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Bilanz der „Breschnew-Ära" | APuZ 7/1983 | bpb.de

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APuZ 7/1983 Bilanz der „Breschnew-Ära" Wandel der Arbeits-und Lebensbedingungen in der Sowjetunion 1955-1980 Zur Beurteilung von Planungsreformen in der Sowjetunion Bildungssysteme in Osteuropa — Reform oder Krise?

Bilanz der „Breschnew-Ära"

Boris Meissner

/ 43 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach dem Sturz Chruschtschows im Oktober 1964 ist mit der „kollektiven Führung“ auch die dualistische Organisationsstruktur des sowjetkommunistischen Einparteistaates wiederhergestellt worden. Dies hat eine Stärkung des Staatsapparats gegenüber dem Parteiapparat und ein relatives Gleichgewicht beider Apparate zur Folge gehabt. Die Wirtschaftsverwaltung ist wieder eng mit dem Regierungsapparat verbunden worden; die politische Bedeutung der Polizei (KGB-MWD) und vor allem der Streitkräfte ist wesentlich gewachsen. Breschnew ist es im Verlauf der Entwicklung gelungen, eine dominierende Stellung im „Führerkollektiv", das durch die Vollmitglieder des Politbüros gebildet wird, zu gewinnen. Er ist aber trotz seiner Machtentfaltung infolge seines schwankenden Gesundheitszustandes und seines Alters bis zu seinem Tode am 10. November 1982 fest in die „kollektive Führung" eingebunden geblieben. Daher konnte er das Projekt der neuen Unionsverfassung, an dem seit 1962 gearbeitet wurde, erst im Oktober 1977 verwirklichen. Durch die neue Verfassung ist die diktatorische Einparteiherrschaft gefestigt, zugleich aber die Grundlage für eine rege Gesetzgebungstätigkeit geschaffen worden, welche die allgemeine Rechtssicherheit, trotz der repressiven Maßnahmen gegen die Dissidenten, erhöht hat. Die innenpolitische Entwicklung in der Breschnew-Ära ist durch zunehmende wirtschaftliche Schwierigkeiten, die durch die forcierte Aufrüstung verstärkt wurden, durch unterschiedliche Reformvorsiellungen in der Kremlführung und durch zahlreiche Widersprüche, welche die Kluft zwischen dem Regime und der Gesellschaft vergrößert haben, gekennzeichnet gewesen. Breschnew hat durch seine behutsame Kaderpolitik wesentlich zur Festigung der Machtstellung der Hochbürokratie, die sich vorwiegend aus der technischen Intelligenz rekrutiert, beigetragen. Mit der zunehmenden sozialen Differenzierung ist das Selbstbewußtsein der anderen sozialen Gruppen, insbesondere der wissenschaftlich-kulturellen Intelligenz, welche die eigentliche soziale Basis der Reformkräfte bildet, gewachsen. Eine besondere Brisanz kommt im sowjetischen Vielvölkerstaat der Nationalitätenfrage zu, die durch die Zentralisierungs-und Russifizierungsmaßnahmen, die Breschnew mit der Theorie vom einheitlichen Sowjetvolk rechtfertigte, wesentlich verschärft worden ist. Dem weiter voranschreitenden Verfall der marxistisch-leninistischen Ideologie steht das wachsende Bewußtsein in den fortschrittlichen Teilen der sowjetischen Gesellschaft gegenüber, daß eine Überwindung der bestehenden Krise, die durch die Generationsproblematik verstärkt wird, nur bei tiefgreifenden Veränderungen des gegenwärtigen Systems erreicht werden kann.

Ende 1982 wurde in Moskau der sechzigste Gründungstag der Union der Sozialistischen Unionsrepubliken (UdSSR) feierlich begangen. Der Sowjetstaat selbst, welcher der Oktoberrevolution von 1917 seine Entstehung verdankt, ist fünf Jahre älter. Parallel zum Über-gang vom Einheits-zum Bundesstaat, der im Zeichen des Bürgerkrieges zwischen Rot und Weiß erfolgte, bildete sich unter Lenin der Einparteistaat heraus, der für das sowjetkommunistische System charakteristisch bleiben sollte. Aus der Überordnung der zentralistisch und zugleich unitarisch aufgebauten Kommunistischen Partei der Sowjetunion ergab sich der Vorrang des Parteichefs — abwechselnd Generalsekretär oder Erster Sekretär genannt — gegenüber den Inhabern der beiden höchsten Staatsämter, dem Ministerpräsidenten der UdSSR als dem De-jure-Regierungschef und dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR als „Staatsoberhaupt".

Es erscheint daher zweckmäßig, die Geschichte des Sowjetstaates nach Lenin, der fast sieben Jahre regierte, nach den Personen einzuteilen, die als Parteichefs auch die Führung des Staates innehatten. Dies ist bei Stalin 29, bei Chruschtschow elf und bei Breschnew 18 Jahre der Fall gewesen. Der jeweilige Zeitabschnitt, der von ihnen bestimmt wurde, weist trotz der Wandlungen, die in ihm vor sich gegangen sind, bestimmte charakteristische Züge auf, so daß trotz aller Eigenheiten der Personen und der zwischen ihnen bestehenden Machtunterschiede von einer besonderen Ära gesprochen werden kann. Es ist daher berechtigt, nicht nur von einer „Stalin-Ara" und einer „ChruschtschowÄra“, sondern auch von einer „Breschnew-Ära" auszugehen, obgleich Leonid Iljitsch Breschnew, der am 10. November 1982 kurz vor seinem 76. Geburtstag starb, weder die Prägende Kraft eines Stalin noch die eines Chruschtschow besessen hat. Die besonderen Wesenszüge des von Breschnew repräsentierten Zeitabschnitts wie auch die Unterschiede gegenüber seinen Vorgängern lassen sich bei einer gesonderten Betrachtung der von ihm bestimmten oder beeinflußten Entwicklung des politischen Systems, der Innenpolitik und der Auswärtigen Politik der Sowjetunion am besten feststellen

Der despotischen Selbstherrschaft Stalins und dem sprunghaften Führungsstil Chruschtschows folgte unter Breschnew eine Ära der inneren Konsolidierung und Besserung der Lebensverhältnisse, aber auch einer zunehmenden bürokratischen Erstarrung und der dadurch hauptsächlich verursachten Stagnation, die in Verbindung mit den Folgen eines außenpolitischen Überengagements die Sowjetunion in eine Sackgasse geführt hat.

Die im Zeichen der Entstalinisierung begonnene Entwicklung von einer totalitären zu einer freieren autoritären Erscheinungsform des sowjetkommunistischen Einparteistaats mit der späteren Möglichkeit eines konstitutionellen, d. h. rechtsstaatlichen Einparteistaats mit einem bestimmten Grad von gesellschaftlichem Pluralismus ist nicht weitergekommen. Ansätze im Vorfeld des Sowjetimperiums sind im Zeichen der „Breschnew-Doktrin" zerstört worden. Damit ist zwar der Bestand des Imperiums notdürftig gesichert, doch die Zahl der ungelösten Probleme gleichzeitig weiter vermehrt worden. Große Teile der sowjetischen Gesellschaft, die sich in einem tiefgehenden Wandlungsprozeß befindet, sind sich in immer stärkerem Maße der fehlenden Innovationsfähigkeit des bestehenden Systems bewußt geworden. Bei aller Größe und militärischen Machtentfaltung der Sowjetunion haben die Nachfolger Breschnews mit Andropow an der Spitze ein schweres Erbe übernommen. Es ist kaum anzunehmen, daß sie die schwierigen Probleme, die mit ihm verbunden sind, in der gegenwärtigen personellen Zusammensetzung und mit den bisherigen Methoden lösen können.

I. Das Politische System unter Breschnew

1. Veränderungen in der obersten Partei-und Staatsführung

Der Sturz Chruschtschows im Oktober 1964 ist hauptsächlich dadurch herbeigeführt worden, daß er mit zwei umfassenden Verwaltungsreformen bestrebt war, tiefgehende Veränderungen im traditionellen institutioneilen Aufbau des sowjetkommunistischen Einparteistaates herbeizuführen, um die von ihm geplanten innenpolitischen Reformmaßnahmen besser verwirklichen zu können. Durch die Zweiteilung des Partei-und Staatsapparats unterhalb der „Länderebene", die Dezentralisierung der Wirtschaftsverwaltung und eine Reihe weiterer tiefgehender Veränderungen wurde die bisherige Form des politischen Entscheidungsprozesses und die tägliche Verwaltungsarbeit erschwert Außerdem ist dadurch eine wachsende Unruhe bei den Angehörigen der Partei-und Staatsbürokratie hervorgerufen worden, die sich in ihrer beruflichen Sicherheit, die sie seit dem Tode Stalins gewonnen hatten, bedroht sahen.

Chruschtschows Versuch, in seiner Wirtschaftspolitik die Landwirtschaft und die Konsumgüterindustrie auf Kosten der Schwer-und Rüstungsindustrie stärker zu fördern, wodurch die Interessen des „militärischindustriellen Komplexes" beeinträchtigt wurden, hat ebenfalls wesentlich zu seinem Sturz beigetragen. Er erfolgte zwar äußerlich in legalen Formen, stellte aber tatsächlich eine Palastrevolution dar, die mit konspirativen Mitteln bewirkt wurde.

In der obersten Partei-und Staatsführung war unter Chruschtschow eine zunehmende Stärkung des von ihm repräsentierten monokrati-sehen Elements im Verhältnis zum oligarchischen, das im „kollektiven Führungsprinzip" zum Ausdruck kam, erfolgt. Nach seinem Sturz ist die „kollektive Führung" im vollen Umfang wiederhergestellt worden. Auf dem ZK-Plenum im Oktober 1964 ist nicht nur die Trennung der Ämter des Partei-und Regierungschefs, die Chruschtschow seit 1958 in einer Hand vereinte, und ein bestimmtes Gleichgewicht in der Verteilung der wichtigsten Machtpositionen, sondern auch eine gegenseitige Kontrolle im Rahmen des „Führerkollektivs", das durch die Vollmitglieder des ZK-Präsidiums gebildet wurde, beschlossen worden.

Breschnew wurde als Nachfolger Chruschtschows in dessen Parteiämtern Erster Sekretär und Vorsitzender des ZK-Büros für die RSFSR, das seit 1956 für die Leitung der Parteiorganisationen in der großrussischen Unionsrepublik zuständig war. Kossygin rückte zum Ministerpräsidenten der UdSSR auf. Die Wiederherstellung der Duumviratskonstruktion, wie sie zunächst nach dem Tode Stalins bestanden hat (Chruschtschow-Malenkow, Chruschtschow-Bulganin), war mit der Bildung einer Spitzengruppe innerhalb des „Führungskollektivs" verbunden. Diesem „inneren Kreis", der faktisch einen „ständigen Ausschuß" des ZK-Präsidiums bildete, den es auch früher gegeben hat, gehörten außer Breschnew und Kossygin Podgornyj als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Suslow als zweiter ZK-Sekretär und mindestens einer der beiden nachfolgenden ZK-Sekretäre an. Diese Position ist unter Breschnew abwechselnd von Schelepin, Kirilenko, Kulakow (gest. 1978) und Tschernenko bekleidet worden.

Die Aufhebung der Verwaltungsreformen Chruschtschows trug wesentlich zur Stabilität der „kollektiven Führung" bei. Mit der Rückkehr zum vertikalen Leitungssystem der Ministerien ist in Verbindung mit der Wirtschaftsreform Kossygins vom September 1965 die zentralistische Einheit zwischen der Staats-und Wirtschaftsverwaltung und damit zugleich die dualistische Organisationsstruktur des Sowjetstaates wiederhergestellt worden.

Auf dem XXIII. Parteikongreß 1966 ist das Präsidium des Politbüros wieder in Politbüro umbenannt worden. Aus dem „Ersten Sekretär" wurde wieder der „Generalsekretär". Das ZK-Büro für die RSFSR wurde aufgelöst. Außerdem wurde das Turnussystem, das in bestimmten Abständen eine Ablösung der Parteifunktionäre ermöglichte, abgeschafft.

Die Aufhebung der Verwaltungsreformen Chruschtschows hat zu einer wesentlichen Stärkung des Staatsapparats gegenüber dem Parteiapparat und damit zu einem relativen Gleichgewicht zwischen beiden Apparaten geführt. Die Wirtschaftsverwaltung ist wieder eng mit dem Regierungsapparat verbunden worden. Die Bedeutung der Polizei und vor allem der Armee ist seit dem Sturz Chruschtschows wesentlich gewachsen.

Diese Lage und die verstärkte Abhängigkeit von der Partei-und Staatsbürokratie machten es Breschnew wesentlich schwerer als Chruschtschow, innerhalb des „Führerkollektivs“ und im Verhältnis zur herrschenden Hochbürokratie eine dominierende Stellung zu erringen. Breschnew war sich bewußt, daß er dem Ziele einer Alleinherrschaft nur näher kommen konnte, wenn es ihm gelang, die unmittelbare Kontrolle nicht nur über den Partei-, sondern auch den Staatsapparat zu erringen. Er konnte, wie es bei Stalin und Chruschtschow der Fall war, die Ämter eines Partei-und Regierungschefs in einer Hand vereinen. Er konnte aber auch nach dem Vorbild einiger Volksdemokratien das Amt des Parteichefs mit dem Amt des Staatsoberhaupts verbinden. Das setzte die Umwandlung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR in einen Staatsrat mit erweiterten Befugnissen voraus.

Der 1970 unternommene Versuch Breschnews, den ersten Weg zu beschreiten, hatte keinen Erfolg. Es gelang ihm auch nicht, durch die Industriereform vom März 1973 die Machtstellung der Ministerien und damit die eigentliche Machtbasis Kossygins zu erschüttern, da diese Reform bereits 1974 wesentlich modifiziert wurde.

Auch der im Herbst 1971 zuerst erfolgte Versuch, auf dem Wege der Staatsratslösung voranzukommen, mißlang. Auf dem April-Plenum 1973 konnte er zwar seine Machtstellung durch Eliminierung von zwei Kritikern seiner Innen-und Außenpolitik (Schelest, Woronow)

festigen, doch konnte er die unmittelbare Kontrolle über den Staatsapparat noch nicht erringen.

Breschnew war zugleich bestrebt, durch Erweiterung des personellen Bestandes des Zentralkomitees und des Politbüros seine Stellung als Parteichef zu stärken. Mit 319

Mitgliedern und 151 Kandidaten, d. h. insgesamt 470 Personen, hat das Zentralkomitee auf dem XXVI. Parteikongreß der KPdSU 1981 seinen bisher höchsten Stand erreicht, Wobei sich die Vertreter der Partei-und der Staatsbürokratie einigermaßen die Waage hielten.

Das Politbüro, das 1966 noch die unter Stalin übliche Zahl von elf Vollmitgliedern besaß, Wies bereits auf dem XXV. Parteikongreß 1976 einen Höchststand von 16 Vollmitgliedern auf, der sich bis zum XXVI. Parteikongreß auf 14 Mitglieder verminderte. Dafür wuchs die Zahl der Kandidaten von sechs auf acht an.

Bedeutsamer als die zahlenmäßige Vergrößerung des Politbüros, die sich nur zum Teil zu-INHALT I. Das Politische System unter Breschnew 1. Veränderungen in der obersten Partei-

und Staatsführung 2. Wandlungen in der Verfassungs-und Rechtsordnung II. Die Innenpolitik unter Breschnew 1. Grundlinien der innenpolitischen Entwicklung 2. Die Wachstumsschwierigkeiten der sowjetischen Wirtschaft 3. Tiefgehende Wandlungen der Gesellschaftsstruktur 4. Die Verschärfung der Nationalitäten-frage 5. Gesellschaftlicher Bewußtseinswandel, Ideologieverfall und Generationsproblematik gunsten der aus der Ukraine, Moldau und Kasachstan stammenden Hausmacht Breschnews auswirkte, waren zwei Vorgänge, die eine wesentliche Veränderung in der Struktur des „Führerkollektivs" bewirkten. Auf dem ZK-Plenum im April 1973 wurde der Anteil der Vertreter des Staatsapparats im Politbüro durch die Aufnahme des KGB-Chefs Andropow, des Außenministers Gromyko und des 1976 verstorbenen Verteidigungsministers Marschall Gretschko wesentlich vergrößert. Wenn der Anteil des Parteiapparats auch später wieder zugenommen hat, so sind doch mit Andropow und Gromyko sowie seit 1976 Ustinow, der Nachfolger Gretschkos als Verteidigungsminister wurde, drei Persönlichkeiten zu Politbüromitgliedern aufgerückt, denen nach dem Tode Breschnews eine Schlüssel-Stellung zufallen sollte. Diese Entwicklung ist dadurch gefördert worden, daß Breschnew durch Verdrängung der jüngeren Politbüro-mitglieder wesentlich zu einer Veränderung der Altersstruktur des Politbüros und damit zu einer verstärkten Überalterung des „Führerkollektivs" beigetragen hat. Der Reihe nach schieden mit Schelepin 1975, Poljanskij 1976 und Masurow 1978 die jüngeren Politbüromitglieder, die im Westen als . Jungtürken" bezeichnet worden sind, aus. Eine weitere Tod Lücke wurde durch den plötzlichen Kulakows Sommer 1978 scheint gerissen. Ihm eine scharfe Auseinandersetzung vorausgegangen zu sein, da die Todesanzeige von der Führungsspitze, aus der 1977 Podgornyj entfernt worden war, nicht unterzeichnet wurde. Das Ausscheiden von Poljanskij, Podgornyj und Masurow aus dem Politbüro dürfte wesentlich durch Unterschiede in bestimmten Sachfragen und nicht nur durch persönliche Rivalitäten — wie im Falle Schelepins — bedingt gewesen sein. Poljanskij hatte sich durch seine ständige Forderung nach mehr Mitteln für die Landwirtschaft — und damit für den zivilen Bereich — den Zorn aller derjenigen zugezogen, die Chruschtschow als „Eisenfresser" zu bezeichnen pflegte. Einige Politbüromitglieder, darunter Ustinow und Romanow, sind dagegen in erster Linie als Repräsentanten des „militärisch-industriellen Komplexes" anzusehen.

Das Hauptanliegen Podgornyjs und Masurows war ebenso wie bei Kossygin die stärkere Förderung der Konsumgüterindustrie. Alle drei traten außerdem für eine Beibehaltung und Stärkung des föderativen Aufbaus der Sowjetunion ein und standen einer völligen Abkehr von den überkommenen Organisationsformen der Staats-und Wirtschaftsverwaltung ablehnend gegenüber. Podgornyj war ferner an einer Erweiterung der Kompetenzen der Sowjets interessiert. Er widersetzte sich zugleich den bereits erwähnten Plänen Breschnews für eine Umwandlung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR in einen „Staatsrat" mit erweiterten Befugnissen. Infolge des hinhaltenden Widerstandes Podgornyjs ist die Veröffentlichung des Entwurfs der neuen Bundesverfassung der UdSSR immer wieder hinausgezögert worden. Erst der Sturz von Podgornyj auf dem Mai-Plenum 1977 ermöglichte es Breschnew, im Juni 1977 mit der Veröffentlichung des Entwurfs auch die Nachfolge Podgornyjs als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR anzutreten und damit aufgrund der im Oktober 1977 angenommenen neuen Bundesverfassung der UdSSR die Stellung eines Staatsoberhaupts (glawa gossudarstwa) zusätzlich zum Generalsekretärsamt zu erringen. Bereits vorher hat er seine Machtbasis durch die Übernahme des Vorsitzes im Verteidigungsrat der UdSSR, seit 1976 im Range eines Marschalls der Sowjetunion, weiter verstärken können.

Trotz dieser Machtentfaltung war Breschnew aufgrund seiner sich seit 1975 verschlechternden Gesundheit und seines Alters nicht in der Lage, die von ihm anfangs Alleinherrschaft, die Logik angestrebte in der des hierarchischen Aufbaus eines Einparteistaates totalitären Typs liegt, zu erringen. Er ist zeitweilig sogar stärker in das „Führerkollektiv", in dem Suslow als Zweiter ZK-Sekretär und Kossygin als Ministerpräsident die führende Rolle spielten, eingebunden worden. Auch der Machtzuwachs, der mit den personellen Veränderungen im Staatsapparat nach dem Ausscheiden Kossygins, der im Dezember 1980 verstorben ist, verbunden war, hatte die Schranken, die seiner Machtstellung aufgrund des Prinzips der „kollektiven Führung" gesetzt sind, nicht beseitigt.

Das „kollektive Führungsprinzip", das ein bestimmtes Machtgleichgewicht in der obersten Partei-und Staatsführung voraussetzt, ist trotz aller gegenteiligen Tendenzen das bestimmende Grundprinzip des sowjetischen Regierungssystems unter Breschnew geblieben. Für die Breschnew-Ära ist dabei die eigenartige Verbindung von „kollektiver Führung" in der Sache und einer Art Einmannherrschaft im Ritual ein besonders charakteristisches Merkmal gewesen. Eine solche Kombination, bei dem das oligarchische Element gegenüber dem monokratischen überwiegt, kann nur funktionieren, wenn das Gleichgewicht nicht nur im „Führerkollektiv", sondern auch zwischen den einzelnen Herrschaftsinstitutionen gewährleistet ist. Ein solches Gleichgewicht setzt außerdem in der Führungsspitze eine vom Generalsekretärsamt gesonderte Besetzung der beiden wichtigsten Staatsämter, des Ministerpräsidenten und des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, voraus. Nach dem Tode Breschnews hat es sich gezeigt, daß es im derzeitigen Politbüro, das faktisch eine Koalition verschiedener Gruppierungen darstellt, schwierig ist, einen Konsens in dieser zentralen Frage herbeizuführen. Solange dieser Konsens nicht erzielt ist, werden sich, ebenso wie am Ausgang der Breschnew-Ära, Perso-nalentscheidungen, die das bestehende Kräftegleichgewicht in der einen oder anderen Richtung verändern könnten, als äußerst schwierig erweisen. Aber auch Entscheidungen in Sachfragen werden in strittigen Fällen weiterhin nur schwer zu erreichen sein, wenn sie sich nachteilig auf die Machtstellung des einen oder anderen Oligarchen und die von ihnen repräsentierten Institutionen auswirken könnten. 2. Wandlungen in der Verfassungs-und Rechtsordnung Mit dem Namen Breschnew ist die neue Bundesverfassung der UdSSR verbunden Es ist die dritte nach den Bundesverfassungen von 1923/24 und 1936. Eine Verfassungsreform ist von Chruschtschow bereits auf dem XXL Parteikongreß der KPdSU im Januar 1959 angekündigt worden. Nach dem Parteikongreß setzte er sich für eine völlig neue Bundesverfassung ein, die nicht nur die zahlreichen Wandlungen, denen die Sowjetunion seit der Stalin-Ära unterworfen war, widerspiegeln, sondern auch die Perspektiven der künftigen Entwicklung im innen-und außenpolitischen Bereich aufzeigen sollte. In ihr sollte die Gesellschaft neben dem Staat stärker berücksichtigt werden. Von der gleichen Konzeption ist auch Breschnew ausgegangen, nachdem er 1964 als Nachfolger Chruschtschows Vorsitzender der 1962 errichteten Verfassungskommission geworden war. Insgesamt hat es fünfzehn Jahre gedauert, bis das Projekt der neuen Unionsverfassung verwirklicht werden konnte. Erst am 24. Mai 1977 gelang es Breschnew, die Zustimmung des Zentralkomitees zum Verfassungsentwurf zu erreichen, die mit dem gleichzeitigen Ausscheiden Podgornyjs aus dem Politbüro verbunden war. Nach einer gelenkten Volksdiskussion von vier Monaten ist der am 4. Juni 1977 veröffentlichte Verfassungsentwurf mit geringfügigen Änderungen vom ZK-Plenum am 3. Oktober 1977 gebilligt und vom Ober-sten Sowjet der UdSSR am 7. Oktober 1977 verabschiedet worden. Von der ursprünglichen Absicht, die neue Unionsverfassung auf dem Wege des Referendums anzunehmen, wurde abgesehen. Offenbar erschien ein solcher Volksentscheid der Kreml-Führung zu riskant.

Die neue Bundesverfassung der UdSSR ist mit einer Präambel und 174 Artikeln umfangreicher als die „Stalinsche Verfassung" von 1936 (146 Artikel, keine Präambel). Die Präambel ist in starkem Maße programmatischer Natur und erfüllt eine ideologisch-propagandistische Funktion. Soweit die einzelnen Bestimmungen, die sich auch auf die Außenpolitik und Verteidigung beziehen, einen normativen Charakter aufweisen, lassen sie zwei abweichende Entwicklungstendenzen erkennen. Auf der einen Seite wird die diktatorische Einparteiherrschaft, die in der neuen Verfassung sehr viel klarer zum Ausdruck kommt, gestärkt. Die KPdSU wird nicht nur als die „führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft", sondern auch als „Kern ihres politischen Systems, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen" bezeichnet (Art. 6). Sie legt nicht nur die Entwicklung der Gesellschaft, die als die „entwickelte sozialistische Gesellschaft" charakterisiert wird, fest, sondern auch „die Linie der Innen-und Außenpolitik der UdSSR", d. h.des Staates. Auf der anderen Seite lassen sich in dem wesentlich erweiterten Grundrechtsteil und in der Betonung der „sozialistischen Gesetzlichkeit" Ansätze zu einer rechtsstaatlichen Entwicklung erkennen. Es fehlt allerdings weiterhin eine Reihe wichtiger Grundrechte (Freizügigkeit, Streikrecht usw.). Außerdem ist die Anwendung der Grundrechte — unabhängig von der ideologisch bedingten abweichenden Menschenrechtskonzeption — durch eine Reihe zusätzlicher Bestimmungen (Art. 39 II, Art. 62 I) erschwert worden. Eine umfassende Verwaltungsgerichtsbarkeit und eine Verfassungsgerichtsbarkeit ist weiterhin nicht vorhanden. Die neue Unionsverfassung ist zur Volks-staatslehre Chruschtschows zurückgekehrt. Infolgedessen wird der Sowjetstaat als „sozialistischer Staat des gesamten Volkes" charakterisiert. Damit ist eine Modifizierung des bisherigen Rätesystems, das in der neuen Verfassung ausführlicher behandelt wird, verbunden gewesen. Der „demokratische Zentralismus“ wird jetzt auch als bestimmendes Organisationsprinzip des Staates besonders hervorgehoben. Zugleich wird die Intelligenz als soziale Gruppe gleichberechtigt neben den Arbeitern und Bauern aufgeführt. Eine Stärkung der Sowjetdemokratie durch Erwähnung konkreter Partizipationsmöglichkeiten ist nicht festzustellen. Der Begriff des einheitlichen „Sowjetvolks" und die Formel von der „Annäherung der Nationen“ läßt erkennen, daß die Verfassung von einer Fortsetzung des Assimilationsprozesses im sowjetischen Vielvölkerstaat ausgeht. Der förderative Aufbau hat sich nicht verändert, dagegen ist der Sowjetföderalismus durch eine Kompetenzerweiterung des Bundes im Verhältnis zu den Unionsrepubliken geschwächt worden.

Die neue Verfassung läßt erkennen, daß die Bemühungen, die Stellung des Obersten Sowjets der UdSSR gegenüber seinem Präsidium zu stärken, gescheitert sind. Gleichzeitig hat im Verhältnis der beiden höchsten Exekutivorgane eine Gewichtsverlagerung auf Kosten des Ministerrates stattgefunden, ohne daß das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, wie es Breschnew angestrebt hat, in einen „Staatsrat" umbenannt worden ist. Das Präsidium des Ministerrates der UdSSR ebenso wie der Verteidigungsrat der UdSSR haben erstmals in der Verfassung eine Erwähnung gefunden. Die zentrale Planung bezieht sich jetzt nicht nur auf den wirtschaftlichen, sondern auch auf den gesellschaftlichen Bereich. Das vertikale Leistungssystem der Ministerien ist erhalten geblieben. Die einzelnen Ministerien und staatlichen Komitees werden nunmehr im Ministerratsgesetz und nicht in der Verfassung aufgeführt. Im Abschnitt über die Rechtsprechung, Wirtschaftsarbitrage und staatsanwaltschaftliche Aufsicht ist die Rechtslage, wie sie sich im Verlauf der Entwicklung seit dem Tode Stalins ergeben hat, mit geringfügigen Änderungen festgehalten worden.

In politischer Hinsicht wichtiger ist teilweise die Annahme einer Reihe von Normativakten gewesen, die in der neuen Unionsverfassung angekündigt worden waren und bestimmte Verfassungsnormen ergänzen und ausfüllen sollten Außerdem bestand die Notwendigkeit, die bestehende Rechtsordnung auf der Ebene des Bundes und der Gliedrepubliken an die Verfassungsgesetzgebung anzupassen. Ferner ist die Kodifizierung fortgesetzt worden.

Die Verfassungsgesetzgebung und der Ausbau der Rechtsordnung erwecken den Eindruck, als ob die Kreml-Führung dabei sei, dem Recht eine dominierende Rolle im Sowjetsystem zu geben. Sicher ist von ihr erkannt worden, daß dem Recht bei der Regelung sozialer Lebensvorgänge und der Festigung der bestehenden Staats-und Gesellschaftsordnung durch größere Berechenbarkeit eine wesentliche Funktion zukommt. Andererseits bestehen die Unzulänglichkeiten der Rechtsordnung, zu denen vor allem die fehlende Unabhängigkeit der Justiz und eine Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gehören, weiter fort. Zusammen mit den rechtswidrigen Maßnahmen bei der Verfolgung von Dissidenten und Regimekritikern lassen sie erkennen, daß es sich bei diesem Bestreben um den Bau eines in mancherlei Hinsicht unzulänglichen positivistischen „Gesetzesstaates" und nicht eines Rechtsstaates handelt, der in der Lage wäre, dem einzelnen sowjetischen Bürger die verfassungsmäßig verbürgten Rechte zu sichern und der politischen Willkür Schranken zu setzen. Trotzdem kann diese rege Gesetzgebungstätigkeit als eine wesentliche Errungenschaft der BreschnewÄra betrachtet werden. Sie hat die Rechtssicherheit erhöht und hat das schwach entwikkelte Rechtsbewußtsein gestärkt.

II. Die Innenpolitik unter Breschnew

1. Grundlinien der innenpolitischen Entwicklung

Die sowjetische Innenpolitik unter Breschnew ist durch gegensätzliche Tendenzen bestimmt gewesen. Auf der einen Seite fand in Verbindung mit einer Teilaufwertung Stalins eine weitgehende Rückkehr zu organisatorischen Formen statt, die für sein Regierungssystem charakteristisch gewesen sind. Auf der anderen Seite wurden Reformmaßnahmen auf dem Gebiete der Wirtschaft getroffen, die über Chruschtschow hinausführten. Dies galt vor allem für die Reform der Industrieleitung und des Planungssystems aufgrund der Beschlüsse des September-Plenums 1965, die in der Ordnung über den sozialistischen staatlichen Produktionsbetrieb und in der Industriebetriebsordnung vom 4. Oktober 1965 ihren Niederschlag fand. Weniger weitreichend in organisatorischer Hinsicht waren die Maßnahmen, die auf dem ZK-Plenum im März 1965 zur Förderung der Landwirtschaft beschlossen wurden und am 27. November 1969 zur Annahme eines nur geringfügig geänderten neuen Kolchosstatuts führen sollten.

Der veränderte Führungsstil und die Akzentverschiebungen, die sich infolge dieser widersprüchlichen Entwicklung in der Sowjetpolitik bemerkbar machten, trugen zwar äußerlich die Merkmale einer „Entchruschtschowisierung", bedeuteten aber zunächst keine entscheidende Abkehr von dem System, wie es sich nach dem Tode Stalins in der Sowjetunion herausgebildet hatte. Auch der Chruschtschowismus war durch das ständige Schwanken zwischen einer harten und einer weichen Linie und durch den Versuch -ge kennzeichnet, die Kräfte des Wandels und der Beharrung gegeneinander auszubalancieren. Auch machten sich unter Chruschtschow neostalinistische Tendenzen bemerkbar.

Unter Breschnew haben sich aber diese Tendenzen noch weiter verstärkt. Die Entstalinisierung ist auf dem XXIII. Parteikongreß der KPdSU nicht zurückgenommen worden. Bei der Stärke der gesellschaftlichen Kräfte, die an ihr interessiert sind, ließ sie sich gar nicht rückgängig machen. Sie ist aber fühlbar eingedämmt worden.

Die auf dem XXIII. Parteikongreß angenommene Generallinie bildete einen eigenartigen Versuch, auf wirtschaftlichem Gebiet den Erfordernissen einer modernen Industriegesellschaft stärker Rechnung zu tragen, gleichzeitig aber auf ideologischem und kulturellem Gebiet die Zügel straffer anzuziehen.

Dem ersten Zweck diente die begrenzte Wirtschaftsreform, die mit dem Namen Kossygin verbunden war und im Herbst 1965 in Angriff genommen wurde. Sie verband die zentralisierte Leitung und Planung mit einer größeren Selbständigkeit der staatseigenen Betriebe, die in Produktionsvereinigungen zusammengefaßt wurden.

Die Planung orientierte sich jetzt am Absatzvolumen und der Rentabilität und damit am Gewinn und nicht allein an der Bruttoproduktion. Sie erfolgte in der Konsumgüterindustrie und einigen anderen Wirtschaftszweigen auf der Grundlage der eingehenden Aufträge der Geschäfte und Handelsorganisationen. Dadurch wurde im Sinne der Vorschläge, die vom Volkswirt Professor Liberman unter Chruschtschow gemacht worden waren, eine bessere Abstimmung von Bedarf und Produktion ermöglicht.

Wirtschaftsreform, durch welche den Betrieben eine begrenzte Autonomie zugestanden wurde, ist seit 1968 durch eine Reform der örtlichen Sowjets ergänzt worden, deren Befugnisse vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet erweitert wurden. Auf der anderen Seite machte sich in der Staatsverwaltung eine verstärkte Zentralisierung auf Kosten der Rechte der Unionsrepubliken bemerkbar. Sie führte zur Wiederherstellung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten (MWD), das wie in den Zeiten Stalins vorwiegend ein Polizeiministerium darstellt, und des Justizministeriums sowie zur Errichtung eines Bildungsministeriums auf der Bundesebene. Wesentlich zugenommen hat die Zahl der Ständigen Ausschüsse des Obersten Sowjets der UdSSR. Die Bedeutung des Obersten Sowjets der UdSSR ist dadurch nicht gestiegen, da das „Sowjetparlament" in einigen Jahren noch seltener einberufen worden ist als unter Chruschtschow. In der Kulturpolitik machte sich bereits vor dem XXIII. Parteikongreß die Tendenz zu einer verstärkten ideologischen Indoktrination bemerkbar. Die Literatenprozesse in Moskau und die strafrechtliche Verfolgung von rebellischen Intelligenzlern in Leningrad und anderen Teilen des Landes zeigten, daß die Nachfolger Chruschtschows auch vor der Anwendung von terroristischen Mitteln gegenüber „Dissidenten“ nicht zurückschreckten.

Die Verstärkung des repressiven Charakters des diktatorischen Herrschaftssystems hat in Verbindung mit einer verschärften Kriminal-poljtik wesentlich zur Herausbildung einer „demokratischen Opposition" in der sowjetischen Intelligenz beigetragen. Aus ihren Schriften, die im „Samisdat" (Selbstverlag) erschienen, ging hervor, daß sie größtenteils eine Änderung und nicht nur eine Verbesserung des bestehenden Systems anstrebten.

Die innere Lage der Sowjetunion ist seit der militärischen Intervention in der Tschechoslowakei im August 1968 durch zunehmende restaurative Tendenzen bestimmt gewesen. Auf der anderen Seite ist auf dem XXIV. Parteikongreß der KPdSU 1971 das Bestreben der Kreml-Führung sichtbar geworden, die „Neue-Kurs" -Politik Malenkows, die auch von Chruschtschow kurz vor seinem Sturz verfolgt wurde, in vorsichtiger Form und unter Umsetzung der Erkenntnisse der wissenschaftlich-technischen Revolution wiederaufzunehmen. Die Hebung des Lebensstandards durch stärkere Berücksichtigung der Landwirtschaft und der Konsumgüterindustrie stand im Mittelpunkt des 9. Fünfjahrplans 1971— 1975, der später zugunsten der Schwerindustrie wesentlich modifiziert wurde. Besonderer Nachdruck wurde von Breschnew im ZK-Bericht auf eine schnelle Umsetzung der Erkenntnisse der wissenschaftlich-technischen Revolution gelegt. Er forderte, den wissenschaftlich-technischen Neuheiten nachzujagen, „statt vor ihnen zurückzuschrecken — bildhaft gesprochen — wie der Teufel vor dem Weihwasser“.

Der XXIV. Parteikongreß war auch in ideologischer Hinsicht bemerkenswert. Auf ihm wurde von Breschnew die These von dem einheitlichen Sowjetvolk als einer „neuen historischen Menschengemeinschaft“ verkündet. Nach dem Parteitag ist die Theorie von der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft" aufgestellt worden, wobei Vorstellungen, die in der DDR unter Ulbricht entwickelt worden waren, in weitgehendem Maße rezipiert wurden.

Seit 1974 sollte sich im „Führerkollektiv" zunehmend ein Dissens in einer Reihe von wichtigen Sachfragen bemerkbar machen. Bereits auf dem XXIV. Parteikongreß 1971 konnten wesentliche Unterschiede zwischen den wirtschaftspolitischen Auffassungen Breschnews und Kossygins festgestellt werden. Während Kossygin, ’ unterstützt von Podgornyj, im Einklang mit der auf dem XXIV. Parteikongreß angenommenen Generallinie für eine stärkere Berücksichtigung der Konsumgüterindustrie eintrat, bekämpfte Breschnew die zunehmende „Konsumenteneinstellung" in der sowjetischen Bevölkerung. Nach einigem Schwanken sprach er sich für eine stärkere Konzentration in der sowjetischen Wirtschaft auf einem niedrigeren Anspruchsniveau, unter Betonung des Vorranges der Schwerindustrie, aus. Kossygin war weiterhin gegen eine zu starke Begrenzung von neuen Investitionen in der Industrie und damit gegen eine zu weitgehende Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. Er hielt auch an der stärkeren Berücksichtigung der Konsumgüterindustrie fest.

Im Verlauf des Jahres 1975 war eine Annäherung Kossygins an den Standpunkt Breschnews festzustellen, die aus den Richtlinien zum Fünfjahrplan 1976— 1980, die vom XXV. Parteikongreß 1976 angenommen wurden, zu ersehen war. Dagegen war eine Einigung in der Frage der Reorganisation der Wirtschaftsverwaltung, bei der Kossygin ebenfalls durch Podgornyj unterstützt wurde, nicht zu erreichen. Zur gleichen Zeit ist die Aufrüstung, mit der bereits im Frühjahr 1965 begonnen wurde, wesentlich beschleunigt worden. Mit ihr verbunden war eine zunehmende innenpolitische Verhärtung, die zu einer verschärften Auseinandersetzung mit der Menschen-und Bürgerrechtsbewegung und den nach größerer Autonomie strebenden nichtrussischen Nationalitäten führte. Eine zeitweilige Auflockerung war mit der Diskussion um die neue Unionsverfassung, die im Oktober 1977 angenommen wurde, verbunden.

Die Bemühungen Kossygins, durch begrenzte Reformmaßnahmen den zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu begegnen, hatten nur geringen Erfolg. Die im Juni 1979 beschlossenen Maßnahmen zur Verbesserung der Planung bedeuteten keine Abkehr von der zentralen Verwaltungswirtschaft. Sie bezweckten hauptsächlich, den Qualitätsgesichtspunkten gegenüber reinen Mengenkriterien den Vorzug zu geben, die Effektivität der Investitionen und des Planungssystems zu verbessern und das Prämiensystem leistungsbezogener zu gestalten.

Die bewaffnete Intervention in Afghanistan im Dezember 1979 führte zu einer weiteren innenpolitischen Verhärtung, die in der Verbannung des Friedensnobelpreisträgers Professor Sacharow nach Gorkij deutlich zum Ausdruck kam. Die repressiven Maßnahmen gegen alle Oppositionellen wurden verstärkt. Der XXVI. Parteikongreß 1981, auf dem die Richtlinien für den Fünfjahrplan 1981— 1985 angenommen wurden, ließ neben den wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch die Zeichen einer zunehmenden Strukturkrise, die in den Schwächen des bestehenden Einparteisystems begründet ist, erkennen. + Es zeigte sich immer deutlicher, daß die innenpolitische Entwicklung unter Breschnew zu zahlreichen Widersprüchen geführt hat, die zu dieser Verschärfung beigetragen haben. Auf der einen Seite ist im Sinne der innenpolitischen Zielsetzung am Ausgang der Chruschtschow-Ära eine Hebung des Lebensstandards durch eine stärkere Berücksichtigung der Landwirtschaft und zeitweilig auch der Konsumgüterindustrie angestrebt worden. Ein neuer Anlauf in dieser Richtung ist auf dem XXVI. Parteikongreß unternommen worden. Auf der anderen Seite ist die Aufrüstung forciert worden, die eine stärkere Berücksichtigung der Schwer-und Rüstungsindustrie erforderte. Im Ergebnis ist der Lebensstandard nur in einem geringen Umfange angehoben und sind die Möglichkeiten für eine Modernisierung der Wirtschaft nur in begrenztem Maße wahrgenommen worden.

Ein weiterer Widerspruch hat sich aus der Bereitschaft der Kremlführung ergeben, den Bedürfnissen der Bevölkerung auf wirtschaftlichem und sozialen Gebiet stärker Rechnung zu tragen, andererseits die Zügel auf ideologischem und kulturellem Gebiet straffer anzuziehen. Ein wesentliches Motiv dieser innenpolitischen Verhärtung ist darin zu sehen, daß das bestehende diktatorische System gegenüber unerwünschten Einflüssen der Entspannung, die für die weitere Modernisierung des Landes wichtig ist, in ideologischer Hinsicht abgeschirmt werden sollte.

Weitere Widersprüche bestehen zwischen den Bemühungen um den Aufbau eines „Gesetzesstaates"

und den rigorosen kriminalpolitischen Maßnahmen gegen Regimekritiker, den verstärkten Zentralisierungs-und Russifizierungstendenzen und den in Intensität zunehmenden Emanzipationsbestrebungen einzelner sozialer Gruppen und der nicht-russischen Nationalitäten.

Im Ergebnis ist der totalitäre Charakter der Einparteiherrschaft verstärkt und damit die Anpassung der sowjetischen Staats-und Gesellschaftsordnung an die Anforderungen einer vollentwickelten Industriegesellschaft wesentlich gehemmt worden. Die innenpolitischen Schwierigkeiten, die aus dieser Lage entstanden, sind durch Probleme, die sich aus einer expansiven Außenpolitik ergaben, vergrößert worden. Das Überengagement, das durch die verstärkte Weltmachtpolitik bedingt ist, bedeutet für die sowjetische Wirtschaft eine wachsende Belastung. Das afghanische Abenteuer ebenso wie die Maßnahmen zur Sicherung der Vormachtkontrolle gegenüber den Autonomiebestrebungen der ostmitteleuropäischen Länder erweisen sich als wesentliche Hindernisse, die Modernisierung der Sowjetunion durch den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ost und West zu fördern. Die anhaltende Krise in Polen und die dadurch bedingte komplizierte Lage wirkt sich negativ im gesamten RGW-System aus, behindert die Integrationsbestrebungen in Osteuropa und bedeutet auch in innenpolitischer Hinsicht eine zusätzliche Herausforderung. 2. Die Wachstumsschwierigkeiten der sowjetischen Wirtschaft

Die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion ist seit einiger Zeit durch zunehmende Wachstumsschwierigkeiten gekennzeichnet. Der angestrebte Übergang von einem extensiven zu einem intensiven Wachstum und damit zu größerer Effizienz und Qualität, der mit dem 10. Fünfjahrplan 1976-1980 angestrebt wurde, ließ sich nicht erreichen. Der Rückgang der Wachstumsrate machte sich in mehreren Bereichen der Schwerindustrie und der Konsumgüterindustrie bemerkbar. Der Versuch, gedrosseltes Investitionswachstum durch Steigerung der Produktivität auszugleichen, gelang nicht, da die notwendigen Anreize für eine Erhöhung der Arbeitsprodukti-vität fehlten. Hinzu kam die schwierige Lage in der Landwirtschaft, die hauptsächlich durch drei schlechte Ernten bewirkt wurde und vor allem bei Fleischprodukten zu zunehmenden Versorgungsschwierigkeiten geführt hat.

Das Wachstum des Nationaleinkommens hat sich von einer durchschnittlichen Zuwachsrate von 7, 7 Prozent 1966-1970 bis 1982 nach sowjetischen Angaben auf 2, 6 Prozent verringert. Tatsächlich dürfte die bereinigte Zuwachsrate 1982 nur etwa die Hälfte betragen haben. Die weitere Verringerung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums mit der Tendenz zum Nullwachstum in einzelnen Wirtschaftsbereichen hält weiter an. Diese Entwicklung wurde durch die bisherigen Ergebnisse für 1982 bestätigt. Die Industrieproduktion ist nur um 2, 8 Prozent gewachsen, während der Jahresplan eine Zunahme von 4, 7 Prozent vorsah.

Breschnew ist auf den Plenartagungen des Zentralkomitees in den letzten Jahren immer wieder auf die zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten eingegangen.

Die schlechte Ernte 1981, über die keine sowjetischen Angaben vorliegen, hat schätzungsweise ein Ergebnis von 165 Mio. t Getreide erbracht und die Sowjetunion gezwungen, etwa 45 Mio. t Getreide und Futtermittel hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten einzuführen. Diese Notwendigkeit hat sich auch in Verbindung mit der Ernte 1982, die nür wenig besser war, ergeben.

Die Disproportionen zwischen der Schwerindustrie einerseits, der Konsumgüterindustrie und der Landwirtschaft andererseits haben sich aufgrund dieser Entwicklung weiter vergrößert. Der Mangel an Arbeitskräften und Kapital sowie Engpässe bei der Infrastruktur und den Ressourcen sind geblieben. Hinzu kommen die Inflationsprobleme und die zunehmende Belastung durch die Kosten, die sich aus der regionalen und sektoralen Umstrukturierung der Wirtschaft und den Hilfeleistungen an Polen ergeben. Breschnew bezeichnete auf dem XXVI. Parteikongreß „Unzulänglichkeiten in der Planung und Leitung", „Erscheinungen der Mißwirtschaft“, verbunden mit „Disziplinarverstößen", und eine „Trägheit", die durch die traditionelle Orientierung an der Quantität und nicht der Qualität bewirkt wird, als die Hauptgründe für die Schwierigkeiten und Mängel der sowjetischen Wirtschaft.

Von dem 11. Fünfjahrplan 1981-1985, der mit Bestätigung der Richtlinien durch den Parteikongreß angelaufen ist, kann eine Besserung kaum erwartet werden. Obgleich die Plan-ziele des neuen Fünfjahrplans der schwierigen Lage angepaßt worden sind, lassen die bisher vorliegenden Ergebnisse erkennen, daß sie in den meisten Fällen nicht erreicht werden können. Daher wird die Kremlführung dem als vorrangig bezeichneten Ziel einer Hebung des Lebensstandards, der weiterhin sehr niedrig ist, kaum wesentlich näher kommen, solange sie an der Grundstruktur einer zentralen Planwirtschaft festhält und die Aufrüstung im bisherigen Tempo fortsetzt. Die von Breschnew und dem Ministerpräsidenten Tichonow auf dem XXVI. Parteikongreß genannten Entwicklungsprojekte erfordern einen erhöhten Einsatz von Kapital, das in diesem Umfang in der Sowjetunion nicht vorhanden ist und das sie daher teilweise im Ausland, wie beim Erdgas-Röhren-Geschäft, zu beschaffen versucht.

Die komplizierte Lage der sowjetischen Wirtschaft wird durch die bereits erwähnten wirtschaftlichen Auswirkungen der polnischen Krise, die zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der anderen RGW-Staaten und die ungünstige Entwicklung der „terms of trade" in jüngster Zeit verstärkt. Eine Verschlechterung der sowjetischen Zahlungsbilanz ist mit einer verstärkten Beanspruchung der begrenzten Gold-und Devisenbestände der Sowjetunion, die bereits zum Ankauf von Getreide und für die Hilfeleistungen an Polen stärker herangezogen werden mußten, verbunden gewesen.

Ohne eine wesentliche Verringerung der Rüstungslast und eine tiefgehende Wirtschaftsreform, die vom Vorrang der Konsumgüterindustrie und der Landwirtschaft gegenüber der Schwer-und Rüstungsindustrie ausgeht, werden sich die Wachstumsschwierigkeiten der sowjetischen Wirtschaft nicht überwinden lassen. Das eine setzt die Bereitschaft zur Rüstungskontrolle und Abrüstung, das andere einen entscheidenden Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik im Sinne einer „Neuen ökonomischen Politik" in veränderter Form voraus. In dem einen Fall liegen in den bisherigen sowjetischen Vorschlägen zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, die noch unter Breschnew beschlossen wurden, nur Ansätze für die Möglichkeit einer Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten vor. In dem anderen Fall ist in der Rede Andropows vom 22. November 1982 die Bereitschaft, bei einer künftigen Wirtschaftsreform die Erfahrungen der ostmitteleuropäischen Volksdemokratien zu berücksichtigen, deutlich zum Ausdruck gekommen. Das Interesse Andropows an dem ihm bekannten ungarischen Reformmodell ist bekannt. Die Frage ist lediglich, ob er die Kraft haben wird, eine Wirtschaftsreform durchzuführen, die über die begrenzten Reformmaßnahmen, die von Kossygin verwirklicht werden konnten, wesentlich hinausführt. 3. Tiefgreifende Wandlungen der Gesellschaftsstruktur 7)

Die innenpolitischen Schwierigkeiten der Sowjetunion, die seit dem XXVI. Parteikongreß weiter zugenommen haben, sind nicht nur wirtschaftlicher Natur. Sie sind hauptsächlich dadurch bedingt, daß das bestehende Einparteisystem, bei dem die totalitären Wesenszüge überwiegen, aufgrund seiner zentralistisch-bürokratischen Herrschaftsstruktur weder in der Lage ist, den Modernisierungsprozeß wesentlich voranzutreiben, noch zu einer zufriedenstellenden Lösung der für die Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft maßgebenden Probleme beizutragen. Diese ergeben sich einerseits aus den früher geschilderten Widersprüchen, andererseits aus den Auswirkungen tiefgehender gesellschaftlicher Veränderungen.

Von Breschnew ist auf dem XXVI. Parteikongreß behauptet worden, daß in den siebziger Jahren „eine weitere Annäherung aller Klassen und sozialen Gruppen der sowjetischen Gesellschaft" erfolgt sei. Er begründete diese These mit bestimmten Tendenzen, die bei der Entwicklung der beiden „Klassen" der Arbeiter und Kolchosbauern und der „sozialen Gruppe" der Intelligenz festzustellen seien. Durch eine Bezugnahme auf die ideologisch bedingte formale Einteilung der sowjetischen Gesellschaft in drei soziale Großgruppen lassen sich die tatsächlichen sozialen Strukturveränderungen, die sich in der BreschnewÄra vollzogen haben, nicht erfassen. Der Annäherungsprozeß zwischen den Großgruppen ist nur geringfügig gewesen. Dagegen hat sich die soziale Differenzierung in der gesamten sowjetischen Gesellschaft und ihren einzelnen Teilgruppen weiter verstärkt. Diese Entwicklung ist durch die Fortführung des Verstädterungsprozesses, die territoriale Ausdehnung der Industrialisierung, die den asiatischen Bereich der Sowjetunion stärker erfaßt hat, und durch eine weitere Erhöhung des Bildungsstandes der Bevölkerung wesentlich gefördert worden. Von 1965 bis 1981 hat sich die Stadtbevölkerung in der Sowjetunion von 120, Millionen (52 Prozent) auf 171, 6 Millionen (64 Prozent) erhöht. Die Landbevölkerung hat sich dagegen von 108, 9 Millionen (47 Prozent) auf 97, 2 Millionen (36 Prozent) vermindert. Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten ist verglichen mit den westlichen Industrieländern weiterhin sehr hoch (1977 21, 8 Prozent gegenüber 2-12 Prozent).

Die Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten hat sich in der gleichen Zeit von 76, 9 auf 112, 5 Millionen vergrößert, wobei der Anteil der Angestellten von 27, 3 auf 30 Prozent zu-nahm. Es ist bemerkenswert, daß die erwerbstätigen Spezialisten mit Hochschul-und mittlerer Fachschulbildung, d. h. die Intelligenz, die überwiegend einen Angestelltenstatus besitzt, 1965 noch 15, 7 Prozent, 1980 dagegen bereits 25, 4 Prozent ausmachte.

Bei der Intelligenz, die auch Intellektuelle umfaßt, die keine „Spezialisten" sind, ist zwischen den beiden Teilgruppen der technischen und der wissenschaftlich-kulturellen Intelligenz, die in der Sowjetunion auch „schöpferische Intelligenz" genannt wird, zu unterscheiden. In beiden Teilgruppen, in denen sich der Anteil der Hochschulabsolventen erhöht hat, ist eine zunehmende Differenzierung festzustellen. Das gleiche ist in der Arbeiterschaft und im geringeren Maße in der Kolchosbauernschaft der Fall. Sie hat nicht nur die sozialen Unterschiede zwischen Hochschul-und Fachschulabsolventen, sondern auch zwischen den hochqualifizierten Arbeitern und der Masse der Arbeiterschaft vergrößert. Diese Entwicklung hat nicht, wie Breschnew behauptete, die „führende Rolle der Arbeiterklasse" gefestigt, wohl aber zur Verfestigung des sozialen Vorranges der akademisch gebildeten Teile der Intelligenz und einer bereits in Ansätzen vorhandenen „Arbeiteraristokratie" geführt. Neben einer Oberschicht, der nicht nur Teile der verschiedenen Machteliten angehören, sind somit diejenigen Mittelschichten besonders zu beachten, die allmählich zu einem Mittelstand, zu einer Art „Staatsbourgeoisie" verwachsen.

Nicht überraschend war, daß von Breschnew auf dem XXVI. Parteikongreß bei der Betrachtung der sozialen Struktur der Gesamtbevölkerung und der Partei die „führende Rolle“ der Bürokratie als einer besonderen sozialen Großgruppe verschwiegen wurde. Die Bürokratie überschneidet sich mit der Intelligenz, deckt sich aber nicht mir ihr. Diese Feststellung gilt auch für die an der Macht befindliche politisch-administrative Bürokratie, die der Parteinomenklatur unterliegt und sich bisher überwiegend aus der technischen Intelligenz rekrutierte. Ihre Oberschicht, die man als eine Hochbürokratie bezeichnen kann, ist es, welche die eigentliche Herrschaft ausübt. In ihren Händen liegt das von der KPdSU in Anspruch genommene Macht-, Organisations-und Informationsmonopol. Die Wirtschaftsmanager und die Prestigeelite — bestehend aus Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern, als Spitzengruppen der technischen und wissenschaftlich-kulturellen Intelligenz — üben, soweit sie nicht Herrschaftspositionen einnehmen, nur einen geringen Einfluß auf die Gestaltung der Politik aus. Die herrschende Hochbürokratie ist in der Breschnew-Ara im zunehmenden Maße mit den Spezialisten mit Hochschulbildung verwachsen, wobei sie sich weiterhin hauptsächlich aus der technischen Intelligenz rekrutiert. Auch in der Bürokratie ist eine zunehmende Differenzierung festzustellen. Ihre Teilgruppen machen Sonderinteressen geltend. Das ist ebenfalls in der Hochbürokratie der Fall. Es gibt auch „aufgeklärte Bürokraten", die für die Notwendigkeit von Reformen Verständnis haben.

Die reale soziale Struktur der KPdSU, deren Bestand von 1965 bis 1981 von 11, 8 auf 17, 5 Millionen angewachsen ist, entspricht diesem differenzierten Charakter der sowjetischen Gesellschaft. Der formalen Klassenstruktur nach überwog 1981 unter den Parteiangehörigen die Angestelltenschaft mit 43, 8 Prozent, auch wenn sich der Anteil der Arbeiter auf 43, 4 Prozent erhöht hatte. Der Anteil der Intelligenz war aufgrund der Angaben über den Berufs-und Bildungsstand sehr viel höher. Er hat sich von 34, 6 Prozent 1965 auf 53 Prozent 1981 erhöht, d. h., daß über die Hälfte der Parteikommunisten im Sinne des sowjetischen Selbstverständnisses heute zur Intelligenz gehören. Der Anteil der Hochschulabsolventen unter den Parteiangehörigen hat sich von 1966 bis 1981 von 15, 7 Prozent auf 28 Prozent vergrößert Von einer „führenden Rolle der Arbeiterklasse“ kann bei der KPdSU rein quantitativ keine Rede sein. Die Zusammensetzung der großen Führungsgremien der Partei (ZK, ZRK) läßt trotz dieses Übergewichts der Intelligenz erkennen, daß die KPdSU in erster Linie als eine Interessenvertretung der herrschenden Hochbürokratie und nicht etwa der beiden anderen Spitzengruppen anzusehen ist. Von den Vollmitgliedern des Zentralkomitees der KPdSU gehörten 1981 83, 7 Prozent der Hochbürokratie, 4, 1 Prozent den Wirtschaftsmanagern und der Prestigeelite an. 7, 2 Prozent entfielen auf die Militärs und 5 Prozent auf die angeblich maßgebenden „Klassen" der Arbeiter und Bauern.

Mit dem Sturz Chruschtschows ist für die Angehörigen der Hochbürokratie die früher erwähnte berufliche Unsicherheit weggefallen und damit die Effektivität einer „Kontrolle von oben" wesentlich vermindert worden. Damit ist die für die Breschnew-Ära charakteristische absolute bürokratische Herrschaft entstanden, die zu einer starren Auffassung von Kontinuität und zugleich zu einer zunehmenden Stagnation geführt hat.

Andropow ist sich dieser Lage durchaus bewußt. Offenbar will er durch eine Säuberungsaktion die Hochbürokratie von korrupten und unfähigen Elementen reinigen und die Bürokraten insgesamt aus ihrer Trägheit aufrütteln. Wenn diese Säuberung im Stile Alijews durchgeführt würde, die auf eine soziale Nivellierung hinausläuft, besteht die Gefahr, daß dabei die Teilgruppen der Intelligenz und der Bürokratie in einen Topf geworfen werden und dabei auch eine Zurückdrängung jener Kräfte erfolgt, ohne die tiefgehende Reformen nicht zu verwirklichen sind. Außerdem würde auf diese Weise die früher erwähnte Errungenschaft der Breschnew-Ära, die im weiteren Ausbau der Rechtsordnung und größerer Rechtssicherheit besteht, an der auch die Bürokratie besonders interessiert ist, der Boden entzogen.

Die zunehmende soziale Differenzierung hat zusammen mit den Auswirkungen der wirt-schaftlichen Schwierigkeiten zu wachsenden sozialen Spannungen in der gesamten Bevölkerung geführt. Sie haben die Kremlführung aufgrund der Ereignisse in Polen veranlaßt, sich stärker um die Versorgung der werktätigen Massen mit Lebensmitteln und Konsumgütern zu kümmern. Die Notwendigkeit einer Hebung des Lebensstandards und einer stärkeren Berücksichtigung der Konsumwünsche der Bevölkerung ist von Breschnew im wirtschaftspolitischen Teil seines Referats auf dem XXVI. Parteikongreß und von Tichonow bei der Begründung des neuen Fünfjahrplans besonders betont worden. Sie liegt dem im Mai 1982 angenommenen „Lebensmittelprogramm" zugrunde.

Breschnew ergänzte seine Ausführungen im innenpolitischen Teil durch die Erwähnung einiger sozialpolitischer Maßnahmen, die der weiteren Verbesserung der Arbeits-und Lebensbedingungen der werktätigen Bevölkerung und damit „zur Festigung der materiellen der sozialistischen geistigen Grundlagen Lebensweise" dienen sollten. Ohne Einsparungen im militärischen Bereich wird es Andropow kaum möglich sein, diese Politik, die der sozialen Komponente eine größere Bedeutung zumißt, erfolgreich fortzusetzen. 4. Die Verschärfung der Nationalitäten-frage

Neben den wirtschaftlichen und sozialen Problemen kommt der „nationalen Frage" in der sowjetischen Innenpolitik eine besondere Bedeutung zu, da die Sowjetunion ein Vielvölkerstaat ist, der aus 132 Nationen, Völkerschaften und Volksgruppen besteht.

Breschnew ist als Großrusse in der Ukraine geboren und dort aufgewachsen. Seine Karriere ist wesentlich durch seine Tätigkeit in der Moldau-und Kasachstan-SSR bestimmt worden. Er kannte sich in der Problematik der Nationalitätenfrage besser aus als Chruschtschow. Die Nationalitätenpolitik Chruschtschows war ambivalent. Auf der einen Seite hat er die von Stalin deportierten Nationalitäten rehabilitiert und ihnen bis auf die Wolgadeutschen die Rückkehr in ihre alten Heimatgebiete ermöglicht. Die Rehabilitierung der Krimtataren erfolgte erst 1967 unter Breschnew. Auch ihnen wurde die Rückkehr in ihr altes Heimatgebiet nicht ermöglicht. Chruschtschow hat auch wesentlich zu einer Wiederbelebung des Sowjetföderalismus, der sich nur auf den staatlichen Bereich bezieht, beigetragen. Auf der anderen Seite ist er im Parteiprogramm der KPdSU von 1961 für eine Assimilationspolitik mit dem Ziel einer Verschmelzung der Nationalitäten zu einer russischen Einheitsnation eingetreten.

Breschnew ließ zunächst eine größere Zurückhaltung in der Nationalitätenfrage erkennen. Von 1966 bis 1970 gab es eine rege Diskussion über den Nationsbegriff, der mit einer Bestätigung der Begriffsbestimmung Stalins von 1913, welche die Eigenständigkeit der Nation auf der Grundlage des Territorialitätsprinzips betont, endete.

Die theoretische Begründung für eine verstärkte Russifizierungspolitik ermöglichte erst die These vom einheitlichen Sowjetvolk, die von Breschnew auf dem XXIV. Parteikongreß der KPdSU 1971 aufgestellt wurde. Breschnew sagte: „In den Jahren des sozialistischen Aufbaus ist in unserem Lande eine neue historische Gemeinschaft der Menschen — das Sowjetvolk — entstanden. Bei gemeinsamer Arbeit, im Kampf für den Sozialismus und in den Kämpfen für seinen Schutz wurden neue, harmonische Beziehungen zwischen den Klassen und sozialen Schichten und Nationalitäten geboren."

Die Ausführungen des Parteichefs ließen erkennen, daß unter dem Sowjetvolk mehr zu verstehen ist als nur das Staatsvolk der UdSSR, das sich aus verschiedenen Nationen, Völkerschaften und Volksgruppen zusammensetzt. Gemeint ist das bisher erreichte Ergebnis des Assimilationsprozesses, auch wenn es Breschnew ebenso wie auf dem XXIII. Parteikongreß 1966 zunächst vermied, von der „Verschmelzung" als dem Ziel der angestrebten „allmählichen Annäherung" zu sprechen. Auch in der Parteitagsentschließung zum ZK-Bericht ist bei der Behandlung der nationalen Beziehungen nur von der dialektischen Verbindung des . Aufblühens" und der „Annäherung" die Rede, wobei die Notwendigkeit einer „Festigung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" und eine Berücksichtigung der „Gesamtinteressen des Sowjetstaates" besonders betont werden.

Durch die Verfassungsgesetzgebung seit 1977, durch die der Begriff „einheitliches Sowjetvolk" Eingang in das Verfassungsrecht gefunden hat, ist der sowjetische Föderalismus und damit die Rechtsstellung der territorial geschlossen siedelnden Völker und Volksgruppen wesentlich geschwächt worden. Die beschränkte Staatlichkeit der Unionsrepubliken hat weiter an Substanz verloren. Der Russifizierungsprozeß wird durch die starke Betonung des Russischen, dem in den Verfassungen der Weißrussischen, der Moldauischen und Kasachischen SSR sogar der Rang einer zweiten Nationalsprache zugesprochen worden ist, wesentlich gefördert. Die Sprachen-frage hat im Kaukasus während der Verfassungsdiskussion besondere Unruhe erzeugt. In Georgien und Armenien löste die Absicht, die in den bisherigen Verfassungen der kaukasischen Unionsrepubliken enthaltene Erwähnung der jeweiligen Nationalsprache als Staatssprache zu streichen, einen Sturm der Entrüstung aus. Er veranlaßte die Kremlführung, nachzugeben und in allen Verfassungen der drei kaukasischen Unionsrepubliken, damit auch in der Aserbeidschanischen SSR, an der bisherigen Regelung festzuhalten.

Die Russifizierungstendenz ist in der geheimgehaltenen Sprachenverordnung vom 13. Oktober 1978 deutlich zum Ausdruck gekommen. Zu ihrer Durchführung fand im Mai 1979 eine wissenschaftlich-theoretische Konferenz in Taschkent zum Thema „Die russische Sprache — Sprache der Freundschaft und Zusammenarbeit der Völker der UdSSR" statt. Sie war vor allem der Intensivierung und Verbesserung des Russischunterrichts bei nichtrussischen Völkern und Volksgruppen gewidmet. Das liegt auch im Interesse der militärischen Führung, da die Zahl der Nichtrussen in der Sowjetarmee, die oft nur über beschränkte Kenntnisse der russischen Sprache verfügen, in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird.

In einer besonders ungünstigen Lage befinden sich die nicht geschlossen siedelnden Volksgruppen wie die Juden und Deutschen, da der Gedanke der Kulturautonomie, der auf dem Personalitätsprinzip beruht, von sowjetischer Seite aus ideologischen Gründen abgelehnt wird. Daher ist gerade bei ihnen der Wunsch nach Auswanderung in zunehmendem Maße spürbar.

Die wachsende Unruhe unter den nichtrussischen Nationalitäten und der zunehmende Widerstand gegen die sprachliche Russifizierungspolitik scheint die Kremlführung zu beunruhigen. Früher hatte Breschnew in jeder Jubiläumsrede behauptet, daß die „nationale Frage" in der Sowjetunion endgültig gelöst sei. Auf dem XXVI. Parteikongreß 1981 gab er jedoch zu, daß die festgefügte „Einheit der sowjetischen Nationen“ nicht besagen würde, „daß alle Fragen auf dem Gebiet der nationalen Beziehungen bereits gelöst sind". Er unterließ es, die führende Rolle des russischen Volkes innerhalb der sowjetischen Nationen und die Forderung nach der russischen Sprache als der dominierenden „zweiten Muttersprache" besonders hervorzuheben. Breschnew erklärte, daß die KPdSU, der angeblich Chauvinismus und Nationalismus fremd seien, Tendenzen, mit denen die nationalen Besonderheiten künstlich verwischt werden, ablehnen würde, und forderte von Seiten der Partei „Feingefühl und Aufmerksamkeit" gegenüber den mit einem „großen multinationalen Staat“ verbundenen Problemen. Aus den weiteren Äußerungen Breschnews war zu ersehen, daß an dem „Prozeß der allseitigen Annäherung“, d. h.der Assimilationspolitik, festgehalten wird. Die Kremlführung glaubt ihn eher durch wirtschafts-und sozialpolitische Maßnahmen, die einer verstärkten Angleichung des Entwicklungsniveaus der einzelnen Unionsrepubliken dienen sollen, zu erreichen. Die Fortführung der Russifizierung wird mittelbar mit der Notwendigkeit begründet, den Neu-bürgern anderer Nationalität, deren Zahl sich in den einzelnen Republiken „beträchtlich erhöht" hat, „ihre spezifischen Bedürfnisse in bezug auf Sprache, Kultur und Lebensbedingungen" zu gewährleisten. Der taktische Rückzug wird ideologisch durch eine Phasenverschiebung im Assimilationsprozeß gerechtfertigt. Seit dem XXIV. Parteitag 1971 ist davon ausgegangen worden, daß sich als Zwischenergebnis auf dem Wege zu einer einheitlichen Sowjetnation mit russischer Hochsprache das „einheitliche Sowjetvolk" als eine „historisch neue internationale Menschengemeinschaft" herausgebildet habe. Jetzt wird die „Herausbildung der Kultur des einheitlichen Sowjet-volkes — einer neuen sozialen und internationalen Gemeinschaft" — als ein noch zu erreichendes Ziel hingestellt.

Bei der Brisanz der Nationalitätenfrage wird es wichtig sein, in welchem Maße es Andro-B pow möglich sein wird, den nichtrussischen Nationalitäten mehr Autonomie zuzugestehen. Andropow stammt aus dem Nordkaukasus, in dem zahlreiche Völkerschaften leben. Er hat seine Jugend in Finno-Karelien verbracht und hat sich dabei auch Kenntnisse über das benachbarte Finnland angeeignet. Seine Jubiläumsrede vom 21. Dezember 1982, aus Anlaß der Gründung des sowjetischen Bundesstaates vor 60 Jahren, läßt erkennen, daß er sich der Problematik des Vielvölkerstaates und des wachsenden Selbstbewußtseins der einzelnen Nationalitäten bewußt ist. Er hält aber an der von Breschnew aufgestellten These vom einheitlichen Sowjetvolk fest und gedenkt die Assimilationspolitik mit dem Endziel der Verschmelzung zu einer russischen Einheitsnation in vorsichtiger Form weiter fortzusetzen. Er legt größeres Gewicht auf eine verstärkte wirtschaftliche Integration aufgrund einer rationellen Verteilung und Ausnutzung aller Produktivkräfte im gesamtstaatlichen Rahmen, welche den geringen wirtschaftlichen Spielraum der einzelnen Nationen weiter einengen würde. 5. Gesellschaftlicher Bewußtseinswandel, Ideologieverfall und Generationsproblematik

Zwei Beweggründe waren es, welche die Reformer und Revolutionäre unter der alten russischen Intelligenz veranlaßten, sich für eine Veränderung oder Überwindung des autoritären zaristischen Systems einzusetzen: erstens das Streben nach sozialer Gerechtigkeit, zweitens der Wunsch nach einer beschleunigten Modernisierung Rußlands. Diese beiden Beweggründe, die sich heute auf das sowjet-kommunistische System beziehen, haben sich im verstärkten Maße in der Breschnew-Ära bemerkbar gemacht.

An erster Stelle geht es diesmal um die Sicherung der Freiheitsrechte und weniger um das fortbestehende Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit, das von der sozialistischen Komponente des Bolschewismus nur im begrenzten Maße befriedigt worden ist. Es spielt aber neben der Suche nach der Wahrheit eine wesentliche Rolle in der kritischen sowjetischen Literatur. Man denke nur an Jurij Trifonow, Tschingis Ajmatow und viele andere Schriftsteller, die zu einem großen Teil in die Emigration gezwungen worden sind An zweiter Stelle steht das Bewußtsein von der Notwendigkeit, den Anschluß an die neue Etappe der Modernisierung in der Welt zu finden, die durch die wissenschaftlich-technische Revolution ausgelöst worden ist

In der ersten Frage sind es vorläufig nur die Reformkräfte der Intelligenz, welche die Forderung nach mehr Freiheit und ihrer rechtlichen Sicherung erheben, die auch von einzelnen aufgeklärten Bürokraten geteilt wird. An der Lösung der zweiten Frage ist ein großer Teil der herrschenden Hochbürokratie nicht minder interessiert als die Intelligenz. Sie möchte aber die Verknüpfung zwischen beiden Problemen nicht wahrhaben und versucht daher, die Frage ohne wesentliche Veränderung des bestehenden Systems zu lösen. Sie wird in dieser Einstellung durch die konservative Grundhaltung großer Teile der Bevölkerung begünstigt.

Durch die bürokratische Herrschaft wird die wissenschaftlich-kulturelle Intelligenz sehr viel stärker benachteiligt, als dies bei der technischen Intelligenz der Fall ist Daher ist es nicht verwunderlich, daß die wissenschaftlich-kulturelle Intelligenz die soziale Basis nicht nur der Dissidenten, sondern auch der meisten anderen Reformkräfte in der Sowjetunion bildet. In schwächerem Maße machen sich diese Reformkräfte in der technischen Intelligenz und zum Teil auch in der Arbeiterschaft bemerkbar. So sind mehrere Fälle bekanntgeworden, in denen sich Gruppen von Arbeitern für die Bildung von freien Gewerkschaften ausgesprochen haben.

Während die Hochbürokratie für die Aufrechterhaltung der unumschränkten Herrschaft der Partei eintritt, setzen sich die Reformkräfte in der Intelligenz für mehr geistige Freiheit und die Verwirklichung der allgemeinen Menschenrechte ein. In dieser Auseinandersetzung zwischen den fortschrittlichen und reaktionären Kräften in der sowjetischen Gesellschaft kommt ein latenter Konflikt zum Ausdruck, der zwischen dem hauptamtlichen Parteiapparat als dem eigentlichen Träger der totalitären Herrschaft und denjenigen Teilen der sowjetischen Oberschicht und gehobenen Mittelschicht besteht, die zwecks Verwirklichung ihrer Sonderinteressen größere Autonomie und einen größeren Anteil an der politischen Macht anstreben. Die Dissidenten die sich selbst vorwiegend als eine „demokratische Opposition" bezeichnen und teilweise sehr unterschiedliche Auffassungen vertreten, sind dabei als Vorboten eines Entwicklungsprozesses anzusehen, dem sich die Sowjetunion nicht entziehen kann, wenn sie nicht gegenüber dem Westen weiter Zurückbleiben will. Das Offizierskorps ist zwar Teil der Machtelite, doch auch in ihm hat es Dissidenten gegeben. Das läßt erkennen, daß auch die Streitkräfte von der grundsätzlichen Auseinandersetzung über den künftigen Weg Rußlands nicht ausgenommen sind.

Das Hervortreten der Dissidenten steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bewußtseinswandel, der teilweise durch den sozialen Wandel bedingt ist, aber auch, wie die wachsende Religiosität auch in der Jugend zeigt, geistige Wurzeln hat. Neben der formellen Organisation des sowjetkommunistischen Einparteistaates, die sich in der Breschnew-Ära nur in einem begrenzten Maße geändert hat, hat sich eine vielgestaltige informelle Ordnung der Gesellschaft entwickelt, die wie ein Eisberg nur mit ihrer Spitze, den engagierten Teilen der Sowjetintelligenz, aus dem tiefen Wasser ragt. Dieser Eisberg weist verschiedene Schichten auf, in denen unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, was geschehen müßte, um das bestehende System zu verbessern oder zu verändern. Es überwiegt zunehmend das Gefühl, sich in einer unwegsamen Lage, in einer Sackgasse zu befinden, wie es der verstorbene Schauspieler Wladimir Wyssozkij so treffend in seinen Liedern beschrieben hat — ein Gefühl, das sich beim Eintritt in eine repressive Phase noch verstärken würde. Es nimmt das Bewußtsein zu, daß etwas zu geschehen hat, daß die bürokratische Erstarrung überwunden werden muß, wenn Rußland den Anschluß an die Moderne finden will. Es breitet sich in zunehmendem Maße eine Stimmung aus, wie sie Maxim Gorkij , in seinen „Sommergästen" unübertrefflich zum Ausdruck gebracht hat. Es ist das Wissen oder Ahnen, das alles besser gemacht werden könnte, aus dem der Impuls zur Veränderung erwächst. Im innerrussischen Bereich fehlt vorläufig noch die Verbindung zu den Massen, die dem Willen zur Veränderung die notwendige Stoßkraft verleihen würde. Anders sieht es im Baltikum und der westlichen Ukraine, teilweise aber auch im Kaukasus und Turkestan aus. Das macht die Nationalitätenfrage für die Kreml-führung so brisant.

Hinzu kommt, daß die Gedanken, die von den Dissidenten und den kritischen Schriftstellern artikuliert werden, besonderen Widerhall in der Intelligenz und vor allem in der Jugend finden. Dagegen ist der Einfluß der offiziellen Ideologie trotz verstärkter Indoktrination immer mehr zurückgegangen Die marxistisch-leninistische Ideologie hat bereits unter Stalin ihren Charakter als Antriebsideologie und als ein Mittel zur Mobilisierung der Massen verloren und ist in immer stärkerem Maße eine Rechtfertigungs-und Verhüllungsideologie geworden. Dieser Erosionsprozeß hat sich unter Chruschtschow fortgesetzt. Das Parteiprogramm der KPdSU von 1961 war aufgrund seines utopischen Charakters nicht in der Lage, eine Änderung herbeizuführen. Die Bemühungen Suslows, neben dem dialektischen und historischen Materialismus und der Politökonomie eine ideologisch bestimmte Politische Wissenschaft in Gestalt der Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus zu entwickeln, haben zu keiner Stärkung der Ideologie geführt. Sie haben sie vielmehr gegenüber äußeren Einflüssen empfänglicher gemacht. Diese sind in den Versuchen, eine ideologiefreiere eigenständige Politische Wissenschaft und Soziologie zu entwickeln, sichtbar geworden. Auch dem Versuch Suslows, auf der Grundlage des „Ideologieedikts" vom 26. April 1979 die politisch-ideologische Erziehungsarbeit und die damit verbundene propagandistische Tätigkeit aktueller, offener und lebendiger zu gestalten, sollte kein Erfolg beschieden sein. Die Theorie von der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“, die zuerst von Ulbricht auf die Verhältnisse in der DDR bezogen wurde, bot Breschnew und Suslow die Möglichkeit, eine Abkehr von der utopischen Zielset-zung des Zwanzigjahrplans, der im Parteiprogramm enthalten war, zu vollziehen.

Mit der These, daß die Etappe des „entwickelten" und „reifen" Sozialismus bisher nur in der Sowjetunion erreicht worden sei, konnte der ideologische Führungsanspruch der Sowjetunion auf der Grundlage eines niedrigeren Anspruchsniveaus im Verhältnis zu den anderen „sozialistischen Staaten" aufrechterhalten werden. Die sich dadurch ergebende Notwendigkeit zu einer Änderung des Parteiprogramms ist durch die Annahme der neuen Bundesverfassung der UdSSR von 1977 verstärkt worden. Inwieweit die auf dem XXVI. Parteikongreß beschlossene Neufassung des Parteiprogramms der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Sowjetunion und ihren Problemen besser gerecht wird, wird sich zeigen. Diese Wirklichkeit ist, abgesehen von den wachsenden sozialen Spannungen, vor allem durch den zunehmenden Druck der nachrükkenden Generationen bestimmt, die in der herrschenden Hochbürokratie nur unzureichend vertreten sind Die Überalterung der ZK-Mitglieder ist daraus zu ersehen, daß der Anteil der Vollmitglieder von 51 bis 60 Jahren 1981 37 Prozent und der über 60jährigen 54 Prozent betrug. Auf die Vollmitglieder von 40 bis 50 Jahren entfielen etwa 6 Prozent. Nur 0, 3 Prozent der ZK-Mitglieder waren jünger als 40 Jahre.

Durch seine behutsame Kaderpolitik hat Breschnew den natürlichen Prozeß der Wach-ablösung zwischen den Generationen wesentlich verzögert. Wenn diese Wachablösung von Andropow nicht bald nachgeholt wird, ist es durchaus möglich, daß sich ein bald aufeinanderfolgender zweifacher Generationswechsel als notwendig erweisen kann. Je länger der Generationswechsel hinausgeschoben wird, um so explosiver könnte sich die Generationsfrage in Verbindung mit der zunehmenden Kluft zwischen einem in der Tradition der Breschnew-Ära beharrenden Regime und einer sich weiter wandelnden Gesellschaft erweisen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die vorliegende Darstellung beschränkt sich auf eine Analyse des Politischen Systems und der Innenpolitik unter Breschnew (unter Ausklammerung des kulturellen Bereichs).

  2. Die einzelnen Veränderungen in der obersten Partei-und Staatsführung und die Entwicklung, die zu ihnen geführt hat, ist vom Verfasser in „Osteuropa" näher dargestellt worden. Eine eingehende Analyse der großen Führungsgremien der KPdSU, des Zentralkomitees und der Zentralen Revisionskommission findet sich in den Sonderheften von „Osteuropa" zum XXIII., XXIV., XXV. und XXVI. Parteikongreß der KPdSU. Vgl. hierzu ferner T. H. Rigby, The Soviet Leadership: Towards a Self-Stabilizing Oligarchy?, Soviet Studies, October 1970, S. 167 ff; J. F. Hough, The Brezhnev Era: The Man and the System, Problems of Communism, March-April 1976, S. 1 ff.; ders., Soviet Succession: Issues and Personalities, ebenda, September—October 1982, S. 20ff.: W. G. Hyland, Kremlin Politics, ebenda, January—February 1982, S. 17 ff; S. I. Ploss, Soviet Succession: Signs of Struggle, ebenda, September—October 1982, S. 41 ff.

  3. Zur neuen Bundesverfassung der UdSSR und zur Verfassungsentwicklung unter Breschnew vor der Annahme der Unionsverfassung vgl. B. Meissner, Die Verfassungsentwicklung der Sowjetunion seit dem Tode Stalins, in: Jb. d. öff. Rechts der Gegenwart N. F., Bd. 22, 1973, S. 167 ff., 184 ff., 198 ff.; ders., Die neue Bundesverfassung der UdSSR, ebenda, Bd. 27, 1978, S. 321— 430, Verfassungtext, ebenda, S. 431— 451, vgl. ferner das Sonderheft „Die neue Verfassung der UdSSR", „Osteuropa-Recht“, 1— 2/1978; A. L. Unger, Constitutional Development in the USSR, London 1981.

  4. Zu den einzelnen Gesetzgebungsakten vgl. 0. Luchterhandt, Die Gesetzgebungsreform in der UdSSR seit 1977, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln, 23/1981. Vgl. hierzu auch G. Brunner, Die neue Sowjetverfassung und ihre Auswirkungen auf die Rechtsordnung, in: Die Sowjetunion heute. Innenpolitik, Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin 1981, S. 37 ff.

  5. Zur innenpolitischen Entwicklung der Sowjetunion unter Breschnew vgl. die laufende Berichterstattung des Verfassers in „Osteuropa" und seine Beiträge in „Europa-Archiv" und „Die Sowjetunion heute“, Berlin 1981, S. 10 ff.; vgl. ferner H. Brahm, H. -H. Höhmann, Chr. Meier, Sowjetische Politik heute. Probleme und Alternativen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/78; H. Brahm, Beharrung und Veränderung in der sowjetischen Innenpolitik, ebenda, B 48/81, S. 11 ff.; S. Bialer, Stalins Succes-sors. Leadership, Stability and Change in the Soviet Union, Cambridge, Mass. 1980; S. Bialer, Th. Gustafson (Hrsg.), Russia at the Crossroads, London 1982. Hinzuweisen ist auch auf die Analysen in den Jahr-büchern über die Sowjetunion, die vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln, herausgegeben werden.

  6. Zur Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft unter Breschnew vgl. H. -H. Höhmann, Der erstarkte Koloß. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsreformpolitik der UdSSR in der Ära Breschnew, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/81, S. 23ff.; ders., Sowjetische Wirtschaft 1981/82: Wirtschaftslage, Stand des 11. Fünfjahresplans, Entwicklungsperspektiven, alternative Modelle der Wirtschaftspolitik, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 32/1982; ders., Sowjetische Wirtschaft seit 1979 — Zwischentief oder Dauerkrise. Aktuelle Analysen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, 30— 31/1982; ders., Sowjetische Wirtschaft am Ende der Ära Breschnew: Bilanz und Ausblick, ebenda, 33/1982. Vgl. ferner die Analysen von P. Knirsch in den Parteitags-Sonderheften von „Osteuropa" und seinen Beitrag in: Die Sowjetunion heute, a. a. O., S. 53 ff.; G. Grossmann, An Economy at Middle Age, Problems of Communism, March to April 1976, S. 18 ff.; A. Bergson, Soviet Economic Slowdown and the , 1981— 85 Plan, Problems of Communism, May—June 1981, S. 24ff.

  7. Vgl. B. Meissner, Die Wandlungen der Sowjetgesellschaft, in: 60 Jahre Sowjet-Rußland, Hannover 1977, S. 36 ff.; ders., Die besonderen Wesenszüge der sowjetischen Bürokratie und die Wandlungs-Möglichkeiten des Einparteisystems, in: B. Meissner, G. Brunner, R. Löwenthal (Hrsg.), Einparteisystem und bürokratische Herrschaft, Köln 1978, S. 81 ff.. Zur Sozialstruktur der Industriearbeiter vgl. die Monographie von W. Teckenberg, der Kolchosbauern und Landarbeiter die Arbeiten von K. -E. Wädekin; vgl. ferner die Abschnitte Soviet Society & Sociology, in: Survey, Summer 1973; Soviet Society in Flux, Problems of Communism, November—December 1974. Die Zahlenangaben ab 1980 sind den statistischen Jahrbüchern der So-wjetunion — SSSR v ciffrach — entnommen. Zum Wandel der Sozialstruktur der KPdSU vgl. die Analysen des Verfassers in „Osteuropa".

  8. Vgl. B. Meissner, Nationalitätenfrage und Sowjetideologie, in: G. Brunner, B. Meissner (Hrsg.), Nationalitätenprobleme in der Sowjetunion und Osteuropa, Köln 1982, S. 18 ff.; G. Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion seit Stalin, ebenda, S. 56 ff.; ders., Die nichtrussischen Völker als Elemente des Wandels in der sowjetischen Gesellschaft, in: Die Sowjetunion heute, a. a. O., S. 65 ff.; ders., Nationalismus in der Sowjetunion, in: H. A. Winkler (Hrsg.), Nationalismus in der Welt von heute, Göttingen 1982, S. 82 ff. Vgl. ferner H. Carröre d'Encausse, Risse im Roten Imperium. Das Nationalitätenproblem in der Sowjetunion, Wien 1979; F. Rakowska-Harmstone, The Dialectics of Nationalism in the USSR, Problems of Communism, May—June 1974, S. Iff., und den Abschnitt „Nationalism in the USSR“ in: Survey, Summer 1979.

  9. Vgl. die Berichte von Wolfgang Kasack über die übersetzte russische Literatur in „Osteuropa" und m Hinblick auf die emigrierten Schriftsteller die Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Kontinent".

  10. Zu den Auswirkungen der wissenschaftlich-kulturellen Revolution vgl. G. Buchholz, Am Ende der Neuzeit, Stuttgart 1978; ders., Wissenschaftlich-technische Revolution und Wettbewerb der Systeme, in: Osteuropa, 22. Jg., 1972, S. 340ff.

  11. Zu den Dissidenten vgl. A v. Tarnow, Demokratie in der Illegalität, Stuttgart 1976; C. Gerstenmaier, Die Stimmen der Stummen, Stuttgart 1971; B. Lewytzkyj, Politische Opposition in der Sowjetunion 1960— 1972, München 1972; ders., Die linke Opposition in der Sowjetunion, Hamburg 1974; H. Brahm (Hrsg.), Opposition in der Sowjetunion, Düsseldorf 1972; ders., Die sowjetischen Dissidenten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46/78; ders., Die sowjetischen Dissidenten — Strömungen und Ziele, in: Die Sowjetunion heute, a. a. O., S. 77ff.

  12. Vgl. J. Bushnell, The New Soviet Man Turns Pessimist, Survey, Spring 1979, S. 1 ff.

  13. Vgl. R. Thomas, Ideologie und Politik in der Sowjetunion, in: H. G. Wehling (Red.), Sowjetunion, Stuttgart 1981, S. 60ff.

  14. Vgl. W. D. Connor, Generation and Politics in the USSR, Problems of Communism, September to October 1975, S. 20ff.

Weitere Inhalte

Boris Meissner, Dr. jur., Dipl. -Volkswirt, geb. 1915 in Pleskau; o. Professor und Direktor des Instituts für Ostrecht der Universität Köln; 1961— 1971 Mitglied des Direktoriums des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln; 1959— 1982 Mitglied des Direktoriums des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung, Köln; Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Das Ende des Stalin-Mythos, Frankfurt 1956; Rußland unter Chruschtschow, München 1960; Bilanz der Ära Chruschtschow (mit Erik Boettcher, Hans-Joachim Lieber), Stuttgart 1966; Sowjetgesellschaft im Wandel, Stuttgart 1966 (englisch Notre Dame 1972); Gruppeninteressen und Entscheidungsprozeß in der Sowjetunion (mit Georg Brunner), Köln 1975; Einparteisystem und bürokratische Herrschaft in der Sowjetunion (mit Georg Brunner und Richard Löwenthal), Köln 1978; Das Verhältnis von Partei und Staat im Sowjetsystem, Opladen 1982.