität allerdings noch keine genauen Vorstellungen bestanden. Auf der anderen Seite strebten die Befürworter der mehr dirigistischen Linie, zu denen die Vertreter Frankreichs und Italiens zählten, im Interesse ihrer Landwirtschaft und ihrer auf Großraumwirtschaft nicht eingestellten Industrien einen engeren Zusammenschluß unter Beibehaltung ihres bisherigen Protektionismus an. Der Gemeinsame Markt diente ihnen als Mittel zum Zweck, nämlich ihre nationale Politik im größeren europäischen Rahmen fortzuführen. Beide Lager nahmen die GATT-Regeln zur Verteidigung ihrer Argumente in Anspruch. Die einen sahen in der Zollunion ein durch den GATT-Vertrag legitimiertes Mittel, die Benachteiligung dritter Länder fortzusetzen. Während die anderen die Zollunion als eine vorübergehende regionale Präferenzzone interpretierten, welche mit der Weiterentwicklung der Integration letztlich allen, also auch den Nichtmitgliedstaaten, zugute käme. Diese Linie kennzeichnete den Spaak-Bericht.

Da die Mehrzahl der Experten sich für den marktwirtschaftlichen Rahmen des Gemeinsamen Marktes ausgesprochen hatte, konnten die deutschen Unterhändler mit Unterstützung der Benelux-Vertreter während der Beratungen im verkleinerten Expertenkreis die entsprechenden Prinzipien in den Bericht einbringen. Die Zollunion sollte demzufolge den Kern des Gemeinsamen Marktes bilden, um den herum binnenmarktähnliche Verhältnisse geschaffen würden. Das Konzept des Spaak-Berichts bekräftigte damit den internationalen Regionalismus, aus dem heraus, einer gewissen Eigendynamik folgend, die Wirtschaftsintegration sich entwickeln sollte, um ihrerseits die politische Einigung voranzutreiben.

Was die institutioneile Ausgestaltung der neuen Wirtschaftsorganisation betraf, so diente der Montanvertrag hierbei als Vorbild. Bemerkenswert war jedoch weniger die Beibehaltung der organischen Grundstrukturen, als vielmehr die Tatsache, daß knapp zwei Jahre nach dem Scheitern der supranationalen Verteidigungsgemeinschaft und entgegen dem andauernden Widerstand in den nationalen Regierungen der Vorschlag, ein föderales Organ in das Entscheidungssystem der neuen Gemeinschaft einzubauen, von den sechs Regierungen prinzipiell akzeptiert wurde.

Die Annahme des Spaak-Berichtes war keineswegs selbstverständlich. In Bonn waren es das Auswärtige Amt und Bundeskanzler Adenauer, die den Spaak-Bericht gegen die Kritik aus dem Bundeswirtschaftsministerium, dem Atomministerium und von Beamten des Landwirtschaftsministeriums verteidigten. Der Kanzler wollte die europäische Einigung fortsetzen, auch wenn sie sich zunächst al das wirtschaftliche Gebiet beschränken wü de. Zwar konnte er mit seiner Richtlinienen Scheidung vom 19. Januar 1956 Erhan Strauß und Blücher nicht von ihren Einwäi den abbringen. Adenauer war aber jederze in der Lage, seine Politik praktisch durchz setzen. In ihren Bedenken sah er keine Grund, dem Bericht die Unterstützung zu vei sagen. Vielmehr erhoffte er sich von der Inte gration neue Bande einer engeren Zusar menarbeit mit Frankreich.

überwogen in der Bundesrepublik, bei de Benelux-Staaten und in Italien die europäiscl gesinnten Kräfte, so war die Situation Frankreich genau umgekehrt. Nachdem di Parlamentswahlen Anfang Januar 1956 di Sozialisten unter Führung von Guy Mollet ai die Regierung gebracht hatten erwartet man künftig eine aufgeschlossenere Haltun Frankreichs in der Europapolitik. Die politi sehen Köpfe wurden zwar ausgewechselt; dit Administration aber blieb — und mit ihr dit extrem antieuropäische Einstellung. Der Re gierungswechsel an der Seine wirkte sic zu nächst kaum auf die Brüsseler Beratungei aus. Die Europa-Anhänger bekamen in der ersten Monaten jedenfalls nicht den erhoffter Rückhalt vom neuen Regierungschef, dem die Presse eine ausgesprochen europafreundliche Politik nachsagte.

Ein allmählicher Meinungswandel setzte erst im Frühjahr 1956 ein. Initiiert wurde der Pro zeß von wenigen europäisch denkenden Be amten um Mollet, die vom langfristigen Nutzen der Beteiligung Frankreichs am Gemeinsamen Markt überzeugt waren. Aus ihren Schlüsselpositionen im Regierungsapparat leiteten sie die Kursänderung ein. Allerdings konnten sie nur mit großen Mühen die Regierung für die Annahme des Spaak-Berichts gewinnen und eine gemäßigte Position Frankreichs auf der Venedig-Konferenz erreichen.

IV. Die Regierungsverhandlungen

Die Regierungsverhandlungen, offiziell am 26. Juni 1956 unter dem Vorsitz von Außenminister Spaak in Brüssel eröffnet, kamen nur schleppend in Gang. Technische, verhandlungstaktische und politische Gründe waren dafür ausschlaggebend. Zum einen benötigten die Delegationen Zeit, ihre Verhandlungspositionen abzustimmen. Die Arbeitsgruppe für den Gemeinsamen Markt führte bis Oktober eine sehr ausführliche erste Lesung des Vertragsentwurfes durch, bei der sich jede Delegation einen Überblick über die Vorstellungen der anderen Partner verschaffen konnte. In einer zweiten Lesung sollten dann kon-krete Vertragstexte formuliert und Kompromisse ausgehandelt werden. Zum anderen zeichnete sich im französischen Parlament eine umfassende Debatte über den Euratom-Teil des Spaak-Berichts ab, von deren Verlauf und Abstimmungsergebnis die Fortführung der Regierungsverhandlungen wesentlich abhing. Schließlich war es schwer, vorherzusehen, welche Bedeutung der im Juli 1956 von der britischen Regierung über die OEEC lancierte Vorschlag zur Gründung einer europäischen Freihandelszone für die Brüsseler Verhandlungen haben würde.

Die eigentlichen Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt begannen deshalb erst Anfang September, als Frankreich seine Bedenken gegen die Vertragsberatungen zurückgestellt hatte, und die Regierungen ihre Bedingungen für den Eintritt in den Gemeinsamen Markt festgelegt hatten.

Die entscheidende Weichenstellung für die tatsächliche Aufnahme der Regierungsverhandlungen ging von der Debatte der französischen Nationalversammlung über die Euratom-Verhandlungen im Juli 1956 aus. Angesichts der Kritik von Seiten der Bürokratie und der Parteien brauchte Mollet die Unterstützung des Parlaments, um den in Brüssel eingeschlagenen Integrationskurs mittragen zu können. Ein ablehnendes Votum, das durchaus möglich gewesen wäre, da Mollet in dieser Frage keine sichere parlamentarische Mehrheit hinter sich wußte, hätte der Regierung die Hände gebunden und wahrscheinlich das vorzeitige Ende der Brüsseler Verhandlungen bedeutet. Wenn die Parlamentarier überhaupt für die neuen Projekte zu gewinnen waren, dann nur aufgrund des starken Interesses Frankreichs am Ausbau der Kernenergienutzung. In der Aussprache war die Regierung gezwungen, einige wichtige Konzessionen zu machen So versprach Außenminister Pineau, Frankreich das Recht vorzubehalten, an den Arbeiten der Internationalen Atombehörde teilzunehmen. Bis dahin war nämlich vorgesehen, daß Frankreich in dieser Organisation durch die Gemeinschaft vertreten sein würde.

Darüber hinaus versicherte er den Gaullisten, die einzurichtende Gemeinsame (parlamentarische) Versammlung und der Ge-

richtshof der Euratomgemeinschaft würden nicht mit den schon bestehenden Organen der Montangemeinschaft fusioniert werden, so wie es der Spaak-Bericht vorsah. Um ein positives Votum des Parlaments nicht a priori auszuschließen, machte Mollet auf Druck der Gaullisten zwei weitere Zugeständnisse: Zum einen versicherte er, die in Frankreich bereits angelaufenen Forschungsarbeiten für die militärische Verwendung der Atomenergie würden weiterbetrieben. Frankreich verzichtete damit nur für die Dauer von vier Jahren auf das Recht, Atomwaffen herzustellen. Zum anderen hob er für die Abstimmung den Fraktionszwang auf und stellte jedem Abgeordneten die Entscheidung frei. Die Gaullisten erhofften sich dadurch zusätzliche Nein-Stimmen aus dem Regierungslager.

Dennoch verlief die Abstimmung am 11. Juli positiv. Mit den Stimmen der Sozialisten (SFIO), der Linksliberalen (UDSR-RDA), der Volksrepublikaner (MRP), der Linksrepublikaner (RGR) sowie Teilen der Gaullisten und der Unabhängigen erhielt Mollet die gewünschte Unterstützung für die Euratom-Verhandlungen. Sie gab ihm indirekt auch politische Rückendeckung für die Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt.

Die französische Regierung wollte fortan die Euratom-Beratungen möglichst schnell zum Abschluß bringen, die Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt dagegen so lange wie möglich hinauszögern. Das Interesse der anderen Teilnehmer konzentrierte sich in der Hauptsache auf den Gemeinsamen Markt Damit war unausgesprochen zwischen beiden Projekten ein Junktim geschaffen worden. Nach Abstimmung der Verhandlungslinien mit den Interessenvertretern, insbesondere mit dem Bauernverband und der Arbeitgebervereinigung (Conseil National du Patronat Francais), unterbreitete der französische Staatssekretär Faure am 20. September den Delegationsleitern sechs Bedingungen für den Beitritt Frankreichs zum Gemeinsamen Markt:

1. Die zweite Stufe des in drei Abschnitten zu errichtenden Marktes sollte nicht in Angriff genommen werden, bevor der Ministerrat einstimmig beschlossen habe, daß die Ziele der ersten Etappe voll erfüllt seien.

2. Die Harmonisierung der sozialen Lasten gelte es bis zum Ende der Übergangszeit soweit anzugleichen, daß die Gesamtarbeitskosten in den einzelnen Mitgliedsländern äquivalent seien.

3. Die französische Regierung wollte sich das Recht vorbehalten, das System der Ausfuhr-beihilfen und der Einfuhrabgaben aufrechtzuerhalten. Es sollte wegfallen, sobald die französische Zahlungsbilanz wieder einen Positiv-saldo aufweisen würde. 4. Einem in Zahlungsbilanzschwierigkeiten geratenen Staat sollte es erlaubt sein, bereits fallengelassene Schutzmaßnahmen wieder einzuführen. • 5. Die Frage der Einbeziehung überseeischer Kolonialgebiete in den Gemeinsamen Markt müßte herausgelöst werden. Die Regierung wollte dazu noch detaillierte Vorschläge unterbreiten. Sie unterstrich damit ihre bereits auf der Konferenz von Venedig erhobene Forderung. 6. Frankreich sollte schließlich eine Ausnahmeregelung für die Inkraftsetzung des Vertrages erhalten. Angesichts der Krisensituation in Algerien, deren Lösung Frankreich weitere militärische Ausgaben aufbürdete und eine Belastung seiner Versorgungsquellen darstellte, schien es der Regierung ungewiß, die mit der Zollunion gleichermaßen verbundenen wirtschaftlichen Umstrukturierungen vornehmen zu können.

Die für die anderen fünf Verhandlungspartner größtenteils unannehmbaren Forderungen stellten eine erhebliche Belastung der Beratungen dar. Vor allem stieß die von französischer Seite beabsichtigte Harmonisierung der Soziallasten vor Eröffnung des Gemeinsamen Marktes auf erbitterten Widerstand der deutschen und der Benelux-Vertreter. Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten war die französische Forderung auf keinen Fall zu rechtfertigen. Aufgrund der unnachgiebigen Haltung der französischen Regierung in dieser Frage steuerten die Verhandlungen schon bald in eine Sackgasse. Als sich auch die sechs Außenminister bei ihrem Treffen am /21. Oktober 1956 in Paris nach langwierigen Diskussionen nicht über die Gegensätze in puncto sozialer Harmonisierung einigen konnten, mußte die Konferenz ergebnislos abgebrochen werden. Das Schicksal der Integrationsverhandlungen blieb vorerst ungewiß. Die international angespannte Lage im Nahen Osten und das vor dem Abschluß stehende deutsch-französische Saar-Abkommen ließ es weder Bonn noch Paris geraten erscheinen, die Konfrontationen um die Brüsseler Verhandlungen zu verschärfen. Beide Regierungen bemühten sich, die Krise relativ schnell beizulegen. Während der kurzen Visite von Bundeskanzler Adenauer am 6. November in Paris, gerade zu jenem Zeitpunkt, als die französische Regierung auf dem Höhepunkt der Suezkrise starkem internationalen Druck ausgesetzt war, wurden dann die entscheidenden Kompromisse ausgehandelt 20).

Der Fehlschlag des britisch-französischen Suez-Unternehmens machte der Regierung Mollet einmal mehr ihre beschränkte Großmachtrolle zwischen den beiden Supermächten auf drastische Weise bewußt. Die engere Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern suchend, gab sie in der Folgezeit ihre zögernde Haltung gegenüber dem Gemeinsamen Markt auf. Damit war der entscheidende Durchbruch in den Verhandlungen erreicht.

Ein weiterer bedeutsamer Schritt für die Unterzeichnung der Römischen Verträge war die Aussprache der französischen Nationalversammlung über den Gemeinsamen Markt im Januar 1957 Soll Frankreich sich Europa anschließen oder in Zukunft das Risiko der außenpolitischen Isolierung in Kauf nehmen? Und was muß es um seiner wirtschaftlichen Sicherheit willen tun, um die Bundesrepublik an den Westen zu binden. Diese Fragen beherrschten die Debatte. Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Schwäche, der finanziellen Belastungen in Übersee und in Algerien sowie der außenpolitischen Niederlage in Nahost hatte Frankreich im Grunde keine andere Möglichkeit, als der Gemeinschaft beizutreten. Wollte es wieder eine bestimmende Rolle im Ost-West-Konflikt spielen, mußte es sich für die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn entscheiden. Nur die Konsolidierung der westeuropäischen Staaten zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion, wie Mollet es formulierte, ermöglichte es Frankreich, der Isolierung zu entgehen. Die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit im Gemeinsamen Markt bot ferner eine gewisse Sicherheit vor der expandierenden deutschen Wirtschaft. Die Verträge von Rom bekamen trotz des Regierungssturzes in Paris im Mai 1957 und der Enttäuschung unter den niederländischen Abgeordneten über das zu wenig supranational ausgefallene System der Wirtschaftsgemeinschaft ohne gravierende Schwierigkeiten in allen Parlamenten der sechs Mitgliedstaaten die erforderlichen Mehrheiten Die bedeutsamste Entscheidung fiel wiederum in der französischen Nationalversammlung. Ihr positives Abstimmungsergebnis vom Juli 1957 bedeutete den Durchbruch in den Ratifizierungsdebatten. Die starke Bindung der Regierung an das Parlament während der Brüsseler Verhandlungen wirkte sich letztlich entscheidend auf die Annahme der Verträge aus. Die Voten im Juli 1956 und zu Beginn des Jahres 1957 wurden als die eigentlichen parlamentarischen Entscheidungen für Frankreichs Beitritt zur Gemeinschaft angesehen. Das deutsch-französische Zusammenspiel bei der Durchführung des Ratifizierungsverfahrens, wobei Monnet erheblichen Einfluß auf die französische Regierung und die deutschen Sozialdemokraten ausübte, diente der gegenseitigen Sicherheit, daß in Bonn wie in Paris die Verträge unterzeichnet würden und ein zweites EVG-Debakel ausblieb.

V. Die Konzeption des EWG-Vertrages

Obwohl die sechs Regierungen in Venedig die Konzeption des Spaak-Berichts als Grundlage für die Vertragsverhandlungen anerkannt hatten, waren damit die Auffassungsunterschiede und Interessengegensätze in einzelnen Sachthemen nicht geklärt. Jede Regierung war bestrebt, für sie vorteilhafte Regelungen vertraglich festzuschreiben, dagegen weniger günstige Lösungen abzublocken oder durch Sonderbestimmungen abzuschwächen. Bei der Festlegung wichtiger Prinzipien des Gemeinsamen Marktes wie zum Beispiel die Aufstellung des gemeinsamen Außenzolltarifs, die Einbeziehung der Landwirtschaft, die Wettbewerbsregeln und die Ausgestaltung des institutioneilen Systems durfte das Gesamtkonzept nicht durch eine Reihe von Schutzklauseln und Ausnahmeregeln verwässert werden. Zu befürchten war, daß durch Vorbehalte und Einwände der Regierungen die Konzeption des Spaak-Berichts zerfallen und die Integration in ihren Kernbereichen geschwächt würde.

Spaak ging es darum, solche Tendenzen zu verhindern und die Einigung politisch herbeizuführen. Seinem Drängen und seinem Verhandlungsgeschick waren die Kompromisse maßgeblich zu verdanken. Er unterstützte vorbehaltlos die Bestrebungen des Ausschußvorsitzenden des Gemeinsamen Marktes, von der Groeben, und anderer führender Unterhändler wie Franco Bobba, Theodor Hijzen und Johannes Linthorst Homan, das im Spaak-Bericht niedergelegte Konzept mög-liehst ohne größere Abstriche in Vertragstexte umzusetzen. Sie waren bestrebt, Lösungen im Sinne der Gemeinschaft zu erarbeiten und nur dort Ausnahmebestimmungen zuzulassen, wo es sich aufgrund der Sachzwänge nicht vermeiden ließ, oder die Widerstände der Regierungen unüberwindbar waren. Abgesehen von der Regelung der Landwirtschaftsfragen, den allgemeinen Bestimmungen über die Wirtschaftspolitik, der Einbeziehung der Überseegebiete Frankreichs, Belgiens und der Niederlande — die vorsätzlich im Spaak-Bericht nicht erwähnt wurde — und einiger verfahrenstechnischer Vorschriften, gelang es ihnen in den Verhandlungen größtenteils, die ursprünglichen Ziele des Spaak-Berichtes im Vertrag zu verankern.

Das dem EWG-Vertrag zugrundeliegende ordnungspolitische Konzept der wirtschaftlichen Integration wurde nicht aus dem Montanunionsvertrag entwickelt, sondern war ein eigenständiger Ansatz zur europäischen Einigung. Der Inhalt des EWG-Vertrags ist im wesentlichen von drei verschiedenen ökonomischen Ordnungskonzepten beeinflußt worden: dem liberalistisch-freihändlerischen Konzept, das auf eine Befreiung der Märkte vom Protektionismus zielte und die Öffnung der Märkte intendierte; dem marktwirtschaftlichen Konzept, das auf dem Gemeinsamen Markt binnenmarktähnliche Verhältnisse vorsah und den weiteren Wirtschaftsablauf von einem unverfälschten Wettbewerb steuern lassen wollte; und dem marktwirtschaftlichen Konzept französischer Vorstellung, derzufolge der Gemeinsame Markt einen stark planungstechnischen Charakter mit nationalstaatlichen Interventionsmöglichkeiten haben sollte.

Einerseits mußten die deutschen Vertreter der neoliberalen Nationalökonomie einsehen, daß die Spielregeln des Freihandels allein nicht genügten, um einen großen wirtschaftlichen Zusammenschluß herbeizuführen. Andererseits konnten sich die französischen Vertreter nicht durchsetzen, weil führende Mitglieder ihrer Delegation erkannten, daß mit fortschreitender Liberalisierung des Außenhandels, der Freizügigkeit des Kapitals und der Arbeitskräfte mit einer besseren Versorgung und der damit verbundenen stärkeren Differenzierung von Nachfrage und Angebot die Planung leicht in Gefahr gerät, mit der Wirklichkeit der wirtschaftlichen Lage nicht mehr übereinzustimmen. Da auch die französischen Unterhändler die heimische Wirtschaft einem stärkeren internationalen Wettbewerb aussetzen wollten, um deren Leistungskraft zu erhöhen, konnten sich besonders in den Wettbewerbsfragen die Vertreter des rein marktwirtschaftlichen Konzepts durchsetzen.

Davon ausgenommen war vor allen Dingen die Landwirtschaftspolitik. Berücksichtigt man die über viele Jahrzehnte von allen Mitgliedsländern praktizierte staatliche Interventionspolitik beim Agrarhandel, dann überrascht es nicht, wenn die Regierungen nur unter bestimmten Bedingungen und Garantien einer Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft ihre Zustimmung geben wollten. Sich im Vertrag auf die Wahl des Instrumentariums festzulegen, Inhalte und Ziele einer gemeinsamen Landwirtschaftspolitik vorerst aber unbestimmt zu lassen, lag im Interesse aller Beteiligten.

Gleiches galt auch für einige andere Bereiche wie die Regionalpolitik, die Energiepolitik oder die Industriepolitik. Allgemein war festzustellen, je sensitiver der Politikbereich für die Nationalstaaten, desto schwieriger wurde es, gemeinsame Politiken zu vereinbaren. Das betraf besonders die Wirtschafts-und Währungspolitik. Die Vereinbarung, solche Kompetenzen bei den Mitgliedstaaten zu belassen, ergab sich sozusagen von selbst. Zu weit gingen die Vorstellungen auseinander, als daß hier auch nur in einigermaßen absehbarer Zeit praktikable Lösungen zu erwarten gewesen wären. Frankreich war nicht gewillt, der Gemeinschaft auf diesem Sektor Steuerungsinstrumente zur Verfügung zu stellen. Und in der Bundesrepublik befürchtete man eine zu dirigistische Regelung, die den marktwirtschaftlichen Prinzipien entgegenstehen könnte. Wichtige Politikbereiche der Wirtschaftsintegration blieben somit in der alleinigen Verfügungsgewalt der Mitgliedstaaten. Die bloße Verpflichtung zur Koordinierung der Konjunkturpolitik stellte letztlich das Maximum dessen dar, was in den Verhandlungen wirklich erreicht werden konnte.

Eine wichtige Grundsatzentscheidung, die zunächst wenig integrierende Effekte zu haben schien, waren die auf Druck der französischen Regierung ausgehandelten Vereinbarungen über das Verhältnis zu den Kolonialgebieten. Zum damaligen Zeitpunkt war nicht vorhersehbar, daß darin der Kern eines umfassenden Assoziierungskonzepts der Gemeinschaft mit den Ländern der Dritten Welt angelegt werden würde. Das Abkommen wurde nach erheblichen finanziellen Zusagen Adenauers auf der Konferenz der Regierungschefs am 19. /20. Februar 1957 in Paris eigentlich nur in der Absicht geschlossen, Frankreichs Drängen nach Entlastung seiner kolonialen Verpflichtungen entgegenzukommen und dessen Beitritt endgültig sicherzustellen.

Der Charakter der neu zu schaffenden Organe und die Beschreibung der Prinzipien, nach denen sie zusammenarbeiten, stellte das Ergebnis politischer Kompromisse und funktionell notwendiger Entscheidungen zur Verwirklichung des Vertrages dar. Das duale System von Rat und Kommission in einem Netzwerk komplizierter Entscheidungs-und Abstimmungsprozesse entstand einerseits aus dem Interesse der souveränen Mitgliedstaaten, letzte Entscheidungs-und Gesetzgebungskompetenzen zu behalten, und andererseits aus der Notwendigkeit, auf übernationaler Ebene die Anwendung der Vertragsbestimmungen durch ein unabhängiges Organ, das den Gemeinschaftswillen repräsentiert, sicherzustellen. Dazu wurde ein institutionelles System eingerichtet, das dem intergouvernementalen wie dem supranationalen Konzept gerecht zu werden suchte. Es mag bedauert werden, daß die Regierungen es geschickt verstanden haben, sich im EWG-Vertrag nicht auf ein einheitliches Konzept festzulegen. Doch wäre angesichts der nationalen Interessenlagen und der innen-und außenpolitischen Umstände keine andere Lösung von allen Sechs akzeptiert worden. Der EWG-Vertrag beinhaltet daher in seiner institutionellen Ausformung intergouvernementale und supranationale Elemente, die sowohl eine statische als auch eine dynamische Komponente besitzen. Statisch in dem Sinne, daß ohne den politischen Willen der Mitgliedstaaten eine substantielle Fortentwicklung der Integration kaum, in anderen Fällen gar nicht möglich ist — hier sei nur die Wirtschafts-und Währungspolitik erwähnt. Dynamisch in dem Sinne, daß den Mitgliedstaaten jederzeit freie Hand gelassen wird, die Integration in Richtung eines Bundesstaates oder einer anderen Form von Staatenverbindung weiterzuentwickeln. Der fehlgeschlagene Versuch der Montanunionsstaaten, die britische Regierung nach der Konferenz von Messina in den „Relanceprozeß" einzubeziehen wirkte gleichermaßen belastend wie entlastend auf den Gang der gesamten Integrationsverhandlungen.

Nur widerwillig hatte sich die Londoner Regierung im Juli 1955 entschließen können, einen „Repräsentanten" nach Brüssel zu entsenden. Die Ankündigung von Delegationschef Bretherton, die Regierung ihrer Majestät wolle sich aktiv an den Arbeiten beteiligen, blieb Lippenbekenntnis, weil sie weder die Messina-Resolution als Untersuchungsgrundlage akzeptierte noch an ihrer inhaltlichen Ausgestaltung interessiert war Je stärker sich im Laufe des Septembers die Beratungen auf die Schaffung einer Zollunion konzentrierten, desto mehr setzte sich in britischen Regierungskreisen die Meinung durch, man müsse sich aus Brüssel zurückziehen, um nicht noch mehr in die Integrationspläne der Sechs verstrickt zu werden.

Der Bruch erfolgte Anfang November 1955, als Spaak in der ersten Sitzung der verkleinerten Expertenrunde den britischen Vertreter aufforderte, ein klares Bekenntnis seiner Regierung zur Teilnahme an der Zollunion abzugeben. Da Bretherton wegen der unschlüssigen Haltung Londons eine Antwort schuldig blieb, machte Spaak unmißverständlich klar, daß künftig nur diejenigen Delegationsleiter an den Diskussionen teilnehmen sollten, die bereit waren, den Zollunionsvorschlag zu akzeptieren.

Nach dem Rückzug stand die britische Regierung vor der Alternative, im Falle des Zustandekommens eines Sechser-Marktes außen-wirtschaftlich von den Westeuropäern isoliert zu werden oder sich unter handelspolitischen Opfern mit ihnen zu arrangieren. Die einschneidenden wirtschaftlichen Veränderungen, welche sich für die Beziehungen der westeuropäischen Staaten untereinander in den Brüsseler Verhandlungen abzeichneten, zwangen die Briten schließlich, ihr präferenzielles Handelssystem mit dem Commonwealth zugunsten einer engeren Bindung an den Kontinent aufzulockern.

VI. Die Rolle Großbritanniens

Im Juli 1956 wurde daraufhin von britischer Seite über die OEEC der Vorschlag einer Europäischen Freihandelszone in die Diskussion gebracht In London glaubte die Regierung fälschlicherweise, eine industrielle Freihandelszone ohne Berücksichtigung der Agrargüter werde politisch und wirtschaftlich gerade für Frankreich interessant sein, das sich nur schwer mit dem antiprotektionistischen Gedankengut des Spaak-Berichts vertraut machen konnte.

Auf französischer Seite brachte man dem britischen Opportunismus allerdings wenig Verständnis entgegen. Zu Recht wurde den Briten vorgeworfen, sie hätten den Freihandelszonen-Plan nur aufgrund der Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt vorgelegt. Abgesehen davon waren die wirtschafts-und währungspolitischen Probleme der IV. Republik nicht mit dem Instrument der Freihandelszone zu lösen. Die Beteiligung der OEEC-Länder ließ stärkere Disparitäten erwarten als diejenigen, die der Vertrag von Rom zu bereinigen versuchte. Darüber hinaus schieden sich die Interessen an der Einbeziehung der Landwirtschaft Großbritannien wollte ausgerechnet jenen Bereich aus der Freihandelszone ausklammern, an dem Frankreich besonders gelegen war. Paris hätte außerdem durch die automatische Eröffnung einer freien Handelszone gerade solche Garantien für den Übergang verloren, die es in den Brüsseler Verhandlungen den Partnern mühsam abgerungen hatte. Dessenungeachtet versprach der britische Plan nicht, Frankreich von seinen finanziellen Bürden der Kolonialpolitik zu entlasten.

Daß der Freihandelszonen-Plan zu keiner Zeit eine wirkliche Alternative zum Konzept der Gesamtintegration darstellte, hatte die britische Regierung aber nicht zuletzt ihrer Unentschlossenheit zuzuschreiben. Sie unterstützte erst dann die Freihandelszone ohne Vorbehalt, als das Suez-Abenteuer gescheitert war und Frankreich die Kehrtwende in Brüssel vollzogen hatte. Sollte der Freihandelszonen-Plan von britischer Seite jemals als ein echter Ersatz für den Gemeinsamen Markt gedacht gewesen sin mit dem Ziel, die europäischen Partner, und im besonderen Frankreich, dafür zu gewinnen, so war das Projekt schon deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es die Interessen der Sechs an einer Zollunion als Grundlage für die weitere politische Integration vollkommen mißachtete.

VII. Die Verträge von Rom — ein historischer Zufall?

Die Gründung der Wirtschafts-und Euratom-Gemeinschaft geht nicht — wie gemeinhin dargestellt wird — auf die sogenannten relance europ 6enne zurück. In Wirklichkeit fand eine Wiederbelebung des Europagedankens nie statt, war es doch nach dem Scheitern der EVG erst gar nicht zum Stillstand der Integrationsbemühungen gekommen. Die Verträge von Rom entstanden vielmehr in einer einmalig günstigen historischen Konstellation, die weder vorherzusehen noch bewußt herbeigeführt worden war. Dabei erwiesen sich die außen-und innenpolitischen Rahmenbedingungen, die Akteure sowie die Methode der Integrationsverhandlungen als die entscheidenden Faktoren. 1. Außen-und innenpolitische Rahmenbedingungen Ohne die Regelung der sicherheitspolitischmilitärischen Beziehungen zwischen den Staaten Westeuropas und den USA (Pariser Verträge) wären die Beschlüsse von Messina nicht zustande gekommen, hätte es auch keine Möglichkeit gegeben, die wirtschaftliche Einigung politisch durchzusetzen.

Die Beratungen über die wirtschaftliche Integration wurden durch den frühzeitigen Rückzug der britischen Delegation vom Brüsseler Verhandlungstisch wesentlich erleichtert Der von britischer Seite lancierte Vorschlag einer industriellen Freihandelszone stellte, gleichgültig, ob zeitweise als Korrelat oder aber als Substitut zum Gemeinsamen Markt gedacht, keine Alternative für die Sechs dar. Der Regierungswechsel in Frankreich zu Beginn des Jahres 1956 brachte eine kleine Gruppe europäisch gesinnter Beamter in Schlüsselpositionen des Regierungsapparates, von wo aus sie allmählich die Kursänderung in der französischen Europapolitik zugunsten der europäischen Zusammenarbeit betrieben. Sie setzten die Annahme des Spaak-Berichts durch und bewogen das Kabinett zur Aufnahme von Vertragsverhandlungen.

Die Entscheidung über die Gründung des Gemeinsamen Marktes hing maßgeblich vom

Votum der französischen Nationalversammlung ab. Nicht die Ratifizierungsdebatte, sondern die beiden positiven Abstimmungen während der Verhandlungen waren die entscheidenden parlamentarischen Auseinandersetzungen über die Annahme des EWG-und Euratom-Vertrages. Für die grundsätzliche Entscheidung der französischen Regierung, dem Gemeinsamen Markt beizutreten, gab der Verlauf der Suez-Krise den Ausschlag. Die Niederlage im Nahen Osten und die daraus erwachsenden Konsequenzen für den internationalen Einfluß Frankreichs rückten die bis dahin gehegten Bedenken gegen eine Beteiligung am Gemeinsamen Markt in den Hintergrund. Trotzdem zeigte die französische Diplomatie nunmehr großes Geschick, ihre außenpolitische und wirtschaftliche Schwäche in verhandlungstaktische Stärke umzusetzen, indem sie sich vom Parlament und den Interessenverbänden bei zentralen Verhandlungsthemen die Hände binden ließ und dafür in Brüssel einige Zugeständnisse einhandelte. Die Bereinigung des Saarkonfliktes mit dem Abschluß des Saarvertrages verbesserte die deutsch-französischen Beziehungen und wirkte sich gerade bei der Überwindung der Verhandlungskrise günstig aus. Die sowjetische Intervention in Ungarn machte den Westeuropäern einmal mehr die Bedrohung durch den Ostblock bewußt und erhöhte ihr Solidaritätsgefühl. Die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses Westeuropas als zusätzliches Gewicht im Ost-West-Konflikt wurde um so deutlicher. Die vorbehaltlose Unterstützung durch die westliche Hegemonialmacht USA erleichterte die Verhandlungen über den Gemeinsamen Markt. Washington war an einem engen Zusammenschluß der westeuropäischen Staaten interessiert, weil es sich davon eine allgemeine Stärkung des Westens versprach. Die durch die Gründung der EWG entstehenden handelspolitischen und wirtschaftlichen Nachteile für die USA nahm die amerikanische Regierung in Kauf. Im Vertrauen auf die Wirtschaftskraft des Landes war man sicher daß die heimische Wirtschaft mit dem Wirt-schaftspotential der Europäischen Gemeinschaft würde konkurrieren können. 2. Die Akteure Für das Zustandekommen des Vertrages zeigte sich ein kleiner Kreis von Akteuren verantwortlich. Ohne die Führungspersönlichkeit des belgischen Außenministers wäre der Vertrag nicht unterzeichnet worden. Sein Verhandlungsgeschick, seine politische Dynamik und sein Wille, mit dem notwendigen Druck auf einzelne Delegationen Kompromisse zu erzielen, war ebenso ein wichtiger Faktor wie die enge Zusammenarbeit einer kleinen, aber einflußreichen Gruppe von Beamten, die sich gegen divergierende Kräfte in den eigenen Reihen und am Konferenztisch zur Wehr setzten. Diese Beamten, zielorientiert und von der Integrationsidee voll überzeugt, formulierten die Konzeption des Vertrages und handelten ihn aus. Politisch durchgesetzt wurde der Vertrag von den Außenministern und Regierungschefs. Die Weiterentwicklung der europäischen Integration von der Teilintegration zur Gesamtintegration war demzufolge ein Vorgang, der von einzelnen Persönlichkeiten und kleinen nationalen Führungsgruppen, zusammengesetzt aus Technokraten und Politikern, gesteuert wurde. 3. Die Methodik

Eine Entscheidung über die zu ergreifende Integrationsmethode blieb zunächst offen. Die unterschiedlichen Ansätze zur Sektorintegration und zur gesamtwirtschaftlichen Integration wurden auf der Grundlage des Benelux-Memorandums so in der Messina-Resolution verwoben, daß sowohl der von deutscher Seite weiterentwickelte Ansatz der gesamtwirtschaftlichen Integration für die Organisation der Wirtschaftsgemeinschaft als auch der Teilintegrationsansatz für die Organisation der Atomgemeinschaft zum Tragen kamen.

Damit bestand praktisch von Beginn der Verhandlungen an ein unausgesprochenes Junktim zwischen beiden Projekten. Während Frankreich der Wirtschaftsgemeinschaft nicht ohne Schaffung von Euratom zugestimmt hätte, galt dies für die Bundesrepublik und die übrigen Verhandlungspartner vice versa. Eine Entkoppelung oder ein vorzeitiger Abschluß einer der beiden Verträge hätte zwangsläufig beide Projekte zu Fall gebracht.

Die materiellen und institutioneilen Bestimmungen des EWG-Vertrages waren ein Spiegelbild dessen, was in den Verhandlungen den nationalen Regierungen an Kompetenzen genommen und mit Zustimmung der Parlamente unmittelbar oder sukzessiv auf die Organe der Gemeinschaft übertragen werden konnte. Daß es trotz des 1954 gescheiterten supranationalen Integrationsansatzes zu der Vereinbarung kam, einem übernationalen Organ eigenständige Befugnisse zu übertragen, ist zurückzuführen auf die Orientierung an den funktionellen Erfordernissen und auf den Willen supranational eingestellter Beamter, die föderativen Elemente zu stärken. Entscheidende Antriebskräfte für die graduelle Fortentwicklung von der Teilintegration der Montanunion zur gesamtwirtschaftlichen Integration der EWG waren schließlich eine Reihe günstiger außenpolitischer Voraussetzungen und Begleitumstände, die wirtschaftliche Schwäche der westeuropäischen Staaten, ihr Interesse, die Produktivität ihrer nationalen Volkswirtschaften und allgemein die Prosperität zu erhöhen, sowie der Wille der politischen Führungsgruppe in jedem Mitgliedsland, die europäische Einigungsidee weiterhin zu verwirklichen. Maßgebend für die Gründung der EWG war jedoch nicht zuletzt die Einsicht bei allen Mitgliedstaaten, daß die Weiterentwicklung des Integrationsprozesses und ihre Zusammenarbeit in einer übernationalen Organisation eine wesentliche Grundvoraussetzung für ihre wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Entwicklung ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl.den Text, der am 29. März 1982 in Brüssel gehaltenen Ansprache, in: Europa-Archiv, 37. Jg„ 1982, S. D 223 ff.

  2. Vgl. dazu: Probleme der europäischen Einigung, in: Europa-Archiv, 37. Jg„ 1982, S. D 39ff. Das Pro-gramm der EG-Kommission für 1982, in: a. a. O., • 9177 ff. Probleme der europäischen Einigung (III) und (IV), in: a. a. O., S. D 394 ff., sowie: Probleme der europäischen Einigung (II), in: Europa-Archiv, 38-Jg. 1983, S. D 54 ff.

  3. Vgl. Wolfgang Harbrecht, Die Europäische Gemeinschaft, Stuttgart, New York 1978, S. 26: F. Roy Willis, France, Germany, and the New Europe 1945— 1963, Stanford (Cal.) 1965, S. 242 und Ernst von der Beugel, From Marshall-Aid to Atlantic Partnership. European Integration as a Concern of American Policy, Amsterdam-London-New York 1966, S. 311.

  4. Vgl. Karl Kaiser, EWG und Freihandelszone. England und der Kontinent in der europäischen Integration, Leiden 1963, S. 2.

  5. Vgl. Hans R. Krämer, Die Europäische Gemeinschaft, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1974, S. 12.

  6. Vgl. Walter Lipgens, Europäische Integration, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz, (Hrsg.), Die Zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland — Eine Bilanz, Stuttgart-Degerloch 1974, S. 536.

  7. ZVgl. Herbert Tint, French Foreign Policy since ne Second World War, London 1972, S. 106 ff.; Wal-Er Lipgens, Die latente Staatskrise der Vierten rranzösischen Republik, in: Wilhelm Cornides, Ersg.) Die Internationale Politik 1956/57, Mün-Shen 1961, S. 263 ff.

  8. Vgl. Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers, München-Wien 1978, S. 506 ff.

  9. Vgl. Peter Weilemann, Die Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. Zur Gründungsgeschichte von Euratom 1955— 1957, Baden-Baden 1983, S. 17 ff.

  10. Vgl. zu den Diskussionen in der niederländischen Regierung, Adrian F. Manning, Die Niederlande und Europa von 1945 bis zum Beginn der fünfziger Jahre, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 29. Jg„ 1981, S. 17 f.

  11. Vgl. J. (an) W. (illem) Beyen, Het Spei en de Knikkers, Rotterdam 1968, S. 234 ff., und: Snoy et d'Oppuers, Jean Charles, Un temoin raconte: Du plan Schuman aux traits de Rome, in: 30 jours d'Europe, No. 285, 1982, S. 22 ff.

  12. Vgl. zu den Kontroversen zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundeswirtschaftsministerium die Studie des Verfassers, Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Baden-Baden 1982, S. 79 ff. und S. 112 ff.

  13. Vgl. F. Roy Willis, Italy Chooses Europe, New York 1971, S. 53ff.

  14. Das Dokument ging in wesentlichen Teilen auf ein Memorandum der Benelux-Staaten vom 20. Mai 1955 und ein Memorandum der Bundesregierung zurück, das auf der Konferenz vorgelegt wurde. Vgl. dazu die Textsynopse, in: Howard Bliss, The Political Development of the European Community. A Documentary Collection, Waltham (MassJ-Toronto-London 1970, S. 34 ff.

  15. Vgl. paui Henri Spaak, Erinnerungen eines Europäers, Hamburg 1969, S. 297 ff.

  16. Vgl. Regierungsausschuß, eingesetzt von der Konferenz von Messina, Bericht der Delegationseiteran Außenminister, Brüssel, 21. April 1956, die MAE 120 d/56 (korr.), hrsg. vom Sekretariat, Deut-s«he Ausgabe, 142 S.

  17. Vgl.den Text des Schreibens, in: Konrad Ade nauer, Erinnerungen 1955— 1959, Stuttgart Iw -S. 253 ff.

  18. Vgl. zu den politischen Veränderungen: Pier Guillen, Frankreich und der europäische Wiede aufschwung. Vom Scheitern der EVG zur Ratitiz 4 rung der Verträge von Rom, in: Vierteljahrshet für Zeitgeschichte, 28. Jg., 1980, S. 1 ff.

  19. Vgl. Andre Siegfried/Edouard Bonnefous/Jean-Saptiste D Paris 1957, usr. o 7s 0eif. le (Hrsg.), LArmee Politique 1956,

  20. Für die Bundesregierung handelte der damalige Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt, Karl Carstens, und für die französische Regierung Robert Marjolin die Kompromißformeln aus. Vgl. Karl Carstens, Das Eingreifen Adenauers in die Europa-Verhandlungen im November 1956, in: Dieter Blummenwitz/Klaus Gotto/Hans Maier/Konrad Repgen/Hans-Peter Schwarz, (Hrsg.), Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Beiträge von Weg-und Zeitgenossen, Stuttgart 1976, S. 591 ff.

  21. Vgl. zum Verlauf der Debatte: Gerhard Kiersch Parlament und Parlamentarier in der Außenpolitik der IV. Republik, Wirtschafts-und Sozialwissenschaftliche Dissertation, Bd. 1, S. 290 ff.; Gabriele Latte, Die französische Europapolitik im Spieget der Parlamentsdebatten, Berlin 1979, S. 10611 Pierre Guillen, a. a. O. (Anm. 18), S. 9.

  22. Vgl. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Ntahl, Studien-und Dokumentenabteilung (Hrsg.), Monatliche Mitteilungen. Die Parlamentsdebatten zur Ratifikation der Verträge von Rom. 1. Teil, Son-dernummer Dezember 1957, 2. Teil, Sondernummer Januar 1958.

  23. Vgl. zum Zustandekommen der inhaltlichen Bevmmungen des EWG-Vertrages die Studie des Verfassers, a. a. O. (Anm. 12), S. 335 ff.

  24. Vgl. zu den Problemen britischer Europapolitik >n den fünfziger Jahren, Donald C. Watt, Großbri-tannien und Europa 1951— 1959. Die Jahre konser-vativer Regierung, in: Vierteljahrshefte für Zeitge-sshichte, 28. Jg., 1980, S. 389 ff.

  25. Harold Macmillan, Riding the Storm s 56 3. 69, — 1959, London-Melbourne-Toronto 1971,

  26. Vgl. zur Entstehung der Freihandelszonen-Verhandlungen, Miriam Camps, Britain and the European Community 1955— 1963, Princeton (N. J.) -London 1964, S. 93 ff.; Hans-Joachim Heiser, British Policy with Regards to the Unification Efforts on the European Continent, Leyden 1959, S. 102 ff.; Karl Kaiser, a. a. O. (Anm. 4), S. 96 ff.; sowie die Studie des Verfassers, a. a. O. (Anm. 12), S. 205 ff.

Weitere Inhalte

Hanns Jürgen Küsters, Dr. rer. pol., geb. 1952; Studium der Politischen Wissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Erziehungswissenschaft in Bonn, Hamburg und Köln; 1979— 1982 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln im Rahmen des Forschungsprojekts „Die Entwicklungsgeschichte der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958 bis 1966"; seitdem Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Bad Honnef-Rhöndorf. Veröffentlichungen: Die außenpolitische Zusammenarbeit der Neun und die KSZE, in: Haftendorn, Helga/Karl, Wolf-Dieter/Krause, Joachim/Wilker, Lothar (Hrsg.), Verwaltete Außenpolitik. Sicherheits-und entspannungspolitische Entscheidungsprozesse in Bonn, Köln 1978; Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Baden-Baden 1982.