Wenn 1983 eine wahre Flut von Fernseh-und Rundfunksendungen, eine Unzahl von politischen Veranstaltungen und wissenschaftlichen Kongressen, eine Welle von populärwissenschaftlicher Literatur und Illustriertenberichten über uns hereinbricht, weil fünfzig Jahre nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten die Erinnerung an dieses Ereignis und seine bis heute fortwirkenden Folgen wachgehalten oder kommerziell ausgebeutet werden soll, wird sich mancher — gleich welcher Generation er angehört — danach fragen, welche Bedeutung dieses Datum überhaupt noch für ihn hat.
Fünfzig Jahre sind keine geringe Spanne, und es gibt Epochen, in denen die Zeit in den Katarakten der Geschichte beschleunigt verläuft. Ein halbes Jahrhundert nach dem Wendepunkt, als Napoleons Kaisertum die Zähmung der Revolution zu symbolisieren schien, brachen die europäischen Revolutionen von 1848 aus. Ein halbes Jahrhundert nach 1848 starb mit Bismarck jene Persönlichkeit, ohne welche die neue Staatsbildung des großpreußischen Reiches in der Form von 1871 nicht zustande gekommen wäre; und der Spanisch-Amerikanische Krieg besiegelte mit dem Auf-ImRückblick drängt sich erneut die Frage auf, wie man sich in der Bundesrepublik mit der ungeheuren Bürde der NS-Zeit auseinandergesetzt, wie man die schier erdrückenden Probleme dieser jüngsten Vergangenheit zu verarbeiten versucht hat. Dabei lassen sich einige Phasen ziemlich klar unterscheiden: Als nach Kriegsende die Betäubung durch den totalen Krieg, durch Bombennächte, Flucht und Evakuierung noch anhielt, setzte in den drei westlichen Besatzungszonen die „Reeducation" ein. Insbesondere in der amerikanischen und britischen Zone verstand man darunter den Versuch, durch Aufklärung über die wahre Natur des nationalsozialistischen Regimes, die Steigerung seiner Verfolgungspolitik bis zur „Endlösung", die Brutalität eines fünfeinhalb Jahre lang von Deutschland geführten Weltkriegs, nicht zuletzt aber auch über stieg der Vereinigten Staaten zur Weltmacht das Vordringen jener zweiten Flügelmacht neben Rußland, die der globalen Vorherrschaft Europas binnen kurzem ein Ende bereiten sollte. Ein halbes Jahrhundert nach 1898 hatte Europa einen zweiten Dreißigjährigen Krieg erlebt und war in zwei Weltkriegen, wie es zunächst schien, nahezu ausgebrannt; aus dem hypertrophen „Großdeutschen Reich" waren am Ende dieser Periode zwei deutsche Kleinstaaten hervorgegangen. Und ein halbes Jahrhundert nach 1933 ist die Bundesrepublik Deutschland rund dreimal so alt wie die Weimarer Republik — jenes erste Experiment mit einer deutschen Demokratie, die zwischen 1930 und 1932 bereits ihrem Scheitern entgegen ging.
Es lohnt sich, daran zu erinnern, was die Geschichte in den Verlauf eines halben Jahrhunderts alles hineinpressen kann. Und es ist ganz besonders notwendig, die Erinnerung an die Taten des NS-Regimes wachzuhalten, das seit dem 30. Januar 1933 in Europa die tiefsten Spuren hinterlassen hat, aber auch vielerorts auf dem Globus zu unübersehbaren Veränderungen geführt hat, die mittelbar damals in Berlin begannen.
Naive „Reeducation"? die Vorgeschichte der „Machtergreifung" und verhängnisvolle Fehlentwicklungen in der deutschen Vergangenheit überkommene Illusionen aufzulösen und ein realistisches Verhältnis zur eigenen Geschichte zu schaffen. Diese neue Einstellung galt als der Nährboden, auf dem sich dann eine bereitwillige Übernahme demokratisch-parlamentarischer Verfassungsformen vollziehen werde. Indem die Besatzungsmächte auf den Inhalt der Schullehrbücher und die Tendenz der neu lizenzierten Zeitungen Einfluß nahmen, zahlreiche politische und wissenschaftliche Veranstaltungen über einschlägige Themen förderten, dem Besuch von Dokumentarfilmen über das „Dritte Reich" nachhalfen usw., bemühten sie sich, diese „Umerziehung" zu verwirklichen. Als der „Kalte Krieg" seinem Höhepunkt entgegenstrebte, die Bundesrepublik gegründet wurde und das Ost-West-Verhältnis neue Probleme aufwarf, wurde das großangelegte Experiment stillschweigend aufgegeben. Seither ist es üblich geworden, das ganze Unternehmen mit ironischer Kritik oder arroganten Bemerkungen über die Naivität der „Besatzer" abzutun. Ist diese Einstellung jedoch angebracht?
Nach der von den Alliierten soeben buchstäblich hautnah erlebten mörderischen Menschenverachtung des NS-Regimes, das sich bis weit in den Krieg hinein auf die bereitwillige Akklamation einer großen Mehrheit der Bevölkerung hatte verlassen können, bedeutete die „Reeducation" im Grunde einen noblen Versuch, in der Tradition der Aufklärung Menschen für demokratische Formen des politischen und gesellschaftlichen Lebens zu gewinnen, indem man sie über die Ursachen ihrer selbstverschuldeten Misere aufklärte. Erziehung zu selbstkritischer Haltung, zur Mündigkeit, zum demokratischen Staatsbür-ger wurde oft mit dem Pathos, das auch den Pädagogen der Aufklärung eigen gewesen war, betrieben, wohl auch mit zuviel weltfremdem Vertrauen auf die schnelle Wirkung vernünftiger Anleitung zum Besseren. Kritik ist da leicht möglich. Vergleicht man aber diese Anstrengung, unmittelbar nach einem zweiten totalen Weltkrieg Millionen von Menschen durch eine neue politische Erziehung zur Distanzierung vom Nationalsozialismus und für die Sache der Demokratie zu gewinnen, mit der gnadenlosen Liquidierungs-und Unterdrückungspolitik, wie sie im Bereich der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der Frühphase der DDR praktiziert wurde, kann die kurzlebige „Reeducation" -Politik vor der historischen Kritik wohl bestehen. Obwohl sie ihre selbstgesetzten Ziele nicht erreichte, sind von ihr doch zahlreiche wichtige Impulse ausgegangen, denen ein herablassendes Achselzucken keineswegs gerecht wird.
Scheitern der „Entnazifizierung“
Die „Reeducation" überschnitt sich mit der ebenfalls von den Besatzungsmächten initiierten „Entnazifizierung", die im Grunde auch schon nach wenigen Jahren aufgegeben wurde. Vielleicht waren die Spruchkammern von Anfang an überfordert, als sie aus einer Bevölkerung, die nach dem „Anschluß" Österreichs in einem Plebiszit wahrscheinlich mit 95 % der Stimmen Hitlers Politik bejaht hätte und jahrelang die Kriegsanstrengung bereitwillig mitgetragen hatte, möglichst alle Schuldigen herausfiltern sollten. Viele der wahren Verbrecher verbargen sich lange genug, entkamen nach Südamerika, fielen unter eine Amnestie oder fanden später geschickte Anwälte, die für den begehrten „Persilschein" oder eine niedrige Einstufung sorgten. Die weithin unbekannten „Schreibtischtäter", deren bürokratisch exakte Vorbereitung des Massenmords an Juden und „Fremdvölkischen" die „Banalität des Bösen" (H. Arendt) demonstrierte, blieben meist unbehelligt, fanden alsbald den Weg zurück ins sogenannte bürgerliche Leben. Niedere Chargen unter den „Goldfasanen" jedoch, gegen die sich in einer überschaubaren Umwelt genug Groll angehäuft hatte und die bekannt geblieben waren, wurden häufiger verurteilt. Die „kleinen Fische", hieß es, zappelten im Netz, die großen wurden nur in seltenen Fällen gefangen. Einige der spektakulären Nürnberger-Prozesse führten zu Todesurteilen oder längeren Haftstrafen für SS-Führer, Offiziere, Unternehmer und Manager an den Schalthebeln der NS-Wirtschaft. Freilich umgab die Nürnberger Prozesse von Anfang an der Ruch der Siegerjustiz, ihre psychopolitische Demonstrationswirkung sollte man daher nicht überschätzen, und außerdem erfaßte die alliierte Gerichtsbarkeit nur eine schmale Spitzengruppe, die an prominenter Stelle der braunen Diktatur gedient hatte.
Das Versickern der „Entnazifizierung" und „Reeducation" stand in einem eigentümlichen Kontrast zu der Häufigkeit, mit der man seit dem Ende der vierziger und dem Beginn der fünfziger Jahre die „Bewältigung der Vergangenheit" beschwor. Der Ausdruck als solcher war nicht besonders glücklich gewählt — suggerierte er doch die Vorstellung, man könne in überschaubarer Zeit die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Barbarei wie eine schwierige Schulaufgabe „bewältigen" und dann endgültig einen Schlußstrich ziehen. Dennoch drückte diese Formel auch die Bereitschaft aus, sich mit dem Nationalsozialismus, mit seiner Vorgeschichte, seiner Regimephase, seiner Kriegszeit mehr oder minder intensiv zu beschäftigen. Hier ist eine scharfe Unterscheidung zwischen der politischen und privaten Reaktion auf den Nationalsozialismus einerseits, der wissenschaftlichen Auseinandersetzung andererseits geboten. Im Bereich der Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungen stellte sich im Prinzip eine klare Alternative: Entweder konnte man den Kurs einer kompromißlosen Distanzierung von der braunen Vergangenheit befürworten und ihn in praktische Maßnahmen übersetzen. Das hätte eine Unzahl von nachweislich Kompromittierten vor die Gerichte des Landes gebracht, sie zumindest in eine einflußlose Randzone von Gesellschaft und Politik verwiesen. Für Verwaltung und Wirtschaft, um nur zwei Beispiele zu nennen, wäre dadurch fraglos eine einschneidende Beeinträchtigung ihrer Funktionsfähigkeit eingetreten, bis neu heranzubildende Fachkräfte mit hinreichender Sachkompetenz hätten einspringen können. Die vermutlich langwierigen Schwierigkeiten einer solchen rigorosen Umstellung lassen sich nicht leugnen, aber man könnte sehr wohl argumentieren, daß nach der Ungeheuerlichkeit des Hitlerreiches eine solch tiefe Zäsur eine angemessene Reaktion dargestellt hätte und die „sozialen Kosten", welche diese Entscheidung fraglos involviert hätte, zu tragen waren.
Die zweite Möglichkeit bestand darin, sich auch mit aller Entschiedenheit vom Nationalsozialismus zu distanzieren, in der praktischen Politik aber kompromißbereit, gewissermaßen mit laxer politischer Moral zu verfahren, sich über eine böse Vergangenheit in der Bürokratie, in der Justiz, im Schulwesen, in der Wirtschaft sogar ganz hinwegzusetzen, wenn Expertenfähigkeit als Gegenleistung geboten wurde. Auf diese Weise konnte man fast jedermann für den Wirtschaftsprozeß oder seine frühere Amtsstellung in Anspruch nehmen, zum guten Teil auch durch Parteien (wie die CDU/CSU, die Deutsche Partei, den Bund der Heimatvertriebenen u. a.) in das neuentstehende politische System einbinden. Eine entschiedene Kritik daran ist leicht vorzubringen. Aber man darf nicht übersehen, daß diese Politik angesichts der Vielzahl von Menschen, die sich im Dienst des Nationalsozialismus exponiert hatten, durch den Verzicht auf einen rigorosen Bruch mit der Vergangenheit es verhinderte, ein rein numerisch gewaltiges Potential von Unzufriedenen, Diskriminierten, Bestraften zu schaffen, das sich mit den 13 Millionen Flüchtlingen, die aus dem Europa östlich der Elbe in wenigen Jahren nach Westdeutschland strömten, zu einem unbestreitbar hochbrisanten politischen Sprengstoff hätte verbinden können. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich diese explosive Situation vorzustellen, und mancher zeitgenössische Beobachter und politisch Handelnde im In-und Ausland hat damals ohnehin geglaubt, daß sie wegen der Not in den zerbombten Städten, wegen der Millionen von Vertriebenen und Geflüchteten nur durch ein Wunder vermieden werden könne. Man kann schwerlich bestreiten, daß die westdeutsche Politik in der Ära Adenauer sich im wesentlichen für den zweiten Weg entschieden hat. Dafür gab es damals — und gibt es heute — triftige pragmatische Gründe. Vielleicht wäre jede Regierung, die der Maxime eines rigorosen Purismus gefolgt wäre, vor zu hohen Hürden steckengeblieben. Vielleicht ist der Zustand, den Richard Löwenthal geradezu die „Ultrastabilität" der Bundesrepublik in den ersten drei Jahrzehnten ihres Bestehens genannt hat, auch ein Ergebnis dieses frühzeitig eingeschlagenen pragmatischen Kurses gewesen, der unausgesprochen von der Mitschuld fast aller ausging und — anstatt eine allgemeine Katharsis zur Vorbedingung eines neuen Anfangs zu machen — alle Energien in den Wiederaufbau und das bald einsetzende „Wirtschaftswunder" lenkte, ökonomische Prosperität aber erzeugte soziale Stabilität, und diese gewährleistete die Funktionsfähigkeit des politischen Systems. Die Einsicht in diesen Zusammenhang kann man dem politischen Establishment der Bundesrepublik seit den frühen fünfziger Jahren unterstellen, und die unbestreitbaren Erfolge, die aus der Verwirklichung dieser Einsicht resultierten, wird keiner geringschätzen.
Zweifellos mußte aber auch ein Preis für diese Politik bezahlt werden. In der Bürokratie, der Politik, der Wirtschaft tauchten in einflußreichen Positionen Männer wieder auf, die dem Nationalsozialismus bereitwillig gedient hatten — „um Schlimmes zu verhüten”, wie sie gewöhnlich behaupteten. Namen, die keiner mehr kennt? Mußten die Globke, Via-Ion, Oberländer, Schlüter und viele andere nicht die Glaubwürdigkeit der jungen Republik gefährden, denn mit dem Hinweis auf Effizienz und fachliche Tüchtigkeit ließen sich nicht für jedermann die anhaltenden Zweifel zum Schweigen bringen? Warum fand sich von den zahlreichen Unrechts-Richtern, welche die Perversionen der NS-Volksjustiz exekutiert hatten, nur äußerst selten jemand im Status des Angeklagten wieder? Wurden die Mitglieder des Freislerschen Volksge45 richtshofs je zügig zur Rechenschaft gezogen? Die Verdrängung der Vergangenheit erreichte ein erschreckendes Ausmaß. In der privaten Sphäre setzte sie sich fort. Welcher Vater sprach schon gern von seinen Erfahrungen in den Lagern, in denen Millionen russischer Kriegsgefangener um ihr Leben ge-bracht worden waren? Wer zog sich nicht bereitwillig auf die „Verstrickung" in schlimme Zeitläufe zurück? Wer wollte noch begründen, warum er seine Kinder nach den Weihnachtsferien 1944/45 auf die „Napolas", die . Adolf-Hitler" -und „SS-Heim-Schulen" zurückgeschickt hatte?
Die Zäsur von 1968/69
Die Quittung präsentierte erst die Generation von 1967/68, die sich dank ihrer neuen moralischen Sensibilität mit den ausweichenden Antworten, mit der weithin praktizierten Verdrängung nicht mehr zufrieden geben wollte. Gewiß, der gesinnungsethische Rigorismus fiel den Nachgeborenen leicht. Aber gab es nicht allzu gute Gründe, die Leichtfertigkeit der Verdrängung, das moralische Versagen, die Unfähigkeit zu trauern ungeschminkt beim Namen zu nennen und nicht länger mehr jeden Zweifel, ob nach 1949 nicht doch Alternativen verschüttet, viele notwendige Entscheidungen versäumt worden seien, durch den Hinweis auf das „Wirtschaftswunder" unterdrücken zu lassen? Es wirkt unverändert wie eine groteske Übertreibung, wenn neokonservative Kritiker die Studenten-und Assistentenbewegung der späten sechziger Jahre als „Kulturrevolution" stilisieren. Aber eine Zäsur im gesellschaftlichen und politischen Leben der Bundesrepublik bedeutet sie durchaus — und wer möchte schon, die Kritiker mit einbezogen, in die späten Adenauer-und Erhard-Jahre mit ihrer spießbürgerlichen Muffigkeit, ihrem unredlichen Verhältnis zur Vergangenheit, ihrem plump materialistischen Hedonismus freiwillig zurückkehren?
Wenn der Einschnitt so tief ausfiel, daß fortab die ersten zwanzig Jahre der Bundesrepublik von der Folgezeit scharf geschieden sind, war das allerdings zum guten Teil dem Bonner „Machtwechsel" zu verdanken, da die sozialliberale Koalition in den Jahren des Reformoptimismus in der Tat manchen anachronistischen Zopf abgeschnitten hat. Vor allem gelang es dadurch dieser Koalition, die ursprünglich systemfeindlich eingestellte APO bis auf kleine dogmatische Gruppen, die den Marsch ins politische Abseits antraten, in die SPD und FDP einzubinden, manche Impulse aufzugreifen und insgesamt die Reformfähigkeit der Bundesrepublik nachdrücklich zu beweisen. Das stellte keine geringe politische Leistung dar, von der die Glaubwürdigkeit der Bonner Politik lange gezehrt hat. Und daß diese Leistung unmittelbar nach dem Zwischenspiel der „Großen Koalition", die von nicht wenigen voreiligen Kritikern als das Ende der parlamentarischen Demokratie grotesk überschätzt worden war, vollbracht wurde, hat ihre Wirkung fraglos erhöht. Wer nach dem Regierungswechsel von 1982 kritisiert, daß in den dreizehn Jahren seit 1969 die „bürgerliche Gesellschaft“ in der Bundesrepublik wegen der Aktionen weltfremder Utopiker irreparablen Schaden genommen habe (H. -P. Schwarz), verweigert sich selbst und anderen die Erinnerung daran, wie veränderungsbedürftig diese bürgerliche Gesellschaft am Ende der sechziger Jahre dastand, und vor allem verkennt er auch, für wie viele erst seither der Eintritt in die bürgerliche Welt möglich gemacht worden ist.
Auch besteht kein Grund zu leugnen, welche positive Wirkung der Bonner „Machtwechsel" von 1969 und das folgende Dutzend Jahre sowohl auf das Fremdbild, das man im Ausland von der Bundesrepublik besaß, als auch auf das Selbstverständnis der Westdeutschen von ihrem Staat und ihrer Gesellschaft ausgeübt hat. Der Übergang der Geschäfte von der früheren Regierungs-zur langjährigen Oppositionspartei vollzog sich reibungslos, Institutionengefüge und Parteien bewährten sich im Wandel. Mit Brandt übernahm ein Politiker das Kanzleramt, der eine untadelige Vergangenheit im Kampf gegen den Nationalsozialismus besaß. Die symbolische Bedeutung dieser Tatsache, daß ein Mann aus der politisch aktiven Emigration die Leitung der Bonner Politik übernahm, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Für die Bundesrepublik bedeutete das einen nachhaltigen Zuwachs an Respekt und Glaubwürdigkeit. In diesem Sinn kann man in der Tat davon sprechen, daß nicht das Erhard-Interregnum, sondern die erste Phase der sozialliberalen Koalition „das Ende der Nachkriegszeit" markiert.
Wissenschaftliche Leistungen und Kontroversen
Bis zu dieser Zäsur von 1968/69 hatte die wissenschaftliche Auseinandersetzung sowohl mit dem Nationalsozialismus als auch mit den spezifischen Belastungen der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert einen Verlauf genommen, der ein differenzierendes Urteil verlangt. Die westdeutsche Geschichtswissenschaft hat nach 1945 rund fünfzehn Jahre lang eine, aufs Ganze gesehen, eigentümliche Zurückhaltung gegenüber der Beschäftigung mit dem „Tausendjährigen Reich" geübt. Natürlich gab es Ausnahmen: die ersten Arbeiten am Münchener „Institut für Zeitgeschichte", die materialreichen Studien in seinen „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte" (seit 1953), Hans Rothfels’ Widerstandsbuch, einige Aufsätze insbesondere von Angehörigen der älteren Generation, von der vor allem Gerhard Ritter die Diskussion in eine grundfalsche, apologetische Richtung zu steuern versuchte. Von breiter, intensiver Forschung und zusammenfassenden Darstellungen kann jedoch für diese Zeit noch keine Rede sein. Teils zog man sich auf die Position zurück, daß es um miterlebte allerjüngste Vergangenheit gehe, der gegenüber erst noch die Distanz des klärenden historischen Urteils gewonnen werden müsse (Alan Bullocks Hitler-Biographie bewies übrigens früh das Gegenteil!). Teils spürte auch mancher, daß er selber zumindest auf die Karte der Revision des „Versailler Systems", der „großdeutschen" Einigung, der europäischen Hegemonie des Reiches gesetzt hatte, mithin Schweigen leichter fiel als das Eingeständnis eigener Irrtümer. Vor allem verhinderte ein weithin noch ungebrochen fortlebender Historismus, der unverändert eine Zeit nur aus ihren eigenen Bedingungen und Möglichkeiten immanent zu „verstehen" unternahm, eine kritische Analyse, da sich die Barbarei der NS-Diktatur gegen das überkommene „Verstehen" sperrte. Ein spiritualistisch verdünnter Historismus — Friedrich Meinecke selber hatte das gefürchtete geistige Vakuum nach 1945 mit „Goethe-Gemeinden" auffüllen wollen — vertrug sich ebenso wie die verbreitete Abstinenz gegenüber der deutschen Geschichte unter dem Nationalsozialismus recht gut mit dem allgemeinen politischen Klima der fünfziger Jahre. Es bleibt das unbestreitbare Verdienst der neben der herkömmlichen Historiographie aufkommenden neuen Zeitgeschichte, daß ihr dank der frühen Verbindung mit der Politikwissenschaft bereits 1955 mit Karl Dietrich Brachers „Auflösung der Weimarer Republik" ein großer Wurf gelang. Welche Qualität dieses bahnbrechende Buch besitzt, wird u. a. daran deutlich, daß es bis heute — nach 28 Jahren intensiver Forschung — noch immer ein unübertroffenes Standardwerk darstellt. Historiker haben damals in ihren Rezensionen an der ungewohnten Verbindung von systematischer Sozial-und hermeneutischer Geschichtswissenschaft herumgemäkelt. Kaum waren jedoch ihre Besprechungen erschienen, legte Bracher mit seinen beiden Mitarbeitern Gerhard Schulz und Wolfgang Sauer 1960 ein ebenso eindrucksvolles Sammelwerk über „Die nationalsozialistische Machtergreifung" vor, das in mancher Interpretation überholt, als monographische Detailstudie aber noch immer nicht ersetzt ist. Der mit solchen Leistungen aufwartenden Zeitgeschichte war es, pointiert gesagt, erst zu verdanken, daß die Erforschung des Nationalsozialismus bis 1960 fest etabliert war.
Die in den fünfziger Jahren begonnene Kärrnerarbeit der Gewinnung gesicherten empirischen Wissens über möglichst viele Aspekte des Nationalsozialismus wurde in den folgenden Jahrzehnten fortgesetzt. Auf ihr basierten dann Werke, die jeweils Höhepunkte der Erforschung und Darstellung zentraler Dimensionen des Nationalsozialismus bedeuteten: Unter dem kühnen Titel „Der Faschismus in seiner Epoche" brachte Ernst Nolte 1963 seine vergleichenden „phänomenologischen" Studien über den deutschen, italienischen und französischen Faschismus heraus, denen in kurzen Abständen zwei weitere Bücher desselben Verfassers folgten, der dadurch die Forschung wieder dazu zwang, einen allgemeinen Faschismusbegriff ernst zu nehmen und zu präzisieren, und zum zweiten, auch durch sein eigenes Werk, zum differenzierenden Vergleich anregte. 1965 erschien erstmals Andreas Hillgrubers Pionierstudie „Hitlers Strategie-Politik und Kriegführung 1940/1941", in der die Ausweitung des europäischen Kriegs zum totalen Welt-Krieg durch Hitlers Rußlandfeldzug und Amerikas Kriegseintritt sowie die qualitativ veränderte Natur des rassenideologisch inspirierten Vernichtungskampfes der NS-Truppen aus genauer Quellenkenntnis und mit Hilfe weiter Interpretationsperspektiven analysiert wurden. Nach zwanzigjähriger Beschäftigung mit die-sem Gegenstand veröffentlichte Bracher 1969 seine Gesamtdarstellung „Die Deutsche Diktatur", die von einer dezidiert anderen Position aus, als sie etwa Nolte und Broszat einnahmen, den Nationalsozialismus im Rahmen der Totalitarismustheorie als spezifisch modernes Diktatorialregime deutete. 1969 gelang es Martin Broszat in einer bisher noch nicht wieder übertroffenen Verbindung von systematischer Analyse und quellendichter Darstellung, den „Staat Hitlers" in seiner Doppelnatur von charismatischem Herrschaftssystem und bürokratisiertem Anstaltsstaat zu erfassen. 1973 folgte mit Joachim Fests Hitler-Biographie der große Wurf eines Außenseiters der akademischen Geschichtswissenschaft, in der die arbeitsteilige Spezialisten-forschung zunehmend die überhand gewann und eine typische Synthesescheu entwickelte. Seither hat die Zahl der Monographien und Aufsätze stetig zugenommen. Zugenommen hat freilich auch die Intensität der Debatte über eine angemessene historische Theorie — oder anders gesagt: über die überzeugendste Interpretation — des Nationalsozialismus bzw.des Faschismus.
Seit den sechziger Jahren hatte sich bei der Erforschung des Nationalsozialismus eine Strömung herausgebildet, die der Totalitarismustheorie mit wachsender Skepsis entgegentrat und eine Revision des damals gängigen Interpretationsmodells forderte. Sie bestritt den monolithischen Charakter des Herrschaftssystems und sah statt dessen eine Vielzahl miteinander rivalisierender Macht-zentren am Werk. Von daher nahm sie den Begriff der Polykratie als Charakteristikum des nationalsozialistischen „Doppelstaats“ auf. Gegen die Vorstellung, daß Hitler seinen seit den zwanziger Jahren entwickelten Vorstellungen geradlinig gefolgt sei und sie, nachdem er in den Besitz der Macht gelangt war, zielstrebig verwirklicht habe, setzte der „Revisionismus" ein pragmatischeres Politikverständnis, betonte die auch von anderen Akteuren mitbestimmten restriktiven Bedingungen für die Politik Hitlers und warnte vor einer Überschätzung seiner Entscheidungsrationalität, ohne die Verbindlichkeit bestimmter dogmatisch fixer Ideen als handlungsleitende Fixpunkte zu leugnen. Martin Broszat, Hans Mommsen, Wolfgang Schieder und andere ihrem Ansatz folgende Historiker eröffneten damit eine Debatte, die bis heute anhält.
Gegenüber der Kritik verteidigte Bracher seine Position und eine modifizierte Totalitarismustheorie, die dem Charakter des NS-Regimes am ehesten gerecht werde. Er beharrte auf dem Fundamentalgegensatz von Diktatur und Demokratie und wandte sich mit zunehmender Schärfe schließlich gegen jedweden Faschismusbegriff. Unbestreitbar behält eine elastisch gehandhabte Totalitarismustheorie ihren Nutzen für die Interpretation auch der nationalsozialistischen Herrschaft. Insofern ist ihre flinke Verketzerung als ein Produkt des „Kalten Krieges" verfehlt. Aber sie ist nicht sonderlich hilfreich im Hinblick auf die sozialökonomischen Voraussetzungen, die Vorgeschichte und den Aufstieg des Nationalsozialismus zur Massenbewegung; sie tendiert dazu, das Polykratieproblem nicht ernst genug zu nehmen, und sie ist der Politischen Soziologie Max Webers weit unterlegen, wenn es um eine zentrale systematische Frage: den Aufbau des Charismas und den Stellenwert von Hitlers „Führer" -Stellung, geht.
Ganz so dezidiert wie Bracher verteidigte sich eine andere Richtung, die sich für die Außenpolitik des NS-Regimes primär interessierte und — zum guten Teil dadurch bedingt — die Figur Hitlers ganz und gar in den Mittelpunkt stellte. Aus dieser Entscheidung ergab sich die Notwendigkeit, das wüste Gemisch der Hitlerschen Ideologie als Ursprung seiner Antriebskräfte ernst zu nehmen; es ergab sich aber auch die Gefahr, die Zielstrebigkeit seiner Programmatik zu überschätzen und die Ausführung seines sogenannten Stufenplans (Hillgruber) als eines neuen deutschen Griffs nach der Weltmacht zu einseitig von einem einzigen Aktionszentrum, nur von Hitler her, zu interpretieren. Auch diese „Programmologen" (W. Schieder), die den Nationalsozialismus zum „Hitlerismus" verengten, wurden durch die wissenschaftliche Kontroverse unter wachsenden Legitimationsdruck gesetzt. Nationalsozialismus oder Faschismus?
Die Debatte über den Nationalsozialismus gewann außerdem dadurch eine neue Dimension, daß seit dem Ende der sechziger Jahre im Zusammenhang mit der Studentenbewegung die älteren sozialistischen und kommunistischen Faschismustheorien eine Art Renaissance erfuhren. Selbstredend gab es dafür politische Gründe, aber ein gut Teil des Engagements entstand auch aus einer moralischen Verletzung: aus dem Eindruck, daß bisher nicht radikal genug nach den sozialen und ökonomischen Bedingungen und Antriebs-kräften „des" Faschismus gefragt worden sei. Zahlreiche Varianten von Faschismustheorien wurden seither mit Leidenschaft verfochten. Im Kern aber lassen sich alle auf eine neomarxistisch beeinflußte Kapitalismuskritik zurückführen, derzufolge „der" Faschismus — geschrieben und geredet wurde aber fast ausschließlich über den deutschen Nationalsozialismus — als eine spezifische Form „bürgerlicher Herrschaft" zu „begreifen" sei, die aus einer tiefen Krise des Industriekapitalismus, wie sie die Weltwirtschaftskrise seit 1929 enthüllte, mit innerer Notwendigkeit hervorgegangen sei und erneut hervorgehen könne.
Rund zehn Jahre lang wurde eine z. T. leidenschaftliche Debatte über Faschismustheorien geführt, der empirische Ertrag indes blieb minimal. Aus einem einzigen Buchkapitel oder zusammenfassenden Aufsatz von Broszat, Mommsen, Schieder, Bracher, Hillgruber u. a. lernt man mehr als aus dieser ganzen sterilen Debatte, die Forschung und Darstellung kaum vorangebracht hat. Außer ihrer Empiriescheu blieb sie von Anfang bis Ende durch eine spezifische Einseitigkeit gekennzeichnet: Zwar war unentwegt von „dem" Faschismus die Rede, fast ausnahmslos stand jedoch, wie gesagt, nur der Nationalsozialismus zur Debatte. Wegen dieser Verengung konnte weder von einer Erörterung „des" Faschismus ernsthaft die Rede sein, noch eine Frage, die schlechterdings zum eigentlichen Kern der Problematik gehört, angemessen weiterdiskutiert werden — die Frage nämlich, warum es in Deutschland als einzigem hochindustrialisierten Land zu der besonders extremen Ausprägung des Nationalsozialismus, zu einem „Radikalfaschismus" (Nolte) gekommen war. Diese Frage kann nur durch intensive komparative Arbeit geklärt werden, und zu dieser vergleichenden Forschung haben die großen Strategen der Faschismus-Diskussion so gut wie nichts beigetragen. Man braucht sich z. B. nur die zahlreichen Veröffentlichungen einzelner Autoren durchzulesen, um festzustellen, mit welcher Eintönigkeit und Unergiebigkeit ein vulgärmarxistischer Ansatz, der für neue undogmatische Forschungsergebnisse völlig unzugänglich ist, mit minimalen Varianten wiederholt wird. Auf diese und ähnliche Weise ist der ursprünglich aufklärerische Impuls von 1968 an den Dogmatismus verraten worden.
Zwei Ergebnisse der allgemeinen Kontroverse über Nationalsozialismus und Faschismus wird man heute festhalten dürfen: Zum ersten kann man auf einen idealtypisch scharf zugespitzten Sammelbegriff für die gegen den Kommunismus und den Kapitalismus, gegen die Kriegsniederlage und die politische Ordnung nach 1918/19 gerichteten „rechtsradikalen", antidemokratischen, antiliberalen und antiparlamentarischen Protestbewegungen unter der Leitung hervorgehobener Parteiführer nicht verzichten. Ein exakt definierter Faschismusbegriff ist daher trotz aller ideologischen Überfrachtung, wie sie politischen Kampfbegriffen in der Regel eigen ist, mangels überlegener Begriffe ein unentbehrlicher Bestandteil des kategorialen Apparats der Forschung. Ohne einen solchen Idealtypus sind gerade vergleichende Analysen kaum möglich, ganz gleich, ob sie nun die Annäherung oder sogar Kongruenz der untersuchten Realitätsbereiche mit dem Idealtypus oder die Entfernung und den Zwang zur Umformulierung des Idealtyps ergeben mögen. Zum zweiten kann eine seriöse historische Faschismus-theorie, die über das heuristische Instrument eines Idealtypus hinausgelangt, nur dann zustande kommen, wenn anstelle der Fixierung allein auf den Nationalsozialismus die beiden autonom bzw. mit Hilfe der typischen Koalition mit alten Machteliten zur Macht gelangten „Faschismen": der italienische und der deutsche, unter vergleichenden Fragestellungen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede pointiert hervorheben, weiter erforscht und in synthetischen Darstellungen erfaßt werden. Von dieser Basis aus muß dann erneut der Frage nachgegangen werden, ob wir wirklich von einer Vielzahl von faschistischen Bewegungen „in ihrer Epoche" zwischen 1918 und 1945, ja darüber hinaus mit stichhaltigen Gründen sprechen können. Chancen einer Synthese konkurrierender Ansätze Schließlich scheint auch inzwischen der Zeitpunkt herangekommen zu sein, wo es nicht mehr genügt, die Unterschiede zwischen den rivalisierenden Ansätzen (Totalitarismustheorie, „Hitlerismus", Revisionismus) immer wieder zu unterstreichen. Die Fronten sind allmählich jedermann bekannt, der ritualisierte Schlagabtausch wird nicht nur langweilig, sondern er führt vor allem wissenschaftlich nicht weiter. Die Frage lautet daher, ob es nicht ein systematisches Erklärungsangebot gibt, das eine gewisse Verknüpfung der konkurrierenden Interpretationen erlaubt und selbstverständlich mit den Ergebnissen der historischen Filigranarbeit kompatibel sein muß. Nachdem ältere Anregungen von Franz Neumann in seinem „Behemoth" (deutsche Ausgabe erst Frankfurt 1977) und von Joseph Nyomarkay (Charisma and Factionalism in the Nazi Party, 1967), die beide auf Max Webers Konstrukt der charismatischen Herrschaft zurückgegriffen haben, von der internationalen Forschung nicht gebührend berücksichtigt worden sind, hat M. Rainer Lepsius in letzter Zeit mehrfach an die Weber-sehe Politische Soziologie angeknüpft (z. B. in seinem Beitrag in: J. Linz u. A Stepan [Hrsg. ], The Breakdown of Democratic Regimes; Europe, Baltimore 1978; ebenso in seinem Vortrag auf dem Münsteraner Historikertag 1982) und eine sinnvolle Diskussions-und Forschungsstrategie vorgeschlagen. Einmal ist der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die NSDAP immer auch Hitler-Bewegung, der NS-Staat stets auch der „Staat Hitlers", die Außenpolitik in der Tat eine Domäne der Entscheidungen Hitlers war. Die erste Aufgabe besteht deshalb darin, den Aufbau des Charismas, das Hitler nicht frühzeitig umgab, sondern das er erst allmählich entwickelte und maximal optimierte, bis er als unbestrittener „Führer" an der Spitze von Bewegung und Staat stand, historisch-systematisch zu analysieren.
Es bleibt unverändert eine spannende Arbeit, den Weg des „böhmischen Gefreiten", der trotz der unglaublichen Verluste des deutschen Führungspersonals nach vier Jahren Krieg noch nicht einmal zum Unteroffizier befördert worden war, unter diesem Gesichtspunkt des teils instinktiv, teils planmäßig verfolgten Ausbaus seines Charismas, der erfolgreichen Ausnutzung und des außergewöhnlich spät einsetzenden Verfalls in dem Vierteljahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg zu verfolgen. Insofern könnte den Vorstellungen derjenigen Schule, die von der zentralen Rolle Hitlers ausgeht, innerhalb systematischer Grenzen Rechnung getragen werden.
Zum zweiten konnte das mit den Verfechtern der nationalsozialistischen „Polykratie" — ein Theorem, das sich als außerordentlich stimulierend erwiesen hat — auch geschehen, da der Kampf der verschiedenen Machtzentren im NS-Regime geradezu als systemeigene, notwendige Voraussetzung für den über dem Streit der Parteien thronenden, gewissermaßen als Unparteiischer in letzter Instanz durch „Führerbefehl" entscheidenden Charismatiker angesehen werden kann. Daß der Nationalsozialismus in seiner Regime-Phase ausgeprägt totalitäre Züge besaß, scheint evident zu sein. Daher ließen sich auch nicht wenige der Argumente, die vor allem Bracher für die historische Natur der „deutschen Diktatur" vorgetragen hat, in diesem Rahmen berücksichtigen.
Von einem historisch spezifizierten Interpretationsmodell der Entstehung und Ausübung charismatischer Herrschaft in dem oben mit äußerster Knappheit umrissenen Sinn läßt sich m. E. eine tragfähige Synthese erwarten. Und heutzutage steht hierzulande nicht die 333. Spezialmonographie, sondern vor allem die überzeugende Synthese der immer weiter ausufernden, kontrovers beurteilten Forschungsergebnisse auf der Tagesordnung.
Mit diesem Plädoyer soll nicht einer Harmonisierung, die womöglich unaufhebbare Unterschiede überspielt, das Wort geredet werden. Auch mag sich die vorgeschlagene Synthese als Weg in eine falsche Richtung erweisen oder einer überlegenen weichen müssen. Unstreitig aber besteht der Anspruch des „gebildeten Laien“, erst recht des interessierten Studenten, Schülers, Lehrers und Fachwissenschaftlers zu Recht, daß ihm eine stringenten, systematischen Gesichtspunkten folgende historische Synthese anstelle der zahllosen, in ihrem Wert an sich unbestrittenen Spezialistenergebnisse geboten wird. Darauf sollte sich die Anstrengung der kompetenten Sachkenner richten, nicht zuletzt auch aus dem Grund, daß sonst das Bedürfnis nach Gesamt-interpretation durch populärwissenschaftliche Surrogate befriedigt wird.
Die öffentliche Verantwortung der Fachwissenschaften
Diese Gefahr lenkt auf einen anderen wichtigen Gesichtspunkt hin: Die Geschichtswissenschaft ist der politischen Öffentlichkeit solche zusammenfassenden Darstellungen schuldig, da der inflationierte faschismus-theoretische Jargon in den vergangenen Jahren in die Sprache von politischen Studenten-verbänden, von Redakteuren, von Lehrern usw., mithin in die Sprache von meinungsbildenden Gruppen eingesickert ist. Oft ist von dem ursprünglichen theoretischen Anspruch nurmehr ein geradezu pseudomarxistischer kruder Restbestand von Vorstellungen übrig-geblieben, etwa im Sinne einer plumpen Agententheorie, wonach „die" kapitalistischen Interessenaggregate „die“ Politiker eine mehr oder minder autoritäre Politik hinter der Fassade des demokratischen Verfassungsstaats betreiben lassen, und das Abgleiten in einen neuen Faschismus lauert dann stets in der nächsten Krisensituation. Es gibt z. B.seit geraumer Zeit in gewerkschaftlichen Akademien und Zeitungen einen erbitterten Streit zwischen orthodoxen kommunistischen Politikwissenschaftlern einerseits, die in einem „faschismustheoretischen" Rahmen und mit tollkühner Simplifizierung, aber in einer eingängigen, die Problemkomplexität auf ein Minimum reduzierenden Sprache vielgelesene Darstellungen zur Geschichte der SPD und der Gewerkschaften geschrieben haben. Ihnen stehen andererseits wenige sachkundige Historiker und Sozialwissenschaftler gegenüber, die diesen alle historische Realität verfälschenden Klischees energisch entgegentreten. Eine solche notwendige Auseinandersetzung wird u. a. dadurch erschwert, daß es aus der Feder führender Vertreter der „Revisionisten" unter den Zeithistorikern keine knappen, in klarem Stil geschriebenen Darstellungen gibt, die bei einer derartigen Kontroverse äußerst nützlich wären. Die Konsequenz ist, daß platten Vorurteilen und wirklichkeitsfernen Stereotypen das Feld häufig allein überlassen bleibt.
Ähnlich kann man bei Diskussionen mit Schülern und Studenten die Erfahrung machen, daß abgesackte Elemente der Faschismustheorien ganz unbefangen für die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gehalten werden. Die Denkfiguren sind so bequem, das intellektuelle Niveau der „Beweise“ gestattet jedermanns Teilnahme, eine kräftige Schwarz-Weiß-Zeichnung fordert zur Identifizierung mit den Guten, zum Abscheu gegen die Volksverderber auf. Gegen die daraus resultierende Arroganz der „schrecklichen Vereinfacher" ist manchmal, zumal wenn sie in ihrer Heilsgewißheit den Lauf der Geschichte zu kennen vermeinen, selbst mit den besten Argumenten nicht leicht anzukommen. Gewiß, man sollte derartige Erscheinungen nicht übermäßig dramatisieren. Aber da die kritisierten Pseudotheorien insbesondere dem Anfänger, dem Unwissenden, dem unsicher Suchenden ein festes Leitseil an die Hand geben, ist es mit vornehmer Zurückhaltung oder dem Vertrauen darauf, daß der Weg in die Sackgasse die meisten schon kurieren werde, nicht getan. Dies gilt auch deshalb, weil weite Kreise der „Grünen" und „Alternativen" ebenfalls zu einer Dämonisierung „des“ Kapitalismus und zu politischen Agententheorien neigen. Das läßt sich dann leicht mit einer faschismustheoretischen „Perspektive" verbinden, so daß von der Kontinuität des Bösen eine gewisse Suggestion ausgeht.
Man möchte sich daher mehr Fachwissenschaftler wünschen, die den Mut zur (immer vorläufigen) Synthese besitzen, öffentlich ihre Stimme erheben und sich des Forums der verschiedenen Medien bedienen, um den Ergebnissen einer freien, undogmatischen Geschichtswissenschaft zu ihrer aufklärenden Wirkung zu verhelfen. Dieses Engagement ist auch deshalb geboten, weil sich das Verhältnis der politischen Generationen in der Bundesrepublik grundlegend verschoben hat. Um 1970 konnte man — grosso modo — drei politische Generationen unterscheiden: eine erste, welche das Ende des Kaiserreichs und die Weimarer Republik, dann vor diesem Hintergrund den Nationalsozialismus und die Folgezeit erlebt hatte. Eine zweite Generation war stärker durch die Jahre des NS-Regimes, vor allem durch die Kriegs-und Nachkriegsjahre geprägt worden. Eine dritte Generation schließlich hatte einige Jahre im Jungvolk oder in der Hitlerjugend, Flucht, Hunger und dann die Aufstiegsphase der Bundesrepublik als formende Periode erlebt Diese Koexistenz unterschiedlichster Generationserfahrungen erzeugte manche Spannung, aber es gab auch einen gemeinsamen Nenner: Man konnte das Leben in einem liberaldemokratischen Verfassungs-und Rechtsstaat während einer langen Dauerkonjunktur mit den beiden schlimmen Jahrzehnten vor 1949 vergleichen. Nur die Borniertheit eines NPD-oder KPD-51 Anhängers konnte die Lektion ignorieren, welche durch die eigene Lebenserfahrung vermittelt worden war.
Inzwischen stellt, sozialstatistisch gesehen, die politische Generation der nach der Währungsreform und neuen Staatsgründung Geborenen die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung. Machtergreifung, Hitler-Diktatur, totaler Krieg — das alles sind jetzt sekundäre Erfahrungen, die durch den Schulunterricht, das Studium, die Medien gefiltert und weitergegeben werden. Mag dieser Unterricht auch noch so gut, eine Fernsehsendung über das „Dritte Reich" auch noch so zuverlässig sein — direkte Erfahrungen lassen sich nicht an die folgenden Generationen weitergeben, unvermeidbar bleiben auch größere Hohlräume als früher bestehen, in die alte und neue Irrlehren eindringen können. Daß dieses Vakuum durch ein freiheitlichen, undogmatischen Wertmaßstäben verpflichtetes, klar geordnetes Orientierungswissen gefüllt wird, ist auch eine wichtige Aufgabe des öffentlich tätigen Historikers und historisch denkenden Sozialwissenschaftlers.
Unvergleichbare Konstellationen: 1929/1933 und heute
Das zugrundeliegende Problem, daß Nationalsozialismus und „Radikalfaschismus" für viele inzwischen einer fernen Welt angehören, jedoch durch einige faschismustheoretische Taschenspieler-Kunststückchen in die unmittelbare Gegenwart verlängert werden, könnte sich bald in neuer Schärfe stellen, wenn die ökonomische Krisenzeit anhält, die Arbeitslosigkeit steigt, die Verteilungskämpfe härter werden und dadurch die Funktions-und Lernfähigkeit des politischen Systems auf eine Belastungsprobe gestellt wird, wie es sie in dieser Form seit 1949 vermutlich noch nicht gegeben hat. Das könnte (zu Recht) der Kapitalismuskritik neuen Auftrieb geben, dann aber ist der Faschismusverdacht nicht mehr weit. Gegenüber einer so kurzschlüssigen Verbindung kann nicht nachdrücklich genug auf den prinzipiellen Unterschieden zwischen der Zeit vor 1933 und der Gegenwart bestanden werden.
Max Horkheimer hat in einer viel zitierten Formulierung geurteilt, daß vom Faschismus schweigen solle, wer nicht zugleich vom Kapitalismus reden wolle. Jeder, der mit der jüngeren deutschen Geschichte vertraut ist, weiß, daß vom Nationalsozialismus auch schweigen sollte, wer nicht den Einfluß und die prägende Kraft traditionaler, vorindustrieller Faktoren hoch zu veranschlagen bereit ist. In Deutschland ist nicht eine auf erfolgreichem Industriekapitalismus aufruhende „bürgerliche Herrschaft" in den Faschismus umgekippt, sondern ein Defizit an Bürgerlichkeit, an bürgerlichem Parlamentarismus und an fest verankerter bürgerlicher politischer Kultur hat auf den Weg in den Abgrund geführt. Noch einmal ist daran zu erinnern, daß Deutschland das einzige zivilisatorisch und industriell hochentwickelte Land des okzidentalen Kulturkreises gewesen ist, das einen Nationalsozialismus hervorgebracht hat. In Italien gab es zur Zeit von Mussolinis Machtergreifung nur in Oberitalien größere Industrieregionen, und Faschismus-theorie als Kapitalismuskritik trifft nach meinen Begriffen in Italien auf vergleichbare Schwierigkeiten wie in Deutschland. Dort ist wegen der Zähmungsillusionen der traditionalen Machteliten, dank der Steigbügelhalter aus dem Großagrariertum, der Bürokratie, der Schwerindustrie, der Reichswehr, der protestantischen Geistlichkeit und Professorenschaft Hitler in den Sattel gehoben worden. Reiten konnte er dann weit besser als diejenigen, die ihn gut konservativ hatten einrahmen und die Dynamik seiner Bewegung auf ihre Mühlen leiten wollten. Ohne den Klassen-und Gruppenegoismus dieser politisch zählebigen und ihren Einfluß kompromißlos verteidigenden Koalitionspartner des „großen Trommlers" wäre die „Machtergreifung" nicht so zustande gekommen, wie sie Ende 1933 erfolgt ist.
Die tiefe Krise der kapitalistischen Industriegesellschaft seit 1929 reicht, so verhängnisvoll ihr Einfluß auch gewesen ist, als Erklärung für den nationalsozialistischen Aufstieg nicht aus. Vergleichbare Depressionserscheinungen gab es in den anderen Industriestaaten auch. Aber die politische Kultur und das Institutionengefüge, das Parteiensystem und die Mentalität der Führungsgruppen in England, Frankreich und Amerika wurden mit den Problemen innerhalb des etablierten politischen Systems einigermaßen fertig. Also müssen entscheidende Erklärungsmomente ganz offensichtlich nicht in den Gemeinsamkeiten der industriewirtschaftlichen Krisenära, auf die politisch so unterschiedlich reagiert werden konnte, sondern in nationalhistorischen Unterschieden gesucht werden.
Ausschlaggebende Faktoren, die diesen Unterschieden ihr Gepräge gegeben haben, sind jedoch in der Bundesrepublik nicht mehr vorhanden. Es gibt keinen preußischen Militarismus mehr, keine Junkercliquen, keine Staatsvergottung durch Geistlichkeit und Hochschullehrer, kein Übergewicht der Schwerindustrie in politischen Entscheidungsprozessen. Es fehlt auch ein vergleichbarer Stachel wie die Niederlage von 1918 nach all den phantastischen Kriegszielträumen, denn die totale Niederlage nach dem zweiten totalen Krieg war zu eindeutig, als daß sie durch neue Legenden hätte in Frage gestellt werden können; es gibt kein verhaßtes „System von Versailles", kein Reparationsproblem, keinen nostalgischen Rückblick auf das braune Reich wie damals auf das verklärte Kaiserreich. Gewiß, nur um den Preis des NS-Regimes, des Zweiten Weltkriegs, der territorialen Zerstückelung und der millionenfachen Vertreibung in der Nachkriegszeit ist der westdeutsche Staat einen gut Teil der Probleme losgeworden, welche das erste Demokratieexperiment erdrückt haben. Unstreitig aber hat die Bundesrepublik im Effekt dadurch ungleich günstigere Startbedingungen besessen und — von der Weltpolitik und Prosperität des ökonomischen Aufschwungs begünstigt — inzwischen Leistungserfolge vorzuweisen, die ihr dreißig Jahre lang eine auffallende Stabilität verliehen haben. Es ist keine vermessene Annahme zu glauben, daß diese Stabilität auch erheblichen Belastungen gewachsen sein wird.
Blickt man z. B. auf die Lebensverhältnisse der sieben Millionen offiziell erfaßten Arbeitslosen nach 1929 mit ihrem hohen Anteil von Dauerarbeitslosen und denkt man an die Dunkelziffer der unbekannten Arbeitslosen, die ihren degradierenden Zustand nicht weitermeldeten, tritt der Unterschied im Vergleich mit der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit scharf zutage. Nicht der geringste Zweifel ist erlaubt, daß Arbeitslosigkeit immer eine deprimierende Erfahrung bedeutet. Aber das »soziale Netz" von heute fängt Arbeitslose ganz unvergleichlich besser auf als die kümmerlichen Sozialleistungen nach dem »schwarzen Oktober" von 1929. Strukturelle Arbeitslosigkeit effektiv zu bekämpfen, wirft offenbar immer schwierigere Probleme auf.
Aber die Schwierigkeiten werden mit einem ganz anderen Problembewußtsein, gerade auch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der gesellschaftlichen und politischen Verfassung der Bundesrepublik, angegangen als etwa zu Brünings Zeiten, der die klar vor Augen gestellte Alternative einer antizyklischen Konjunkturpolitik verwarf und auf seinem deflationären, krisenverschärfenden Kurs beharrte, um mit dem Hinweis auf die inneren Schwierigkeiten außenpolitische Erfolge — die Lösung der Reparatiönsfrage, allmählich auch die Revision des „Versailler Systems" — erzielen zu können; den Preis der inneren Radikalisierung nahm er bewußt in Kauf, damit aber trug er maßgeblich dazu bei, der NSDAP den Aufstieg bis dicht vor die Traumgrenze der absoluten Mehrheit im Reichstag zu erleichtern. Heute dagegen ist allen Politikern im Bonner „Korridor der Macht“ die polarisierende Wirkung von Wirtschaftskrisen, ihre Begünstigung von Rechts-und Linksextremismus bewußt, und diese Einsicht hat den politischen . Entscheidungsprozeß mitzubestimmen. Selbst einem antediluvianischen Wirtschaftsliberalismus, der neuerdings wieder Lebenszeichen von sich gibt, kann an einer millionenstarken „industriellen Reservearmee“ nicht gelegen sein.
Mit anderen Worten: Nicht nur die Historiker erliegen manchmal der Berufskrankheit des falschen historischen Analogieschlusses, sondern auch in der öffentlichen Debatte spielen voreilige, in die Irre führende Analogien keine geringe Rolle, wie wir immer wieder beobachten können. Ein schwerer Konjunktureinbruch bedeutet noch nicht eine Weltwirtschaftskrise; die gegenwärtige Arbeitslosigkeit ist trotz aller Härten, die sie insbesondere für Jugendliche und ältere Menschen besitzt, mit der Hoffnungslosigkeit von Millionen in den frühen dreißiger Jahren nicht zu vergleichen; die politische Wachsamkeit und die Interventionsbereitschaft sind in einem grundverschiedenen Maße stärker ausgeprägt als damals. Auch wenn die ökonomische Depression anhalten und sich noch verschärfen würde, die sozialen und politischen Probleme weiter zunähmen, stünde dennoch kein zweiter Nationalsozialismus vor der Tür. Die Geschichte wiederholt sich nicht, und als der kurzlebige Erfolg der NPD die Kassandrarufe lauter werden ließ, traf doch — um Marx'boshaften Kommentar über Napoleon III. abzuwandeln — für den zweiten Adolf (v. Thadden) zu, daß er nur eine kümmerliche Farce im Vergleich mit dem grauenerregenden ersten zu spielen imstande war.
Wachsamkeit gegenüber neuen Gefahren
Weil sich die Geschichte nicht wiederholt, führen auch diejenigen Faschismustheorien ins Abseits, die aus einer Wirtschaftskrise gleichsam automatisch ein faschistisches Herrschaftssystem hervorgehen sehen. Ja nicht nur das: Solche Vorstellungen machen geradezu blind für neue Gefahren, die mit dem an seine Zeit gebundenen Nationalsozialismus wenig oder nichts zu tun haben. Denn selbstverständlich wäre der Hochmut, daß die Bundesrepublik gegen jede neue Gefahr gefeit sei, von Übel und könnte sich schneller als erwartet als politisch folgenschwere Fehlkalkulation erweisen. Die Janusköpfigkeit des Industriekapitalismus besteht unverändert fort: Er kann ungeahnten Wohlstand hervorbringen, aber andererseits ist seine Fähigkeit noch längst nicht erschöpft, durch ökonomische Krisen soziale Labilität zu erzeugen und über kurz oder lang die Funktionstüchtigkeit des politischen Systems härtesten Belastungsproben auszusetzen. Es mag dann ein Abgleiten in einen autoritären Interventionsstaat geben, der mit dem Nationalsozialismus nichts gemein hätte, trotzdem aber den demokratisch-parlamentarischen Verfassungsstaat und die Lebensformen einer freiheitlichen Gesellschaft von innen aushöhlen könnte.
Kritische Wachsamkeit muß daher auch heute unentwegt von der Öffentlichkeit und allen auf Geschichte und Gegenwart bezogenen Wissenschaften erwartet werden. Selbstgefällige Zufriedenheit ist gegenüber den anstehenden Problemen die am allerwenigsten angebrachte Einstellung. Die wissenschaftlich zuverlässig überprüfte Erinnerung an die Vergangenheit, auch an die Bedingungen des Aufstiegs und an die Regimezeit des Nationalsozialismus, kann das Problembewußtsein wachhalten und schärfen. Aber sie sollte nicht dazu führen, daß man sich auf die Wiederkehr des Gleichen einstellt, sondern muß dazu beitragen, daß auf nur teilweise vergleichbare Krisenbedingungen, die neue Probleme heraufbeschwö