Für Jugendliche heute ist es ohne Zweifel wichtig, Anschauungsmaterial, Material zum Nachdenken über die deutschen Zustände zwischen 1933 und 1945 unter dem spezifischen Blickwinkel des jugendlichen Lebens damals zu erhalten, auch deshalb, weil die nachwachsende Generation nicht ohne weiteres davor geschützt ist, an die Leitbilder jener Zeit wieder anzuknüpfen. Die Auseinandersetzung mit dem System der Jugendsozialisation im NS-Staat ist aber nach wie vor auch für jene Generation aktuell, die zu Zeiten der Hitler-Jugend aufwuchs und die ihre Erfahrungen und Meinungen ja weitervermittelt.
Immerhin war für etliche Millionen Jungen und Mädchen in Deutschland zwischen 1933 und 1945 die Hitler-Jugend neben Familie und Schule die entscheidende Sozialisations-Instanz; für den nationalsozialistischen Staat galt diese Jugendorganisation als „Garant der Zukunft". Der Dienst in der HJ sollte die im Dritten Reich Aufwachsenden möglichst restlos an die Leitbilder des NS-Systems binden und jene Verhaltensweisen eintrainieren, derer es für den faschistischen Alltag bedurfte.
Die Erinnerungen derjenigen, die damals in der HJ mitmachten, vermitteln bis heute höchst widersprüchliche Eindrücke. Den einen erscheint im nachhinein die Staatsjugendorganisation des Dritten Reiches als eine nahezu politikferne Veranstaltung, in der Jugendliche ihren mehr oder weniger „romantischen" Freizeitinteressen nachgehen konnten und dabei staatliche Hilfe fanden. Für andere ist der Blick zurück in die HJ-Zeit die Erinnerung an jugendlichen „Idealismus“, an politische Gläubigkeit, die „verraten" oder mißbraucht worden sei. Für wieder andere Angehörige der HJ-Generation blieb von dem NS-Jugenddienst am ehesten die Erfahrung eines Drills, dem man sich nur notgedrungen unterwarf, dem man möglichst zu entkommen suchte
Bei der wissenschaftlich fundierten Information über das Dritte Reich ist die Frage nach dem Leben der Jugend „unterm Hakenkreuz" bisher vergleichsweise zu kurz gekommen. Das ist teils Ursache, teils aber auch Folge von Fehleinschätzungen dieses Sektors der faschistischen Vergangenheit, die in der öffentlichen oder veröffentlichten Meinung weit verbreitet sind; diese hängen wiederum zusammen mit der falschen Verallgemeinerung ausschnitthafter eigener Erfahrungen (siehe oben), die jeweils Momente von Wahrheit enthalten, an der historischen Wirklichkeit in ihrer Totalität jedoch vorbeigehen.
Die lange Zeit in der seriösen politisch-historischen Publizistik praktizierte Vernachlässigung des Themas . Jugend im Dritten Reich" hat der Rechtfertigungsliteratur Raum verschafft. In den letzten Jahren erschienen etliche Buchveröffentlichungen ehemaliger Hitler-Jugendführer über die NS-Staatsjugendorganisation, in denen etwa folgendes Bild vermittelt wird: Die HJ sei „die Vollendung der deutschen Jugendbewegung aus der Zeit vor 1933" gewesen, habe deren „Zersplitterung überwunden" und alle sozialen und konfessionellen Abstände und Konflikte zugunsten der „einen Volksjugend" aufgehoben. Von dieser „historischen Leistung" der HJ zehre noch heute die gesellschaftliche Ausgeglichenheit der Bundesrepublik. Diese „Einheit der Jugend in der HJ“ habe sich ganz und gar freiwillig hergestellt; die HJ habe es „niemals nötig gehabt, irgendeinen Zwang auszuüben". Die HJ sei nie „Staatsorganisation geworden, sondern Jugendbewegung geblieben“, sie habe sich von jeder „Obrigkeitshörigkeit" und jedem „politischen Mißbrauch“ ferngehalten: „Was eine lebendige, begeisterungsfähige und engagierte Gemeinschaft mit Selbstführung der Jugend sein kann, erfuhr die deutsche Jugend in Stadt und Land bis hin zum kleinsten Dorf erstmals durch die HJ im Dritten Reich. Das gab es vorher nicht und nachher nicht wieder ...
Solcherart Glorifizierungen finden ihr Publikum. Aufnahmebereit sind dafür nicht nur Angehörige jener Generation, die im Dritten Reich großgeworden ist und in der manche Frauen und Männer noch heute das nostalgisch verklärte Jugenderlebnis nicht in den Gesamtzusammenhang des damaligen politischen Herrschaftssystems hineinzudenken vermögen. Ansprechbar sind für Idealisierungen der Hitler-Jugend nicht nur junge Leute, die heute rechtsextremen Jugendorganisationen zuneigen. Auch in der gegenwärtigen jugendlichen Aussteigerszene, deren Gefühls-welt gewiß ansonsten nicht in der Tradition des Nationalsozialismus steht, gibt es Bewunderer für die „strahlenden Gesichter" einstiger Hitler-Jugendlicher, kommt Anerkennung dafür auf, daß die Jugend damals doch wenigstens „echt begeistert“ gewesen sei. Mit der Realität des jugendlichen Lebens im NS-Staat, mit der wirklichen Funktion der HJ im faschistischen System stimmen solche Bilder und Vorstellungen nicht überein; es sind Halb-(oder Viertel-) Wahrheiten, die sich nur zu rasch in gefährliche Unwahrheiten verwandeln. Welchen Fragestellungen muß eine Aufarbeitung des Themas Jugend im Dritten Reich“ nachgehen, um Fehleinschätzungen der eben angedeuteten Art ebenso zu vermeiden wie allzu rasche historische Aburteilungen? (Klischees von der Vergangenheit, wenn auch politisch gut gemeint, in denen der einzelne sich nicht wiederfindet, klären nicht auf.) Wo liegen brauchbare Ergebnisse der bisherigen Forschung zum Thema? In welche Richtung könnten weitere Untersuchungen gehen? Dazu einige Hinweise:
Von der Jugendbewegung zum Staatsjugenddienst
Der rasche Erfolg der Organisationsbemühungen der Hitler-Jugend bei den Jungen, vor allem den „Pimpfen", und dann auch bei den Mädchen in den Jahren 1933 bis 1935 ist weder allein durch die Auflösung und Verbote konkurrierender Jugendorganisationen und den (ohne Zweifel auch wirksamen) staatlichen Druck, der hinter der HJ stand, zu erklären, noch etwa der Attraktivität „originärer" Hitler-jugendlicher Lebensformen zuzuschreiben Die HJ, bis 1933 ein vergleichs-weise nicht sehr bedeutender Jugendverband, sammelte und integrierte vielmehr nach der Machtergreifung, d. h. auf der Basis der ihr vom NS-Staat verschafften Monopolstellung, Potentiale, die andere Jugendorganisationen und Jugendbünde ihr vor 1933 gewissermaßen bereitgestellt hatten.
Die HJ knüpfte zunächst an eine Jugendmentalität an, die nicht auf ihrem eigenen Boden, sondern auf dem der Jugendbewegung in all ihren Ausformungen gewachsen war. Ein vages Bedürfnis nach der „Einheit der Jugend", nach einer Abkehr von der konventionellen Politik „der Alten", nach dem „Aufbruch der jungen Generation", der zugleich „Erneuerung der Nation“ bedeuten sollte, war in den Jahren vor 1933 bei den „bewegten" jungen Leuten fast durchweg verbreitet, bis weit in die konfessionellen Jugendverbände und zum Teil auch bis in die Arbeiterjugendbewegung hinein Hier konnte die HJ ein bereits erschlossenes Terrain besetzen und ausweiten — und sie mußte es, vom Herrschaftsanspruch des Faschismus her betrachtet, besetzen, weil sich hier sonst andere Strömungen entwickeln können. Insofern reagierten NS-Staat und NS-Reichsjugendführung, indem sie die HJ mit einem totalen Erfassungsanspruch im Feld der Organisation der Jugend ausstatteten, auf die „dynamische" Verfassung der Jugendgeneration, die sie vor-fanden, und sie zogen für einige Jahre noch aus dieser Dynamik ihren Nutzen.
Die Leitbilder, unter denen nach 1933 die HJ die Gesamtheit der Jugend für sich gewinnen wollte, hatten für große Teile der Bündischen Jugend und vielfach auch in den konfessionellen Jugendverbänden, in der Turnerjugend usw. schon vor 1933 Geltung; „Führer und Gefolgschaft“, „Blut und Boden“, „Nation und Sozialismus", „Volksgemeinschaft", „soldatische Tugenden" — das waren ideologische Standards in weiten Teilen der organisierten Jugend der Endphase der Weimarer Republik, mehrdeutig sicherlich, aber eben deshalb für die HJ später so erfolgreich verwendbar. Die Anziehungsfähigkeit dieser Leitbilder lag darin, daß sich mit ihnen die von der Jugendbewegung entwickelten Formen gruppierter Geselligkeit, also Räume jugendlicher Lebensweise abseits der Erwachsenengesellschaft verbinden ließen.
Die HJ nach 1933 war erfolgreich, soweit und solange sie diese jugendbewegten Lebensformen übernahm. Der freiwillige Zustrom, den die HJ zeitweise und teilweise durchaus hatte, der „Idealismus", der zumindest in den ersten Jahren des NS-Staates ihr zugutekam, die Attraktivität, die das Angebot der HJ für Jugendliche in bestimmten Lebensverhältnissen auch später noch enthielt — all diese Erscheinungen sind plausibel erklärbar, wenn man bedenkt, daß mit der Hitler-Jugend weit-verbreitete Erwartungen der Zeit vor und um 1933 sich zu erfüllen schienen: Jugendbewegtes Leben und Treiben wurde nun staatlich anerkannt und als Möglichkeit verfügbar auch für solche Gruppen oder Schichten von Jugendlichen, die in den Jugendbünden oder •verbänden vor 1933 sozusagen zu kurz gekommen waren, also etwa für Jungen und Mädchen in der Provinz und auf dem Lande und überhaupt für Mädchen, die in den Jugendorganisationen vor 1933 durchweg „unterprivilegiert“ vertreten waren. Eine jugend-spezifische Organisationschance schien mit der HJ nun für die Gesamtheit der nachwachsenden Generation gegeben; soziale Abstän-
de, Stadt-Land-Unterschiede oder geschlechtsspezifische Differenzen im Hinblick duf jugendverbandliche Aktivität schienen beiseite geräumt.
Wenn von Faschismusanalytikern gelegentlich der deutschen Gesellschaft nach 1933 ein „Modernisierungsschub" zugesprochen wird, so trifft diese Kennzeichnung, soweit es um die Sozialgeschichte der Jugend geht, den eben beschriebenen Effekt, und bezeichnend ist, daß die Hitler-Jugend auch in den späteren Jahren des Dritten Reiches den meisten inneren Zuspruch und das wenigste Widerstreben bei Jugendlichen in jenen Lebenslagen fand, die durch ein Nachholbedürfnis an jugendverbandlichen Organisationsmöglichkeiten geprägt waren. Insbesondere der Bund Deutscher Mädel und seine Jungmädelorganisation blieben offenbar weithin noch attraktiv, als die männlichen Einheiten der HJ, vor allem die für die über 14jährigen, vielfach schon innerlich verödet waren. Vom Anschein her läßt sich demnach sagen, daß die Hitler-Jugend nach 1933 zunächst eine Verallgemeinerung der Jugendbewegung bedeutete. Allerdings war der Schein trügerisch. Die Verallgemeinerung von Jugendbewegung im NS-System war ihrem Wesen nach zugleich Verstaatlichung, und beides ließ sich auf Dauer nicht miteinander vereinbaren. Das charakteristische Moment des Entwicklungsprozesses der Hitler-Jugendorganisation nach 1933 lag eben darin, daß diese Schritt für Schritt immer enger in NS-staatliche Zwecke eingebunden, immer mehr in bürokratische Formen hineingezwängt und nach militärischen Vorbildern ausgerichtet wurde
Der Glanz jugendbewegten Lebens ging mehr und mehr verloren; am Ende dieser Entwicklung stand, schon vor Kriegsbeginn entschieden, die . Jugenddienstpflicht 11, die notfalls mit Polizeigewalt durchzusetzen war. Auch dann bestanden unter günstigen Bedingungen hier 6 oder dort noch Nischen für jugendbündisches Leben in einzelnen Jungvolk-oder Jungmädeleinheiten; vom System und von der typischen Praxis der HJ her war jedoch der Anspruch auf „eigene Bestimmung" und „eigene Verantwortung" verdrängt. Zwar blieb in einem bis dahin nie gekannten Ausmaß . Jugend von Jugend geführt", aber ein enges Netz von politischen Vorgaben und Dienstvorschriften entschied, wohin und wie zu führen war. Die Entwicklung der Hitler-Jugend hin zu Zwang und Drill war nicht etwa durch pädagogisches Ungeschick der HJ-Spitze, also gewissermaßen zufällig zustande gekommen. Verursachend war vielmehr ein inneres „Gesetz" des Dritten Reiches: Jegliche Jugendbewegung, und sei sie noch so nationalistisch oder völkisch gestimmt, enthielt Risiken für den Bestand des NS-Herrschaftssystems und war deshalb auszurotten.
Oppositionelle Jugendgruppen — Motive und Erscheinungsformen
Der totalitäre Anspruch des NS-Staates auf Organisation des Jugendlebens ist schon zu Beginn des Dritten Reiches und später erneut auf vielfältige Opposition bei nicht unerheblichen Teilen der jungen Generation gestoßen. Der zunehmende Zwangscharakter der NS-Jugenderziehung und die immer stärkere Reglementierung jugendlichen Lebens durch die HJ und in der HJ waren auch Reaktionen auf oppositionelles Verhalten Jugendlicher und jugendlicher Gruppen, und sie riefen selbst wiederum neues Widerstreben hervor Bei vielen jungen Leuten, die in das Dritte Reich hineinwuchsen oder in ihm aufwuchsen, „mißlang" die NS-und HJ-Sozialisation. Das Spektrum „abweichenden Verhaltens" Jugendlicher im NS-Staat reichte von Fortsetzungen der verbotenen Arbeiterjugendverbände über resistente kirchliche Jugendkreise und illegale Fortführungen der hündischen Jugend bis hin zu „wilden Gruppen“ (wie der NS-Staat sie nannte) vom Typ der Edelweißpiraten oder der Swing-Jugend. NS-Staat und Reichs-jugendführung sahen in dieser jugendlichen Opposition eine Gefährdung des Systems, dies um so mehr, je weniger sich die anfängliche Attraktivität des HJ-Dienstes als generell haltbar erwies. Im folgenden sollen die wichtigsten Erscheinungsformen und Richtungen der Jugendopposition im Dritten Reich kurz skizziert werden und auf spezifische Entstehungsbedingungen jugendlicher Widerständigkeit gegen den NS-Staat hingewiesen werden
Die erste Phase der Opposition Jugendlicher gegen das Hitler-System war geprägt durch den unmittelbaren politischen Widerstand aus den Reihen der bereits vor 1933 in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus engagierten Jugendorganisationen der Arbeiterbewegung, also vor allem des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD), der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ), der „Naturfreunde", des Jugendverbandes der SAP (SJVD) und anderer linker „Zwischengruppen". Zahlenmäßig geringer, in der Bedeutung für spätere Widerstandsaktivitäten aber von erheblichem Gewicht, waren die ebenfalls dieser ersten Phase einer noch von Verhaltensmustern der Weimarer Republik und ihren Konflikten bestimmten Jugendopposition zuzurechnenden Gruppen der jungen „Nationalrevolutionäre" (soweit sie sich nicht dem NS-Staat einfügten), der Schwarzen Front (Strasser) und der Linkskatholiken, bei denen durchweg jugendbewegte Herkünfte vorlagen. Eine Reihe von Führern dieser Gruppen haben später vom erzwungenen Exil aus Verbindungen gerade zur hündischen Opposition in Hitler-Deutschland gehalten.
Die Motivation für diese Form der Jugendopposition gleich nach der Machtergreifung lag nicht so sehr im Konflikt mit der NS-Jugend-erziehung und NS-Jugendorganisation (die HJ war zu dieser Zeit noch im Aufbau begriffen), sondern vielmehr im Abwehrkampf gegen die endgültige Durchsetzung der NS-Herrschaft. Bei den meisten jungen Kommu-nisten oder Sozialisten, die sich an diesem Widerstand beteiligten, war in den Jahren 1933/34 noch die Hoffnung vorhanden, der NS-Staat sei auf kurze Sicht durch illegale Arbeiterbewegung machtpolitisch zu „kippen". (Die antifaschistischen „Randgruppen“ waren da durchweg etwas realistischer als die Gruppen der großen Arbeiterparteien). Die Perspektive des Widerstandskampfes der Jung-kommunisten und vieler junger Sozialisten lag demnach zu dieser Zeit in dem Versuch, die verbotenen Organisationen als „Massenverbände" aufrechtzuerhalten, Agitationsmaterial breit zu streuen, Impulse für einen direkten „Machtkampf" zu geben. Die politischen Erwartungen, die sich mit dieser Form jungen Widerstandes verbanden, waren illusionär, was sich um 1935 auch bei den Leitungen der Arbeiterparteien im Exil als Einsicht durchsetzte; die Opfer waren hoch. Angesichts der gnadenlosen Verfolgung solcher Aktivitäten durch den NS-Staat blutete insbesondere die junge kommunistische Opposition in diesen Jahren aus — im direkten Sinne des Wortes.
Als die Arbeiterparteien in der Illegalität ihre Strategie auf die tatsächlichen Kampfbedingungen unter dem deutschen Faschismus umzustellen begannen, das Bündnis mit anderen Richtungen der Jugendverbände oder Jugendbewegung suchten und die Chancen einer zunächst vorpolitischen oppositionellen Strömung in der Jugend des Dritten Reiches zur Kenntnis nahmen, waren ihre eigenen Verluste unter jungen Leuten schon so hoch, daß sich nur noch selten personelle Anknüpfungspunkte für eine neue Art illegaler Jugendarbeit boten. Ab 1934/35 waren die Versuche, kommunistische oder sozialistische Jugendgruppen in breiterem Umfange illegal aufrechtzuerhalten, fast überall endgültig zerschlagen. Die Gründe dafür liegen in der schon angedeuteten illusionären Einschätzung der Entwicklung des NS-Regimes, auch in der Intensität der Verfolgung und Brutalität der Bestrafung, mit der die Staatsorgane gegen solche Gruppen vorgingen; hinzu kam, daß der kommunistischen oder sozialistischen Jugendillegalität jener halblegale oder legale Rückhalt fehlte, wie ihn die konfessionellen Jugendgruppen in den Kirchen besaßen; auch hatten die kommunistischen oder sozialistischen Jugendgruppen weitaus weniger als die 'Regalen hündischen oder späteren „wilden“ Gruppen ein subkulturelles, auf Organisation kaum angewiesenes „Jugendmilieu" anzubieten, durch das Nachwuchs sich hätte gewinnen lassen. Erfolgreicher waren in dieser Hinsicht jene parteilich nicht gebundenen linken Jugendgruppen etwa vom Typ der „Naturfreunde", die auf eigene Faust örtlich versuchten, den Wander-und Fahrtenbetrieb aufrechtzuerhalten und unter dieser Tarnung sozialistische Ideen und Traditionen weiterzuführen. Daß frühere Angehörige des KJVD, der SAJ, des SJVD usw. bei den späteren Untergrundaktivitäten in der Erwachsenenillegalität, auch in den Kriegsjahren, vielfach die Aktiven stellten, steht auf einem anderen Blatt
Die zahlenmäßig stärkste Richtung „abweichenden Verhaltens“ von Jugendlichen im NS-Staat — durch alle Phasen der Entwicklung des Dritten Reiches und seiner staatlichen Jugenderziehung hindurch — war zweifellos durch die konfessionellen Jugendgruppen, vor allem durch die katholische Jugend repräsentiert. Die Konfliktpunkte und die Entstehungs-und Existenzbedingungen oppositionellen Verhaltens lagen hier freilich ganz anders als bei der Jugendopposition aus der Arbeiterbewegung, wobei wiederum zwischen der katholischen und der evangelischen Jugendarbeit erhebliche Differenzierungen zu machen sind.
In den evangelischen Jugendverbänden vor 1933 überwogen, soweit es politische Interessen oder Tendenzen gab, Sympathien für die Deutschnationalen oder für die NSDAP; schon von daher lag 1933 die Zustimmung zur „Nationalen Erhebung" nahe. Dies mußte allerdings nicht Selbstaufgabe der evangelischen Jugendorganisationen bedeuten. Das zeitweilige Übergewicht der regimetreuen „Deutschen Christen“ in den Leitungsgremien der Evangelischen Kirchen und die Durchsetzung des von Hitler favorisierten Ludwig Müller als „Reichsbischof" führten im Dezember 1933 zu einem Abkommen zwischen der NS-Reichsjugendführung und der Evangelischen Reichskirchenleitung, wonach alle Mitglieder der evangelischen Jugendverbände unter 18 Jahren der HJ eingegliedert werden sollten. Mit dieser Vereinbarung, die gegen den Willen der Leitungen der evangelischen Jugendverbände zustande gekommen war, hatte der NS-Staat die Evangelische Jugend schon früh auf den rein seelsorgerisch-kirchlichen Bereich zurückgedrängt. Ein eigentlich jugendbündisches Leben war auf evangelischer Seite infolgedessen ab 1934 kaum noch möglich und wenn, dann nur in kleinen illegalen Kreisen. Wo freilich die kirchlichen Institutionen gegenüber dem NS-Staat ihre Selbständigkeit behaupteten und sich, im Zusammenhang mit der Bekennenden Kirche, vielfach zum weltanschaulichen Abstand vom NS-Regime hinentwickelten, bildete sich eine neue, stark theologisch und gemeindlich geprägte Form kirchlich-evangelischer Jugendarbeit heraus, die auch als Lebenszusammenhang Jugendlicher gegenüber dem Nationalsozialismus resistent blieb und bis in die Kriegsjahre hinein viele Tausende von jungen evangelischen Christen umschloß. Die Zeitschrift . Junge Kirche" kann als Organ dieser Richtung angesehen werden
Auf Seiten der katholischen Jugend war das Terrain für die Absichten des NS-Staates um einiges schwieriger. Zwar blieb man auch hier von der „nationalen Hochstimmung" des Jahres 1933 nicht unberührt und neigte vielfach autoritären Staatsvorstellungen zu; bei einigen katholischen Bischöfen gab es im übrigen 1933 Tendenzen, sich auf eine Eingliederung auch der katholischen Jugend in die HJ einzulassen, sofern diese dafür das Recht zur kirchlichen Betreuung ihrer katholischen Mitglieder garantiere. Aber die weltanschauliche Ablehnung des Nationalsozialismus, die — anders als bei der Evangelischen Kirche — beim deutschen Katholizismus vor 1933 dominiert hatte, war nach der Machtergreifung nicht einfach verschwunden; es blieben starke Vorbehalte gegenüber dem neuen Staat. Die katholischen Jugendorganisationen nahmen allen Eingliederungsideen gegenüber eine so eindeutig ablehnende Haltung ein, daß sich rasch ein alltäglicher, emotionaler Gegensatz zwischen HJ und katholischen Jugendgruppen herausbildete. Der Abschluß des Reichskonkordats zwischen der Hitler
Regierung und dem Vatikan gab dann der katholischen Jugendverbandsarbeit zumindest zeitweise und teilweise einigen Schutz. So kam es, daß die katholischen Jugendorganisationen im Dritten Reich länger überleben konnten als alle anderen Jugendverbände, wenn auch durch Tätigkeitsbeschränkungen, Repressalien gegenüber Jugendlichen und Eltern, regionale Verbote usw. ihr Aktionsradius immer mehr eingeschränkt wurde, bis dann um 1937/38 auch diese Jugendverbände endgültig aufgelöst und verboten wurden.
Die Umstellung der katholischen Jugendarbeit von den Bünden und Verbänden auf die innerkirchliche Ebene, d. h. die Pfarrgemeindejugend, war schon vorher notgedrungen eingeleitet worden. Aber auch nach 1938 existierten im Raum kirchlicher Jugendseelsorge faktisch jugendbündische Lebensformen in großem Umfange weiter; Wallfahrten, Prozessionen, Bekenntnistage und ähnliche Anlässe wurden zu öffentlichen Demonstrationen einer zumindest in den dominant katholischen Gebieten nach wie vor starken katholischen Jugendbewegung. Der katholischen Jugend war zugute gekommen, daß sie etliche Jahre halblegal verbandlich weitergeführt werden konnte; in dieser Zeit nahm sie viel eindeutiger als vor 1933 Elemente jugendbewegt-bündischen Milieus in sich auf, wovon auch die 1933 bis 1935 geradezu auf-blühenden katholischen Jugendblätter . Junge Front“ (später „Michael“) und „Die Wacht" zeugen. In den überwiegend katholischen Regionen konnte zu dieser Zeit die katholische Jugendbewegung fast überall ihre Positionen halten und zum Teil noch ausbauen. Die — im Vergleich zu den evangelischen Kirchen — gute Verankerung der katholischen Kirche bei der Land-und Arbeiterbevölkerung und jugendliches Interesse an einer attraktiven Alternative zur HJ wirkten hier offenbar zusammen, wobei die zuletzt genannte Motivation allem Anschein nach ab 1934, als der erste Glanz der neuen „Einheitsjugend“ weg-bröckelte, eher noch zunahm. Das Ende 1936 verkündete „Gesetz über die Hitlerjugend“, das den formellen Schritt zur Staatsjugend mit Totalitätscharakter bedeutete, richtete sich nicht zuletzt gegen die Katholischen Jugendorganisationen und ihre Anziehungsfähigkeit Die Unterdrückung der legalen Möglichkeiten der katholischen Jugendbewegung durch len NS-Staat um 1937/38 wurde vor allem auch damit begründet, daß katholische Jugendgruppen auf breiter Front „hündische Betätigungen" fortsetzten. Generell bildete die hündische Jugend" in der Sicht der NS-und HJ-Führungen ein Zentrum jugendlicher Opposition; dabei wurden unter diesem Sammelbegriff allerdings recht unterschiedliche Strömungen zusammengefaßt, deren Gemeinsamkeit in bestimmten Formen der selbstbestimmten jugendlichen Gruppe und in einem jugendlichen „Milieu" bestand, das an die Tradition der Jugendbewegung aus der Zeit vor 1933 anknüpfte.
Daß zumindest die Mehrheit der um 1933 existierenden Verbände und Gruppen der Bündischen Jugend dem Dritten Reich durchaus Sympathien entgegenbrachten, ist nicht zu bezweifeln; allerdings ging man hier davon aus, daß innerhalb oder außerhalb der Hitlerjugend jugendbewegtes Leben sich weiterhin werde frei entwickeln können Exakt in diesem Punkt lag dann auch früher oder später der Anstoß zum Konflikt mit der HJ und dem Nationalsozialismus. Die enorme Aufwärtsentwicklung der HJ in den ersten Jahren nach der Machtergreifung wäre nicht ohne die Übernahme hündischer Formen des Jugendlebens und hündischer Führer denkbar gewesen; andererseits lag es in der inneren Logik der NS-staatlichen Jugendorganisation, daß sie Zug um Zug Reglementierung an die Stelle von Jugendbewegung setzen und hündische Einflüsse in den eigenen Reihen auszuschalten bemüht sein mußte.
Solcherart „Säuberung" wurde ab Herbst 1934 vor allem im . Jungvolk" betrieben, das weithin hündisch „unterwandert" war. Wenngleich hier (und auch bei den HJ-„Jungmädeln") später noch Reste hündischen Jugendlebens blieben, so war doch ab 1936 klargestellt, daß Hitler-Jugend und hündische Jugend vom System her sich nicht vereinbaren ließen. Der Wandel der HJ zur Staatsjugend ließ aber die Motivation, neben der NS-Jugendorganisa-tion hündisches Gruppenleben heimlich weiterzuführen, wieder stärker werden; darauf wiederum reagierte die NS-Reichsjugendführung mit noch massiverer Kriminalisierung „hündischer Umtriebe".
Die HJ-Publizistik, zumal die interne, war ab 1936 voll von Polemiken gegen „hündische Zersetzung", und die verfolgerischen Aktivitäten des Staates gegen illegale hündische Gruppen wurden forciert, bis hin zu solch grotesken Maßnahmen, daß der Besitz oder Gebrauch einer Kohte (Lappenzelt) bereits als „staatsgefährdend" geahndet wurde. Wie beim katholischen Klerus, so wurde auch bei der hündischen Jugend der Vorwurf der Homosexualität als Waffe politischer Verfolgung eingesetzt. Bei den heimlichen hündischen Jugendkreisen erwiesen sich Überlieferungen aus dem Leben der von dj. 1. 11 inspirierten Jungenschaftsgruppen und des Nerother Wandervogel als besonders resistent gegenüber dem Nationalsozialismus. Dies muß nicht im Sinne einer unmittelbaren antifaschistischen Tradition dieser Richtungen interpretiert werden; plausibel ist, daß das „Kulturgut” gerade dieser beiden Strömungen den deutlichsten Gegensatz zur HJ-Erziehung hergab und von daher für oppositionelle Jugendgruppen identitätsstiftend war
An hündische Überlieferungen in gewissermaßen popularisierter Erscheinungsform knüpften auch die „wilden" Jugendgruppen vom Typ der „Meuten" oder der „Edelweißpiraten" an, die in den Kriegsjahren den Höhepunkt ihrer Verbreitung fanden, sich aber bereits vor Kriegsbeginn vielfach herausbildeten. Ihre regionalen Schwerpunkte hatten diese spontanen Gruppen dort, wo vor 1933 populäre jugendbewegte Bünde stark vertreten waren und der NS-Staat das überkommene Milieu der Arbeiterbewegung und des „volkstümlichen Katholizismus" nicht völlig hatte verdrängen könne; am eindeutigsten trafen diese Merkmale im Rhein-Ruhrgebiet zusammen. Die Gruppen vom Typ der „Edelweißpiraten" können gewiß nicht als Fortsetzung der früheren Arbeiterjugendbewegung interpretiert werden; sicher ist aber, daß sie den Schwerpunkt ihrer Rekrutierung keineswegs in den bildungsbürgerlichen Schichten hatten, während die vom NS-Staat ebenso verfolgte „Swing" -Jugend ihren Boden eher im Gewerbebürgertum hatte und sich an ausländischen, „westlichen" Mustern des Jugendlebens orientierte und nicht an der Tradition der deutschen Jugendbewegung
Den NS-Organen galten die „wilden hündischen Gruppen" gerade auch deshalb als systemgefährdend, weil sie sich ohne organisatorisches Gerüst, sozusagen per Ansteckung entwickelten und ausbreiteten; hinzu kam, daß diese Gesellungen weitgehend jenes romantische Gruppen-und Fahrtenleben praktizierten, das die HJ selbst einst der Jugend anzubieten schien, das ihr aber im Zuge ihrer quasimilitärischen Bürokratisierung abhanden gekommen war. Die „wilden Gruppen" waren eine jugendgemäße Reaktion auf die innere Entwicklung der HJ und ihres Jugendpflichtdienstes, der dem Bedürfnis nach jugendlicher Selbstbestimmung in Kleingruppen immer weniger Lebensraum beließ.
Sicherlich waren auch die Jugendlichen, die sich in „wilden hündischen Gruppen" zusammenfanden, nur eine Minorität innerhalb der damaligen Jugendgeneration (wie die oppositionellen Jugendkreise überhaupt); dennoch stellten sie den Herrschaftsanspruch der NS-Staatsjugendorganisation strukturell in Frage. Interne Denkschriften der Reichsjugendführung aus den Jahren 1941 und 1942 und ein Runderlaß des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei vom 25. Oktober 1944, um nur diese Dokumente zu nennen, bezeugen eindrucksvoll, daß der NS-Staat trotz aller Machtmittel nicht in der Lage war, die oppositionelle Bewegung unter Jugendlichen auszurotten
Dieses Kapitel der Geschichte des Dritten Reiches und zugleich der Geschichte „beweg-ter Jugend" in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen, setzt voraus, daß man sich von historischen Blickverengungen löst. Wer nur nach direkten Widerstandsaktivitäten junger Menschen im Dritten Reich fragt, etwa im Sinne der Handlungen der Gruppe um die Geschwister Scholl, erfährt nicht genug über die Ein-passung oder Nicht-Einpassung der Jugend in das NS-Sozialisationssystem. Daß die jungen Leute der „Weißen Rose" vielfach aus einer bündisch-jugendlichen Opposition herkamen (was in der Literatur oft zu kurz kommt), ist in gewisser Weise exemplarisch; es zeigt, daß Widerstand in einem totalitären System meist, wenn er aus der nachwachsenden Generation kommt, seine Vorgeschichte in einer noch keineswegs hochpolitischen Widerständigkeit, einer jugendspezifischen Opposition hat Unter diesem Aspekt ist es, was das Verhältnis von Jugendbewegung und Drittem Reich angeht, nicht so interessant, nach den Stellungnahmen der Führer der Bünde zum neuen Staat 1933 zu fragen; wichtiger ist die Nachforschung, ob und wie das Milieu der jugendbewegten Gruppe, die „hündische Überlieferung", ein Oppositionspotential gegenüber der NS-staatlichen Jugendsozialisation und -Organisation enthielt.
So betrachtet, ist die Geschichte oppositioneller Bewegungen in der Jugend des Dritten Reiches noch keineswegs hinlänglich untersucht oder geschrieben; die Lebenswelt der jugendlichen Gruppen, die sich dem NS-System und der HJ entzogen oder gegen den damaligen Staat standen, ist bisher nicht annähernd dokumentiert, selbst dort nicht, wo beteiligte Personen und auskunftsträchtige Materialien die NS-Verfolgung und den Krieg überstanden haben. Für eine am sozialen Alltag orientierte Aufarbeitung der Jugendgeschichte unter dem Nationalsozialismus bleibt hier noch viel zu tun.
Die Folgen der HJ-Erziehung
Das Ausmaß, in dem sich Jugendliche zwischen 1933 und 1945 in verschiedenen „Gegenkulturen" dem Sozialisationsanspruch des NS-Staates und der HJ entzogen, war beachtlich, und für einen großen Teil der damaligen Oppositionsgruppen Jugendlicher gilt, daß hier die Tradition der deutschen Jugendbewegung noch einmal einen (jugendgeschichtlich wohl letzten) Ausdruck fand. Den Folgen der faschistischen Umstrukturierung der Gesellschaft, insbesondere der Verkehrung von Jugendbewegung in Staatsjugenddienst, konnten sich aber auch die widerständigen Gruppierungen in der Jugend nicht entziehen. Die vom NS-System her aufgezwungene Illegalität ließ öffentlichen Diskurs nicht zu und machte es den oppositionellen Richtungen unmöglich, ihren Protest in eine für die Jugendgeneration insgesamt sichtbare Alternative umzusetzen. Die Wirkung der HJ-Er-Ziehung für die Mehrheit der Jugendlichen lag offenbar vor allem in einer Verhaltensweise, die politisches Nachdenken, gesellschaftliches Experimentieren und die Herausbildung sozialer Utopien verdrängte oder verlorengehen ließ. In welchem Umfange und auf welche Weise solche Prägungen nach 1945 unter anderen Vorzeichen weiterexistierten oder auch an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wurden, ist eine offene Frage.
Aufs Ganze hin gesehen wird man festhalten müssen, daß Hitler-Jugend und NS-Jugendsozialisation die Chancen einer „Kultur-Pubertät", oder anders gesagt: die Möglichkeiten eines gesellschaftlich und individuell produktiven Milieus jugendlich-gruppierter Selbstfindung für viele Heranwachsende damals nachhaltig zerstörten.