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Wie konnte es zum 30. Januar 1933 kommen? | APuZ 4-5/1983 | bpb.de

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APuZ 4-5/1983 Wie konnte es zum 30. Januar 1933 kommen? Hitler-Jugend und Jugendopposition im Dritten Reich Flucht vor Hitler? 30. Januar 1933 — Ein halbes Jahrhundert danach

Wie konnte es zum 30. Januar 1933 kommen?

Heinrich August Winkler

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die nationalsozialistische „Machtergreifung" war weder ein Betriebsunfall der deutschen Geschichte noch ihr logischer Endpunkt Es gab historische Vorbelastungen aus der Zeit des Obrigkeitsstaates, ohne die das Scheitern von Weimar gar nicht zu verstehen ist. Aber aus autoritären Traditionen allein läßt sich Hitlers Aufstieg zur Macht nicht erklären. Zu den Bedingungen seines Erfolges gehört auch jene Teildemokratisierung des Obrigkeitsstaates, die mit der Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts durch Bismarck begann. Die meisten Historiker sind sich heute darin einig, daß viele Schwächen der Weimarer Republik auf Entscheidungen zurückgehen, die in der Gründungsphase dieses Staates fielen. Die Stützen der wilhelminischen Gesellschaft konnten wichtige Machtpositionen in die Republik hinüberretten, aber Stützen des demokratischen Deutschland wurden sie nicht. Die Kriegsschuld der kaiserlichen Führungsschicht wurde nach 1918 verdrängt; infolgedessen unterblieb neben dem gesellschaftlichen auch der moralische Bruch mit dem alten Regime. Der Obrigkeitsstaat wirkte nicht nur in den Parteien fort, die sich nach ihm zurücksehnten, sondern auch bei denen, die sich zur demokratischen Republik bekannten. Die Abneigung gegen Kompromisse stammte aus der Zeit, in der die Parteien noch keine politische Verantwortung zu tragen hatten. Der Präsidialstaat, der 1930 aus dem Scheitern des Parteienstaates hervorging, ignorierte die Massenstimmung und begünstigte dadurch das Anwachsen des Nationalsozialismus. Aber Hitler kam nicht auf Grund eines strahlenden Wahlerfolges an die Macht, sondern weil Teile der alten Machtelite den radikalen Bruch mit Weimar wünschten und weil ein solcher Bruch einen Rückhalt in den Massen brauchte. Hitler war der einzige Kandidat für eine solche „Krisenlösung".

Keine Frage der deutschen Geschichte wühlt bis heute Deutsche wie Nichtdeutsche so auf wie die, warum Hitler am 30. Januar 1933 die Macht übernehmen konnte. Denn noch immer trägt die Welt an den Folgen dieses Tages. Ohne „Drittes Reich" hätte es nach menschlichem Ermessen keinen Zweiten Weltkrieg, keinen Massenmord an den europäischen Juden und keine Teilung Deutschlands und Europas gegeben. Wäre Hitler nicht zwölf Jahre lang deutscher Reichskanzler gewesen — die Welt, in der wir leben, sähe anders aus.

Selbst viele von denen, die später Hitlers Rassenwahn zum Opfer fallen sollten, konnten auch nach 1933 lange Zeit nicht glauben, daß im „Land der Dichter und Denker“ die Staatsgewalt eines Tages Verbrechen gigantischen Ausmaßes anordnen würde. Zwar hatte Hitler in „Mein Kampf“ weder an seinem Judenhaß Zweifel gelassen noch an seinem festen Willen, einen „Lebensraumkrieg" gegen das bolschewistische Rußland zu führen. Aber für denkbar zu halten, daß aus den Tiraden eines politischen Pamphlets bitterer Ernst werden könnte — das überstieg das Vorstellungsvermögen der meisten Anhänger wie auch der meisten Gegner Hitlers.

Schutzbehauptungen und Anklagen

Nachdem alles vorüber war, setzten auf breiter Front Versuche ein, das kaum faßbare Geschehen zu deuten. Manche, vor allem solche, die vor 1933 für Hitler gestimmt hatten, gaben vor, der Nationalsozialismus sei die einzige Alternative zum Kommunismus gewesen. In Wirklichkeit hatte die KPD auf dem Höhepunkt ihrer Wahlerfolge, bei der Reichstagswahl vom 6. November 1932, ganze 16, 9 Prozent der Stimmen erhalten. Andere sprachen entschuldigend vom „Dritten Reich“ als einem «Betriebsunfall" der deutschen Geschichte. Hitler sei nur auf Grund der Massenarbeitslosigkeit und der allgemeinen Not an die Macht gekommen. Daran war wohl richtig, daß die Nationalsozialisten ohne die Weltwirtschaftskrise nicht zur Massenbewegung aufgestiegen wären. Aber in anderen Ländern, in den USA zum Beispiel, hatte die Krise ähnliche Ausmaße wie in Deutschland, und dennoch war das überkommene demokratische System dort niemals ernstlich bedroht.

Sehr verbreitet war nach 1945 die Ansicht, «Versailles“ sei an allem schuld — der Friedensvertrag von 1919 also, der Deutschland nicht nur mit Gebietsverlusten und der Pflicht zur Zahlung von Reparationen belastet hatte, sondern auch mit dem Makel, die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg zu tragen. Daß die deutsche Führung 1914 zur Auslösung des Ersten Weltkrieges tatsächlich entscheidend beigetragen hatte (wenn man auch von einer . Alleinschuld“ nicht sprechen kann), wollte in Deutschland nach 1918 kaum jemand wahrhaben. Um so größer war die Empörung über die Sanktionen, mit denen die Alliierten und vor allem Frankreich ihre Forderungen an das besiegte Deutschland durchzusetzen versuchten — bis hin zur Ruhrbesetzung des Jahres 1923. Aber in den Jahren danach war Deutschland wieder weitgehend rehabilitiert worden. Das Vertragswerk von Locarno (1925) und der Eintritt in den Völkerbund (1926) waren Stationen des deutschen Wiederaufstiegs. Die Wunden von Versailles begannen allmählich zu verheilen.

Einige sozialdemokratische Gegner Hitlers machten zwei Geburtshelfer des Nationalsozialismus namhaft: „Versailles und Moskau". Neben den Siegern des Ersten Weltkrieges müsse man den Kommunisten die Haupt-schuld am Scheitern der Weimarer Republik geben. Daß die KPD durch ihren Kampf gegen die Sozialdemokraten (die „Sozialfaschisten", wie sie seit 1929 polemisch genannt wurden) die Arbeiterbewegung und damit das Lager der Republikaner auf verhängnisvolle Weise geschwächt hat, steht außer Frage. Und auch daran ist nicht zu zweifeln, daß das kommunistische Versprechen, in Deutschland eine „Diktatur des Proletariats" nach sowjetischem Vorbild zu errichten, manche Bürger in die Arme Hitlers getrieben hat. Aber eine zureichende Erklärung für den Erfolg Hitlers sind die Aktivitäten und die Propaganda der Kommunisten nicht.

Aus der Sicht der Kommunisten war Hitlers Machtübernahme eine Machenschaft des Großkapitals. Der Faschismus sei, so erklärte das 13. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale im Dezember 1933 in einer prinzipiell bis heute maßgebenden Definition, „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" -Tatsächlich hatten einige führende Großunternehmer, vor allem der Schwerindustrie, die Nationalsozialisten finanziell gefördert; einige waren im Herbst 1932 auch brieflich beim Reichspräsidenten von Hindenburg vorstellig geworden, um Hitlers Ernennung zum Reichskanzler zu erreichen. Die Mehrheit der Großindustriellen wünschte jedoch ein anderes Regime als das nationalsozialistische: Die Exportindustrie hätte es am liebsten gesehen, wenn die Präsidialregierung Brüning länger bestanden hätte. Die meisten Schwerindustriellen betrachteten Franz von Papen als ihren Mann und zogen ihn infolgedessen als Kanzler Hitler vor. Für den Aufstieg der NSDAP waren die Beiträge der Mitglieder und Spenden der zahllosen Förderer aus der mittelständischen Industrie wichtiger als die Gelder des Groß-kapitals. Auf seine Ernennung zum Reichs-kanzler hatten Großindustrielle viel weniger Einfluß als Großgrundbesitzer aus den Ostprovinzen Preußens: Sie hatten das Privileg des direkten Zugangs zum Reichspräsidenten, ihrem Standesgenossen Paul von Hindenburg — und darauf kam in den letzten Monaten der Weimarer Republik alles an.

Der deutsche „Sonderweg"

Aber war Hitlers Aufstieg zur Macht überhaupt zu erklären, wenn man nur die Zeit zwischen 1918 und 1933 ins Auge faßte? Mußte man nicht viel tiefer in die Geschichte zurückgehen, um die „deutsche Kastastrophe" zu begreifen, von der 1946 der Historiker Friedrich Meinecke sprach? Aus dem Ausland hatte man schon vor 1945 Stimmen gehört, die die Herrschaft Hitlers als logischen Endpunkt der deutschen Geschichte bezeichneten. Luther, Friedrich der Große und Bismarck wurden als Vorläufer des „Führers“ dargestellt, als Erzieher zu Untertanengeist, Militarismus und nationaler Überhebung. Wenn man derart groben und polemischen Deutungen das Feld nicht überlassen wollte, mußte man ihnen bessere entgegensetzen. Aber an der Frage, ob die deutsche Geschichte nicht doch schon vor langem eine Richtung genommen hatte, die von der Geschichte Westeuropas deutlich abwich — an dieser Frage war nach 1945 nicht länger vorbeizukommen. Es gab viele unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Manche Historiker, sowohl deutsche als auch angelsächsische, gingen bis in das hohe Mittelalter zurück — und in der Tat ließ sich bereits damals so etwas wie eine deutsche „Sonderentwicklung" feststellen: Während sich in Frankreich und England große Nationalstaaten unter einem König und mit einer Hauptstadt herausformten, entstanden in der Mitte Europas viele kleinere und mittlere Territorialstaaten. Im Zeitalter der Reformation wurden die Landesherren der protestantischen Gliedstaaten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu Verteidigern der neuen Konfession, und so bildete sich allmählich eine enge Bindung zwischen dem Landesherrn und seinen Untertanen heraus, die die Glaubenskriege des 16. und 17. Jahrhunderts überdauerte.

Mit dem, was sie für ihre Staaten taten, schnitten die deutschen Fürsten im europäischen Vergleich nicht schlecht ab. Im Gegenteil: Im ausgehenden 18. Jahrhundert galt der Herrscher des mittlerweile bedeutendsten deutschen Staates, König Friedrich II. von Preußen, auch in Frankreich und England als Musterbeispiel eines aufgeklärten Monarchen. In Preußen war eine Revolution, wie sie 1789 in Frankreich stattgefunden hatte, nicht zu erwarten. Durch rechtzeitige Reformen wurde die Unzufriedenheit im Volk soweit abgebaut, daß die Grundlagen des Staates nicht in Gefahr gerieten. Der Historiker Rudolf Stadelmann hat diesen Sachverhalt mit einer überraschend klingenden Bemerkung kommentiert. In einem Aufsatz über die tiefe-ren Ursachen der deutschen „Sonderentwicklung" schrieb er: „Nicht die deutsche Reaktion, sondern der deutsche Fortschritt hat Deutschland gegenüber dem Westen zurückgeworfen"

Was Stadelmann meinte, war dies: Kleinere Korrekturen von „oben" hatten die Generalbereinigung überholter Zustände verhindert, und so konnten altertümliche Herrschaftsverhältnisse, von denen — um nur einige Beispiele zu nennen — Niederländer, Engländer und Franzosen sich längst getrennt hatten, in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein fortbestehen. Die Deutschen waren „das Volk ohne Revolution". Um nochmals Stadelmann zu zitieren: „Der Mangel an Befreundung mit der Praxis und den Ideen der westeuropäischen Revolutionen, der Mangel an Erfahrung und Erziehung auf dem Feld der radikalen Abkehr von der absolutistischen Vergangenheit der neuen Jahrhunderte ist der eigentliche Pariastempel, der unserer Geschichte auf-geprägt ist seit etwa drei Generationen. Die Verfemung des deutschen Namens hat in dem Ausbleiben einer normalen revolutionären Pubertätskrise der deutschen Entwicklung ihre erste und wahrscheinlich wichtigste Wurzel."

Als Stadelmanns Aufsatz erschien, schrieb man das Jahr 1948 Damals wurde in Deutschland der gescheiterten bürgerlichen Revolution gedacht, die vor genau hundert Jahren stattgefunden hatte. Diesen Versuch einer Auflehnung hatte es immerhin gegeben. Aber konnten die Deutschen stolz darauf sein? Die gemäßigten Liberalen, die im ersten freigewählten deutschen Parlament, der Frankfurter Paulskirche, den Ton angaben, hatten diese Revolution nicht eigentlich gewollt; sie hatten sich ihr, nachdem der Funke der Rebellion von Frankreich aus den Rhein übersprungen hatte, nur angeschlossen. Viele von ihnen hatten innenpolitisch eng begrenzte Forderungen. In den Einzelstaaten sollten Verfassungen mit den Fürsten vereinbart werden; im neu zu gründenden Reich sollte sich der König von Preußen als deutscher Kaiser mit der Volksvertretung die Macht teilen.

Die Revolution scheiterte aber nicht nur daran, daß die Paulskirche keinerlei Machtmittel besaß, um den alten Gewalten ihren Willen aufzuzwingen. Es gab auch noch einen anderen, weniger sichtbaren Grund für den Mißerfolg der deutschen Revolution: Das übrige Europa hätte es nicht hingenommen, wenn die Männer der Paulskirche sich angeschickt hätten, ihre außenpolitischen Absichten in die Tat umzusetzen — und die waren viel weniger begrenzt als die innenpolitischen. Sie zielten auf die deutsche Hegemonie über ganz Mittel-und Südosteuropa. Das hätte eine Umwälzung der europäischen Machtverhältnisse bedeutet, und dagegen hätten sich Rußland und Frankreich, die schon den bescheiden erscheinenden Versuch einer „kleindeutschen 11 Reichsgründung ohne Österreich mit äußerstem Mißtrauen verfolgten, aber auch England zur Wehr gesetzt.

Bismarcks „Revolution von oben"

Mit Bismarcks Reichsgründung von 1871 konnte sich Europa leichter abfinden. Dem preußischen Junker, der die Geschichte des neuen Deutschen Reiches leitete, nahm man K gemeinhin ab, wenn er versicherte, Deutschland sei nun „saturiert“; es habe keinerlei Gebietsforderungen an andere Mächte. & hatte die diplomatische Erfahrung, die den bürgerlichen Liberalen fehlte. Und die deut-schen Liberalen selbst? Sie hatten durch Bismarcks Kriege — 1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich, 1870/71 gegen Frankreich — eines ihrer beiden großen Ziele erreicht: die Einheit Deutschlands. Dem anderen Ziel, der Freiheit, waren sie dagegen nicht sehr viel näher gekommen. Es gab zwar viele Reformen, die das liberale Bürgertum seit langem gefordert hatte: die Gewerbefreiheit und die Freizügigkeit, die Vereinheitlichung des Bankwesens, Gesetze zur Ausgestaltung des Rechtsstaates. Aber ein parlamentarisches Regierungssystem ähnlich dem englischen oder belgischen, wie es viele Liberale wünschten, lehnte Bismarck mit Erfolg ab. Er wollte die Zügel in der Hand behalten — vor allem in der Außenpolitik. Der Reichstag sollte auf die Rolle als Gesetzgeber beschränkt bleiben.

Ein Teil der Liberalen resignierte. Viele „Nationalliberalen'', wie sie sich seit 1866 nannten, hatten das Gefühl, sich übernommen zu haben: Einheit und Freiheit zugleich herzustellen, das hatte die Kräfte des Bürgertums überfordert. Und es war ja auch mehr als das, was sich die französischen Revolutionäre von 1789 zur Aufgabe gesetzt hatten: Der Nationalstaat, dem sie einen bürgerlichen Inhalt geben wollten, existierte in Frankreich längst.

Ein anderer Teil der Liberalen, der linke Flügel der Nationalliberalen und die Deutsche Fortschrittspartei, erkannte zwar Bismarcks historische Leistung als Reichsgründer an, weigerte sich aber, ihm unbedingte Gefolgschaft zu leisten. Diese Liberalen drängten weiter auf eine Machtverlagerung zugunsten des Reichstages, eine schrittweise Parlamentarisierung. In diesem Punkt waren sie mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die durch Bismarcks Sozialistengesetze der Jahre 1878 bis 1890 radikalisiert, aber nicht vernichtet wurde, einer Meinung. Für große Teile des Bürgertums war freilich gerade der Aufstieg der Sozialdemokratie ein Grund, nach rechts zu rücken. Vor einer Bewegung, die sich selbst „revolutionär" nannte, konnte das Bürgertum nicht durch den Reichstag, sondern nur durch Militär und Polizei geschützt werden — so dachten viele. Das katholische Zentrum, das von Bismarck im „Kulturkampf" den „Reichsfeinden" zugezählt worden war, zog taktisches Lavieren einem klaren Bekenntnis zur Parlamentarisierung des Kaiserreiches vor. Die Anhänger des parlamentarischen Systems im Bürgertum blieben daher vor 1914 in der Minderheit. „Revolutionen machen in Preußen nur die Könige", hatte Bismarck einmal gesagt Seinem eigenen Werk bescheinigten Altkonservative, Liberale und Sozialisten in seltener Eintracht revolutionäre Züge. „Revolutionär" war die Entthronung deutscher Fürsten, die der Ver-größerung Preußens im Weg standen; „revolutionär" war die Durchsetzung der deutschen Einheit im Krieg gegen Frankreich; „revolutionär" war die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts für Männer — 1867 im neu geschaffenen Norddeutschen Bund, 1871 im Deutschen Reich, nicht jedoch in Preußen, wo weiterhin das besitz-freundliche Dreiklassenwahlrecht galt. Aber Bismarcks Revolution war eine Revolution von oben. Bismarck modernisierte den Obrigkeitsstaat, indem er ihm durch das allgemeine Reichstagswahlrecht eine neue populäre Basis gab. Die politische Macht indessen ging nicht vom Volk aus, sondern vom Kaiser, der zugleich König von Preußen war. Preußens alte Herrschaftsschicht, der Grund-und Militäradel, blieb in einer privilegierten Position. Die Rittergutsbesitzer und die Generalität übten mehr politischen Einfluß aus als das wirtschaftlich so erfolgreiche Bürgertum — von der Arbeiterschaft ganz zu schweigen. Deutschland blieb ein-Obrigkeitsstaat, bis der Reichstag, wenige Wochen vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, im Oktober 1918, durch eine Verfassungsänderung den Reichskanzler vom Vertrauen des Reichstages abhängig machte und damit das parlamentarische System einführte.

Die Reichstagsmehrheit, die diesen einschneidenden Beschluß faßte, kam nicht aus freien Stücken zustande. Sie handelte unter dem Druck jener Obersten Heeresleitung, die sich bisher immer gegen eine Erweiterung der Parlamentsrechte gewehrt hatte. Aber im Herbst 1918 war auch General Ludendorff, dem „starken Mann" der deutschen Generalität, klargeworden, daß der Krieg für Deutschland verloren war. Die Verantwortung für die Folgen wollte er jener Reichstagsmehrheit aus Sozialdemokraten, Linksliberalen und katholischem Zentrum zuschieben, die sich im Juli 1917 für einen Verständigungsfrieden ausgesprochen und damit, wie Ludendorff es darstellte, die Moral der Truppe untergraben hatte. Die Parlamentarisierung Deutschlands begann mit einer Dolchstoßlegende.

Die umstrittene Revolution von 1918/19

Aber die letzte „Revolution von oben" kam zu spät, um die Revolution von unten noch zu verhindern. Als Ende Oktober 1918 die Marineleitung, ohne von der Regierung in Berlin autorisiert zu sein, der Flotte den Befehl zum Auslaufen gegen England gab, wurde für jedermann sichtbar, daß die Parlamentarisie rung nur auf dem Papier stand und sich an den tatsächlichen Machtverhältnissen nichts geändert hatte. Nur so ist es zu erklären, daß aus der Kieler Matrosenmeuterei binnen weniger Tage eine revolutionäre Erhebung in ganz Deutschland wurde — die „Novemberrevolution".

In den Diskussionen über die Frage, wie es zum 30. Januar 1933 kam, spielt die Revolution von 1918/19 eine herausragende Rolle. War die Gründungsphase der Weimarer Republik nicht die Zeit, in der es geradezu einzigartige Chancen gab, mit dem Erbe des Obrigkeitsstaates zu brechen und den Grund für ein anderes, ein demokratisches Deutschland zu legen? Und wenn dem so war, woran lag es, daß diese Chancen nicht genutzt wurden und viele Überreste des Obrigkeitsstaates das Kaiserreich überlebten?

Die Historiker streiten bis heute über diese Fragen. Eine Richtung argumentiert, es sei 1918/19 um eine klare Alternative gegangen: proletarische Diktatur oder parlamentarische Republik. Hätte man die Revolution weitergetrieben bis zur völligen sozialen Umwälzung, so wäre dies nur im Bund mit Kommunisten und radikalen Linkssozialisten möglich gewesen und hätte in einer „Diktatur des Proletariats" nach russischem Vorbild geendet. Wollte man aber die parlamentarische Republik, so mußte man sich mit konservativen Kräften wie dem alten Offizierskorps verbünden und den Versuch der sozialen Revolution niederschlagen.

Eine zweite Richtung widerspricht dieser These mit Nachdruck. Die Alternative zur . Weimarer Lösung", dem Kompromiß zwischen den Sozialdemokraten und den alten Gewalten in Militär, ziviler Bürokratie und Unternehmertum, habe schon deswegen nicht im Kommunismus liegen können, weil dieser in den ersten Monaten nach Kriegsende noch gar keine Massen hinter sich hatte. Vielmehr sei es um einen „dritten Weg", um grundlegende Veränderungen der überkommenen Machtverhältnisse gegangen — Veränderungen, die mit Hilfe der anfangs überwiegend sozialdemokratisch orientierten Rätebewegung durchzusetzen gewesen wären, wenn die Führer der Sozialdemokraten dies nur gewollt hätten.

Der Streit zwischen beiden Richtungen ist noch nicht abgeschlossen. Aber in einigen Punkten hat sich doch so etwas wie eine vor-wiegende Meinung herauskristallisiert:

Erstens: Die regierenden Sozialdemokraten kamen, wenn sie kein Chaos heraufbeschwören wollten, an einer begrenzten Zusammenarbeit mit Trägern des alten Regimes nicht vorbei.

Zweitens: Das Ausmaß dieser Zusammenarbeit und damit der politischen und sozialen Kontinuität zwischen Kaiserreich und Republik war erheblich größer, als es die Situation erforderte. Mit anderen Worten: Die Sozialdemokraten hätten bei stärkerem Gestaltungswillen mehr verändern können und weniger bewahren müssen.

Drittens: Die Unterlassungen der ersten Stunde wurden zu einer schweren Belastung der jungen Demokratie. Aber ohne ein genaues Studium der folgenden vierzehn Jahre läßt sich daraus nicht schon der Schluß ableiten, daß der 30. Januar 1933 unvermeidbar war.

Die deutsche Revolution von 1918/19 war die erste Revolution in einer hochindustrialisierten Gesellschaft. Das erklärte zu einem guten Teil ihren Verlauf. Die klassischen Revolutionen des Westens — die englische des 17. Jahrhunderts, die amerikanische von 1776 und die französische von 1789 — hatten alle vor der Industriellen Revolution stattgefunden. Solange der Staat vor allem als „Nachtwächter" in Erscheinung trat, wie es der Ökonom Adam Smith einmal überspitzt ausgedrückt hat, war es verhältnismäßig einfach, die Inhaber der politischen Gewalt durch eine Volksrevolution zu stürzen. Selbst in einem autoritären Polizeistaat mußte ein revolutionäre Auswechslung der Machthaber nicht notwendig ein soziales und wirtschaftliches Chaos zur Folge haben — nämlich dann nicht, wenn die Gesellschaft noch überwiegend in der Landwirtschaft tätig war, also zu einem großen Teil aus Selbstversorgern bestand. In einer solchen Lage befand sich Rußland auch noch zur Zeit der Oktoberrevolution von 1917.

In einer hochindustrialisierten Gesellschaft ist die Situation völlig anders. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von den Dienstleistungen des Staates und der Kommunen so existentiell abhängig, daß ein Zusammenbruch des öffentlichen Dienstes unvermeidlich das Leben der Gesellschaft insgesamt lähmen muß. Je höher entwickelt eine Gesellschaft ist, desto größer ist auch ihr Bedarf an Kontinuität — vor allem im Bereich der täglichen Daseinsvorsorge. Die Angst Friedrich Eberts und der anderen sozialdemokratischen Volksbeauftragten — der Revolutionsregierung zwischen November 1918 und Januar 1919—, eine radikale Revolution werde Deutschland in ein allgemeines Chaos stürzen, ist nur auf diesem Hintergrund zu verstehen. Deutschland war ein hochindustrialisiertes Land, es brauchte ein erhebliches Maß an alltäglicher Kontinuität. Ebert und seine Freunde setzten daher auf die Mitarbeit der alten Beamten, auf die Mithilfe des hohen Offizierskorps, die man für die geordnete Heimführung von Millionen Soldaten benötigte, und auf das Zusammenspiel zwischen Gewerkschaften und Unternehmern. Sich selbst sahen die sozialdemokratischen Volksbeauftragten eher als Konkursverwalter des alten Regimes denn als Gründerväter einer Demokratie. So schnell wie möglich demokratische Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung herbeizuführen, um der Republik ein demokratisches Mandat und damit politische Legitimität zu geben: das war die Linie der Mehrheitssozialdemokraten. Die Unabhängigen Sozialdemokraten, die sich im Krieg von der alten Partei aus Protest gegen die Bewilligung von Kriegskrediten getrennt hatten und die vom 9. November bis Ende Dezember 1918 mit im „Rat der Volksbeauftragten" saßen, waren anderer Ansicht: Sie wollten vor der Wahl einer Nationalversammlung einige durchgreifende Reformen durchführen — den Aufbau eines demokratischen Militärwesens etwa und die Sozialisierung des Steinkohlebergbaus—, um der Republik ein solides soziales Fundament zu geben.

Die große Mehrheit der Bevölkerung war für baldige Wahlen zur Nationalversammlung. Deutschland hatte die Erfahrung von einem halben Jahrhundert eines allgemeinen und gleichen Reichstagswahlrecht hinter sich. Eine „Diktatur des Proletariats" nach russischem Vorbild erschien auch den meisten Arbeitern nicht als Gewinn an Freiheit, sondern als historischer Rückschritt. Auf dem ersten Kongreß der deutschen Arbeiter-und Soldatenräte, der Mitte Dezember 1918 in Berlin stattfand, war nur eine kleine Minderheit für die Alleinherrschaft der Räte. Die überwältigende Mehrheit wollte die Wahlen zur Nationalversammlung zu einem möglichst frühen Termin. Sie wurden auf den 19. Januar 1919 festgesetzt.

Aber weder der frühe Wahltermin noch der Grad der industriellen Entwicklung können voll erklären, warum sich 1918/19 an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen in Deutschland so wenig änderte. Ebert und seine Freunde sahen nur die Gefahren, die der jungen Republik von links drohten, die Gefahren von rechts unterschätzten sie. Sie vertrauten darauf, daß die Oberste Heeresleitung ein loyaler Partner der neuen Regierung sein würde — auch bei der Bekämpfung von linksradikalen Umsturzversuchen, wie man sie, nicht ohne Grund, befürchtete. Aber die alten Militärs wollten den Staat nach ihrem Bild gestalten und die Revolution, soweit es ging, rückgängig machen. Es geschah nichts, um diese Pläne zu durchkreuzen. Republik-treue Offiziere, die es auch gab, wurden nicht ermutigt. Der Aufbau einer neuen demokratischen Volkswehr blieb in Ansätzen stecken — dies freilich nicht nur auf Grund mangelnder Energie der Volksbeauftragten, sondern auch weil viele sozialdemokratische Arbeiter davor zurückscheuten, sich in einen „Bruderkampf" mit kommunistischen und anderen linksradikalen Arbeitern verstricken zu lassen.

Die regierenden Sozialdemokraten wußten, daß es unter den hohen Beamten — vor allem in den östlichen Provinzen Preußens — und unter den Richtern zahlreiche Anhänger des alten Regimes gab, die der Republik in unverhohlener Feindschaft gegenüberstanden. Aber sie blieben alle im Amt und bekamen so die Möglichkeit, den neuen Staat von innen heraus auszuhöhlen.

Aus der Zeit des Kaiserreiches wußte man auch, daß zu den entschiedensten Gegnern einer Demokratisierung Deutschlands die ostelbischen Rittergutsbesitzer gehörten. Stets hatten sie die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts und die Parlamentarisierung des Reiches bekämpft. Aber ihre Macht wurde 1918/19 kaum angetastet. Im März 1920 bildeten sie die Reservearmee der schwarzweißroten Putschisten um den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Kapp und den General Lüttwitz.

Schließlich war aus der Zeit vor 1914 bekannt, daß die meisten Schwerindustriellen den Standpunkt des „Herrn im Haus“ nicht nur innerhalb des Betriebs vertraten, sondern auch auf die Politik übertrugen: Deutschland sollte ein autoritärer Obrigkeitsstaat bleiben und daher keinen Schritt in Richtung Demokratie tun. Von daher hatte die Forderung nach einer Sozialisierung des Steinkohlebergbaus, wie sie seit der Jahreswende 1918/19 in mendem Maß von den Bergleuten des gebiets erhoben wurde, vor allem einen sehen Sinn: Es galt, den antidemokratii Kräften einen wichtigen gesellschaftliRückhalt zu nehmen.

Aber die Sozialdemokraten im Rat der Volks-beauftragten und in der ersten Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten, Zentrum und Demokraten, die nach der Wahl zur Nationalversammlung gebildet wurde, fürchteten, eine Änderung der Eigentumsverhältnisse im Steinkohlebergbau könne leicht zum Zusammenbruch des deutschen Wirtschaftslebens führen, das auf eine hinreichende Versorgung mit Kohle dringend angewiesen war. Dazu kam die Sorge, die Alliierten würden sozialisierte Betriebe als Faustpfänder für deutsche Reparationsleistungen in Beschlag nehmen. So unterblieb die Sozialisierung des Kohle-bergbaus. Die Radikalisierung eines erheblichen Teils der deutschen Arbeiter geht vor allem auf die Enttäuschung hierüber zurück. Es war nicht so, daß die Regierenden der frühen Republik ihre Entscheidungen leichtfertig getroffen hätten. Fast immer konnten sie gewichtige Gründe zugunsten dessen ins Feld führen, was sie taten oder unterließen. Sie konzentrierten sich ganz darauf, die unmittelbaren Nöte des Tages zu bewältigen. Dieser Aufgabe entledigten sie sich eindrucksvoll. Die andere Aufgabe, die sich ihnen stellte, war die vorsorgliche Sicherung der parlamentarischen Demokratie. Und diese Aufgabe wurde kaum gesehen — geschweige denn gelöst.

Der labile Parteienstaat

Vorbelastungen erwuchsen der jungen Republik nicht nur aus den Entscheidungen der revolutionären Übergangsperiode zwischen dem Sturz der Monarchie am 9. November 1918 und der Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919. Eine Vorbelastung bildete auch, so paradox es klingt, ihr Grundgesetz — die Weimarer Reichsverfassung, die am 11. August 1919 von der Nationalversammlung verabschiedet wurde. Gewiß: Wegen der Grundrechte, die sie den Deutschen gewährte, konnte man sie als die freieste Verfassung der Welt feiern. Aber zu den Freiheiten, die in ihr verankert waren, gehörte auch die Freiheit, die demokratische Republik auf legale Weise, nämlich durch Mehrheitsentscheidung, abzuschaffen.

Und es gab innerhalb dieser Verfassung noch eine Art „Reserveverfassung": Der Reichspräsident, der direkt vom Volk auf sieben Jahre zu wählen war, konnte unter bestimmten — oder vielmehr: ziemlich unbestimmten — Bedingungen als Ersatzgesetzgeber an die Stelle des Reichstags treten. Der vielzitierte Artikel 48 der Reichsverfassung, auf den sich der Reichspräsident beim Erlaß von Notverordnungen stützen konnte, war von der National-

Versammlung als Vorkehrung für den Krisenfall gedacht. Gab es keinen handlungsfähigen Reichstag, so fiel dem Staatsoberhaupt eine nahezu diktatorische Machtfülle zu. Aber die bloße Möglichkeit einer Präsidialregierung förderte den Hang der Parteien, sich der poli-

tischen Verantwortung zu entziehen.

Schon unter dem ersten — noch von der Nationalversammlung gewählten — Reichspräsidenten Friedrich Ebert wurde vom Artikel 48 ein ausgiebiger Gebrauch gemacht — oft nur im Sinne einer beschleunigten Gesetzgebung in dringenden Fragen der Finanz-und Wirtschaftspolitik. Voll sichtbar wurden die Gefahren, die im Artikel 48 lagen, erst sehr viel später, in der Endphase der Weimarer Republik. An der Spitze des Staates stand damals kein überzeugter Demokrat. Im kaiserlichen Feldmarschall Paul von Hindenburg, der 1925 zum Nachfolger des verstorbenen Sozialdemokraten Friedrich Ebert gewählt worden war, erblickten viele Deutsche einen „Ersatzkaiser". Die Verfassungsväter hatten in ihrer Mehrheit eine solche Lösung wohl nicht gewünscht, aber sie haben sie ermöglicht.

Hatte Weimar angesichts solcher innerer Vorbelastungen — von den äußeren ganz zu schweigen — überhaupt eine Chance, sich zu einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie zu entwickeln? Die Antwort kann nur lauten: Wenn sich die Parteien, die für eine parlamentarische Mehrheitsregierung gebraucht wurden, so verhielten, wie es das parlamentarische System verlangte, dann ja. Aber hier eben lag die Schwierigkeit. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 hatten die beiden sozialdemokratischen Parteien zusammen keine Mehrheit erhalten; deshalb war eine Koalition zwischen SPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei notwendig geworden. Diese „Weimarer Koalition" verfügte über eine solide Mehrheit. Aber bei den Reichstagswahlen vom Juni 1920, wenige Monate nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch, verlor sie die Mehrheit. Seitdem war die einzig denkbare Form einer Mehrheitsregierung eine „Große Koalition“, die außer den Parteien der „Weimarer Koalition“ auch Stresemanns Deutsche Volkspartei (DVP) umfaßte — eine rechtsliberale, ihrem Programm nach auf die parlamentarische Monarchie festgelegte Partei. Da die SPD eine Zusammenarbeit mit dieser Partei für unzumutbar hielt, regierten zunächst Minderheitskabinette, an denen einmal die DVP, ein andermal die SPD beteiligt war. Erst im Krisenjahr 1923 kam es zu einer kurzlebigen Großen Koalition unter der Kanzlerschaft Gustav Stresemanns.

Auch in den „goldenen Jahren“ der Republik zwischen 1924 und 1928 regierten meistens bürgerliche Minderheitsregierungen, mitunter auch rechte Mehrheitsregierungen, in denen die monarchistische Deutschnationale Volkspartei Minister stellte. Die SPD beteiligte sich erst 1928 wieder an der Reichsregierung, dem Kabinett der Großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller. Es zerbrach im März 1930, einige Monate nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, am Streit um die Arbeitslosenversicherung. Von einer wirklichen politischen Stabilität konnte in der Weimarer Republik niemals die Rede sein. Woran lag das? Einmal daran, daß die Deutsche Volkspartei dem parlamentarischen System skeptisch bis ablehnend gegenüberstand und zu Kompromissen mit den Sozialdemokraten, vor allem in sozialpolitischen Fragen, nur sehr schwer zu bewegen war. Zum anderen gab es auch in der SPD, seit sie sich 1922 mit den Unabhängigen Sozialdemokraten wieder zu einer Partei vereinigt hatte, eine starke linke Strömung, die eine Koalition mit bürgerlichen Parteien und vor allem mit der unternehmerfreundlichen DVP grundsätzlich ablehnte. Infolgedessen zog die Par

Der Präsidialstaat: eine Alternative?

Unter den Historikern gibt es keine einhellige Meinung darüber, ob die Weimarer Republik als Präsidialsystem eine echte Überlebenschance hatte. Manche Geschichtsforscher rechtfertigen die Politik Heinrich Brünings — teiführung, die die Einheit der SPD nicht aufs Spiel setzen wollte, die „Tolerierung" einer bürgerlichen Regierung in der Regel der eigenen Machtbeteiligung vor. Dazu kam die Angst, durch Kompromisse mit den bürgerlichen Parteien Wähler an die Kommunisten zu verlieren. Da die deutsche Wirtschaft in den Jahren der Weimarer Republik sich in einer Phase der „relativen Stagnation" befand, war es sehr schwierig, die gegensätzlichen Interessen von Unternehmern und Arbeiterschaft auszugleichen. Zuwächse gab es kaum zu verteilen — und das spiegelte sich in den politischen Konflikten zwischen den Flügel-parteien der Großen Koalition wider.

Das Zerbrechen der Großen Koalition Ende März 1930 bedeutete das Ende des parlamentarischen Regierungssystems überhaupt. Vordergründig fiel der SPD die Schuld an der Aufkündigung des Parteienbündnisses zu. Die Sozialdemokraten hatten eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 3, 5 auf 4 Prozent des Lohnes verlangt, die DVP dagegen eine Senkung der Leistungen. Ein vom Vorsitzenden der Zentrumsfraktion, Heinrich Brüning, in letzter Stunde vorgelegter Kompromißvorschlag, der die Entscheidung in der Hauptsache vertagte, erhielt die Zustimmung aller bürgerlichen Parteien und — mit Ausnahme des Arbeitsministers — auch die der sozialdemokratischen Kabinetts-mitglieder. Aber die sozialdemokratische Reichstagsfraktion entschied sich, gedrängt vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, gegen den Kompromiß und damit gegen die Große Koalition.

Die Tage dieses letzten parlamentarischen Kabinetts der Weimarer Republik wären aber ohnehin gezählt gewesen. Reichspräsident und Reichswehr, Unternehmerverbände und Deutsche Volkspartei strebten seit langem auf eine vom Reichstag weitgehend unabhängige Präsidialregierung zu, und daß die SPD die Verantwortung für den Bruch der Großen Koalition übernahm, konnte diesen Kräften nur willkommen sein. des ersten Reichskanzlers, der ausschließlich mit Notverordnungen nach Artikel 48 regierte — als unter den gegebenen Umständen unvermeidbar. Aus dieser Sicht war eine gemäßigte, von der Reichstagsmehrheit toleB rierte Präsidialregierung die einzig verbliebene und zugleich entwicklungsfähige Alternative zum gescheiterten parlamentarischen System.

Andere Historiker sehen in der Kanzlerschaft Brünings den Beginn eines verhängnisvollen Prozesses, der mit innerer Notwendigkeit zur Machtübernahme Hitlers führte. Brünings rigorose Sparpolitik sei ein Rückfall in den autoritär-bürokratischen Regierungsstil des Kaiserreichs gewesen; sie habe die wachsende Radikalisierung der Massen als Preis für die erhoffte Gesundung der deutschen Wirtschaft bewußt hingenommen und damit den Aufstieg der NSDAP, der Partei Hitlers, direkt gefördert.

Die Wendung zum Präsidialsystem war spätestens von dem Augenblick an vorgezeichnet, als sich herausstellte, daß die bürgerliche Minderheitsregierung Brüning weder von den Sozialdemokraten noch von den Deutschnationalen toleriert werden würde. Das war im Juli 1930 der Fall. Brünings erste Notverordnung datiert vom 16. Juli. Das Verlangen des Reichstags, die Verordnung aufzuheben, wurde vom Reichspräsidenten mit der Auflösung der Volksvertretung beantwortet. Die Neuwahl am 14. September 1930 verhalf den Nationalsozialisten zum ersten großen Durchbruch auf Reichsebene: Die Zahl ihrer Mandate stieg von 12 auf 107. Erst nach dieser Wahl entschied sich die SPD für die Tolerierung Brünings im Sinne einer Politik des „kleineren Übels".

Zugunsten seiner eisernen Sparpolitik, die sich unter anderem in starken Kürzungen von Sozialleistungen und in der Senkung der Beamtengehälter äußerte, konnte Brüning gewichtige Argumente vorbringen: Der Grundsatz des in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichenen Haushalts entsprach nicht nur der damals herrschenden Lehre der Wirtschaftswissenschaften; es war auch richtig, daß Deutschland sparen mußte, um seinen Reparationspflichten nachzukommen und gleichzeitig den Siegermächten klarzumachen, daß es durch eben diese Pflichten überfordert wurde. Das Reparationsargument verlor jedoch erheblich an Überzeugungskraft, als der amerikanische Präsident Hoover vorschlug, vom 1. Juli 1931 ab auf ein Jahr alle zwischenstaatlichen Zahlungsschulden — also auch die deutschen Reparationen — aufzuschieben. Jetzt hätten Mittel für Zwecke der Arbeitsbeschaffung und damit einer Belebung der darniederliegenden Konjunktur zur Verfügung gestanden. Doch Brüning ging es darum, die Reparationslasten ein für allemal zu beseitigen, und darum änderte er seine Sparpolitik nicht im geringsten. Die steigenden Arbeitslosenzahlen und die innenpolitische Radikalisierung waren ihm dabei gar nicht unwillkommen: Die Alliierten sollten sehen, wohin sie Deutschland trieben.

Seit dem Sommer 1931 war Brünings Sparkurs also nicht mehr aus ökonomischen Sachzwängen, sondern nur noch aus seinen politischen Zielsetzungen heraus zu erklären. Zu diesen Zielen gehörte aber sehr viel mehr als bloß die endgültige Lösung des Reparationsproblems. Die Senkung der Lohnkosten sollte Deutschland Exportvorteile gegenüber seinen wichtigsten Konkurrenten verschaffen und den deutschen Anspruch auf einen Großmachtstatus materiell untermauern. Auch innenpolitisch hatte Brüning weit ausholende Absichten, die er freilich strikt geheimhielt: Das Reich sollte zur Monarchie und zu den wesentlichen Elementen der Bismarckschen Reichsverfassung zurückkehren. Das parlamentarische System war also, soweit es auf Brüning ankam, nicht nur vorübergehend außer Kraft gesetzt; seine Abschaffung sollte definitiv sein.

Aber so eindeutig die restaurativen Züge der Brüningschen Politik waren, den konservativen Kreisen in Schwerindustrie, Großlandwirtschaft und Reichswehr waren sie nicht „rechts" genug. Vor allem die Tolerierung durch die SPD war diesen Kräften ein Dorn im Auge. Brünings Sturz im Mai 1932 ging nicht zuletzt auf das Konto jener hochverschuldeten Rittergutsbesitzer aus dem östlichen Preußen zurück, die Hindenburg einzureden vermochten, Brüning sei ein „Agrarbolschewist". (Der sachliche Hintergrund dieser Behauptung war Brünings Absicht, nicht mehr entschuldungsfähige Güter für Zwecke der Siedlung zwangsweise zu enteignen.)

Siege und Niederlagen der NSDAP

Brünings Nachfolger, der hochkonservative Zentrumspolitiker Franz von Papen, genoß zwar die Unterstützung der großen Interessenverbände von Landwirtschaft und Industrie. Eine Tolerierungsmehrheit im Reichstag aber gab es für ihn nicht mehr; seine eigene Partei sah in ihm einen Verräter. Von den Nationalsozialisten wurde Papen zunächst geschont, weil er das von der Regierung Brüning verhängte Verbot der beiden Privatarmeen Hitlers, der SA und der SS, wieder aufgehoben hatte und der NSDAP auch in zwei anderen Punkten entgegenkam: dem „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932, durch den die sozialdemokratisch geführte Minderheitsregierung im größten deutschen Staat ihres Amtes enthoben wurde, und der Auflösung des Reichstages.

Ob Hitlers Weg zur Macht hätte aufgehalten werden können, wenn die Sozialdemokraten sich gegen Papens Staatsstreich in Preußen zur Wehr gesetzt hätten, ist umstritten. Die Aussichten für einen erfolgreichen Gegen-schlag waren jedoch sehr schlecht. Die Gewerkschaften fürchteten, daß ein Generalstreik angesichts der inzwischen sechs Millionen Arbeitslosen sofort in sich zusammenbrechen würde. Man mußte damit rechnen, daß beschäftigungslose Arbeiter freigewordene Arbeitsplätze besetzten und sich in Kämpfe mit den Streikenden verwickeln ließen. Ein bewaffneter Widerstand gegen die Reichs-wehr hätte den Bürgerkrieg bedeutet — und die sichere Niederlage der Arbeiterschaft Infolgedessen wird man SPD und Freien Gewerkschaften nachträglich den Verzicht auf massive Reaktionen kaum vorwerfen können. Aber es trifft sicherlich zu, daß das kampflose Abtreten der preußischen Regierung auf große Teile der Arbeiterschaft demoralisierend gewirkt hat.

Der große Erfolg, den die NSDAP bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 errang — sie wurde die stärkste Partei und steigerte die Zahl ihrer Mandate von 107 auf 230 —, schuf eine neue innenpolitische Situation. Da Nationalsozialisten und Kommunisten zusammen mehr als die Hälfte der Sitze erhalten hatten, war eine „parlamentarische" Krisenlösung nur noch mit einer der beiden totalitären Parteien möglich. Eben diesen Versuch machten Zentrum und Bayerische Volkspartei, die sich nach der Wahl intensiv um eine Koalition mit der Partei Hitlers bemühten — vergeblich. Der Führer der NSDAP wollte Zentrum und BVP nicht die rechtsstaatlichen Zusicherungen geben, auf denen sie bestanden. Er wollte die ganze Macht, und die war nur über Sondervollmachten des Reichspräsidenten zu erreichen. Hindenburg jedoch, der im April 1932 bei den Reichspräsidentenwahlen als Kandidat der „Weimar Koalition" und der gemäßigten Rechten Hitler überlegen geschlagen hatte, hielt den Führer der Nationalsozialisten für einen diktaturlüsternen Abenteurer und weigerte sich, ihm das Kanzleramt zu übertragen.

Die zweite Reichstagswahl des Jahres 1932 am 6. November brachte zwar starke Verluste der NSDAP — gegenüber dem 31. Juli büßte sie etwa 2 Millionen Stimmen ein —, aber eine regierungsfähige Mehrheit war nicht in Sicht. Dem Vorschlag Papens, angesichts des parlamentarischen Patts nunmehr ein auf die Reichswehr gestütztes autoritäres Regime zu errichten, wurde der Boden durch den Reichswehrminister, General von Schleicher, selbst entzogen: Er erklärte die Truppe für außerstande, gegen „links" und „rechts“ gleichzeitig zu kämpfen. Als Papen diese Auskunft mit seinem Rücktritt beantwortete, wurde Schleicher, der schon der „starke Mann" im Kabinett seines Vorgängers gewesen war, am 2. Dezember 1932 selbst zum Reichskanzler ernannt. An die Kanzlerschaft Schleichers knüpft sich eine wissenschaftliche Diskussion, die bis heute nicht endgültig abgeschlossen ist: Hat damals noch eine letzte Chance bestanden, die Machtübernahme Hitlers zu verhindern! Schleicher strebte auf der einen Seite danach, Gregor Strasser, den Reichsorganisationsleiter der NSDAP und mächtigsten Mann der Partei nach Hitler, für eine Mitarbeit in der Regierung zu gewinnen und so die Nationalsozialisten zu zähmen — und gegebenenfalls zu spalten. Auf der anderen Seite knüpfte Schleicher auch Verbindungen zum Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund und der SPD, die er für eine Tolerierung seines Kabinetts zu gewinnen suchte.

Beide Hoffnungen schlugen fehl. Strasser wagte nicht, gegen den Willen Hitlers zu handeln, und legte, als der „Führer" der NSDAP eine Zusammenarbeit mit Schleicher strikt ablehnte, seine Parteiämter nieder. Die Gewerkschaften waren zwar nicht grundsätzlich abgeneigt, Schleicher, der sich selbst als «sozialen General" bezeichnete und erstmals ein staatliches Arbeitsbeschaffungsprogramm vorlegte, zu unterstützen. Aber die SPD fürchtete für den Fall einer Tolerierung Schleichers eine kommunistische Verleumdungskampagne und bewog die Gewerkschaften, die Kontakte zum Reichskanzler abzubrechen. Hätte die SPD eine Kanzlerschaft Hitlers verhindern können, wenn sie auf Schleichers Wünsche eingegangen wäre? Dafür spricht nichts. Schleicher wurde von großen Teilen des Unternehmerlagers und von den Agrariern scharf angegriffen, weil er sich von dem autoritären Staatsmodell Papens entfernt hatte und eine gewisse „Reparlamentarisierung", also eine Aufwertung des Reichstags, zu betreiben schien. Er scheiterte schließlich, ähnlich wie Brüning, an der „Kamarilla" um Hindenburg. Dazu gehörten Rittergutsbesitzer, die eine parlamentarische Enthüllung des „Osthilfeskandals", der Veruntreuung öffentlicher Mittel für hochverschuldete Güter, verhindern wollten; hohe Reichswehroffiziere, die seit längerem mit den Nationalsozialisten sympathisierten; Franz von Papen, der Schleicher seinen eigenen Sturz nicht verzeihen konnte und wieder zur Macht strebte; Hindenburgs wendiger Staatssekretär Meißner, der dieses Amt schon unter Ebert innegehabt hatte; schließlich der „in der Verfassung nicht vorgesehene“ Sohn des Reichspräsidenten, Oskar von Hindenburg.

Dieser „Kamarilla", in ihrer Zusammensetzung ein typisches Überbleibsel des alten, vorrepublikanischen Deutschland, gelang es, den greisen Feldmarschall im Verlauf des Januar 1933 davon zu überzeugen, daß es keine Alternative mehr zu einer Kanzlerschaft Hitlers gab. Was Schleicher vorschlug — eine Auflösung des Reichstags und die Aufschiebung von Neuwahlen bis zum Herbst 1933 —, lehnte Hindenburg als Aufforderung zum Verfassungsbruch ab. Wenn ein Kanzler Hitler von Papen als Vizekanzler und anderen konservativen Ministern „eingerahmt" wurde, dann mochte diese Lösung immer noch erträglicher erscheinen als der von Schleicher empfohlene Weg, der leicht in den Bürgerkrieg führen konnte: So sah es Hindenburg — und so sollte er es nach dem Wunsch seiner engsten Berater sehen.

Hitler ist nicht allein auf Grund seiner Wahl-erfolge an die Macht gelangt, aber diese Erfolge bildeten eine notwendige Vorausset-

zung dafür, daß ihm am 30. Januar 1933 das Kanzleramt übertragen wurde. Wie sind die Erfolge des Wahlkämpfers Hitler zu erklären?

Hitler war der einzige wirklich charismatisch begabte Führer im Lager der Rechten. Der . Führerkult" diente dazu, Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft und mit sehr unterschiedlichen Interessen unter der Hakenkreuzfahne zu versammeln. Eine ähnliche Aufgabe erfüllte der extreme Nationalismus der NSDAP: Auch er sollte helfen, die sozialen Gegensätze vergessen zu machen, die die Deutschen trennten. Die Demütigung durch die Niederlage von 1918 schuf für radikal nationalistische Parolen einen guten Resonanz-boden. Nationalismus war auch ein Mittel, sich vom Internationalismus der Marxisten abzugrenzen: Wer national war, der konnte kein Proletarier sein. Das klarzustellen, war manchen Arbeitern, aber vor allem vielen Angestellten wichtig, die oft kaum mehr verdienten als einfache Handarbeiter.

Mit Hilfe von Führerkult und Nationalismus gelang es Hitler, seine Partei in eine „Volkspartei" zu verwandeln — die einzige, die es vor 1933 gab. Die Arbeiter waren in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei erheblich schwächer vertreten als diejenigen, die sich dem „Bürgertum" zurechneten; aber keine andere Partei — das auf katholische Mitglieder und Wähler beschränkte Zentrum ausgenommen — umfaßte in derart breiter Streuung Angehörige verschiedener sozialer Schichten wie die Partei Hitlers.

Der Haß auf die Juden spielte eine große Rolle für das innere Parteileben, den Zusammenhalt der „alten Kämpfer", auch bei der gezielten Umwerbung von Gruppen, in denen Vorurteile gegenüber Juden seit langem besonders stark waren: Studenten, Kleinhändler und Handwerker, Handlungsgehilfen und Bauern. In der allgemeinen Wahlpropaganda der Jahre nach 1929 traten jedoch antisemitische Parolen hinter nationalistischen und antimarxistischen Schlagworten zurück.

Der Sozialismus, den die Partei in ihrem Namen führte, hatte sehr viel weniger Gewicht als der Nationalismus. In der Frühzeit der NSDAP hatte Hitler noch gehofft, vor allem Arbeiter für seine „Bewegung" gewinnen zu können. Nachdem diese Erwartung sich nicht erfüllt hatte, wurde der „Sozialismus" der Partei abgeschwächt und umgedeutet: Mit diesem Begriff sei nicht die Enteignung der Besitzenden gemeint, hieß es, sondern die Schaffung von Eigentum für alle; nationaler Sozialismus bedeute den Vorrang des Gemeinnutzes vor dem Eigennutz. Es gab jedoch durchaus Gruppen, die den „Sozialismus" in Namen und Programm der NSDAP ernst nahmen, nicht zuletzt die nationalsozialistischen Arbeiter und Angestellten. Der Aufstieg der NSDAP zur Massenbewegung begann erst 1929 — nach Beginn der Weltwirtschaftskrise. Vorher hatte es nur einige wenige örtliche Hochburgen der NSDAP gegeben, nicht zuletzt in ländlichen Gebieten, die seit 1927 von einer schweren Agrarkrise heimgesucht wurden. Die Wähler der NSDAP kamen vor allem aus den bürgerlichen Parteien, namentlich aus dem konservativen und liberalen Lager, aus mittelständischen und regionalen Splitterparteien sowie aus den großen Gruppen der bisherigen Nicht-und Jungwähler. Vergleichsweise wenige Wähler mußten vor 1933 die beiden katholischen Parteien, das Zentrum und die Bayerische Volkspartei, an die NSDAP abgeben. Dasselbe gilt für die Sozialdemokraten und Kommunisten.

Wenn es ein gemeinsames Motiv der Wähler der NSDAP gab, dann war es die Erwartung, Hitler werde die parlamentarische Demokratie, die man für abgewirtschaftet hielt, zerschlagen und an ihrer Stelle ein zugleich strenges und gerechtes, nach außen selbstbewußtes und im Innern volkstümliches Regiment errichten. Eine radikale Änderung der politischen Verhältnisse bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der überkommenen Eigentumsverhältnisse — das war die Hoffnung, die die meisten Anhänger in die „Hitler-Bewegung“ setzten. Vor allem aber würden die Nationalsozialisten für „Arbeit und Brot" sorgen — waren sie doch die einzige Partei, die im Sommer 1932 mit einem großangelegten Arbeitsbeschaffungsprogramm aufwartete. Die Demokratie als eine undeutsches, dem geschlagenen Land von den Siegern aufgezwungenes System zu verleumden, war bei allen Gruppen und Parteien der Rechten üblich. Aber nur der NSDAP gelang es, sich zu einer wirklichen Massenbewegung gegen die Demokratie zu entwickeln. Sie brach konsequent mit dem Stil bürgerlicher Honoratiorenpolitik, der in den liberalen Parteien, in geringerem Maß auch in der Deutschnationalen Volkspartei gepflegt wurde. Vieles von dem, was sich als massenwirksam erwies, hatten die Nationalsozialisten der Arbeiterbewegung abgeguckt: Straßenaufmärsche und Kundgebungen, der Einsatz von Fahnen und Musik.

Warum die Macht an Hitler fiel

Wenn Hitler eine „Volksgemeinschaft" versprach, die an die Stelle des Klassenkampfes treten solle, so kam er damit einer weit verbreiteten Sehnsucht entgegen. Mit „Klassenkampf" verbanden große Teile des Bürgertums die Vorstellung von „russischen Zuständen", von kommunistischem Terror und wirtschaftlichem Chaos. Auch die Sozialdemokraten sprachen von „Klassenkampf", und in der Theorie war damit immer noch gemeint, daß die Arbeiterklasse eines fernen Tages die Bourgeoisie völlig aus ihren Machtpositionen verdrängen und das kapitalistische Privateigentum durch gesellschaftliches Eigentum ersetzen werde. In der Praxis bedeutete „Klassenkampf" für Sozialdemokraten und Freie Gewerkschaften aber längst etwas anderes: Kampf um die soziale Gleichberechtigung der Arbeiter, Kampf also gegen überholte gesellschaftliche Vorrechte und für mehr Demokratie in Wirtschaft und Gesellschaft.

Aber gerade diese Zweideutigkeit des Klassenkampfbegriffs half den Nationalsozialisten. Da die Sozialdemokraten theoretisch an der Lehre vom Klassenkampf festhielten, wurden sie von Hitler — und nicht nur von ihm — mit den Kommunisten in einen Topf geworfen. „Antimarxismus" bedeutete für die Nationalsozialisten nicht nur Kampf gegen die „Diktatur des Proletariats", sondern gegen jede Art von selbständiger Arbeiterbewegung. „Volksgemeinschaft" — das hieß in Wahrheit: Unterdrückung und Verschleierung von sozialen Konflikten. Da diese Konflikte aus der Sicht der Nationalsozialisten nur das Werk von „volksfremden", zumeist jüdischen Agitatoren waren, war die Vernichtung des „Marxismus" Grundlage des sozialen Friedens. Und da erst die Demokratie den „Marxisten freien Spielraum gegeben hatte, mußte diese Staatsform radikal beseitigt werden. Unter voller Ausnutzung des Arsenals einer Demokratie Massen für den Kampf gegen eben diese Demokratie zu mobilisieren: das war es, was Hitler gelang. Es gelang ihm, weil Deutschland beides kannte: die Tradition obrigkeitsstaatlicher Unterdrückung und die Tradition des allgemeinen Wahlrechts. Es gelang ihm, weil die Weimarer Verfassung seiner Bewegung keine Hindernisse in den Weg legte und die „staatstragenden" Parteien nicht wußten, was sie der parlamentarischen Demo-B kratie schuldig waren. Es gelang ihm, weil es bereits ein Vorbild für eine erfolgreiche Bekämpfung von „Marxismus" und liberaler Demokratie gab: das faschistische Italien. Es gelang ihm, weil er es verstand, der Angst vor sozialem Abstieg die Hoffnung auf nationalen Wiederaufstieg entgegenzusetzen. Und es gelang ihm schließlich, weil die anderen politischen Kräfte, die Parteien wie die Präsidialregierungen, auf die Herausforderung der Weltwirtschaftskrise keine Antwort zu geben wußten, die von einer Mehrheit der Wähler verstanden und bejaht werden konnte.

Auf dem Höhepunkt seiner Wahlerfolge — am 31. Juli 1932 — konnte Hitler einen Stimmenanteil von 37, 4 Prozent verbuchen. Von der absoluten Mehrheit war er aber immer noch weit entfernt, und bei der folgenden Reichstagswahl am 6. November 1932 sank seine Partei auf 33, 1 Prozent der Stimmen ab. Auf Grund der Wahlergebnisse mußte Hitler also nicht an die Macht kommen. Er kam an die Macht, weil die Teile der alten Führungsschicht, die Zugang zum Reichspräsidenten hatten, einen radikalen Bruch mit dem „System" von Weimar wünschten und weil ein solcher Bruch einen Rückhalt in den Massen brauchte. Für diesen Ausweg aus der Krise gab es im Januar 1933 nur einen Kandidaten: Adolf Hitler.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Theo Pirker (Hrsg.), Komintern und Faschismus. Dokumente zur Geschichte und Theorie des Faschismus, Stuttgart 1965, S. 187.

  2. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946.

  3. Rudolf Stadelmann, Deutschland und die westcuropäischen Revolutionen, in: ders., Deutschland lind Westeuropa, Laupheim 1948, S. 28.

  4. tbda., S. 14.

  5. Fürst Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Berlin 1924 ff., Bd. 8, S. 459.

Weitere Inhalte

Heinrich August Winkler, Dr. phil., geb. 1938; Studium der Geschichte, Philosophie, Politikwissenschaft und des Öffentlichen Rechts in Münster, Heidelberg und Tübingen; 1964— 1972 Assistent und Professor an der Freien Universität Berlin; seit 1972 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg i. Br. Veröffentlichungen u. a.: Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat, Tübingen 1964; Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus, Köln 1972; Revolution, Staat, Faschismus, Göttingen 1978; Liberalismus und Antiliberalismus, Göttingen 1979; Die Sozialdemokratie und die Revolution von 1918/19, Berlin 19802; Hrsg.: Die große Krise in Amerika, Göttingen 1973; Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974; Nationalismus, Königstein 1978; Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945— 1953, Göttingen 1979; Der Nationalismus als Weltproblem der Gegenwart, Göttingen 1982.