Historiographische Forschungsergebnisse über die Aussichten des Widerstandes der Arbeiterbewegung gegen die nationalsozialistische Machtübernahme
„Flucht vor Hitler" — diesen Titel gab der 1980 verstorbene bayerische Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner seinen erst 1977 erschienenen, aber vierzig Jahre zuvor in der Schweizer Emigration verfaßten „Erinnerungen an die Kapitulation der ersten deutschen Republik" Dieser „Bericht eines Mannes, der den Fall von Stufe zu Stufe mit seinen unendlichen seelischen Leiden miterlebt hat", beginnt mit den erschütternden Sätzen: „Wer an einen Untergang nach heroischem Widerstand denkt, etwa an den Kampf der letzten Goten am Vesuv, an den heldenmütigen Widerstand der 1 400 Eidgenossen in der Schlacht bei St Jakob an der Birs, an den Verzweiflungskampf der österreichischen Arbeiter im Fe-bruar 1934 oder an die Verteidigung Madrids durch die spanische Volksfront, der muß von meinem Bericht bitter enttäuscht sein. Wir leisteten keinen Widerstand. Wir warfen dem siegreichen politischen Gegner keine Prügel in den Weg.“ Wenig später heißt es im Rückblick auf die Politik der Tolerierung der Regierungen des Reichskanzlers Heinrich Brüning durch die Sozialdemokratie in den Jahren 1930 bis 1932: „Es war eine furchtbar opferreiche Politik. Wir schwammen wie auf einer Scholle mitten im Eismeer, täglich brökkelten Stücke ab, wir sahen den Tod vor uns, aber wir hofften, bevor er uns umkrallte, das feste Land zu gewinnen."
Die Voten der Zeitzeugen ...
Nach den 1952 erstmals veröffentlichten Aufzeichnungen von Julius Leber während seines Gefängnisaufenthaltes 1933/35 in denen er mit der „Passivität" der Führung seiner Partei und dem zu ihr spiegelbildlichen „Fatalismus weiter Parteikreise" hart ins Gericht ging hatte sich mit Hoegner ein weiterer Zeit-zeuge zu Wort gemeldet, der sich wie Leber keineswegs auf dem linken Flügel der alten Sozialdemokratie einordnete. Mag sein, daß sich gerade deshalb Historiker besonders häufig auf die Urteile dieser beiden Sozial-Vorabdruck des Beitrages der Verfasserin zur Fest-gabe zum 70. Geburtstag von Shlomo Na'aman, die 1983 in der Reihe der „Schriften aus dem Karl-Marx-Haus", Trier, erscheinen wird. demokraten als ihrer eigenen Beweisführung willkommen berufen. Dabei wird oft übersehen, unter welchen Bedingungen und aus welcher psychologischen Situation heraus die Urteile erfolgt sind und daß Hoegner z. B. in seinen 1959 veröffentlichten Erinnerungen sehr viel bedenklicher, abwägender sein Urteil formuliert hat
Aber die durch Leber und Hoegner erfolgte strenge Beurteilung der Haltung der sozialdemokratischen Führer besonders am 20. Juli 1932 beim Staatsstreich Papens gegen Preußen ist von weiteren Zeitzeugen mit der gleichen Entschiedenheit erhärtet worden. So hat sich bereits Erich Matthias in seiner 1960 erschienenen Studie über die SPD am Ende der Weimarer Republik auf eine Anzahl von Zeitzeugen berufen können, die die Einlas-sungen von Otto Braun und Carl Severing — der beiden Führer, deren Namen nach Julius Leber „viel in dem großen Glauben breiter Massen" bedeutet hatten — darüber, warum sie 1932 nicht diesem Glauben der Massen entsprechend gehandelt hatten, überwiegend als Selbstrechtfertigungszeugnisse erscheinen lassen Angesichts dieser Voten der Zeitzeugen werden diejenigen, die auch weiterhin der Argumentation dieser beiden Führer zustimmen, zu bloßen Legitimatoren deren Überlegungen vor der Wucht der Gegenargumente schemenhaft verblassen müssen.
Inzwischen haben sich weitere Zeitzeugen zu Protokoll der Geschichte gemeldet und ganz überwiegend die vorherrschende historiographische Linie eindrucksvoll bestätigt: Große Teile der sozialdemokratischen Parteianhänger in der Eisernen Front und in den Betrieben wollten 1932/33 kämpfen; sie erhielten „kein Signal aus Berlin" von der Parteiführung. Die wahrscheinlich letzte Chance für die Verwirklichung des Anspruchs der deutschen Arbeiterbewegung, den Nationalsozialismus zu verhindern, ist am 20. Juli 1932 verpaßt worden; danach verlor die Arbeiterbewegung in allen ihren Teilen ihre Widerstandskraft. Und falls es dennoch bis zum 30. Januar 1933 und in den Wochen danach „noch Chancen für eine Wende — oder mindestens für eine ehrenvolle Niederlage — gegeben haben sollte: sie sind nicht wahrgenommen worden“ • Dies schreiben bzw. sagen Zeitzeugen, die es sich nicht leicht machen, ihre Aussagen zu treffen und die die Gründe derjenigen, von denen sie sich damals am Handeln gehindert fühlten, nicht einfach unbeachtet lassen. ... und die Auffassungen der Historiker Nach dieser eindeutigen Zeugenschaft können sich die Historiker in ihrer Überzeugung, daß ihren eigenen Analysen und Interpretationen ein hohes Maß an Realitätsnähe oder sogar -Übereinstimmung zukommen dürfte, bestärkt finden, und dies um so mehr, da sie teilweise zu ihren Ergebnissen bereits zu einem Zeitpunkt gelangt sind, als sie angesichts der Forschungslage noch Pionierleistungen zu erbringen hatten. So hat Karl Dietrich Bracher schon 1955, seine Erwägungen über Papens Staatsstreich abschließend, festgestellt: Man kann den für eine funktionierende Demokratie selbstverständlichen Motiven und Bedenken der verantwortlichen Preußen-Politiker die menschliche Achtung schwerlich versagen. Den gegebenen politischen Notwendigkeiten aber konnten sie nicht entsprechen. Es blieb doch die Möglichkeit einer nachhaltigen Demonstration, einer Bekundung des ungebrochenen Selbstbehauptungswillens der Demokratie auch gegen zeitweilig überlegene Gewaltaktionen. Dies hätte über alle berechtigten sachlichen Erwägungen hinweg aus dem psychologisch-moralischen Zusammenbruch der republikanischen Kräfte doch noch ein demokratisches Selbstbewußtsein retten, den neuen Machthabern ihren Weg erschweren, die künftigen Entwicklungen verzögern und einschränken können. So hat das Verhalten der Führung der inneren Festigkeit und dem politischen Glauben besonders auch der SPD-Anhänger einen Schlag versetzt, der die Partei entscheidend lähmte und ihre Passivität gegenüber der Hitler-sehen Machtergreifung, schließlich — kaum 11 Monate später — ihre Auflösung besiegelte."
Erich Matthias kommt in seinem 1960 veröffentlichten Beitrag nach sehr sorgfältigen Abwägungen zu dem gleichen Urteil: „Wie sehr auch der Boden schwankt, auf dem sich unsere Betrachtung bewegt, sicher ist folgendes: mit dem 20. Juli war die letzte Chance einer Ausweitung der republikanischen Widerstandsbasis nach rechts und nach links verscherzt; und die Auswirkungen eines vollen Mißerfolgs hätten nicht verheerender sein können als die politischen und psychologischen Folgen der Untätigkeit."
Beide Autoren haben in der Zwischenzeit wiederholt — wenn auch nicht immer uneingeschränkt — Zustimmung gefunden; sie sind in weiteren Detailuntersuchungen bestätigt worden sie sind aber auch — wenn auch manchmal um die Bedenken, die beide Autoren gegen ihre eigenen Schlußfolgerungen vorgetragen haben, verkürzt — in Beiträge aufgenommen worden, die gezielt der politischen Bildungsarbeit dienen sollen
Indessen haben Karl Rohe in seiner Monographie über das Reichsbanner und Hagen Schulze in mehreren Veröffentlichungen eine durchaus als alternativ zu bezeichnende Interpretationsrichtung angeboten. Entgegen der überwiegenden Zeitzeugenmeinung und Historikerauffassung — Widerstand (insbesondere am 20. Juli 1932) war nicht nur nötig, sondern auch möglich — lautet die Summierung der Argumente bei Rohe eher: Widerstand war gewiß nötig, aber eben nicht möglich. Denn das Ausmaß des Widerstandswillens lasse sich nur schwer abschätzen; jede Untersuchung der Einsatzbereitschaft der Eisernen Front bleibe von der Quellenlage her gesehen fragmentarisch und quellenkritisch noch dazu problematisch, weil sie auf Aussagen der Beteiligten angewiesen sei, deren Subjektivität nicht auszuschalten ist. Eine flächendeckende, d. h. auf das ganze Deutsche Reich sich beziehende Widerstandsbereitschaft kann nicht nachgewiesen werden, auch gibt es auf einige Regionen bezogen einander ausschließende Hinweise; es hat zwar bei den Massen der Eisernen Front einen gewissen „Erregungszustand" gegeben, der dazu geführt habe, daß sie „wohl durchweg einem Widerstandsappell Folge geleistet hätten, daß dagegen eine vor keinen Konsequenzen zurückschreckende Kampfentschlossenheit nur bei wenigen besonders aktivistischen Gruppen anzutreffen war" . Rohe schließt seine Erwägungen mit den folgenden Überlegungen ab: „Daß die Linke eine Chance besaß, einen 20. Juli zu verhindern oder ihm eine Form zu geben, die nicht totale Preisgabe bedeutete ..., scheint zumindest einer Überlegung wert zu sein. Skeptisch wird man dagegen die Möglichkeiten eines Widerstands am Tage des . Preußenschlages'selbst beurteilen müssen."
Rohe unterschätzt zwar nicht den moralischen Gewinn, den ein kämpferischer Untergang hätte haben können, sagt aber ebenso deutlich, daß dieser „die mutmaßlichen Folgen einer solchen Handlung nicht" aufgewogen hätte. Eine solche Feststellung tangiert nicht die Gesamteinschätzungen von Rohe: „Die kampflose Kapitulation der Linken hat der Republik und dem Glauben an ihre innere Kraft das Rückgrat gebrochen und damit der nationalsozialistischen Machtergreifung den Weg bereitet."
Auch Hagen Schulze kommt im Unterschied zu Bracher und Matthias und in Ubereinstim-mung mit Rohe zu der Auffassung, daß der 20. Juli 1932 keine wirkliche letzte Chance für einen Widerstand gegen die nationalsozialistische Machtübernahme gewesen sei. Schulze gewinnt seine Interpretationsergebnisse aus der Analyse des politischen Kräfteparallelogramms und der immanent fehlenden Voraussetzungen insbesondere bei den sozialdemokratischen Führungsspitzen für einen bürgerkriegsartigen Widerstand -Aber gerade diese fehlenden Voraussetzungen sind für ihn der Ansatzpunkt für seine Kritik an der SPD, die ihn wieder in Übereinstimmung mit Matthias bringt: „Gemessen an ihrer Verantwortung für die Stabilität und das überleben der Weimarer Verfassungsordnung hat die deutsche Sozialdemokratie in der Krise des ersten demokratischen Experiments der deutschen Geschichte offenkundig versagt." Sie hat versagt — wie bereits Matthias konstatiert hatte —, weil sie gefangen blieb in ihrem teils revolutionären, teils reformistischen Attentismus und in ihrem Anti-Etatismus, weil sie ihren überlebten „marxistischen Ballast“ weiterschleppte, sich in einem ihre Passivität und ihren Immobilismus überdekkenden Scheinaktivismus erschöpfte, ihrem Organisationspatriotismus erlag und in ein vulgärmarxistisches historisches Analogie-Denken absank
Angesichts dieser Analyse-und Interpretationslage ist es nur konsequent, wenn Karl Dietrich Erdmann auf dem Kölner Kolloquium der Fritz-Thyssen-Stiftung im Juli 1979 über die Sozialdemokratie unter Verwendung der eben referierten Argumente das Urteil fällte, „daß die deutsche Sozialdemokratie in der Stunde der Krise der Demokratie nicht auf der Höhe der Situation war" und damit auch seine allgemeine Aussage über den Selbstmord der Weimarer Demokratie unter-mauerte: „Die Weimarer Demokratie ist nicht an ihren Gegnern, sondern an sich selbst zugrunde gegangen."
Erst recht haben Historiker, die das legitime Bedürfnis leitet, an der „Trauerarbeit" der Arbeiterbewegung teilzuhaben, und die aus der Geschichte überwiegend in jener zurückhaltenden Weise Lehren ziehen möchten, wie dies die methodologischen Ansprüche ihrer Wissenschaft gebieten, jene Defizite scharf konturiert benannt, die die Einlösung des Selbstanspruchs der Arbeiterbewegung, in Deutschland den Nationalsozialismus zu verhindern und damit den Faschismus in Europa, unmöglich gemacht haben So wirft Gerhard Beier der Gewerkschaftsführung vor, sie habe keine erfolgreiche dynamische Strategie entwickelt; er spricht von falschen Entscheidungen, von versäumten Gelegenheiten, von Kopflosigkeit, Verwirrung und Abwarten aus Schwäche
Rolf Wabner benutzt in seiner Darstellung der Geschichte der hannoverschen Arbeiterbewegung ähnliche Kennzeichnungen: In reichlich freischwebender Argumentation sagt er „der SPD" eine „fatale Fehleinschätzung" des Nationalsozialismus nach, die nicht zuletzt daran gelegen habe, „daß sie sich vor jeder gewaltsamen, außerparlamentarischen und eventuell legalitätsgefährdenden Aktion fürchtete. So diente ihr tief verwurzelter Pazifismus ihnen als Vorwand, um weiterhin passiv bleiben zu können." Wabner glaubt zu wissen, daß die Führer der Arbeiterbewegung „überängstlich wohl lieber an die Grenze ihrer eigenen Vernichtung gehen" wollten, „als den ersten Schritt zur Gegenwehr zu unternehmen", während die Arbeiterschaft „den abwartenden bis zurückweichenden Kurs ihrer Führer mitmachte", weil sie ihnen bedingungslos vertraute. Wabner spricht von der „Unangemessenheit der Politik der Führer der Arbeiterbewegung", die nach seiner Auffassung „im wesentlichen" auf deren „im 19. Jahr-hundert gewachsenen kleinbürgerlich-sozialistischen Mentalität" beruhte: Parteihierarchie, Legalitätsdenken, Parlamentsfixiertheit, Blickverengung, „legalistische Verblendung" — all dies hat, so wie er es sieht, zum Verzicht „auf den außerparlamentarischen, bewaffneten Kampf" geführt. Im Vorwort zu Wabners Buch macht Peter von Oertzen am nach seiner Meinung besonders plastischen Beispiel Hannovers den allgemeinen Widerspruch „zwischen der Kampfbereitschaft einer — in Reichsbanner und Eiserner Front — immer besser organisierten Arbeiterbasis und der staats-und ordnungsgläubigen resignierenden Haltung der gewerkschaftlichen und politischen Führung" fest.
Patrick von zur Mühlen bewegt sich in der Nähe dieser Argumentation, wenn er behauptet, daß (am 20. Juli 1932) die „potentielle wirksame Waffe der . Eisernen Front'nicht zum Einsatz" kam, „obwohl ihre Mitglieder und ein großer Teil der Parteianhänger zum Widerstand bereit waren", und kritisiert, daß die Parteiführung sich auf nur „verbale und legale Proteste" beschränkte.
Selbst Klaus Schönhoven der äußerst umsichtig argumentiert und Erklärungszugänge für das Verhalten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und ihrer Führer erschließt, deren Gewicht noch angesprochen werden wird, kommt dennoch nicht an dem Vorwurf an die Adresse der Parteiführung vorbei, sie habe das Potential der SPD nicht wirkungsvoll genug zur Geltung gebracht; wenn auch keine Erfolgschancen für einen Bürgerkrieg bestanden hätten, so wäre doch „ein heroisches Signal" (gemeint mit Blick auf Österreich) angemessener gewesen, als „die legalistische Passivität der verantwortlichen SPD-Führer".
Auch Arno Klönne und Eberhard Heupel sind scharfe Kritiker des Verhaltens der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik; ihre Argumente sind im Prinzip die gleichen, wie die der bereits genannten Autoren, wobei Heupel auch noch die sozialistische Linke in seinen Attentismus-und Immobilismus-Vorwurf einbezieht. Indirekt und sicherlich unbeabsichtigt stellen nun aber gerade Klönne und Heupel den stromlinienförmigen historiographisehen Konsens in Frage, in dem sie vergleichsweise kleinlaut werden, wenn sie alternative Handlungsspielräume, die sie entdeckt zu haben glauben, entsprechend ihrem soliden methodischen Anspruch nun auch auf ihre Realitätsnähe abklopfen: Die Konkretheit der historischen Bedingungen seit 1931 entzieht sich dann der Logik ihrer langfristigen Perspektiven.
Ansätze zu einer Kritik der vorherrschenden Historiker-Auffassungen Nur vereinzelt, oft nur beiläufig erwähnt oder in einem anderen systematischen Zusammenhang unterstrichen und kaum von Zeitzeugen unterstützt, sind bisher Auffassungen gegen den dominanten Trend dieser Interpretationen geäußert worden. So hat kein Geringerer als Karl Dietrich Bracher selbst auf ein analytisches Defizit in der Geschichtsschreibung aufmerksam gemacht: Bisher sei die sich gegen die Linke auswirkende Arbeitslosigkeit, die für das Verständnis des Verhaltens derer wichtig sei, „von denen man mehr als Wider-spruch glaubte erwarten zu können“ , nicht genügend berücksichtigt worden. Für Imanuel Geiss rief die Weltwirtschaftskrise einen neuen Schub der Radikalisierung hervor, dessen Ergebnis die Handlungs-und Manövrierunfähigkeit der Gewerkschaften und der SPD war Aber erst Ursula Büttner hat für Hamburg die soziale, die sozialmoralische und die politische Folgenschwere der Weltwirtschaftskrise methodisch gut abgesichert aus großen Materialmengen herausgearbeitet und ist zu dem Urteil gelangt, daß „angesichts des Ausmaßes der Not die Wähler überfordert (waren), wenn sie aus Sorge um die Erhaltung des demokratischen Rechtsstaats Parteien stärken sollten, die für die unmittelbar drängendsten wirtschaftlichen Probleme keine Lösung wußten. Es verdient im Gegenteil Anerkennung, daß noch immer Tausende trotz oft sehr bedrückter materieller Lage im Reichsbanner aktiv für die Republik eintraten und fast 300 000 Wähler bei den Bürgerschaftswahlen 1931 der Erhaltung des bestehenden demokratischen Staates den Vorrang vor anderen Zielen gaben."
Sie hat damit eine früh geäußerte Mutmaßung von Rudolf Vierhaus, daß man „die Auswirkungen der Krise auf das politische Bewußtsein der Menschen und damit auf ihre politische Haltung und Stellungnahme kaum überschätzen (kann)" in ihrem Aussagewert bestätigt. In einer vorweggenommenen Antwort auf die Thesen von Knut Borchardt, daß erst im Sommer 1931 die politisch Verantwortlichen den Charakter und das Ausmaß der Krise hätten erkennen können und deshalb keine Chance gehabt hätten, den Wirtschaftsverfall aufzuhalten und der Radikalisierung der Bevölkerung entgegenzuwirken hatte schon Werner Jochmann auf die Breite der zeitgenössischen liberalen, Kapitalismus-immanenten Kritik an Brünings Deflationspolitik aufmerksam gemacht
Thesenförmig zugespitzt hat Theo Pirker Auffassungen vorgetragen, die — wenngleich analytisch unabgesichert — ein erhebliches Maß an Plausibilität haben und denen man fast einen antithetischen Charakter zuschreiben möchte: Vehement verwirft Pirker die „Legende", die das Verhalten der Arbeiterbewegung 1932/33 im Grunde genommen mit dem Verrat der Führer an den Massen zu erklären beansprucht: „Ich halte von dieser These überhaupt nichts und bin, auch wenn man mich deswegen als . verspäteten Agenten des deutschen Imperialismus'denunzieren mag, grundsätzlich anderer Meinung: Gerade dieses Verhalten der sozialdemokratischen Parteiführer entsprach nicht nur dem Willen , der sozialdemokratischen Massen’, sondern es entsprach der Tradition der sozialdemokratischen Partei selbst!" Die KPD betrachtet er als bündnisunfähig, allenfalls als bündnis-offen in dem Sinne, daß sich die potentiellen Bündnispartner der KPD-Führung unterwerfen sollten; die Wiederherstellung der Einheit der Arbeiterbewegung war seines Erachtens in dieser Phase nicht möglich; die Gewerkschaften befanden sich „nicht nur im Zustand der Paralysierung, sondern auch und vor allem im Zustand des Kompromisses": sie „woll-ten unter allen Umständen ihre Organisation retten, und nichts sonst!"
Dies, so Pirker, verstehe man erst, wenn man erkenne, „welche Bedeutung für einen deutschen Gewerkschaftler seit jeher die Aufrechterhaltung der Organisation gehabt hat". Aus all diesen Gründen bezweifelt er, daß die am Ende der Republik vollkommen bewegungsunfähige Arbeiterbewegung daran denken konnte, „z. B. durch die Proklamation eines Generalstreiks den Vormarsch des Faschismus aufzuhalten.. .
Josef Felder, das letzte noch lebende Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, die am 23. März 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, hat dieses Urteil aus seiner Sicht, unabhängig von Pirker, bestätigt: „Damals (am 20. Juli 1932, H. G.) haben die Reichsbannerleute bei uns, ihre Schufo-Abteilungen und viele Parteigenossen geglaubt, jetzt sei eigentlich der entscheidende Moment zum Gegenschlag gekommen, jetzt müsse man eingreifen. Aber inzwischen war die Arbeitslosigkeit auf sechs Millionen angestiegen. Ich weiß selbst aus der bedeutenden Industriestadt Augsburg, daß die Masse der Arbeiter von lähmendem Entsetzen geplagt und nicht bereit war, anzutreten, wenn nicht von der Spitze des ADGB das Signal gegeben werde. ”
Peter Lösche bringt die Diskussionslage auf den richtigen Punkt, wenn er das Wunschdenken der Historiker mit den Denkhorizonten der damals Handelnden bzw. Nicht-Handelnden implizit konfrontiert, indem er darauf hinweist, daß die Voraussetzungen für einen aktiven Widerstand gegen Papens Staatsstreich gewesen wären, „daß legalistisches Denken und ausschließlich auf die parlamentarischen Institutionen fixiertes Handeln der SPD hätten überwunden werden müssen, eine Tradition also, in der gerade preußische Sozialdemokraten Politik formulierten"
Diese Voten für eine Modifikation der herrschenden Interpretation bilden den Ausgangspunkt für eine Kritik an der Methode, die zu dieser Interpretation geführt hat, und für eine Kritik an der perspektivischen Verengung der inhaltlichen Aussagen. So hat m. E. die Untersuchung von Erich Matthias, die seinerzeit einen Durchbruch in der Interpretation der Geschichte der SPD am Ende der Weimarer Republik bedeutet hat, den Nachteil, daß sich ihr Verfasser, wie er selbst freimütig eingeräumt hat, nur auf vergleichsweise wenige Fallstudien beziehen konnte und nur eine geringe Zahl von Einzelzeugnissen zur Verfügung hatte Matthias hat dann den Einzelfällen, obwohl sie nicht ohne weiteres als beispielhaft ausweisbar sind, das Gewicht einer allgemeinen Tendenz gegeben, wenngleich mit gebührender Einschränkung. Von Matthias'Argumentation abgekoppelt wurden dann diese Verallgemeinerungen für weitere historische Untersuchungen zu nicht mehr reflektierten Erklärungsschablonen. Die Berufungen auf Zeitzeugen hatten schon bei Matthias den Nachteil, daß sie überwiegend — aus der Absicht, die „Führer-Rechtfertigungen" in ihrem argumentativen Gewicht zu relativieren — recht einseitig zustimmend zur These von der Kampfbereitschaft ausgewählt worden sind oder — was wahrscheinlicher ist — so akzentuiert auch nur zur Verfügung gestanden haben.
Schon Karl Rohe hat auf eine Reihe von Zeugnissen verwiesen, die die Überbetonung des Faktors Kampfbereitschaft entschieden abbauen. Vielfach wird die Kritik der Zeitzeugen an ihren seinerzeitigen Führern viel zu unkritisch übernommen: Übersehen wird, daß die, die sich heute noch äußern können, damals zu den Jungen, den Aktiven, zu dem Kern der Kampfwilligen gehört haben und verständlicherweise ihre Bereitschaft zur kämpferischen Auseinandersetzung als pars pro toto zu nehmen geneigt sind. Diejenigen, die seinerzeit anderer Auffassung gewesen sind, leben nicht mehr und sind auf die stellvertretende Führung ihrer Stimme durch die Historiker angewiesen
überwiegend wird bei der Verwendung von Zeitzeugnissen zu wenig darauf geachtet, von welchen psychischen Bedürfnissen die Aussagen getragen werden: Nichts Geringeres ist da im Spiele als . Trauerarbeit'über das als Versagen verstandene Nicht-Handeln der Arbeiterbewegung 1932/33, gemessen an den Folgen dieses Nicht-Handelns. Historiker der neuesten Geschichte befinden sich angesichts dieser Situation in der methodischen Klemme, auf Zeitzeugen nicht verzichten zu können, aber deren Aussagen oft entgegen ihren Ursprungsintentionen oder doch nicht in voller Kongruenz mit ihnen benutzen zu müssen. Historiker der neuesten Geschichte sind aber selber gefährdet — durch die historische Nähe zu ihren Gegenständen und als Zeugen ihrer eigenen Zeit mit den Folgen vergangenen Handelns bzw. Nicht-Handelns konfrontiert — Wunschdenken und Wertungsabsichten in die vergangene Zeit zurückzutragen und sich nicht immer ausreichend ideologie-(selbst) kritisch zu überprüfen.
Wahrscheinlich ist es so zu erklären, daß — wenn auch oft recht milde gefaßt — die Führerverrats-These in der historischen Literatur weitergeschleppt wird, obwohl es doch inzwischen eine Binsenwahrheit sein sollte, daß es nicht als das Werk einiger Führer angesehen werden kann, daß die Arbeiterorganisationen so waren, wie sie waren, sondern daß dieses „Sosein", wenn auch gebrochen, das tatsächliche Bewußtsein der Arbeitermassen selbst reflektiert. So mag es sich ergeben, daß insbesondere die sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen für Defizite gescholten werden, die ihr aus einer anderen Sicht oder bei anderer Gelegenheit als Plus angerechnet werden: Disziplin, Organisationsmacht, Legalität, Gewaltlosigkeit, humane Denkhorizionte und Handlungsvorstellungen, und daß eine gewisse Widersprüchlichkeit in der Argumentation der Historiker unübersehbar wird Auch werden Handlungszwänge und Situa-tionsspezifik oft nur unzulänglich beachtet, wird die politische Lage nur auf der Ebene der zentralen Entscheidungsträger analysiert, und ganze, außerordentlich handlungsdeterminierende Bereiche — wie z. B. die Politik der KPD in den letzten Jahren der Republik — werden ausgeblendet Da fehlt zwar nirgends der Hinweis auf die Folgen der Weltwirtschaftskrise für die Arbeiterbewegung, aber zugleich werden diese Folgen kaum tatsächlich in die Argumentationskette eingebaut bzw. es wird noch nicht einmal versucht, diese Folgen konkret zu bezeichnen.
Die Berufung auf die jüngeren Zeitzeugen oder besonders begründet Enttäuschte hat in der Historiographie auch zur Folge, daß nicht unterschieden wird zwischen Kampfwillen und Kampfbereitschaft einerseits und Kampffähigkeit andererseits; eine solche Unterscheidung würde auch durch eine vergleichende Analyse mit der Revolution 1918/20 nahegelegt werden. Sie sollte sich jedoch nicht nur auf die äußeren Rahmenbedingungen für revolutionäres bzw. bürgerkriegsähnliches Handeln beziehen, sondern auch als Mittel dazu dienen, die unter Umständen gegebenen sozialpsychologischen Entlastungsfunktionen verbaler Radikalität zu erkennen. Schließlich werden allzu rasch und umstands-los — so hat Ursula Büttner angeregt, es zu sehen, — die historischen Vorbelastungen der Weimarer Republik zur Erklärung ihres Endes herangezogen, anstatt „die Wahlergebnisse des Jahres 1919 als Entscheidung für den politischen Neuanfang ernst zu nehmen und zu klären, warum diese Bereitschaft so rasch der Verherrlichung des alten Systems oder Hinwendung zu irrationalen Zukunftsvisionen wich"
Möglichkeiten und Wege einer alternativen Interpretation. Zur Bedeutung der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise Die eben geübte Kritik wird gewiß die Frage provozieren, wie denn eigentlich die Basis für alternative Interpretationsangebote aussehen könnte. Die Antwort auf eine solche Frage kann im Rahmen eines Aufsatzes über Tendenzangaben zunächst nicht hinausgelangen. Eine sehr brauchbare Materialbasis bilden die bereits vorliegenden einschlägigen Untersuchungen insofern, als daß das durch sie gehobene Material einer Sekundäranalyse unterzogen werden kann unter den neugewonnenen Fragestellungen. Ebenso unerläßlich ist die Bezugnahme auf Untersuchungen, die explizit oder implizit die alternative Interpretationsrichtung bereits aufgenommen haben was heißen kann: die Übernahme oder vergleichende Verifikation von Thesen der Autoren. Ferner hat die Verfasserin sich über eine Sammlung von lokalen Informationen eine eigenständige authentische Quellenbasis zu schaffen versucht diese Sammlung ist teilweise zufällig entstanden, teilweise systematisch angelegt worden unter dem Gesichtspunkt, von der Beschreibung der Metropolen wegzukommen und die Lage der Provinz zu eruieren. Das gesammelte Material ist disparat und inhomogen und von sehr unterschiedlichem Zuverlässigkeitsgrad. Zusammengenommen ergibt es aber einen brauchbaren Überblick, der allerdings die Verfasserin nun ihrerseits mitnichten aus jener methodischen Klemme freigibt, in der sie als Kritikerin andere Autoren gebracht zu haben annimmt: Wie kann man mit Aussicht auf Akzeptanz Einzelfälle zu repräsentativen Beispielen erheben und diesen dann in dem gewählten Argumentationsrahmen Verallgemeinerungskraft zubilligen?
Abstrakt läßt sich diese Frage nicht beantworten, allenfalls kann man hoffen, einen möglichst hohen Grad an Plausibilität für die eigene Argumentation zu erreichen. Diese Plausibilitätserwartung kann in dem nun folgenden thesenförmigen Argumentationsrahmen nicht eingelöst werden; dieser Rahmen dient nur dazu, Anstöße für andere als die herrschenden Interpretationen zu geben, nicht diese Interpretation selbst schon zu erbringen. Zuallererst sollte versucht werden, Ernst zu machen mit der Forderung nach der Einbeziehung der Folgen der Weltwirtschaftskrise für das Ende der Weimarer Republik und für die Situation der Arbeiterbewegung, selbst wenn dies methodisch nur als einfache Parallelisierung und nicht als Kausalverknüpfung gelingen kann. Dabei wird man auf Quantifizierungen nach wie vor nicht verzichten können, selbst wenn diese nicht mehr erbringen sollten als situationsaufschließende Veranschaulichungen und Ausgangspunkte für Fragestellungen. Etwa so: Ende Juli 1932, dem Monat des Staatsstreichs Papens gegen Preußen, waren 44, 4 % der in den Freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften organisierten Arbeiter arbeitslos, 22, 3 % standen in Kurzarbeit; Ende Januar 1933 waren es sogar 46, 7 % arbeitslose Gewerkschafter und 23, 3 % kurzarbeitende, und dies alles bei sinkenden Netto-Reallöhnen von 100 Punkten 1928 (wie 1913) auf 64 im Jahr 1932. 15% der Wohnbevölkerung von Lübeck waren Ende 1932 arbeitslos, in Solingen und Chemnitz waren es 17 %, in Plauen 18 %.
Oder nur die Andeutung einer anderen Variante der Quantifizierung: In der Stadt Norden waren im Januar 1932 bereits 95 % der Freien (sozialdemokratischen) Turnerschaft arbeitslos. Die höchste Arbeitslosigkeit herrschte 1932 in Teilen Schlesiens, im Land und in der Provinz Sachsen, im Land Thüringen, in Teilen der Provinz Westfalen und in der Rheinprovinz sowie in den Hafenstädten der Ost-und Nordsee. In Berlin betrug die Tagesration eines aus der Arbeitslosenunterstützung aus-gesteuerten Wohlfahrtsunterstützten: sechs kleine Kartoffeln, fünf Scheiben Brot, ein faustgroßer Kohlkopf, ein Stückchen Margarine (und einmal im Monat einen Hering). In Hamburg mußten zwei Drittel der ledigen Frauen mit einer Untersützung zwischen 10 und 13 Mark pro Woche auskommen; Jugendliche bekamen in Hamburg seit 1932 überhaupt keinen Arbeitsplatz mehr.
Die Darstellung der Krisenauswirkungen und der Politik, mit der auf die Krise reagiert wurde, ließe sich beliebig lange fortsetzen: Hier kam es nur darauf an, darauf aufmerksam zu machen, daß eine Demoralisierung der Arbeiterschaft und eine Demontage der Arbeiterorganisationen um sich gegriffen haben könnte, aus der teilweise die Resignation der Führer erklärbar werden könnte (und so gesehen zwar „schwer entschuldbar" aber eben doch unter Umständen entschuldbar, wenn man sich auf diese Schuldfrage überhaupt einlassen will). Jedenfalls mußten „die Führer" in ihr strategisches Kalkül die Frage einbeziehen, welches Ausmaß die Demoralisierung der Arbeiter und die Schwächung ihrer Organisationen durch die Weltwirtschaftskrise hatten. Selbst wenn man unterstellt, daß es z. B. am 20. Juli 1932 eine Kampfbereitschaft gab — für wie viele der 971 499 Mitglieder, die die SPD am 30. September 1932 hatte, konnte sie aber wirklich gelten? Und selbst wenn man weiter unterstellt, daß es diese Bereitschaft optimal gegeben hat, so wird man doch fragen müssen, ob akute Kampfbereitschaft gleichzusetzen ist mit langfristiger Kampffähigkeit, die außer strategischem Können und taktischer Gewandtheit den langen Atem rational kalkulierbaren Standhaltens verlangt und die nichts zu tun hat mit einer aus einer miserablen Lage sich ergebenden, emotional explosiven Radikalisierung.
In diesem Zusammenhang könnte versucht werden, die hauptsächlich aus den Jahren 1929 und 1930 stammenden Befragungsbefunde der Forschungsgruppe um Erich Fromm über Einstellungen und Bewußtseinshorizonte von Arbeitern und Angestellten für die Zeit nach 1930, also der Hoch-Zeit der Krise, fortzuschreiben. Damals konnte nach Fromm nur von einer „mit insgesamt 15 % recht kleinen Gruppe ... in kritischen Zeiten erwartet werden, daß sie den Mut, die Opferbereitschaft und die Spontaneität aufbringen würde, die zur Führung der weniger aktiven Elemente und zur Besiegung des Gegners notwendig sind. Zwar besaßen die linken Parteien die politische Treue und die Stimmen der großen Mehrheit der Arbeiter, aber es war ihnen im großen und ganzen nicht gelungen, die Persönlichkeitsstruktur ihrer Mitglieder so zu verändern, daß diese in kritischen Situationen verläßlich gewesen wären. Auf der anderen Seite zeigten jedoch weitere 25 % der Sozialdemokraten und Kommunisten eine weitgehende, wenngleich geringere Übereinstimmung mit ihren politischen Parteien und ließen keine Persönlichkeitszüge erkennen, die ihren linken Ansätzen widersprochen hätten. Sie konnten deshalb als verläßlich, nicht aber als glühende Anhänger gelten."
Bei der Mehrheit der Anhänger bestand jedoch eine Ambivalenz bzw. Inkonsistenz in den Einstellungen, durch die die linke Außenseite neutralisiert, ja pervertiert werden konnte. Fromm und sein Herausgeber Bonß schließen daraus, daß diese Befunde dazu beitragen könnten, „die weitgehende geräuschlose Durchsetzung des Faschismus nach 1933 besser zu begreifen": Die Weimarer Linke war „schon aufgrund der Charakterstruktur ihrer Mitglieder kaum in der Lage ..., den Sieg des Nationalsozialismus zu verhindern“. Solche Thesen kommen der Durchbrechung eines Tabus gleich, selbst wenn sie von Erich Fromm stammen.
Schwach belegt und aus einer bestimmten methodischen Ecke heraus formuliert, würden sie kaum Durchsetzungskraft gewinnen können, wenn nicht lokal zentrierte Studien zunehmend Hinweise auf die Destabilisierung des Milieus der Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik enthielten: In Hamburg gab es einen Wählerwechsel zur NSDAP für Braunschweig beschreibt Herbert Scheibe die zwar schleichende, aber offenbar unaufhaltsame Zermürbung der Arbeiterorganisationen, was eindeutig im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und den Mitteln zu ihrer Bekämpfung gesehen werden muß Ebenfalls für Hamburg hat Ursula Büttner zeigen können, daß es bei bestimmten Wählergruppen, so bei den Angestellten, keine überrepräsentative Anfälligkeit für den Nationalsozialismus a priori oder aus soziostrukturellen Gründen gegeben hat, sondern daß sich die dominanten Optionen für den Nationalsozialismus unter der Voraussetzung bestimmter Vorprägung erst unter Krisenbedingungen ergeben haben.
Wenn dennoch die Arbeiter im großen und ganzen an ihre alten Organisationen gebunden blieben, so deshalb, weil sie in ihnen Schutzräume gefunden hatten, die sie nun in der Krise erst recht nicht verlassen wollten; aber die Arbeiter konnten aufgrund ihrer durch die Auswirkungen der Krise hervorgerufenen desolaten Lage ihre Organisationen nicht mehr ohne weiteres als jenes Kräftesammlungsfeld annehmen, aus dem heraus sich von ihnen eine aktive Kampfbefähigung erhalten oder überhaupt erst erwerben ließ. In diesem Zusammenhang kann an die negativen Erfahrungen der Linkssozialisten erinnert werden, die angesichts der offensichtlichen Radikalisierung der Anhänger der Arbeiterbewegung erwarteten, daß sie das Gravitationszentrum einer neuen Einheitsbewegung werden könnten, und erkennen mußten, daß sie den beiden großen Arbeiterparteien und genausowenig den Gewerkschaften die Massenloyalität entziehen konnten.
Die politische Lage der Republik und der Arbeiterbewegung seit den Septemberwahlen 1930
Unter Krisenbedingungen sollte man nicht nur die ökonomischen Faktoren fassen, sondern auch die politische Lage der Republik seit 1930 und besonders im Jahre 1932: Da wurden die Wähler fünfmal zur Wahl gerufen; bei den Reichstagswahlen und bei den Landtagswahlen wurde die NSDAP zum Teil mit großem Abstand die stärkste Partei; in Oldenburg erreichte sie sogar die absolute Mehrheit; schon gab es auf lokaler Ebene bürgerlich-nationalsozialistische Koalitionen, sogar Beteiligungen der Nationalsozialisten an Länderregierungen, so 1930 in Thüringen mit Frick als Innenminister. Die Republik existierte 1932 nicht mehr als die, die 1919 geschaffen worden war; das, was von ihr übrig-geblieben war, gab keine legitimatorischen Impulse mehr dafür ab, sich für sie einzusetzen. Im Gegenteil: Die, die sie verteidigen sollten, waren gerade jene, die am nachhaltigsten — und das seit Jahren — belastet worden waren
Zu den angeführten Faktoren tritt noch die spezielle Situation der deutschen Arbeiterbewegung hinzu. Zunehmend wurde bis zum Ende des Jahres 1932 die Fragmentierung der Arbeiterbewegung spürbar: Zu der sich seit 1929 immer stärker vertiefenden Spaltung zwischen SPD und KPD kam die Entfremdung zwischen SPD und Freien Gewerkschaften, die erst unterschiedliche Vorstellungen über die Krisenbekämpfung entwickelten und sich dann in der Einschätzung des der Situation angemessenen taktischen Verhaltens gegenüber dem Nationalsozialismus von der SPD unterschieden. Als sich ein Teil besonders der jungen aktiven Linken 1931 von der SPD abspaltete und sich zur SAP zusammenschloß, war dies unvermeidbar, weil den Linken kein anderer Weg gelassen wurde, aber zugleich ein zusätzlicher Faktor der Uneinigkeit. Unüberwindbar blieb auch die Trennung der Gewerkschaften in Richtungen, obwohl es zu bestimmten Zeiten der Weimarer Republik bereits so ausgesehen hatte, als ob unterschiedliche weltanschauliche Orientierungen nicht mehr ein Hindernis für Gemeinsamkeiten bei den Auseinandersetzungen mit den Unternehmern bedeuten mußten.
Die Tätigkeit aller Teile der deutschen Arbeiterbewegung vollzog sich nach wie vor in vielen Teilen der Republik und hier besonders in der Provinz in einer seit Generationen arbeiter-bzw. sozialistenfeindlichen Umwelt Zwar hatte die Republik vielerorts überhaupt erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Arbeiterbewegung nicht mehr in einer Atmosphäre der permanenten politischen Verfolgung und der gesellschaftlichen Diskriminierung wirken mußte, und so waren vielerorts in der Provinz positive Beziehungen zur Republik, die die Wende gebracht hatte, entwickelt worden; aber nach 1930 trat hier eine Veränderung zum Negativen ein: Die Vertreter der Arbeiterbewegung sahen sich wieder mit überwunden geglaubten Verhältnissen konfrontiert, d. h. mit dezidiert antisozialistischen bürgerlichen oder gar bereits bürgerlich-nationalsozialistischen Koalitionen (Beispiele für diese radikalen Klimaveränderungen geben Wiesbaden, Göttingen, Pforzheim), und die Einstellung zur Republik wurde ambivalent. Besonders die Sozialdemokraten hatten zunehmend einen zermürbenden „Zwei-Fronten-Krieg" gegen Nationalsozialisten und Kommunisten zugleich zu führen. Wenn Pirker behauptet, daß die Einheitsfrontbemühungen ohne Chance waren, so wird diese These durch das lokale Material unterstützt, obwohl gerade auch von sozialdemokratischer Seite Versuche nachgewiesen werden können, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten. Deren krasse Fixierung auf die Sozialfaschismus-These ließ bei vielen Sozialdemokraten dann aber die Überzeugung wachsen, die Kommunisten müßten nun umgekehrt unweigerlich der Feind Nr. 1 werden, weil sie nur noch den die Republik zerstörenden Rechtsradikalen zuarbeiteten. Und so fand manchmal nur noch ein „Ein-FrontenKrieg“ zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten statt, so wie ihn Klaus Tenfelde für die „Proletarische Provinz“ Penzberg überliefert hat
Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und „Preußenschlag"
Seit Oktober 1930 stand fast jede politische Aktivität der Arbeiterbewegung unter faktisch bürgerkriegsähnlichen Bedingungen. Es gab blutige Zusammenstöße überall in der Republik zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten auf der einen und Nationalsozialisten auf der anderen Seite-, allein in der Zeit zwischen dem 20. Juni und dem 31. Juli 1932 hatte es bei solchen Zusammenstößen 100 Tote gegeben. Überfälle der SA auf Partei-und Gewerkschaftshäuser und Reichsbanner-Büros mit anschließenden Plünderungen und Zerstörungen gehörten zum Alltag. Dazu kamen Bomben-und Sprengstoffattentate und vor allem der gegen Einzelpersonen und kleine Gruppen der Arbeiterbewegung gerichtete individuelle Terror der Nationalsozialisten. Im Rahmen dieses alltäglichen Bürgerkriegs war der 20. Juli 1932 großenteils kein besonderes Datum mehr; so gab es in Teilen der Republik überhaupt keine Reaktionen auf den „Preußenschlag" bzw. es gab andere, als Historiker sie offensichtlich erwarten. Für letzteres stehe der Fall Lüneburg: Hier hatten die Mitglieder der SPD und der ihr angeschlossenen Organisationen in der Woche, in die der 20. Juli 1932 fiel, folgende Termine wahrzunehmen
Montag, 18. Juli, 19. 30, Sitzung der Kampfleitung der Eisernen Front 20. 15, Funktionärssitzung der SPD. „Keiner soll fehlen. Türkontrolle. Freiheit!" Dienstag, 19. Juli, 19. 00, Flugblattverbreitung 20. 00, Volkshaus. Zusammenkunft der erwerbslosen SPD-Mitglieder Donnerstag, 21. Juli, 16. 00, öffentliche Versammlung der Rentner, Wohlfahrtsempfänger und Erwerbslosen 20. 00, öffentliche Kundgebung: Viktor Mungali/Italien: „Freiheitskampf des Proletariats" Freitag, 22. Juli, 20. 00, Abendspaziergang der SPD-Genossinnen. „Unkosten entstehen nicht, da wir nicht einkehren."
Sonnabend, 23. Juli, 20. 00, öffentliche Kundgebung der Eisernen Front auf dem Sportplatz In dieser Woche sollten außerdem von allen Genossen Freiheitsopfermarken zu 15 und 20 Pfennig und Freiheitsfahnen 80x 120 cm zu 1 Mark verkauft werden.
Nach dem 20. Juli 1932 wirkten sich die von Papen verfügten Restriktionen besonders nachteilig für die Sozialdemokraten in den klein-und nichtstädtischen Regionen aus, wo die der SPD angehörenden Landräte durch konservativ-deutschnationale oder sogar schon durch nationalsozialistische Beamte ersetzt wurden, so in Northeim und Einbeck/Uslar; damit waren die staatlichen Schutz-mauern für die Arbeiterbewegung niedergerissen. Dennoch gab es keine Beschleunigung in der Demoralisierung und keine anwachsende Resignation, wie vielfach in der historischen Literatur unter Berufung auf Zeitzeugen behauptet wird Vielmehr lassen sich auch nach dem 20. Juli 1932 wie in der Zeit davor eine Fülle von Zeugnissen für den alten Widerstandsgeist und seine handgreiflichen Ausdrucksformen finden, und keineswegs läßt sich eine Flucht vor Hitler feststellen. Es war allerdings ein Widerstand mit eigenen Gesetzen und sicherlich keiner, wie ihn die Historiker gerne haben möchten. Man zeigte täglich die eigene Flagge im wörtlichen und im übertragenen Sinne durch Präsenz auf der Straße, veranstaltete Massenkundgebungen mit Spitzenrednern in der Provinz und wehrte mit sehr viel persönlichem Mut den Terror der Nationalsozialisten ab. Diese wagten überwiegend nicht, die Massenversammlungen der Arbeiterorganisationen gewalttätig zu stören, und wenn sie dies taten, blieben sie meist die Unterlegenen; sie „spezialisierten" sich deshalb auf Überfälle auf die nach den Kundgebungen einzeln oder in kleinen Gruppen heimkehrenden Arbeiter. Auch dies ist ein Beweis für die Standfestigkeit der Arbeiterbewegung, freilich auch ein Beweis mehr dafür, daß die Nationalsozialisten nicht aus eigener Kraft die Macht hätten übernehmen können.
Nur „Scheinaktivität" und „Scheinradikalismus"?
Man hat diesen Arbeiterwiderstand „Scheinaktivität" und „Scheinradikalismus“ genannt. Aber wer so argumentiert, zeigt nur, daß er kein Verständnis hat für jene Mischung aus Tapferkeit, dem Bemühen, sich selber Mut zu machen, und gewiß auch schon Resignation, die (und dies nun wirklich beispielhaft) sich in dem Jahresbericht für das Jahr 1932 des Göt-von denen Reaktionen auf den 20. Juli bzw. keine Reaktionen registriert werden können, aufgelistet; einige Angaben erscheinen unter quellenkritischen Aspekten inzwischen überprüfenswert. tinger SPD-Unterbezirkssekretärs Richard Borowski ausdrückt: „Von allen Parteigenossen wurde in diesen Kämpfen der Einsatz aller Kräfte verlangt, und mit großer Freude stellen wir fest, daß die Parteigenossenschaft ohne Rücksicht auf Terror und wirtschaftlichen Druck Kampfgeist und Opfermut bewie-sen hat, der alle Angriffe der Gegner zunichte machte. Die Partei ist aus diesem Kampfe un-geschwächt hervorgegangen. Hier hat sich gezeigt, daß auch unter den mißlichsten Wirtschaftsverhältnissen in Verbindung mit einem Trommelfeuer von Angriffen eine Partei Großes zu leisten imstande ist, wenn die Mitgliedschaft mit den Idealen und Zielen verbunden und verwachsen ist.''
Keineswegs zutreffend wäre es auch zu meinen, die Repräsentanten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung — sei es vor Ort, sei es an der Spitze — hätten den Nationalsozialismus falsch eingeschätzt; daraus wird dann in der Literatur oft der Schluß gezogen, sie hätten gerade deshalb auch keine adäquaten Mittel zur Bekämpfung des Nationalsozialismus anwenden können. Es scheint eher so, daß der Nachweis gelingen könnte, daß es in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung durchaus präzise Vorstellungen davon gab, was die Herrschaft des Nationalsozialismus bedeuten würde. Dennoch oder gerade deshalb bestand man darauf, dem Nationalsozialismus mit den „eigenen geistigen Waffen“ und agitatorischen Möglichkeiten zu begegnen und sich nicht in die unwürdige Situation begeben zu wollen, den Gegner mit dessen Mitteln, nämlich Gewalt und Terror, bekämpfen zu müssen. Die historisch gewachsene Abneigung gegen Gewalt in der deutschen Arbeiterbewegung sozialdemokratischer Tradition scheint verstärkt worden zu sein durch das Erlebnis des Krieges und die allmählich unleugbar sichtbar werdenden gewaltsamen Formen der Umwälzung der Produktionsverhältnisse in Rußland: Sozialismus und Gewalt mußten nunmehr unabdingbar Gegensätze sein. Möglicherweise wuchs die Abneigung gegen die Anwendung von Gewalt in dem Maße, in dem diese von der Mehrheit der Gesellschaft legitimiert und von der Justiz nur selektiv (mit nach links blindem Auge) geahndet wurde; jedenfalls gehörte dies zum Erfahrungsspektrum der ganzen Arbeiterbewegung. Aus diesen Einstellungen kann man im Nachhinein eine Unfähigkeit zur Bekämpfung des Nationalsozialismus ableiten, man kann aber auch als Historiker solche normative Naivität hinter sich lassen und die damals nach ihren eigenen Gesetzen Handelnden von ihren eigenen Voraussetzungen her zu verstehen versuchen. Nach der persönlichen Meinung der Verfasserin sollte ein Historiker sich in diesem Fall nicht scheuen, von Tragik zu sprechen und sich an der Trauerarbeit beteiligen, anstatt sich auf das hohe Roß der letztlich verachtenden Kritik zu setzen.
In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, auf eine Situation einzugehen, die man vielleicht als das „Führer-Massen-MißVerständnis“ charakterisieren könnte. Die Führung schien auf das Losschlagen der Massen analog zu 1918 zu warten; so sagte Otto Wels auf der Sitzung des Parteiausschusses am 10. November 1932 in bezug auf den Anfang des Kampfes: Revolutionen werden nicht gemacht, sie kommen (dies war eine Paraphrase des vielzitierten Satzes von Karl Kautsky;) wenn die Massen aber beginnen, dann — so hieß es — „wirst Du Dich nicht verblüffen lassen. Wir haben auch nicht geschlafen" (was wiederum in Analogie zu 1918 gedacht war) Man kann über einen solchen Satz hinweggehen, indem man ihn als typisches Produkt des revolutionären bzw. reformistischen Attentismus qualifiziert Man kann diese im Traditions-und Erfahrungshorizont der Sozialdemokratie verankerte Auffassung aber auch ernst nehmen und sie situationsbezogen überprüfen: Während die „Führer“ auf das Zeichen der „Massen" zu hoffen schienen, warteten diese auf das der „Führer“; weder das eine noch das andere „Signal zum Losschlagen" wurde gegeben.
Dabei wird man den kampfbereiten Sozialdemokraten vor Ort weder Führergläubigkeit noch Mangel an Spontaneität vorwerfen können. Sie waren geübt in durchaus auch spontanen Aktionen in unmittelbar durchschauten Erfahrungsräumen; aber die Verantwortung und die Strategie für die große Auseinandersetzung meinten sie den Führern an der Spitze überlassen zu müssen, auch aus Verantwortung gegenüber ihrer lokalen Arbeiterschaft, und dies ja häufig bereits in einer Situation, die keineswegs fürs Losschlagen günstig erscheinen mußte. So entstand eine Lage, die den Historiker vielleicht veranlassen könnte, von einer Art gegenseitiger Blokkierung von Führung und Massen, Massen und Führung zu sprechen. Dabei waren wahrscheinlich — dem müßte allerdings genauer nachgegangen werden — die tieferen Begründungen für das Verhalten der einen wie der anderen dieselben: Es war nicht mehr eindeutig, wo der Ort des Kampfes hätte sein können: die Straße — aber mit welchen Mitteln?; der Betrieb — angesichts von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit ein schwankender Boden. — Und es ließ sich die Einsicht nicht mehr abwehren, daß ein Kampf, in welcher Form auch immer, als eine negative Probe auf die Existenz der Organisationen der Arbeiterbewegung ausfallen könnte.
Dennoch war der letzte Akt vor Ort — besser: in den Orten, über die die Verfasserin Informationen besitzt — kein tonloses Sichwegschleichen, sondern — schon unter den Bedingungen der halben oder ganzen Illegalisierung, unter persönlichen Morddrohungen bzw. nach den ersten Verhaftungen und Folterungen und überzeugt davon, daß nunmehr Gewalt und Terror in ungekannter Maßlosigkeit ausbrechen würden — im Angesicht des lauernden Feindes ein würdiges Weggehen in der Gewißheit, die dann auch Otto Wels in seiner Erklärung zum Ermächtungsgesetz am 23. März 1933 stellvertretend für alle Sozialdemokraten aussprach: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, aber die Ehre nicht“, und in dem Bewußtsein, das Wels ebenfalls ansprach, daß niemand die Macht haben würde, „Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten“.
Streit unter Historikern kann eigentlich nicht darüber bestehen, ob nun die nachfolgende überwiegende Haltung der Sozialdemokraten — sich quasi wie ein U-Boot zu verhalten — oder die der Kommunisten — um fast jeden Preis der Willkür des Nationalsozialismus zu widerstehen — vor der Nachwelt als überzeugender oder vorbildhafter oder achtenswerter zu erscheinen habe: das eine war gewiß vernünftiger und das andere tapferer.
Vielleicht doch noch ein „heroisches Signal"?
Trotz allem, was ausgeführt wurde, bleibt die Frage unabwendbar, ob nicht mit Blick auf die österreichische Arbeiterbewegung ein „heroisches Signal" hätte gesetzt werden müssen. Zweifellos — da herrscht wiederum kein Streit — hätte auch für die deutsche Sozialdemokratie die „ehrenvolle Niederlage" bzw.der „kämpferische Untergang in Ehren" nach Hitler einen selbstbewußteren Neuanfang ermöglicht, einen ohne Verdrängungen, ohne Einkapselung in die alte Tradition und mit einem klareren Blick für die Funktionen des Faschismus für die Überlebenschancen des Kapitalismus in der Weltwirtschaftskrise. Das klingt alles überzeugend; aber bei präziser Analyse der Situation wird man erkennen, worauf bereits Karl Rohe hingewiesen hat daß Österreich kein Beispiel sein kann für die „andere" (d. h. „bessere") Arbeiterbewegung.
Sieht man in dieser Argumentation einmal davon ab, daß die Weltwirtschaftskrise mit Zeitverzögerung auf Österreich traf und daß die Führung der österreichischen Sozialdemokratie, die zu den heftigsten Kritikern der sozialdemokratischen Tolerierungspolitik gehört hatte, dann auch nicht anders als mit einer in der Art gleichen Politik auf die Krisensituation reagierte, so wird man feststellen, daß die österreichische Arbeiterbewe-gung es gewissermaßen „leichter" hatte als die deutsche, weil sie besser vorbereitet war für eine bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Dies ist nicht nur in dem handgreiflichen Sinne zu verstehen, daß die Schutzbündler besser ausgebildet und bewaffnet gewesen sind, sondern auch in dem übertragenen Sinne, daß die Österreicher die Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung schon vor Augen hatten und außerdem noch die Anschauung von einem Jahr „Faschismus an der Macht", als sie im Februar 1934 den Aufstand wagten. Auch war die Arbeiterbewegung in Österreich nicht gespalten oder doch nur in dem Sinne, daß die österreichischen Kommunisten eine politisch unbedeutende Minorität darstellten, so daß kein „Zwei-Fronten-Krieg" geführt wurde. Aber auch die österreichischen Schutzbundführer wußten lange vor dem Februar-Aufstand: „Wir werden kämpfen, aber wir werden verlieren." Denn die Österreicher hatten es nicht nur leichter, sondern zugleich auch schwerer, so eingezwängt, wie sie es waren zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland, dem faschistischen Italien und dem diktatorischen Horthy-Regime.
Die „ehrenvolle Niederlage" gab den österreichischen Sozialisten die Möglichkeit zu einem unbefangenen Anfang nach Hitler, verschaffte allerdings der österreichischen Nation auch ein wohlfeiles Alibi für die Verdrängung ihrer eigenen Verstrickung in den Nationalsozialismus. Karl Rohe hat m. E. zu Recht die Frage gestellt, ob ein „ehrenvoller Untergang" der deutschen Arbeiterbewegung die Folgen hätte aufwiegen können, die der Aufstand ausgelöst hätte. Man sollte dabei nicht nur an die unmittelbaren Folgen denken, sondern auch an die langfristigen, und dann stellt sich die Frage, ob nicht ein (aussichtsloser) Widerstand den Nationalsozialisten einen willkommenen Vorwand für die Legitimierung ihres Terrors geboten hätte. Vielleicht wäre sogar eine Abart der Dolchstoß-Legende im deutschen Bürgertum entstanden mit negativen Wirkungen bis heute. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es nicht gewesen, die sogenannten Führer zu rechtfertigen (außer Zweifel steht, daß diese freiwillig Verantwortung übernommen haben, der sie sich nicht gewachsen erwiesen haben, aus welchen Gründen immer), auch nicht, den Zeit-zeugen ihre subjektive Wahrheit zu stehlen (diese bleibt ihre Wahrheit, selbst wenn Historiker Zweifel hegen, ob diese Wahrheit verallgemeinerungsfähig ist), und erst recht nicht war es die Absicht, bloß zu konstatieren, daß es eben so kommen mußte, wie es kam (auch die Verfasserin wünscht sich, daß es einen den Anspruch der Arbeiterbewegung einlösenden Widerstand gegeben hätte). Es schien der Verfasserin jedoch an der Zeit, Quellenmaterialien und Perspektiven so miteinander zu verknüpfen, daß man verstehen lernen kann, warum seinerzeit anders gehandelt wurde, als es wünschenswert gewesen wäre; dies sollte zukünftig Historiker davon abhalten, den gewöhnlichen Heroismus der kleinen Leute aus der Arbeiterbewegung ihrem Wunschdenken entsprungenen Normen zu unterwerfen und ihn unter die Rubrik „lähmende Passivität" einzuordnen.
Keine Chance für die Republik?
Darüber hinaus sollte auf ein strukturelles Problem aufmerksam gemacht werden: Wenn es so ist, daß die Krise — eine Krise von noch nie gekanntem Ausmaß in der Geschichte des Kapitalismus immer noch — letzten Endes Handlungsmöglichkeiten für die Arbeiterbewegung fast vollständig ausgelöscht hat, dann stellt sich doch wohl die Frage, ob es irgendwann im Vorfeld der Krise oder an ihrem An-fang eine Gelegenheit gegeben hat, die Weichen so zu stellen, daß der Weg der Republik in den Faschismus retrospektiv nicht zwangsläufig erscheinen müßte.
Der Bruch der Großen Koalition im März 1930 ist für solche Überlegungen kein Datum wenn nicht schon früher, dann zeigte sich hier, daß die Weimarer Republik eine „kapitalistische Demokratie" (wie sie Rudolf Hilferding genannt hatte) war und gesellschaftlich eine klassengespaltene — beides Bestimmungsmerkmale, die unter den Bedingungen der Krise an ungeheurer Wucht hinzugewannen Das Versprechen der Schöpfer der Republik, aus ihr einen Volksstaat machen zu wollen, konnte deshalb nicht eingelöst werden, und dies erklärt die Ambivalenz der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gegenüber der Republik, wie sie Klaus Schönhoven auf den Begriff gebracht hat: Einerseits war die Republik ihre Republik, und niemand verteidigte sie entschiedener als die Sozialdemokraten, andererseits war ihr Ziel der Sozialismus; so blieb die SPD immer „eine halbe Regierungspartei und eine halbe Oppositionspartei"
Denn offensichtlich war es schon unter den normalen Bedingungen dieser Republik schwer möglich, ausreichende „proletarische Gegenmacht" gegen die kapitalistisch-konservativ-autoritären gesellschaftlichen Kräfte zu bilden. So war der Bruch der Großen Koalition programmiert und unvermeidlich. Und die Haltung der Gewerkschaften war konsequent, denn es sollten ja die gerade eben erst verankerten sozialstaatlichen Elemente der Republik wieder einkassiert werden, über die in der Arbeiterschaft so etwas wie eine Identifikation mit der Demokratie von Weimar hatte vermittelt werden können.
Also keine Chance für die Republik? Dagegen ist die These zu setzen, daß erst die Selbstbindung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung durch die Tolerierungspolitik, erst die Zerstörung des fragilen Konsenses zwischen Mehrheit und oppositioneller Minderheit in der SPD und erst das Verschütten auch der letzten Möglichkeit zu einer von Sozialdemokraten und Sozialisten initiierten Einheitsfront von den Kommunisten über die Sozialdemokraten bis zu den christlichen Ge-werkschaften, zumindest aber zu einer Neuauflage der Weimarer Koalition (solange im Zentrum noch demokratische Reserven vorhanden waren) die letzten konzeptionellen Handlungsmöglichkeiten für die Arbeiterbewegung und damit auch für die Republik zerstört haben: Dieser Wendepunkt könnte zeitlich im Sommer 1931 gelegen haben.
Viel Spielraum für eine solche andere Politik gab es freilich nicht, denkt man an die fast blindwütige Fixierung der führenden Sozialdemokraten auf die Tolerierungspolitik und deren negative ökonomische Substanz, verbunden mit einer inadäquaten Kriseninterpretation. Diese Fixierung ließ die Sozialdemokratie eine Politik legitimieren, für die sie bei ihren Anhängern keine Legitimation erwarten konnte. So war die sozialdemokratische Politik am Ende der Republik zugleich der Bankrott des Reformismus.
Einzig die — sich dann z. T. abspaltende — Linke hatte auf der Basis einer zutreffenden Krisenerklärung ein Konzept für die Bindung der Anhänger, das der Situation wenigstens in seiner prinzipiellen Orientierung gewachsen war (wenn auch nicht gemessen an seiner konkreten Praktikabilität): Dieses Konzept sollte die Zielidentität herstellen zwischen einer aktuellen Politik der Faschismusvermeidung und der langfristigen Perspektive der Überwindung des Kapitalismus bzw.des Aufbaus des Sozialismus. Daß solche Überlegungen ohne durchschlagende Wirkungen blieben, kann zu der Feststellung veranlassen, daß die sozialdemokratische Arbeiterbewegung der vermeintlichen Rettung der Republik wegen fast sich selbst aufgegeben hat. Dies bestätigt auf verquere, fast makabre Weise das hohe Maß der selbst übernommenen Verantwortung für die Republik. Dies wiederum sollte hellhörig machen dafür, daß Kritik und Selbstkritik der Arbeiterbewegung nicht dazu taugen, diejenigen zu entlasten, denen in erster Linie das Scheitern der Republik anzulasten ist: „ihren nationalistischen und konservativen Gegnern"