Zur Beurteilung von Planungsreformen in der Sowjetunion
Mria Huber
/ 26 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Für die Sowjetunion-Forschung gehört die Beurteilung von Planungsreformen seit nahezu zwanzig Jahren zu den zentralen Fragestellungen. Möglichkeiten und Grenzen einer Reformpolitik werden im Zusammenhang mit den organisatorischen und methodischen Veränderungen im Planungssystem dargestellt und die Ergebnisse der Analyse zur Deutung des sowjetischen Herrschaftssystems herangezogen. Es liegt an dem Interpretationsschema der Autoren, daß sie in der Planung und Leitung der sowjetischen Volkswirtschaft nur „begrenzte" bzw. „halbherzige" Reformen diagnostizieren können. Ihr Reformbegriff berücksichtigt weder die Reformdiskussion und Reform-erfahrungen liberal-demokratischer Systeme, noch die spezifischen Ziele und Bedingungen sozialistischer Systeme. An ihrem Maßstab gemessen zeigt die politische Realität der UdSSR ein Reformdefizit, das mit dem Bürokratiemodell erklärt wird. Demgegenüber zeigen konkrete Untersuchungen, daß in Bereichen materieller Politik, wie z. B.der Lohnpolitik, die durchgeführten Reformen auf weiten Strecken erfolgreich waren. Was das Planungssystem als Ganzes betrifft, so sind für die Umverteilung von Macht und Einkommen vor allem folgende institutioneile Veränderungen von Bedeutung: 1. Die Zulassung einer beschränkten Betriebsautonomie in ökonomischer und finanzieller Hinsicht. 2. Nachdem das System der Wirtschaftsleitung in der Planung eine neue Grundlage erhalten hat, folgte die sukzessive Erweiterung des Planungskonzepts. Von der betrieblichen Ebene ausgehend gewinnen im Planungssystem soziale Entscheidungskriterien auch auf regionaler sektoraler Ebene an Bedeutung. Mit der Reform von 1979 soll die Planung der sozialen und ökonomischen Entwicklung auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eingeführt werden. 3. Langfristig bewirken die Planungsreformen wichtige Umstrukturierungen im politischen System. Das Betriebskollektiv, das als Träger von Interessen nun zur zentralen Einheit des Planungssystems wird, wurde in der Verfassung der UdSSR 1977 entsprechend eingeordnet. Die Kommunen und Regionen, denen bislang nur unbedeutende soziale und politische Funktionen zugewiesen wurden, stehen vor einer ähnlichen Aufwertung ihrer Position.
I. Einleitung
Die Sozialismusforschung in der Bundesrepublik und insbesondere auch die Sowjetunion-Forschung laboriert seit längerem an der Frage, ob und in welchem Maße das sowjetische Planungs-und Entscheidungssystem in seinen Strukturen und Abläufen reformiert wurde. An der „Reformbedürftigkeit" des Systems ließen die hinlänglich bekannten Mängel der Produktion und Versorgung keinen Zweifel. Die 1965 eingeleitete Reform der Wirtschaftsplanung lieferte zudem einen internen Beweis für die Notwendigkeit und zugleich für die „Halbherzigkeit" von Änderungen im Steuerungsmechanismus.
Doch die bekanntgewordenen Veränderungen im Planungssystem der UdSSR können das rege Interesse westlicher Sozialwissenschaftler an dieser Problemstellung nur zum Teil erklären. Denn Produktionsoutput und -effektivität sind für sich genommen nur ein Hinweis auf den wirtschaftlichen Entwicklungsstand eines Landes, nicht aber auf die Reformbedürftigkeit seiner Wirtschaftsverfassung. Eine solche Konsequenz wird erfahrungsgemäß erst in Betracht gezogen, wenn wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Leistungsbilanz abrupt sinken, wie dies in der Bundesrepublik zum ersten Mal in ihrer Geschichte im Jahr 1967 der Fall war. Damals wurde das Konzept der „Globalsteuerung" entwickelt, dessen Realisierung im institutioneilen Gefüge der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ordnung einschneidende Änderungen nach sich zog. Reformen und Planung standen seit Beginn der siebziger Jahre also auch in der Bundesrepublik zur Debatte. Die öffentliche und wissenschaftliche Diskussion der Reformansätze (was soll, warum und in wessen Interessen geändert werden) schloß auch die Frage ein, wie andere gesellschaftliche Systeme die bewußte Änderung politischer Prioritäten und Institutionen planen und durchsetzen.
Doch während das Erkenntnisinteresse an der sowjetischen Planungsreform durch die aufkommende „politische Planung" in der Bundesrepublik eine besondere Aktualität erhalten hat, gingen die Reflexionen der Sowjetunion-Forschung am Stand und Niveau der bundesdeutschen Reformforschung vorbei: Um Bedingungen und Kriterien von Reformen zu bestimmen, haben sie die etablierten Makrotheorien der Sozialismusforschung bemüht, mit dem fertigen Begriffsapparat allerdings auch einen großen Teil der — noch aus der Zeit des Kalten Krieges — bekannten Aussagen reproduziert.
In diesem Beitrag sollen zunächst einige theoretische Defizite in der Definition und Interpretation sowjetischer Planungsreformen gezeigt werden. Anschließend wird eine eigene Einschätzung der sowjetischen Reform-politik dargelegt, die auf einer mehrjährigen Untersuchung von Veränderungen der Planungsinstrumente der mittleren Steuerungsebene des sowjetischen politischen Systems beruht.
II. „Reform-Modelle"
Abbildung 11
Volumen der materiellen Anreizfonds in sowjetischen Industriebetrieben zwischen 1971 und 1980, Mill. R. Quelle: Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1975 g., Moskva 1976; Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1980 g., Moskva 1981.
Volumen der materiellen Anreizfonds in sowjetischen Industriebetrieben zwischen 1971 und 1980, Mill. R. Quelle: Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1975 g., Moskva 1976; Narodnoe chozjajstvo SSSR v 1980 g., Moskva 1981.
Im letzten Jahrzehnt haben die Analytiker der sowjetischen Wirtschaftsreform, die eine Reform des Planungssystems war, ein Raster entwickelt, um die vielfältigen Änderungen, die im Steuerungsmechanismus schubweise veranlaßt worden sind, politisch einordnen zu können. Sie unterscheiden dabei zwischen einer „radikalen Wirtschaftsreform", die die Grundzüge des Systems ändert, und „konservativen Reformmaßnahmen", die getroffen werden, um die Effektivität und Qualität der Planung und demzufolge der Produktion zu verbessern 1). So plausibel diese Systematisierung auf den ersten Blick erscheint, so wenig hält sie wissenschaftlichen Ansprüchen stand — und wird daher auch, wie wir noch sehen werden, in konkreten wissenschaftlichen Analysen, etwa der lohnpolitischen Reformen, fallengelassen. Doch bevor noch die Unangemessenheit der „Reform-Modelle" aufgrund komplexer Untersuchungen von Planungsproblemen theoretische erkennbar wird, ist zunächst ihre Basis zu durchleuchten.
Nach dem Einzug der Systemanalyse in die Sozialwissenschaften ist es common sense geworden, daß jedes System primär darauf gerichtet ist, seinen Bestand zu sichern. Andererseits erfordert gerade die Bestandssicherung gewisse Anpassungen an innere und äußere Veränderungen, denen ein System mehr oder weniger ständig ausgesetzt ist. Für die Beibehaltung der charakteristischen System-eigenschaften, — also der Merkmale, die ein System von einem anderen unterscheiden —, sind funktionale und strukturelle Verbesserungen erforderlich. So kann z. B. die relative Energieknappheit wirtschaftliche und politische Anpassungsprozesse induzieren, ohne einen grundsätzlichen Wandel der Systemziele und Systemstrukturen zu bewirken.
Das systemtheoretisch beeinflußte Denken versteht Systemerhaltung einerseits und technische Verbesserungen andererseits als Funktionen, die außerhalb einer politischen Gestaltungsplanung liegen. Als Reformen bezeichnet man dagegen solche institutionelle Veränderungen, welche diesseits von Revolutionen und jenseits von bloßen Verbesserungen der ökonomischen Rationalität liegen. Eine Reform — so konstatiert Christian von Krockow — ändert die Legitimationsgrundlage der bestehenden Herrschaftsordnung nicht, auch wenn der Strukturwandel bestehender Institutionen eine Umverteilung von Macht sehr wohl einschließt und damit politische Konflikte auslöst
Ohne Berücksichtigung eigener historischer Erfahrungen mit Reformen sowie der Theorien über sozialen Wandel sprechen westliche Ökonomen und Politikwissenschaftler, wenn sie die Entwicklung in Osteuropa analysieren, von „weitreichenden Reformen" wie von einer rationalen Strategie, mit der jede Institution und jedes System auf Systemmängel bzw. auf eine Krisensituation reagiert. „Natürlich" ist jedoch vielmehr das Beharren einer sozialen Institution, nicht die gelungene Veränderung, wie z. B. die Bemühungen um eine Hochschulreform in der Bundesrepublik Deutschland gezeigt haben
Die Bereitschaft von Führungsgruppen, Macht zu delegieren oder gar einen strukturellen Wandel einzuleiten, wird in der Sozialismusforschung von einem maßgeblichen Teil Vertreter ihrer für selbstverständlich gehalten. Unter „weitreichenden Reformen" verstehen sie im wesentlichen eine konsequente Dezentralisierung mit dem doppelten Ziel der umfassenden Nutzung von Marktbeziehungen einerseits und der Demokratisierung politischer Entscheidungsprozesse andererseits. Ein solches Modell der „sozialistischen Marktwirtschaft" beinhaltet stillschweigend einen weitgehenden Wandel der gegenwärtigen Legitimationsgrundlagen des sowjetischen Regierungssystems, zu denen die Planung und Kontrolle sozioökonomischer Entwicklungsprozesse gehören. In bezug auf eine derartige Reformvorstellung erscheinen die vollzogenen Modifikationen im Planungssystem enttäuschend. Sie sind ja schließlich nichts anderes als eine — eher selbstverständliche — Anpassung des Leitungs-und Vermittlungsmechanismus an die sich ständig ändernden Planungsbedingungen. In der einschlägigen Literatur werden solche „Verbesserungen der Funktionsrationalität" als „konservative Reformen" interpretiert
Diesem Interpretationsmuster liegt die Annahme zugrunde, daß ein sowjetsozialistisches System nicht in der Lage sei, Lernprozesse durchzumachen und normativ begründete Organisationsprinzipien flexibel zu handhaben Die sowjetische Planung wird daher als ein weitgehend starres Planungsund Entscheidungssystem verstanden. Diese These ist jedoch keine empirisch-analytische Aussage, sondern eine idealtypische Festlegung. Das Sowjetsystem wird dabei als „Anti-typ eines idealtypisch verstandenen liberalen Verfassungsstaates" gekennzeichnet: monolithisch, starr, ineffektiv — dessen größte Leistung „die Sicherung stabiler politischer Herrschaft" sei, die sich freilich international als nicht wettbewerbsfähig erweise
Dort, wo die Forschung angetreten war, die Frage zu untersuchen, wie ein „totalitäres Herrschaftssystem" seine verknöcherten Strukturen den Erfordernissen einer modernen Industriegesellschaft anpaßt, fand sie bestenfalls „begrenzte Reformen", meist jedoch nur ein „Durchwursteln": Dieses Konzept, das als Interpretationschema der theoretischen Einordnung und politischen Wertung der registrierten Veränderungen dient, führte zu der Schlußfolgerung von „Grenzen der Reformfähigkeit" sozialistischer Systeme. Zeichen einer Systemtransformation sind im Rahmen einer solchen idealtypischen Sicht nicht zu erkennen.
Severyn Bialer resümiert daher: Die Reform der kleinen Schritte und wohlgemeinte Teil-reformen transformieren das traditionelle ökonomische System nicht, sondern werden von diesem aufgefangen und abgeändert
Die Anpassungsleistungen des Systems haben nicht die Reichweite von strukturellen Änderungen, es sei denn, man schreibt ihnen spekulativ eine Eigendynamik zu, die im Sinne projektierter Reformelemente eine eingeschränkt positive Einschätzung erlauben INHALT I. Einleitung II. „Reform-Modelle“
III. Theoretischer Hintergrund IV. Systemziele und Reformansätze V. Neues Planungskonzept nach der Wirtschaftsreform
1. Das Betriebskollektiv als Planungseinheit
2. Änderungen in der Verteilungsstruktur
3. Erhöhung der Steuerungskapazität 4. Ausweitung der Partizipation VI. Impulse für institutioneile Reformen wodurch — trotz abqualifizierender System-kritik — der Anschein entsteht, theoretisch und methodisch sei offen und objektiv vorgegangen worden.
III. Theoretischer Hintergrund
Abbildung 12
Einkommensrelationen der sozialen Gruppen in fünf Industriebetrieben der Saratover Region im Jahre 1977 Quelle: I. E. Baenov, Materialnaja stimulirovanija rosta proizvoditel'nosti truda v promySlennosti SSSR, Saratov 1978, S. 131.
Einkommensrelationen der sozialen Gruppen in fünf Industriebetrieben der Saratover Region im Jahre 1977 Quelle: I. E. Baenov, Materialnaja stimulirovanija rosta proizvoditel'nosti truda v promySlennosti SSSR, Saratov 1978, S. 131.
Dieses Ergebnis — das konzeptionell durch das gewählte Interpretationsraster weitgehend vorprogrammiert ist — fordert nichtsdestoweniger Erklärungsversuche heraus. Für die „Halbherzigkeit" der durchgeführten Reformen muß es einen Grund geben. Dieser scheint offensichtlich: Es liegt am Widerstand der Staats-und Parteibürokratie, daß eine weitreichende Transformation des mit administrativen Methoden regulierten -schaftssystems nicht vonstatten geht — sagt Gertrude Schroeder, eine der führenden Sowjetunion-Experten der USÄ Ihrem Plädoyer für eine sozialistische Marktwirtschaft gibt sie eine scheinbare Plausibilität, indem sie auf ein historisches Beispiel verweist: auf die Ablösung des Kriegskommunismus im nachrevolutionären Rußland durch die Wiederbelebung privatwirtschaftlicher Verhältnisse im Rahmen der „Neuen ökonomischen Politik“ (1921— 1928)
Der schwedische Wissenschaftler Dellen-brandt führt das Problem der regionalen Entwicklung des kontinentgroßen Landes eben-falls auf das Verhalten der Bürokratie zurück, das für das Fortbestehen großer regionaler Differenzen in Produktion und Verteilung primär verantwortlich sei
Eine lange Reihe weiterer Beispiele ließe sich die das Reformdefizit plausibel zu anführen, begründen scheinen, ist doch die Trägheit der Verwaltung und ihr Interesse an den erworbenen Machtpositionen offensichtlich. Den-noch hat das Bürokratiemodell als allgemeines Interpretationsschema für Funktionen und Dysfunktionen des gesamten Planungsund Entscheidungssystems entscheidende Mängel. Mit der Akzentuierung des bürokratischen Konservativismus ist der Blick für die genauere Erfassung ökonomischen und sozialen Wandels von vornherein verstellt weil dadurch wichtige Besonderheiten der ökonomischen, sozialen und politischen Struktur vernachlässigt werden
Dieser Einwand ist keineswegs neu. Jerry Hough hat schon Ende der sechziger Jahre die Unfähigkeit und Unwilligkeit der westlichen Sozialwissenschaft kritisiert, die Rolle von sozialen Kräften und sozialen Prozessen in der sowjetischen Politik adäquat zu erfassen Von seiner Attacke hat sich die Sowjetunion-Forschung bislang jedoch wenig beeindrucken lassen. Im Zentrum ihrer Theorien steht seit zwanzig Jahren ein Bürokratie-modell, das Alfred Meyer in seiner anfechtbaren Studie „U. S. S. R. Inc." entwickelt hat: Die Sowjetunion erscheint als Großkonzern. Durch Übertragung von Mustern und Ergebnissen der zeitgenössischen amerikanischen Organisationsforschung hat Alfred Meyer die Organisations-und Gestaltungsprinzipien der gesamten Gesellschaft der UdSSR, einschließlich des öffentlichen Lebens und des politisehen Systems, bestimmt. Seine „Ergebnisse" werden folgendermaßen zusammengefaßt und reproduziert: Die UdSSR teilt mit modernen Bürokratien viele Organisationsprinzipien und Managementmuster, „die rationale, zielbewußte und geplante % Gestaltung menschlicher Angelegenheiten" ebenso wie die „hierarchisch-monokratische Kommandostruktur", in der die Spitze praktisch diktatorische Machtbefugnisse innehat; eine Kontrolle von unten oder von außen kann es in der korporativen Struktur der UdSSR, die A G. Meyer mit einer westlichen Aktiengesellschaft verglichen hatte, nicht geben
Hier teilt der Bürokratieansatz eine Grund-einsicht der Totalitarismustheorien, die ihm vorangingen, die Annahme nämlich, das politische System sei in seinem Handeln geradezu autonom und könne für seine Zwecke die Beherrschten — mit welchen Mitteln auch immer — ausreichend mobilisieren. Auf diesem theoretischen Hintergrund braucht die Frage nach der „Machbarkeit" von Reformen nicht gestellt werden. Die Vertreter dieses Konzepts gehen stillschweigend von der Machbarkeit aus, das heißt, die nahezu allmächtige bürokratische Führung müßte nur bereit sein, eine Dezentralisierung einzuleiten und wesentliche Funktionsprobleme der Wirtschaft wären damit so gut wie gelöst.
IV. Systemziele und Reformansätze
Dabei wird übersehen, daß eine marktwirtschaftliche Reform die soziale Stellung vieler Bevölkerungs-und Berufsgruppen der sowjetischen Gesellschaft verändern würde. Solche Reformen stießen nach dem Urteil von Hans-Hermann Höhmann bei den Betroffenen auf „wenig Gegenliebe“. Denn weitreichende Reformen würden der Arbeiterschaft nicht nur mehr Lohn und mehr Mitbestimmung verheißen, sondern ihr zunächst ein höheres Maß an Mobilität und an Lohndifferenzierung zumuten
Daraus folgt, daß Möglichkeit und Erfolg von Reformen von langfristigen Änderungen der Denk-und Verhaltensweise auch der Beherrschten und nicht nur der Herrschenden abhängen. Von Krockow hat nachdrücklich den Zeitaspekt von Reformen betont, vor allem bei ihrer Abgrenzung von Revolutionen. Als großes historisches Beispiel dienen ihm die englischen Wahlrechtsreformen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Änderungen, die sie in den politischen Institutionen bewirkten, waren trotz erbitterter Auseinandersetzungen eher pragmatisch als prinzipiell entschieden worden. Die Verlagerung der Gewichte dauerte auf dem Kompromißweg fast hundert Jahre und führte insgesamt erst zu einem radikalen Legitimationswandel. Die ersten Teilreformen waren aber weit davon entfernt, mit dem überkommenen radikal zu brechen
Dagegen soll die Ablösung des zentral-administrativen Planungssystems durch dezentra-lisierte und demokratisierte Entscheidungsformen in der Sowjetunion nach Ansicht mancher westlicher Wissenschaftler in kurzer Zeit und gleichzeitig in allen Bereichen, die funktional Zusammenhängen, vorangetrieben werden
Sowjetische Wissenschaftler sind anderer Meinung. Sie empfehlen z. B. bei der Verlagerung von Entscheidungskompetenzen von administrativen auf legislative Organe und von höheren auf untere Ebenen wirtschafts-und gesellschaftspolitischer Steuerung schrittweise vorzugehen und die einzelnen Schritte sorgfältig vorzubereiten. Dabei berufen sie sich auf den Übereifer, mit dem Chruschtschow die Reform der sowjetischen Gesellschaft betrieben habe, wodurch ungewollte Rückschläge eingetreten seien, die nun ein behutsames Vorgehen erforderlich machten Diese Argumentation wird im westlichen Schrifttum beinahe völlig übergangen. Am Geschehen unbeteiligt, entfalten manche westlichen Theoretiker eine „revolutionäre Ungeduld", die durch die tatsächliche Entwicklung freilich enttäuscht wird.
Dies ist ein unvermeidliches Ergebnis, weil das Bürokratiemodell — das in vielen Varianten verwendet wird — die Frage nach den Leitwerten des Systems ausklammert, auf die Analyse der spezifischen Merkmale sowjet-kommunistischer Politik also verzichtet So kann es geschehen, daß westliche Experten für ein Reformmodell plädieren, das erklärten Grundzielen der sowjetischen Planwirtschaft widerspricht: Das schon erwähnte regionale Entwicklungsproblem ist dafür ein geeignetes Beispiel. Denn eine marktwirtschaftliche Reform würde das Wohlstandsgefälle zwischen armen und reichen Regionen der UdSSR verstärken. Durch den Verzicht auf eine zentrale Planung würden mehr Ressourcen in die schon entwickelten Industriegebiete fließen, weil dies eine höhere Rentabilität verspricht. Die Entwicklung der Peripherie und die Industrialisierung Sibiriens würden sich verzögen
Regionale Polarisierung als immanente Entwicklungstendenz der Marktwirtschaft ist in der Nationalökonomie seit hundert Jahren theoretisch bekannt und seitdem in der Praxis bestätigt worden. Es genügt, die jährlichen Berichte der Europäischen Kommission auf-zuschlagen: Obwohl eine Homogenisierung der räumlichen Wirtschaftsstruktur in der EG gewünscht und angestrebt wird, findet man stets die Feststellung, daß die regionalen Unterschiede in den Lebens-und Arbeitsbedingungen nicht ab-, sondern zunehmen
Marktwirtschaftliche Reformen in der UdSSR würden ein weiteres gesellschaftspolitisches Ziel des sozialistischen Wirtschaftssystems gefährden: die Verringerung von Einkommensunterschieden. Eine ausgewogene Einkommensstruktur gehört zu den festen Legitimationsgrundlagen des sozialistischen Systems, in dem es extrem hohe und spekulative Einkommen nicht geben darf und die bestehenden Einkommensunterschiede auf Leistungsunterschieden beruhen sollen. Wenn demgegenüber durch ökonomische Entscheidungen priviligierte Einkommenslagen entstehen, reagiert die Bevölkerung auf diesen Widerspruch zu den erklärten Systemzielen mit Unzufriedenheit und Leistungsverweigerung. Es waren vor allem englische Ökonomen wie Peter Wiles, die auf diese Konsequenz einer marktwirtschaftlich orientierten Reform hingewiesen haben. Sie — und später einige amerikanische Wissenschaftler — erklären die Verlangsamung der Wirtschaftsreform in Osteuropa als Reaktion auf die Unzufriedenheit der Arbeiter und Angestellten wegen der steigenden Einkommensunterschiede, sobald der Markt die Verteilung stärker regulierte als vorher. In dieser Situation fühlten sich die Regierungen veranlaßt, die Rolle des Marktes einzuschränken. Auf die Unzufriedenheit reagierten sie mit Lohnerhöhungen, das heißt, es wurden zentrale lohnpolitische Maßnahmen ergriffen was gleichzeitig eine partielle Rücknahme der gerade geschaffenen größeren Betriebsautonomie bedeutete.
Bisher liegen nur wenige konkrete Untersuchungen zur Wirtschaftsreform vor, die Ziele, Bedingungen und Ergebnisse der eingeleite- ten Veränderungen umfassend analysieren. Im Gegensatz zur weitgehend negativen Einschätzung, die von den Autoren gegeben wird, die das sozialistische System in seiner Struktur und Dynamik beurteilen wollen, zeichnen diese Studien ein differenzierteres Bild der Reformpolitik. So findet Janet G. Chapman die lohnpolitischen Reformen der sowjetischen Führung in angemessener Übereinstimmung mit den gesellschafts-und wirtschaftspolitischen Systemzielen und beurteilen sie positiv „Die reale Lohnhöhe der sowjetischen Industriearbeiter ist in den zwei vorangegangenen Jahrzehnten beachtlich gestiegen, die Unterschiede der Lohn-und Gehaltsstufen sowie das Einkommen sind erheblich geschrumpft. Dies scheint im Einklang zu sein mit der offiziellen Sozialpolitik der Beseitigung der Armut und der Verringerung der Einkommensunterschiede ebenso wie mit dem ökonomischen Ziel, die Allokations-und Anreizeffektivität der Entlohnungsstruktur zu verbessern. Das Kriterium der Gerechtigkeit und das der Leistungsfähigkeit wirken anscheinend in die gleiche Richtung."
Einzelne Erfolge in der Reform des Wirtschaftsmechanismus übersehen zwar auch die Bürokratiemodell am orientierten Autoren nicht; diese werden in der Gesamtbeurteilung jedoch als Ausnahmen oder als „Silberstreifen am Horizont" gewertet.
Viele Ökonomen und Politikwissenschaftler begreifen die Planungsreform nur als eine Wirtschaftsreform, das heißt als ein System von Maßnahmen zur Änderung der Entscheidungsstruktur mit dem Ziel ökonomischer Effizienzsteigerung, ohne den hohen Stellenwert gesellschaftspolitischer Bedingungen für die Organisation und Reform des Steuerungsmechanismus zu berücksichtigen
Vom Vorrang der Wirtschaftsreform wird die gesamte Forschungspraxis beherrscht: Nur jene Änderungen des Planungssystems werden als Reformen berücksichtigt, die unmittelbar wirtschaftspolitischen Zielen dienen. Eine Ausnahme stellt der Versuch von Andrzej Korbonski und Sarah M. Terry dar Für die Analyse der Reformen in den osteuropäischen sozialistischen Ländern verwenden sie die Theorie von Gabriel Almond und Lucian W. Pye über den Prozeß der politischen Entwicklung von Übergangsgesellschaften, die auf dem Wege zum modernen Nationalstaat mit vorher angebbaren Krisen konfrontiert sind. Die Identitäts-, Legitimitäts-, Regierbarkeits-, Partizipations-und Verteilungskrise treten im Laufe der Modernisierung entweder nacheinander — wie in England — oder in verschiedenen Kombinationen auf, wie in Italien, Frankreich und den meisten anderen Staaten
Der Rückgriff auf diese Theorie macht die bewußte Gestaltung des sozialen Wandels zum Ansatzpunkt für die Bestimmung von Reform-zielen. Mit diesem Ansatz und im Anschluß an das Reformkonzept, das von Krockow entwickelt hat, läßt sich zeigen, daß die inhaltlichen und formalen Änderungen im sowjetischen Planungssystem in den siebziger Jahren eine Reform in der Verteilungs-und Entscheidungsstruktur des politischen Systems eingeleitet haben.
V. Neues Planungskonzept nach der Wirtschaftsreform
1. Das Betriebskollektiv als Planungseinheit Um die Leistungsfähigkeit des sowjetischen Wirtschaftssystems zu erhöhen, haben das ZK der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR in der jüngsten Vergangenheit eine Reihe von Verordnungen erlassen. Ausgangspunkt war die Wirtschaftsreform von 1965, „hinter der das Modell einer aufgelockerten, modernisierten administrativen Planwirtschaft stand", deren Hauptelemente waren „Umorganisation der Wirtschaftsverwaltung (Rückkehr zum System der Branchenministerien), Modernisierung der Planungstechniken, Wandel und Reduzierung vollzugsverbindlicher Plankennziffern, Ausbau des Vertragssystems; stärkere Orientierung der betrieblichen Erfolgsrechnung (und damit auch des Prämien-systems) auf synthetische Wertkennziffern (Rentabilität, Preisreform, Ausbau des . Systems ökonomischer Hebel'), um die Betriebe zu größerer Effizienz sowie plan-und vertragsgerechter Erzeugung zu veranlassen."
Im Urteil der Kritiker war die Reform kein Erfolg, weil das Planungssystem im Kern unverändert blieb Im nachhinein drängt sich jedoch der Gedanke auf, daß bis zur Umstellung der Industrieleitung auf das „neue Planungssystem", das mit der Wirtschaftsreform vom September 1965 eingeleitet wurde von einem System gesamtwirtschaftlicher Planung nicht gesprochen werden kann, sondern „nur" von nationalen Produktionsprogrammen. Das Fundament der Entscheidungsbildung bestand — genauer betrachtet — aus politischen Zielen und Festlegungen! Mit einem Entscheidungskriterium wurde es erst verstärkt, als der Produktionsoutput trotz der verfolgten Wachstumsstrategie seit dem Beginn der sechziger Jahre nicht mehr in gewohntem Tempo zugenommen hat (im Jahresdurchschnitt etwa um 6, 5 % statt gut 10 % in den fünfziger Jahren). Das „Einholen und Überholen der kapitalistischen Wirtschaft" — das Systemziel der fünfziger Jahre — rückte in weite Ferne und erschütterte den Glauben an die Allmacht der politischen Führung und die Leistungsfähigkeit der Systemstrukturen.
Die drohende Legitimitätskrise wurde durch Umstrukturierung in der Produktions-und Distributionssphäre aufgefangen:
Um an der Wachstumsstrategie festhalten zu können und die wirtschaftliche Effektivität zu steigern, wurde — in der Produktionssphäre die Motivation des einzelnen durch ein System materieller Anreize gefördert und — in der Distributionssphäre die Autonomie und die Konfliktfähigkeit der Einzelinteressen erhöht.
Nach dem damaligen Stand der politischen und theoretischen Diskussion waren nun auch die Einzelinteressen des Individuums und eines Betriebskollektivs legitim und nicht mehr allein die Gesamtgesellschaft bzw. Gesamtwirtschaft maßgeblich. Die Anerkennung der Interessenvielfalt und -relation als politische Kategorie zog zugleich eine ökonomische Bestimmung nach sich, denn eine spezifische Interessenlage ist wesentlich von materiellen Interessen getragen. Konsequenterweise mußte für die Befriedigung der Interessen eine materielle Basis geschaffen werden. So war es wesentlicher Bestandteil der Reform, daß in den Betrieben für die Zahlung von Prämien und sozialen Unterstützungen sowie für Infrastruktur-und Modernisierungsinvestitionen „materielle Anreizfonds" gebildet werden konnten. Dadurch hat sich die betriebliche Finanzautonomie erhöht. Mit der selbständigen Verwendung von 15 bis 20 Prozent des erwirtschafteten Betriebsgewinns eröffnete sich die Möglichkeit, betriebliche Interessen mit den Planaufgaben besser in Einklang zu bringen.
Auch wenn die Verteilung und Verwendung dieser Mittel durch zahlreiche Vorschriften und durch festgefahrene Praktiken begrenzt war, haben einige Betriebe und namhafte Betriebssoziologen erkannt, daß sie die neuen Anreizfonds nur dann sinnvoll, das heißt für die Wahrnehmung ihrer Interessen verwenden können, wenn sie dem Wirtschaftsplan des Betriebes einen sozialen Plan zur Seite stellen, in welchem die spezifischen Interessen der Beschäftigten zum Ausdruck kommen. Wie jeder Plan muß auch der Plan für die soziale Entwicklung der Betriebskollektive zuerst eine Diagnose erstellen: eine Bestandsaufnahme der Lebens-und Arbeitsbedingungen der Arbeiter und Angestellten Hinter dieser Erkenntnis stand auch die Notwendigkeit, die betriebliche Beschäftigungs-Politik zu verbessern, da die hohe Fluktuation von Arbeitskräften und krasse Diskrepanzen zwischen Bildungsniveau und Arbeitsanforderungen hohe soziale und ökonomische Kosten verursacht haben. Vor der Reform hat man solche Probleme mit den gewohnten ökonomischen und administrativen Verfahren zu lösen versucht. Einigen Theoretikern und Praktikern ist aber allmählich klar geworden, daß eine neue Methode gefunden werden müßte, um die „soziale Komponente", das heißt die Menschen — als Individuen und als Mitglieder einer Betriebsgemeinschaft — in der Arbeits-und Produktionsorganisation adäquat zu berücksichtigen was nur heißen konnte: den Planungsansatz entsprechend zu erweitern und die Entscheidungsprioritäten nicht allein nach ökonomischen Gesichtspunkten festzulegen.
Das neue Planungskonzept enthielt nicht nur planungstechnische und organisatorische Neuerungen. Sein wesentliches Element war die Aufwertung der Betriebskollektive als Subjekte und Objekte der Planung: Als Subjekt ist die Belegschaft eines Industriebetriebes Teil des Entscheidungssystems, als Objekt ist sie die Zielgruppe des Planungsverfahrens. Während das traditionelle Planungssystem nur Plankennziffern kannte, die auf die gesamte Volkswirtschaft bezogen waren und die teils rein mechanisch, teils in einer eher informellen Aushandlung auf die unteren Planungseinheiten aufgeteilt wurden, ist jetzt eine Strukturreform auf dem Wege, die in den Betriebskollektiven eine selbständige Einheit, das Zentrum des Planungsprozesses, sieht. Zwischen den zentralen Steuerungsorganen und den zersplitterten Produktionseinheiten nehmen die Betriebskollektive als „mittlere Ebene" eine Schlüsselfunktion wahr. Als Koordinator von Interessen, Informationen und Aktionen sollen sie die soziale und ökonomische Entwicklung der Gesellschaft günstig beeinflussen.
Der Grundcharakter der Reformmaßnahmen, die im Juli 1979 in der Neuordnung des sowjetischen Planungssystems einen vorläufigen Höhepunkt erreicht haben, erschöpft sich nicht in der „Rationalisierung des traditionellen Systems administrativer Planwirtschaft" Die Rationalisierung, die im Über-gang zu Plan-und Erfolgskennziffern, in der Erweiterung des Zeithorizonts und der horizontalen Abstimmungsmechanismen der Planung besteht, ist nur die ökonomisch-institutionelle Seite der Reform. Sie wurde mit sozialen und politischen Aspekten der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ergänzt. Der gesamte Reformvorgang hat die Planungsbereiche in den Industriebetrieben inhaltlich umstrukturiert: Mit der Planung der ökonomischen Effizienz-kriterien bzw. von sozialen und immateriellen Leistungen haben die Betriebe an Autonomie gewonnen. Die „zentralisierende Tendenz" der Reformpolitik — die Hans-Hermann Höhmann sieht — ist demnach keineswegs eindeutig. Dies um so weniger, als die neue ökonomische und sozialpolitische Rolle der Betriebskollektive in die Verfassung der UdSSR von 1977 Eingang fand:
„Art. 8: Die Arbeitskollektive beteiligen sich an der Erörterung und Entscheidung über staatliche und gesellschaftliche Angelegenheiten, an der Planung der Produktion und der sozialen Entwicklung, an der Ausbildung und Verteilung der Kader und an der Erörterung und Entscheidung über Fragen der Verwaltung der Betriebe und Einrichtungen, der Verbesserung der Arbeits-und Lebensbedingungen und der Nutzung der Mittel, die für die Entwicklung der Produktion sowie für soziale und kulturelle Maßnahmen und für den materiellen Anreiz bestimmt sind."
Den Betriebskollektiven wurde mit diesem Artikel ein Platz im politischen System zugewiesen und nicht, wie zuvor, im ökonomischen System. Auch wenn diese Entwicklung bis jetzt eher als eine Reformprojektion denn Realität anzusehen ist, stellt sie nichtsdestoweniger einen bedeutenden Vorgang dar: Die Ausweitung des Planungskonzepts wirkt sich langfristig als ökonomische, soziale und -poli tische Strukturveränderung aus. Daher ist es m. E. berechtigt, von einer gesamtgesellschaftlichen Planungsreform zu sprechen.
Mit der eingeleiteten Umorientierung erfolgt eine Reaktion auf drei weitere Krisenerscheinungen der politischen Entwicklung: auf die Verteilungskrise, die Partizipationskrise und die Regierbarkeitskrise. 2. Änderungen in der Verteilungsstruktur Eine Verteilungskrise wurzelt in der Unzufriedenheit einzelner sozialer Gruppen oder Schichten mit ihrem Einkommen, das sie im Vergleich mit anderen Gruppen als zu niedrig finden. Die Meinung, das Verteilungssystem sei ungerecht, hat nicht notwendigerweise soziale Unruhen oder Lohnstreiks zur Folge. Die Unzufriedenheit mit dem Lohn kann die Leistungsbereitschaft mindern und dadurch die wirtschaftliche Entwicklung bremsen. Dieses Phänomen — in der Sowjetunion vielfach beobachtet — ist unter anderem auf die Vollbeschäftigungsgarantie zurückzuführen.
Eine Verteilungskrise besteht auch dann, wenn die akuten Entwicklungsprobleme eines Landes nur mit einer neuen politischen Strategie gelöst werden können, die eine Umverteilung von Einkommen und Chancen einschließt. So lassen z. B. Umweltschutz und Energieknappheit die Entwicklung einer neuen Verkehrskonzeption notwendig erscheinen. Doch die Einkommensinteressen einer Reihe von Firmen und Personen, vornehmlich jener, die in der Automobilindustrie beschäftigt sind, hängen an der alten Verkehrskonzeption. Mit dieser Art von Verteilungskrise sind zur Zeit vor allem die USA konfrontiert. Es stellt Wissenschaftler und Politiker des Landes vor ein geradezu unlösbares Problem, was Lester Thurow in seinem Buch „Die Null-Summen-Gesellschaft" anschaulich geschildert hat
In der Sowjetunion erscheint es immerhin möglich, die notwendige Umverteilung durch die Dezentralisierung wirtschaftlicher Entscheidungen zu bewerkstelligen. Dies ist zwar auch kein einfacher Prozeß, doch erste Fortschritte sind zu verzeichnen: Als Folge der Planungsreform hat sich die Verteilungsstruktur in der UdSSR auf zweifache Weise geändert Erstens hat sich der finanzielle Spielraum der Betriebe beträchtlich ausgeweitet: Die Tabelle zeigt die kontinuierliche Zunahme der Anreizfonds in den siebziger Jahren. Besonders stark war der Anstieg des Modernisierungsfonds: Sein Volumen hat sich fast verdoppelt und sein Anteil am Gesamt-fonds wuchs bis zum Ende des Jahrzehnts auf knapp 45% gegenüber rund 39% in der vorangegangenen Dekade.
Damit Investitionen aus dem Sozialfonds und dem Modernisierungsfonds nicht an den organisatorischen Bedingungen ihrer Ausführung scheitern — was häufig der Fall ist —, müssen die Betriebsleitungen auf die Ministerien Druck ausüben und von ihnen den direkten Zugang zu den Investitionsgütern verlangen. Dies kommt in den letzten Jahren offen-Imganzen schlägt die Verteilung der betrieblichen Prämienfonds für die Beschäftigten nicht unerheblich zu Buche. Im Jahre 1979 betrug der Anteil der verschiedenen Prämien in der Lohntüte der Arbeiter in der industriellen Produktion (Prämien im Leistungslohnsy-bar häufiger vor, unterstützt von der Möglichkeit, sich auf die Verfassung zu berufen, und bewirkt zunehmend eine Dezentralisierung der Verteilung von Ressourcen.
Zweitens konnten die Betriebe ihren lohnpolitischen Spielraum ausweiten. Sie haben ein betriebliches Prämiensystem entwickelt, das die technische Intelligenz, vor allem die Ingenieure und Produktionsleiter, begünstigt. Dies war ein praktisches Erfordernis, da die zentrale Lohnpolitik unter dem Dogma der führenden Rolle der Arbeiterklasse Hochschulund Universitätsabsolventen systematisch benachteiligt hatte. Mit ihrer Prämienpraxis haben die Betriebe der demotivierenden Wirkung der zentral festgelegten Lohndifferenzen entgegengewirkt: stem nicht eingerechnet) 19%, des ingenieur-technischen Personals 24%, der Angestellten 21 % 3. Erhöhung der Steuerungskapazität Die Erweiterung des Planungskonzepts durch die betriebliche Sozialplanung dient zweifellos der umfassenderen Kontrolle über den Prozeß der ökonomischen und sozialen Entwicklung. Denn entgegen den Annahmen und Argumenten des Bürokratiemodells ist eine zentrale Kontrolle nicht einmal im wirtschaftlichen Bereich wirksam. Hillel Ticktin folgert aus der kollossalen Verschwendung in der sowjetischen Wirtschaft, daß diese „außer Kontrolle geraten" sei
offensichtlich einer Die UdSSR ist mit Reihe von Verwaltungsproblemen konfrontiert, die sich summieren. Von einer Regierbarkeitskrise kann gesprochen werden, wenn die Regierung die Entwicklung des Landes beschleunigen will, ihr Arm alle aber nicht Schichten der Bevölkerung erreicht und die relevanten Handlungen der Gesellschaft nicht zu steuern vermag. So besteht Problem für die Regierung darin, effektive formale Institutionen aufzubauen und zwischen den Herrschern und den Untergebenen Verbindung und Vertrauen herzustellen Gegenwärtig ist die Organisationsstruktur der Betriebe — nach innen und nach außen — so heterogen, daß eine effektive Kontrolle ihrer Funktionen gar nicht möglich ist. Riesige Industriekomplexe bilden einen „Staat im Staat" Die meisten Betriebe können für sich im Kompetenzwirrwarr der Führungsorgane einen beträchtlichen Spielraum beanspruchen und damit zentrale Entscheidungen unter Umständen unterlaufen. Am eklatantesten geschieht die Verletzung zentraler Richtlinien in der Lohnpolitik: Während die politische Führung seit der Wirtschaftsreform eine differenzierte Entlohnung der quantitativen und qualitativen Arbeitsleistung durchzusetzen versucht, blüht die „Gleichmacherei" unvermindert weiter. Die Betriebe finden viele Wege für die Lohnnivellierung:
— sie begrenzen die Leistungsprämien;
— sie erhöhen das Lohnniveau der unteren Tarifgruppen bis zum Durchschnitt; — sie zahlen Prämien für zweitrangige Tätigkeiten, während die Hauptaufgabe unerfüllt bleibt.
Viele andere Beispiele ließen sich aufführen. Solche Praktiken werden immer wieder angeprangert — z. B. vom damaligen Generalsekretär Breschnew auf dem XXVI. Parteitag der KPdSU 1981 —, da sie „die Wirtschaft desorganisieren und die Mitarbeiter demoralisieren“
In unserem Zusammenhang ist aber die Tatsache noch wichtiger, daß vor der Einführung der Sozialplanung die sozialen Prozesse in den Betrieben nicht gesteuert waren. Die demographische Zusammensetzung und die Qualifikationsstruktur der Berufsgruppen hatte sich völlig zufällig herausgebildet. Ebenso unvorhergesehen hatten sich soziale Kosten eingestellt, gelegentlich sogar soziale Konflikte. Die Betriebsleitungen waren auf den materiellen Produktionsbereich fixiert und haben die soziale Entwicklung als etwas nebensächliches angesehen oder völlig ignoriert. Mit der Einführung der Sozialplanung ist in 15 Jahren zumindest erreicht worden, daß ein Bewußtsein von den Problemen geschaffen worden ist und auch ein Instrumentarium, mit dem das Bildungs-und Einkommensniveau der Betriebskollektive, die innerund außerbetriebliche Mobilität und ähnliche soziale Parameter beeinflußt werden können — wenn auch nicht bis ins letzte Detail wie durch die Regulierung mit Hilfe der ökonomischen Parameter. 4. Ausweitung der Partizipation Mit der Erhöhung der Steuerungskapazität werden naturwüchsige Interaktionen und damit auch die gewohnte Basis der Interessenbefriedigung zerstört. Dies kann den Wunsch hervorrufen, auf den Entscheidungsprozeß größeren Einfluß zu nehmen -Konzept und Praxis der eingefahrenen politischen Verhältnisse geraten langsam unter Druck und verändern sich durch mehr Partizipation. Die betriebliche Finanzautonomie und Sozial-planung tragen demnach Reformcharakter, insofern den Interessen und Bedürfnissen der Beschäftigten Rechnung getragen werden soll. Um dies zu erreichen, müssen die Betroffenen, die Belegschaft, an der Planung und Ausführung von Entscheidungen beteiligt sein, die die Verwendung der Anreizfonds betreffen. Die Ausweitung der Partizipation gehörte schon ursprünglich zu den erklärten Zielen, die mit der Sozialplanung verfolgt werden sollten. Große Fortschritte sind zwar im Laufe der Dekade nicht erzielt worden, stehen doch ökonomische Effizienzkriterien und autoritäres Verhalten der Manager einer innerbetrieblichen Mitbestimmung entgegen
Aus den Ergebnissen verschiedener konkreter Untersuchungen über das Partizipationsniveau der sowjetischen Arbeiter läßt sich mit einiger Sicherheit folgern, daß in den großen Industriebetrieben etwa 10% der Belegschaft ein überdurchschnittliches Engagement in Produktions-und sozialen Angelegenheiten zeigen. Die fachliche Kompetenz ist allerdings durchweg niedrig, was in erster Linie am Bildungs-und Informationsstand der Beschäftigten liegt
VI. Impulse für institutionelle Reformen
Auch wenn die mit der Sozialplanung eingeleitete Umstrukturierung der Verteilungs-, Lenkungs-und Entscheidungsverhältnisse noch bei weitem nicht abgeschlossen ist, geht von dieser Entwicklung ein starker Impuls für weitere institutionelle Änderungen aus. Zögernd zwar, aber nach dem Entwicklungstrend der Sozialplanung unausweichlich, ziehen die regionalen Steuerungsorgane, einschließlich der Kommunen, die im politischen System bislang nur eine untergeordnete Rolle spielen konnten, weitere wichtige Kompetenzen an sich: Denn entweder können die Industriebetriebe ihre Projekte für die Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Arbeiter aus eigener Kraft gar nicht realisieren und sind auf die Koordination der finanziellen Ressourcen und der Baukapazitäten in der Region angewiesen, oder aber die Betriebe können ihre Zielsetzungen selbständig verwirklichen und schaffen damit ein neues Un-gleichgewicht in der sozialen Infrastruktur, die von den Betrieben einer Stadt oder einer Region bereitgestellt wird. Daraus entsteht langfristig ein starker Druck auf die Kommunen, die allgemeinen Interessen der Bevölkerung gegen die Sonderinteressen der Großbetriebe zur Geltung zu bringen. Denn das Ungleichgewicht in der Versorgung mit Wohnungen, Kindergärten, Kantinen, Sport-und Kulturplätzen verursacht Fluktuation und Migration der Arbeitskräfte, soziale und ökonomische Kosten, überhaupt: Spannungen in den Planungs-und Politikprozessen
Zudem zeichnen sich in dem kontinentgroßen Land seit längerem regionale Ungleichgewichte in der Quantität und in der Qualität des Arbeitskräftepotentials ab. In den asiatischen und kaukasischen Republiken sowie in Moldavien gibt es bedeutende Arbeitskraftreserven, die weder qualifiziert noch migrationswillig sind. Allein diese Tatsache macht eine regionale Beschäftigungspolitik erforderlich. Ob dabei primär die Migration der Arbeiter gefördert oder mit neuen agrarindustriellen Komplexen zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen und die ländlichen Lebensbedingungen verbessert werden sollen scheint dabei noch ein offenes Problem zu sein.
In jedem Falle erfordert die Verwirklichung der Betriebspläne für die soziale Entwicklung die regionale Koordination der Investitionen und der Arbeitsmarktpolitik. Die entsprechende Ausweitung der Planungskompetenz der regionalen Gremien wird von der Parteiführung gefördert, auch wenn sich die Ministerien zur Wehr setzen.
Märia Huber, Dr. rer. soc.; Studium der Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Soziologie in Budapest, Freiburg i. Br. und Konstanz; Forschungsaufenthalte in der UdSSR; Privatdozentin im Institut für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen. Veröffentlichungen: Aufsätze zur politischen Planung und zur Steuerung der sozioökonomischen Entwicklung verschiedener Gesellschaftssysteme; Strategien der Entwicklungspolitik, Bern und Frankfurt 1975; Betriebliche Sozialplanung und Partizipation in der UdSSR, Frankfurt/M. 1983.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.