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Luther und die Reformation in den Geschichtsbüchern der DDR und der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 3/1983 | bpb.de

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APuZ 3/1983 Das Zentrum des Wirkens und der Wirkung Luthers Die Entwicklung und der heutige Stand der internationalen Lutherforschung Luther und/oder Müntzer? Luther und die Reformation in den Geschichtsbüchern der DDR und der Bundesrepublik Deutschland

Luther und die Reformation in den Geschichtsbüchern der DDR und der Bundesrepublik Deutschland

Wolfgang Jacobmeyer

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Analyse betrachtet Geschichtslehrbücher der DDR und der Bundesrepublik Deutschland als Quellen des zeitgenössischen Luther-Bildes. Für die DDR weist sie die Funktion des Luther-Bildes als einer politisch instrumentalisierten Traditionsfigur zur Absicherung der nationalen Identität nach. Am Luther-Bild läßt sich zeigen, daß Geschichte und Traditionsbildung in der DDR wichtige Elemente der innergesellschaftlichen Stabilisierung und eigenstaatlichen Legitimation sind. Der Vergleich mit Geschichtslehrbüchern der Bundesrepublik Deutschland läßt erkennen, daß sich das Ensemble gemeinsamer Traditionen und Werterhaltungen im Rückgang befindet. In den DDR-Lehrbüchern prägt sich am Luther-Bild die Ordnungsvorstellung von „Nation" als Handlungsbestimmung aus; in den Lehrbüchern der Bundesrepublik besitzt die Reformationsdarstellung keinen Bezug auf gegenwärtiges Selbstverständnis und heutige Identifikationswünsche. Ob die Reformation jedoch wirklich als abgelebte Geschichte und toter Knoten in der Chronologie betrachtet werden darf, sollte die Geschichtsdidaktik nicht gleichgültig lassen.

Die nachfolgende Untersuchung faßt Schulbuchtexte als zeitgenössische Dokumente für bestimmte Interpretationen auf, als Quellen für ein Geschichtsverständnis, das mit dem Selbstverständnis von Gesellschaften eng verwoben ist — enger und offenkundiger als gewöhnlich in wissenschaftlicher Forschungsliteratur. Denn Schulbücher sind Vehikel der Verständigung über bestimmte Grundannahmen innerhalb einer Gesellschaft Sie dienen der älteren Generation in einem Zusammenhang staatlicher und gesellschaftlicher Verfassung dazu, der nachwachsenden Generation Gegenstände nicht nur zu überliefern, sondern ihr deren Wert — oder Unwert — auch mitzuteilen. Geschichtsbücher haben ihre Funktion daher in beide Richtungen: intentional der Schülergeneration zugedacht, sind sie funktional zurückgebunden an die Wertvorstellungen und an das Normengefüge ihrer Verfassergeneration über das letztere soll die Untersuchung Aufschluß geben.

I. Behandlung des Themas in Geschichtsbüchern der DDR

Geschichte zu schreiben ist in der DDR keine Privatsache und Geschichtsbuchtexte haben, noch ehe sie die Gestalt einer verbalen und gedruckten Mitteilung erhalten, zuvor ein weitverzweigtes und diffiziles Filtersystem durchlaufen. Wer über einige Jahre hinweg die DDR-Fachzeitschrift „Geschichte und Staatsbürgerkunde" intensiv verfolgt hat, wird den Charakter, ja den Geruch des Normativen kennen, unter dem der Geschichtsunterricht in der DDR reguliert wird. Wie Hans-Georg Wolf in seiner Münsterschen Dissertation unlängst mit großer Sorgfalt nachgewiesen hat, steht der Lehrbuchtext und seine Wandlung am Ende einer stringenten Kette, die bei ZK-Beschlüssen ansetzt und über Lehrpläne, Unterrichtshilfen und Anleitartikel der päd-

dgogischen Akademie bis in die Schule hinein weitervermittelt wird.

Als Vortrag im Oktober 1982 gehalten auf einer von der Niedersächsischen Landeszentrale fürpoliUsche Bildung zusammen mit dem Nds. Institut für ^hrerfortbildung, Lehrerweiterbildung und Unter-r, chtsforschung veranstalteten Tagung in der Poli-

ischen Bildungsstätte Helmstedt Ich danke dem Rektor der Landeszentrale, Herrn Dr. Wollgang Scheel, für sein Insistieren auf dem Thema, das ^ine anfängliche Skepsis überwand und am Ende ^echt behielt.

Die Entwicklung der Schulgeschichtsschreibung der DDR ist also nicht von endogenen Kräften bestimmt, auch nicht durch Rekurs auf wissenschaftliche Forschung. Sie wird vielmehr an der kurzen und straffen Leine von Ideologie und politischer Hauptlinie geführt. Schulgeschichtsschreibung war oft der Wissenschaft voraus, weil schneller zu bestimmen und wichtiger. Michael Stürmer bemerkt dazu, „Die dumpfe Luft in den Hinter-zimmern der Macht" sei für die DDR-Historiographie unbekömmlich gewesen. Ich habe Vorbehalte gegen diese Metapher, stimme aber mit Stürmers Urteil darin überein, daß es irrig wäre, von der gelenkten Beflissenheit in der Vermittlung von Geschichte auf die Bedeutungslosigkeit des DDR-Geschichtsbildes zu schließen.

Unter den kurz skizzierten Umständen ist es nicht verwunderlich, daß 1981 im schon genannten Fachorgan „Geschichte und Staatsbürgerkunde“ 15 „Thesen über Martin Luther" veröffentlicht wurden im Gedenken an den 500. Geburtstag Luthers, und mit einer Vor-laufzeit von knapp zwei Jahren auch sehr rechtzeitig. Als Verfasser zeichnet eine Arbeitsgruppe von Gesellschaftswissenschaftlern der Akademie der Wissenschaften und der Universitäten; die Leitung lag bei Horst Bartel, dem Direktor des Zentralinstituts der Akademie der Wissenschaften.

Die redaktionelle Ankündigung dieser Thesen spricht für sich: „Es wird eine fundierte marxistisch-leninistische Darstellung vorgelegt, die auch uns Geschichtslehrern [sic! ] hilft, unser Geschichts-und Weltbild von der Reformation als einem wesentlichen Bestandteil der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland und vom Wirken Martin Luthers als einer großen Persönlichkeit der deutschen Geschichte von Weltgeltung mit dem neuesten Erkenntnisstand marxistisch-leninistischer Geschichtswissenschaft in Übereinstimmung zu bringen."

Auch für unsere, politisch in dieser Sprache wenig geübten Ohren ist der strikte Verordnungston leicht hörbar. „Thesen" sind es nicht, da eine Diskussion weder vorgesehen war noch stattgefunden hat; vielmehr hat es 1982 eine bekräftigende Berufung auf dieses Papier gegeben. Es handelt sich also um Leitsätze oder Richtlinien. Der Zweck dieser Setzungen ist es, Luther und die Reformation in die Stufung des gesellschaftlichen Fortschritts und der zwangsläufigen Geschichtsentwicklung einzupassen und andererseits zu bekräftigen, daß Luther zu den „die nationale Identität prägenden Traditionen" gehört. Das letztere ist grundsätzlich über die bekannte Argumentationslinie hergestellt, daß die DDR sich verstehen will als „das Ergebnis des Jahrhun derte langen Ringens aller progressive; Kräfte des deutschen Volkes für den gesell schaftlichen Fortschritt" Aber diese Inan spruchnahme muß sich im konkreten Fall au den Nachweis stützen können, daß man es be Luther mit einem positiven Helden und eine; für den gesetzmäßigen Fortschritt der Ge schichte beweiskräftigen Figur zu tun hat. Dieser Nachweis wird in dem Thesen-Papiei auf drei Ebenen geführt: durch eine Beschwichtigung der klassenkämpferischen Widersprüche zwischen Luther und Müntzer unter Berufung auf Marx und Engels, durch Stilisierung der Persönlichkeit Luthers und durch den Nachweis einer klassenkämpferischen Qualität der reformatorischen Leistung, die in klarer historischer Kontinuität auf die Realexistenz der DDR hinstrebt und sich endlich dort verwirklicht: „Luthers progressives Erbe ist aufgehoben in der sozialistischen deutschen Nationalkultur ... Die Würdigung Luthers und seines Werkes schließt auch die Bemühungen und den Kampf jener Kräfte ein, die heute unter Berufung auf Lehre, Vorbild und Leistung Luthers für soziale Gerechtigkeit, Fortschritt und Frieden in der Welt kämpfen."

Dieses heißt, daß die Einverleibung Luthers in die konkrete Identität der DDR nicht nur gelungen, sondern auch abgeschlossen ist -folglich: daß Teilhabe an Luther als einer deutschen historischen Tradition nur noch über den Weg einer Anerkennung von ideologischen Prämissen möglich ist. Dieses scheint mir ein wichtiger Beleg dafür zu sein, daß es uns nicht gleichgültig lassen kann welche historischen Traditionen der deutschen Geschichte von der DDR beansprucht werden. Kein stilisierender Eingriff in die Darstellung von Geschichte ist zu gering, als daß er nicht für die Veränderung der politischen Wirklichkeit instrumentalisiert werden könnte und würde.

Das ernsthafteste Problem für das Luther-Bild im Geschichtsunterricht der DDR stellt sich zweifellos im Gegensatz zwischen Luther und Müntzer vor. Wenn wir diesem Problem naher kommen wollen, gelangen wir auf der hierarchischen Stufung von Richtlinien auf eine tiefere Ebene, also unterhalb der oberen Leitsätze der genannten „Thesen". Wir haben es bei dieser Station unseres Anmarschweges zum Schulbuchtext mit der Schicht von soge-nannten Anleit-Artikeln im pädagogischen Fachorgan zu tun. Die Anleit-Artikel nehmen im wesentlichen die Funktion wahr, oberste Leitlinien zu interpretieren, politische Weisungen in die Praxis des Unterrichts zu vermitteln. Die Gelenkfunktion dieser Anleit-Artikel ist auch offensichtlich wichtiger als der Schulbuchtext. Jedenfalls gelangt man zu diesem Ergebnis, wenn man die Tatsache betrachtet, daß der Schulbuchtext „Luther und die Reformation" im großen und ganzen seit Mitte der sechziger Jahre ein Standardtext ist, der im DDR-Schulbuch ohne wirklich eingreifende und die Substanz berührende Änderungen fortgeschrieben wurde. Wir müssen uns klarmachen, daß wir das, was wir suchen, nämlich ein Luther-Bild, durch textimmanente Interpretation des DDR-Schulbuches wohl finden könnten, daß wir mit diesem Ergebnis der Schulbuchanalyse aber an der jeweils konkret vermittelten Fassung des Bildes vorbeiliefen. Es liegt also eine kompliziertere Quellenlage vor, bei der schlichte Philologie nicht ausreicht, bei der vielmehr das Bedingungsgefüge von Schulbuchtext, variabler politischer Normensetzung und deren konkrete Einpassung zusammengesehen und auf Bedeutung und inhaltliche Interpretation befragt werden muß.

Einen solchen Anleit-Artikel hat Adolf Laube, bezeichnenderweise unter ausdrücklicher Berufung auf die „Thesen", 1982 in „Geschichte und Staatsbürgerkunde" unter dem Titel „Luther und Müntzer in der Erbe-und Traditionsauffassung der DDR" vorgelegt.

Adolf Laube ist Abteilungsleiter im Zentralinstitut für Geschichte in der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Er referiert den Dissens, daß Luther wie Müntzer als „Legitimationsfiguren gegensätzlicher Klassenkräfte" galten, und er versucht zu zeigen, wie — oder doch wenigstens: bis zu welchem Grade — dieser Widerspruch harmonisiert werden kann. Er beabsichtigt damit auch, Zweifel der Lehrerschaft auszuräumen, ob nicht die „hohe Würdigung Luthers ein Abrücken von Thomas Müntzer zur Folge haben" müßte. Zunächst weist Laube auf die Bandbreite der legitimatorischen Inanspruchnahme beider Traditionsfiguren hin: die klassenmäßig nie eindeutige Haltung zu Luther, die breite Skala des Luther-Bildes zwischen Verehrung und Verteufelung; dagegen stehe die Tatsache, daß sich an der Stellung zu Müntzer die Klassenfronten klarer geschieden hätten, daß aber die Müntzer-Legende immer auch „als Kampfmittel gegen die revolutionären Kräfte mißbraucht“ worden sei und daß, umgekehrt, Müntzer von den revolutionären Kräften „häufig anachronistisch überhöht in Anspruch genommen” worden sei.

Danach läßt Laube das geschlossene System von Setzungen, Prämissen und deren Ableitungen abrollen:

— Die DDR sei das „objektive Ergebnis der deutschen Geschichte in ihrem gesamten Verlauf'

— das Verhältnis zu Erbe und Tradition sei „immer und in allen Gesellschaften klassen-mäßig bedingt"

— „Tradition" sei nicht schlechterdings vorgegeben, sei keine natürliche Frucht von Geschichte, sondern Tradition werde gemacht, es handele sich bei ihr stets um einen Vorgang der Selektion;

— daher seien Traditionen nicht unveränderbar, sondern hingen ab von den „gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart und (von) der Klassenauseinandersetzung selbst"

— die Arbeiterklasse im Stande der Machtausübung habe daher auch ein anderes Verhältnis zur Vergangenheit als die erst noch um Macht und Befreiung kämpfende Arbeiterklasse; — die Staatsräson der DDR sei also belastbar geworden, und es müßten daher jetzt auch solche Perioden, Ereignisse und Persönlichkeiten in den Katalog von identitätssichernden Traditionen aufgenommen werden, die vielleicht widersprüchlich seien, aber auf ihre Weise zum Fortschritt beigetragen hätten.

— Mithin also: „Luther und Müntzer gehören in unterschiedliche soziale Traditionslinien der deutschen Geschichte und sind doch in einer dialektischen Einheit miteinander verbunden."

Die dialektische Einheit wird unter der Kategorie des Fortschrittsbegriffs hergestellt, der von Laube als das „zentrale Kriterium für die Wertung historischer Persönlichkeiten" ausgegeben wird. Unter der Kategorie von „Fortschritt", und zwar jenseits aller methodischen und inhaltlichen Zweifel westlicher Geschichtswissenschaft gegenüber diesem Begriff, wird nun auch die Aneignung einer Luther-Tradition möglich, die vorher mit Berührungsverbot belegt war, weil sie der Direktive einer „sozialistischen Parteilichkeit" widersprochen hatte. Luther wird nicht nur erlaubt, sondern er wird mit Müntzer auch vergleichbar, teilweise sogar parallelisierbar, wie etwa in dem ähnlichen Sozialherkommen beider Personen. Unter der Kategorie des Fortschritts können auch die Unterschiede zwischen beiden Personen geradezu folgenlos benannt werden: „Luther wurde der relativ wohlsituierte Universitätsprofessor, Schützling eines Kurfürsten und von dessen Räten, er verkörperte die entstehende, mit dem Bürgertum verbundene und sich — wie dieses — an die Landesherrschaft anlehnende, z. T. auch von ihr materiell abhängige Intelligenz, die sich — wie große Teile des Bürgertums — von kirchlicher Bevormundung und Ausbeutung freimachen wollte. Müntzer war der stets ruhelose, umhergetriebene Prediger, bzw. kleine Pfarrer, materiell und sozial ungesichert, entsprechend seiner sozialen Stellung besonders auf das städtische Kleinbürgertum, auf Plebejer und die Bergarbeiter orientiert."

Diese sozialen Unterschiede greifen auf den theologischen Lehrgehalt über. Während sich für Müntzer Gott nicht allein in der Bibel offenbarte, denn er sprach zu seinen Auserwählten auch direkt (Laube: „Mit lebendiger Stimme" war für Luther die Manifestation göttlichen Willens allein in der Bibel zu suchen. Aber auch diese Differenz wird von Laube geschlichtet: historisch durch den Hinweis, daß die Luther-Bibel die Argumentationsbasis für die Aufständischen des Bauern-kriegs dargestellt haben, ideologisch durch Rekurs auf ein Engels-Zitat, Luther habe der Volksbewegung mit seiner Bibelübersetzung „ein mächtiges Werkzeug" zur Verfügung gestellt.

Luthers Rechtfertigungslehre freilich wird als „eine höchst bequeme Theologie“ der von Müntzers Theologie vertretenen Forderung nach aktivem Handeln, auch gegen gottlose Obrigkeit, entgegengestellt. So erscheint Luther als Initiator einer Bewegung, für die in der DDR-Historiographie der Begriff der früh-bürgerlichen „Revolution" üblich geworden ist, Müntzer dagegen als derjenige, der die Radikalisierung betrieben hat. Nach der Auffassung von Laube sind, gemessen am „objektiven" Gang der Geschichte, beide gescheitert Luther, weil er keine revolutionäre Klassen-politik vertrat, ja im Beharren auf seine Feudalbindungen die Sache der Revolution hintertrieben habe; Müntzer, weil er eine Radikalisierung über das Realisierbare hinausgetrieben habe und sich darin typischerweise im Rahmen dessen halte, was nach dem sozialistischen Geschichtsmodell für bürgerliche Revolution „geradezu gesetzmäßig" ist. Damit gehören Luther wie Müntzer in die „revolutionäre Traditionslinie des deutschen Volkes" auch wenn sie unterschiedliche Klassenpositionen vertreten. Für den Geschichtsunterricht der DDR folgt daraus: „In der DDR ist die kapitalistische Klassenherrschaft ein für allemal überwunden, die Arbeiterklasse hat die Macht und repräsentiert die sich entwickelnde sozialistische Nation; von daher hat sie auch in ihren Erbe-und Traditionsauffassungen ein anderes Verhältnis zu den revolutionären Leistungen des deutschen Bürgertums in seiner Aufstiegsphase. Und so ist es völlig legitim, wenn wir Luther in den revolutionären und fortschrittlichen Traditionen deutscher Geschichte, die die DDR in sich aufgenommen hat, einen ehrenvollen Platz geben, ohne die feste Verankerung Müntzers in unserer Traditionsauffassung auch nur im geringsten zu lockern."

Nun zum Lehrbuchtext selbst. Daß von „Text“ im Singular gesprochen wird, hat doppelte Bedeutung. Es soll einmal darauf hinweisen, daß in der DDR die für die Bundesrepublik typische, bisweilen schwer überschaubare Vielfalt eines Angebots von Unterrichtsmaterialien nicht vorliegt, sondern dort auf nur ein Standardlehrbuch zurückgedämmt ist; und es soll auch heißen, daß der Luther und die Reformation betreffende Text in einem hohen Maße festgeschrieben und alterungsbeständig ist. Das scheint im übrigen auch wenig verwunderlich, da die Aktualisierung des Textes, wie oben gezeigt, auf einem anderen Wege vorgenommen wird. Grundlage der Untersuchung ist Band 6 des Oberstufenlehrwerks . Geschichte", das an der Karl-Marx-Universität in Leipzig entwickelt wurde, und zwar in der Ausgabe von 1966 (also nach dem Gesetz über die sozialistische Schule von 1965)

und im Vergleich dazu an der jüngsten erreichbaren Ausgabe dieses Lehrwerks von 1981

Das Lehrwerk ist chronologisch aufgebaut und umfaßt die Geschichtsstrecke von der Zeitenwende bis zum Augsburger Religionsfrieden. Angesichts dieser gewaltigen Spanne nehmen die etwa 40 Jahre Realgeschichte vom Thesenanschlag 1517 bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555 mit 7% des Gesamtumfanges der Auflage von 1966 und 9% in der von 1981 einen signifikant breiten Raum ein. Die Reformationsgeschichte einschließlich des Bauernkrieges ist an das Ende einer stringenten Entwicklung gestellt: — Niedergang der römischen Sklavenhaltergesellschaft, — Herausbildung des Feudalismus, — volle Entfaltung des Feudalismus, — frühbürgerliche Revolution in Deutschland. Die Stoffanordnung ist nach Ausweis der Titelüberschriften identisch geblieben, die Textfassungen im einzelnen unterscheiden sich nur geringfügig. Veränderungen betreffen vor allem die gleichsam bautechnische Einpassung der Reformationsgeschichte im Bereich des Politisch-Begrifflichen:

„Die Reformation und der deutsche Bauern-krieg" (1966) — „Reformation und Bauernkrieg — die deutsche frühbürgerliche Revolution“ (1981).

„Während Luther auf der Wartburg weilte, nahm die Reformation weiter ihren Lauf" (1966) — „Während Luther auf der Wartburg weilte, schritt die Reformation voran... Sie wurde immer mehr zu einer Volksbewegung" (1981).

Wichtige Änderungen betreffen die im Lehrbuch dargestellte Motivlage, also die Art und Weise, wie die Darstellung durch Begründungen akzentuiert wird. Dieses ist insofern ein wichtiger Punkt, als Begründungen und Urteile in der Geschichtsbuchdarstellung jene Elemente sind, aus denen sich „Bilder“ von Epochen oder Personen formieren. Den genetischen Zusammenhang der in Geschichtsbüchern vorfindlichen Bilder muß man freilich so sehen, daß solche Bilder schon vor der Darstellung vorhanden sind und durch Urteils-normen und einen Horizont der Werte lediglich ausgesteift und vermittelt werden; das analytische Verfahren muß dagegen diese Genesis des Textes „von hinten" entschlüsseln und versuchen, auf der Grundlage von Motiv-zuweisungen eine Eigenart der „Bilder" zu erkennen.

Den Veränderungen im Text des Lehrbuchs von 1981 gegenüber dem von 1966 kommt man nur durch sorgfältigen Vergleich auf die Spur. Sie tasten jedenfalls die Struktur der alten Darstellung an keiner Stelle an, sondern erwecken eher den Anschein bloß redaktioneller Eingriffe. Ich habe insgesamt zehn Textveränderungen festgestellt, die sich ohne Frage auf die vorhin erläuterte Wandlung des Luther-Bildes beziehen lassen. Diese Veränderungen können in drei Zielkategorien unterschieden werden:

a) Das historische Geschehen wird präziser an das Geschichtsmodell des Klassenkampfes angebunden.

Statt des historischen Begriffs „Obrigkeit“ heißt es 1981 „die Herrschenden“. Sogar noch innerhalb des Klassenkampfmodells wird verschoben: Die Reformation wird nicht länger als Phase der „Entwicklung des Kapitalismus“ normiert, sondern wird jetzt mit der Formel „notwendigen Bündnisses zwischen Bürgern und Bauern" auf die von der DDR heute beanspruchte Identität projiziert.

b) Die Person Luthers wird stärker dramatisiert und dabei in Richtung auf Verweltlichung des reformatorischen Inhaltes stilisiert. Während es 1966 lakonisch hieß, die Thesen wurden „vom Volke mit großer Begeisterung aufgenommen", erfolgte in der Lehrbuchfassung von 1981 der wohl umfangreichste Text-eingriff: „Mit dem Thesenanschlag Luthers 1517 begann die Reformation in Deutschland. Der Blitz hatte eingeschlagen. In Windeseile verbreiteten sich Luthers Gedanken in Deutschland, nachdem sie aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt und gedruckt worden waren. Sie wurden mit Begeisterung aufgenommen! — Luther hatte mit seinen 95 Thesen allen Unzufriedenen in Deutschland aus dem Herzen gesprochen. Die Fürsten und der Adel, die reichen Städtebürger, die Bauern und die Stadtarmut — alle glaubten und hofften, daß ihre Forderungen jetzt erfüllt würden. Luther selbst erschrak vor dem gewaltigen Echo, das er hervorgerufen hatte. Eine Revolution wollte er niemals. Ihm genügten Reformen. Aber er sah auch, daß der Thesenanschlag allein noch keine Erneuerung der Zustände brachte."

Die Textrevision von 1981 bedeutet, daß Luthers Person mit dramatisierenden Mitteln hervorgehoben wird. Aber gleichzeitig wird er von den Folgen seines Handelns entbunden. Er erscheint, wie auch mit dem Stilmittel der erfüllbaren Vorausdeutung suggeriert wird, als bloßes Werkzeug einer im übrigen von ihm abgelösten autonomen Entwicklung, Hegel hat Napoleon einmal als „Weltgeist auf dem Schimmel" bezeichnet. Im linken Traditionsstrang der Hegelschen Philosophie gerät Luther zum „Weltgeist mit dem Hammer" an der Wittenberger Schloßkirchentür. Zum anderen wird mit dem Urteil, Luther habe das nicht gewollt, die Folgen hätten ihn erschreckt, der Darstellungstenor des Lehrbuchs auch frei, Luthers subjektives Scheitern angesichts einer „objektiven notwendigen'Entwicklung von Geschichte maßvoller zu beschreiben und einen exkulpierten Luther danach in die gewünschte Normativität der Reformationsdarstellung einzupassen.

Luthers Rechtfertigungslehre als theologisches Kernstück der Reformation wird nicht abgehandelt. Statt dessen wird er durch zwei Texteingriffe zum Problem des Widerrufs seiner Lehre mit der persönlichen Qualität von prinzipientreuer Furchtlosigkeit ausgestattet Lutherische Lehrgehalte werden aus dem Zusammenhang des Bauernkrieges genommen — „der Christ solle keinen Aufruhr anstiften, erklärte er" — und stellen Luther damit als Vertreter einer irrelevanten, weil von historischer Gesetzmäßigkeit widerlegten Norm dar.

Insgesamt also läßt sich an den innerhalb dieser Zielkategorie zu beobachtenden Änderungen erkennen, wie Luther, sorgfältig bemessen, individuelle Züge erhält, die jedoch gleichzeitig zum Zweck der besseren ideologischen Akzeptanz auf die Norm des überindividuellen Geschehens verpflichtet werden, c) Die Begründung für das Scheitern der „deutschen frühbürgerlichen Revolution" wird ausführlicher.

Während 1966 das Scheitern nur aus zwei Wurzeln entwickelt wurde (das Bürgertum war zur Machtübernahme noch unfähig, der Kapitalismus war noch zu wenig ausgeprägt) wird 1981 den Schülern ein wesentlich vermehrter Katalog vorgestellt: Die Aufständischen hatten zu unterschiedliche Interessen: es fehlte ihnen die einheitliche Führung; Sie waren zu vertrauensselig; sie wurden von den Städten im Stich gelassen. Über diese strategisch-politischen Argumente hinaus aber wird noch der bemerkenswerte Satz hinzuge stellt: „Die Bürger waren für Luthers Reformation, aber eine Müntzersche Volksreformation fürchteten sie.“

Mit diesem neuen Urteil wird nicht eigentlich die früher behauptete Unfähigkeit des Bürgertums zur Machtübernahme ausdifferenziert, sondern der Satz erfüllt vor allem die Funktion, eine Konvergenz zwischen Luther und Müntzer wenigstens anzubahnen. Ebenso wird der ideologische Akzent von dem globalen Problem der Entwicklung des Kapitalismus zum klassenmäßigen Akzent eines „notwendigen Bündnisses zwischen Bürgern und Bauern“ verschoben.

Offensichtlich ist im Luther-Bild des DDR-Lehrbuches die Rekonstruktion von Vergangenheit nach dem Maßstab der politischen Tagesförderung gelungen. Dieses zeigt sich vor allem darin, daß auf dem Wege einer Einebnung historischer Widersprüche das Luther-Bild in dieser Deutung befähigt wird, in die von der DDR angestrebte nationale Identität integriert zu werden, und zwar bruchlos und als tragendes Element der für 1983 angekündigten Feiern

II. Geschichtslehrbücher der Bundesrepublik Deutschland

Durch die Einbeziehung der in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Lehrbücher erhält die Analyse einige Eigenschaften der Komparatistik. Es muß zunächst allerdings auf zwei Stellen hingewiesen werden, wo einem Vergleich enge Grenzen gesetzt sind:

a) Bei dem Geschichtsbuch der DDR haben wir es mit einer einzigen, monolithischen . Quelle" zu tun. In der Bundesrepublik dagegen öffnet sich mit Lehrbüchern ein weit streuendes Feld, und zwar auch dann noch, wenn wir unter Konzentration auf den Typus lehrbuch“ die ganze Fülle an Themenheften, Quellensammlungen und Unterrichtsmodellen fortlassen.

b) Die reformierte Oberstufe („Sekundarstufe II“) im Schulsystem der Bundesrepublik ist ohne Pendant in der DDR. Für diese Schulaltersstufe entsteht allmählich neues Unterrichtsmaterial, dessen Vergleichbarkeit mit dem der DDR enge Grenzen gesetzt sind. Der Vergleich wird vor allen Dingen aus zwei Gründen nahezu unmöglich: weil die thematisch konzipierten, aber urteils-und wertungspluralen Lehrmittel in der Bundesrepublik Deutschland mit dem inhaltlich themenpluriformen, aber wertungskonformen Geschichtsbuch der DDR verglichen werden müßten. Ein Vergleich wird auch deshalb erschwert, weil vorerst noch gar keine Aussagen über die Nutzungsrepräsentativität des Lehrbuchmaterials der Sekundarstufe II vorliegen. Aus diesen Gründen wird das Untersuchungsfeld hier eingegrenzt und beschränkt sich auf die Lehrbücher der Sekundarstufe I. Auch dabei ist es nicht möglich, die über 20 zugelassenen Lehrbücher insgesamt zu fassen, sondern es muß eine Gruppe von Lehrbüchern bestimmt werden. Bei dieser Gruppe dagegen ist die Frage der Repräsentativität gelöst. Die folgenden sechs Lehrbücher bilden die repräsentative Spitzengruppe:

1. Fragen an die Geschichte (Hirschgraben) 2. Geschichtliche Weltkunde (Diesterweg) 3. Spiegel der Zeiten (Diesterweg) 4. Zeiten und Menschen (Schöningh/Schroedel) 5. Menschen in ihrer Zeit (Klett) 6. Grundzüge der Geschichte (Diesterweg) Die Repräsentativität dieser Lehrbücher wird aus dem Verhältniswert ihrer Zulassungsquote in den einzelnen Ländern und der Schülerpopulation dieser Länder im Bereich der Sekundarstufe I geschlossen Wenn wir die Zulassung in allen Bundesländern mit dem Wert 11 ansetzen, so erreicht diese Lehrbuchgruppe insgesamt den durchschnittlichen Zulassungswert 7. Damit steht ihre Repräsentativität außer Zweifel.

Problematisch ist allein die Einbeziehung von „Fragen an die Geschichte", und zwar aus zwei Gründen: Einmal handelt es sich um einen Lehrbuchtypus, der in extremer Weise auf Quellen zugeschnitten ist und der sich deshalb auch aus der Gruppe der Lehrbücher narrativen Stils isoliert; zum anderen wird nach vorliegenden Informationen dieses Lehrbuch dadurch nicht gängig in der Unterrichtspraxis verwendet, sondern — als ein in den Schulen vorhandener Klassensatz — bei vorwiegend methodenbetonten Unterrichts-blöcken eingesetzt. Beide Charakteristika betreffen das Problem der Repräsentativität, so daß aus diesem Grunde das Werk hier nicht behandelt wird.

Die Lehrbücher bilden allesamt Ereignisgeschichte ab. Je weiter ihre ursprüngliche Konzipierungsphase zurückliegt, desto klarer tritt dieses Merkmal hervor. Das ist vor allen Dingen aus dem Gegensatz zu beobachten, der sich mit dem jüngsten Lehrbuch dieser Gruppe, mit Wolfgang Hugs „Geschichtlicher Weltkunde", vorstellt, das unter der klaren didaktischen Perspektive konzipiert ist, daß die Schüler mit diesem Buch lernen sollen, ge-schichtlich zu denken. Die Narrativität de Darstellung ist vor allem mit dem Mittel de Frage aufgebrochen worden — z. B. „Warur hat man die Kirche kritisiert?'1, „Was hat Lu ther gewollt?", „Was hielten die Bauern fü ungerecht?“, usw. Der didaktische Moderni tätsvorsprung dieses Lehrbuchs ist offensicht lieh.

Im Umfang der Reformationsdarstellung er gibt sich, daß die Lehrbücher der Bundesrepu blik im statistischen Mittel (7, 5 %) nur gering fügig hinter der DDR-Darstellung zurückblei ben. Aber sie präsentieren sich im wahrster Sinne „bunter", zerlegen den Text in eine Viel zahl von Aggregatszuständen wie Bildunter Schriften, farbig unterlegte Quellenauszüge Arbeitsaufgaben, Fragen zur Verständnissi cherung, Lernziele, Auszüge aus wissenschaftlicher Literatur, Stichworte, Begriffsdefinitionen, Datentabellen, Register usw. Damit heben sie sich deutlich von der auch formalen Monochromie des DDR-Lehrbuchs ab. Horst Rumpf hat auf dem 34. Historikertag in Münster (Oktober 1982) Einwände gegen diesen Darstellungsaufwand vorgetragen Er hat diese Einwände allerdings aus dem Urteilshorizont des Erwachsenen abgeleitet, und die Frage, ob Schüler damit gut zurecht kommen oder ob sie wirklich eher verwirrt werden, wurde weder gestellt noch beantwortet. Großes Gewicht legen die Lehrbücher der Bundesrepublik vor allem auf drei Themen-aspekte: a) auf die Biographie Luthers, die ausführlicher als im DDR-Lehrbuch abgehandelt wird, in dem nur die soziale Herkunft Luthers zum Zweck seiner revolutionären Klassenverortung betont wird;

b) auf die sich ausweitende Ablaufgeschichte — vom reformatorischen Impuls (Thesenanschlag) über die Erfolglosigkeit der inner kirchlichen Disputationen bis hin zum offenen Bruch auf dem Wormser Reichstag;

c) auf das von Luther entwickelte und vorgetragene theologische Argument, das im DDR-Lehrbuch lediglich in der verkürzten, nämlich politikauslösenden und klassenkämpferische Normen bestätigenden Funktion angezogen wird.

Ein weiterer Aspekt, der die Lehrbücher der Bundesrepublik insgesamt von dem der DDR abhebt, ist, daß Reformationsgeschichte in einen viel breiteren Kontext eingebettet wird, der sich auch territorial nicht auf die Vor-gänge in den deutschen Landen beschränkt.

Wo das DDR-Lehrbuch auf einem spezifisch deutschen Vorgang beharren muß, um den Terminus von der „deutschen frühbürgerlichen Revolution" inhaltlich zu belegen, weiten die Lehrbücher der Bundesrepublik den Blick auf die reformatorischen Vorgänge in der Schweiz, Frankreich und England aus.

Freilich gelingen ihnen dabei vorerst nur Ansätze zu einer Komparatistik, auch im Bereich der Theologie, wo es mindestens nahegelegen hätte, weiterzugehen. Aber es wird damit der epochale Einschnitt markiert, den die Reformation darstellt. Dabei ergeben sich beträchtliche Unterschiede in den Begründungen. Wo das DDR-Lehrbuch auf einer „Revolution" mit klassentypischen Merkmalen insistiert, zeichnen die Lehrbücher der Bundesrepublik den Epochencharakter aus dem Weiterwirken der Reformation. Im DDR-Lehrbuch liegt eine zur >national" -identischen Schrumpf-These verengte Darstellung des komplexen historischen Ereignisfeldes vor; die Lehrbücher der Bundesrepublik zeichnen die Reformation dagegen als ein Explosionsmodell unter Verzicht auf „nationale“ Identifikation.

Diese Eigenschaft der Lehrbücher der Bundesrepublik Deutschland wird an zwei Themen deutlich, die im DDR-Lehrbuch gar nicht °der spezifisch anders in den Blick treten. Lehrbücher der Bundesrepublik sind auferund dieser Strukturvorgabe frei, habsbur? sch bestimmte Reichsgeschichte in ihrer Relation zum reformatorischen Geschehen in d'e Darstellung mitaufzunehmen; folglich iso-deren sie die Reformationsgeschichte viel we" ger und tun sich deshalb insgesamt leichter, die europäische Bedeutung des Vorgangs zu markieren. Ferner erläutern sie — übrigens mit durchgängig positiven Urteilen — die Entstehung des Landeskirchenregiments der Fürsten unter dem Doppelaspekt von Macht-gewinn und neuen Pflichten; das DDR-Lehrbuch dagegen sieht hierin keine qualitativ neue Struktur, sondern nur die Fortdauer des alten Übels, d. h., es subsumiert den Vorgang unter die klassenkämpferische Begriffstypik des Scheitern der „Revolution“ und die Fortdauer überkommener Unterdrückungsinstrumente.

Dies alles bedeutet, daß die Gestalt Luthers in den Lehrbüchern der Bundesrepublik sowohl individueller als auch allgemeiner wird. Individuellere Züge erhält das Luther-Bild dadurch, daß er viel häufiger und pointierter in Selbstzeugnissen spricht, als dieses im DDR-Lehrbuch der Fall ist. Allgemeiner wird sein Bild dagegen durch die Einordnung in einen ungleich breiteren Rahmen, durch Eingliederung in ein komplexes und vielfältig abschattiertes Feld von Ereigniszusammenhängen. Die Darstellung Luthers in den Lehrbüchern der Bundesrepublik wird damit aus der Pflicht entlassen, die Reformation unter dem unfruchtbaren Gegensatz von Lutherscher Subjektivität und historischer „Objektivität" zu begreifen. Natürlich ist Luther auch in den Lehrbüchern der Bundesrepublik „erschrokken" über das, was er auslöste; aber er darf als Person erschrecken, weil seine Emotionen nicht durch die Optik einer marxistischen Überbau-Theorie gebrochen werden.

Wirklich bemerkenswert in den Lehrbüchern der Bundesrepublik ist die Ausführlichkeit, mit der die Theologie Luthers dargestellt wird. Nicht so sehr die Streitschrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten" des Bauernkrieges steht im Zentrum der Darstellung, sondern die große Luthersche Ausgangsfrage nach dem „gnädigen Gott". Es wundert nicht, daß das DDR-Lehrbuch aus systematischen Gründen dieses zentrale Bekenntnisthema herunterspielt. Wenn man sich einen Überblick über die Religionsbücher der Bundesrepublik verschafft, so wird man finden, daß die Geschichtslehrbücher gerade bei diesem Thema, offenbar schon seit längerer Zeit, Stellvertreterfunktionen für die im Reli-B gionsunterricht ausgefallene Luther-Darstellung übernommen haben

Im Vergleich mit dem DDR-Lehrbuch wird in den Lehrbüchern der Bundesrepublik auf diese Weise zutreffender beantwortet, weshalb Luther so unerhörten Widerhall gefunden hat. Die Erklärung der Reformation aus Strukturdefekten einer Frömmigkeitsverwaltung durch die katholische Kirche nach verweltlichtem Muster, wie sie im DDR-Lehrbuch unter dem Aspekt des Klassenkampfes, in den Lehrbüchern der Bundesrepublik unter dem einer organisatorischen Erschöpfung dargestellt wird — diese Erklärung wird überhaupt erst durch das Referat zentraler theologischer Positionen lebenskräftig und argumentationsfähig.

Das biographische Element Luthers ist im DDR-Lehrbuch auf seine klassenmäßige Verortung reduziert und besitzt damit lediglich den Wert eines Belegs für die Tauglichkeit des „historischen Werkzeugs" Luther in der Fortentwicklung eines geschichtsnotwendigen Prozesses. Luther ist dort allein Instrument, an seiner Person hängt nichts. Dagegen zieht die Reformationsdarstellung in den Lehrbüchern der Bundesrepublik ihre Nahrung aus zwei Wurzeln: aus der Individualität einer historischen Persönlichkeit und aus der Struktur von Verhältnissen, in denen diese Persönlichkeit gewirkt hat. Was unter das Stichwort eines „Explosionsmodells" für die Geschichtsbücher der Bundesrepublik festgestellt wurde, nämlich die Ausweitung auf außerdeutsche Reformationen und allgemeine Reichsgeschichte, setzt sich mit der Personalisierung Luthers nach innen fort. Das Erklärungsmodell ist damit anspruchsvoller und korrespondiert wegen dieser seiner Komplexität enger mit der historischen Forschung, deren Position in einer auch für die Schule nutzbaren Form am ausführlichsten bisher Heinrich Bornkamm dargestellt hat.

III. Zusammenfassung

Die Darstellung Luthers im Lehrbuch der DDR und in den Lehrbüchern der Bundesrepublik Deutschland verdeutlicht mehrere Probleme, die bei der Verwendung von Geschichte nicht nur in der Form der Lehrbuch-darstellung, sondern ganz allgemein aufzutreten pflegen

1. über einen identischen „Gegenstand" können völlig verschiedene Geschichten erzählt werden. Dieses erfolgt immer dann, wenn die sinnbildenden Normen für die Rekonstruktion von Geschichte verändert werden. Es erfolgt sogar dann, wenn die gleichen Normen einer Sinngebung von Geschichte bei der Rekonstruktion von Geschichte in unterschiedlicher Schärfe angewandt werden.

2. Historisches Denken gründet sich auf historiographisches Erzählen, weil historisches Denken auf die Vorgabe von Normen und Struktur der Geschichtsrekonstruktion angewiesen ist. 3. Historiographisches Erzählen kommt dem Bedürfnis des Menschen nach bestimmten Formen stabiler Identität entgegen. Es erfüllt die Grundfunktion einer Identitätsbildung auf dem Wege der Erzeugung von Kontinuitäts-Vorstellungen. 4. Je stärker staatliche Herrschaft auf eine spezifische Legitimation angewiesen ist, desto schärfer tritt die Normativität historiographisehen Erzählens im Schulbuch in Erscheinung. Identitätsbildung scheint demnach ein Mittel unter anderen zur Legitimation von Herrschaft zu sein. 5. Historiographisches Erzählen schafft ein Bewußtsein von historischen Traditionen. Diese sind jedoch nicht allein Ergebnisse einer schwer bestimmbaren allgemeinen Entwicklung des kollektiven Bewußtseins von Gesellschaften und Gruppen, sondern sie werden auch gezielt gemacht. In beiden Fällen sind historische Traditionen nicht als „historisch" im Sinne von „vergangen“ zu bewerten, sondern sie sind direkte Gegenwart und haben handlungsleitende Eigenschaften. 6. Das Ensemble an gemeinsamen Traditionssetzungen und Werthaltungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland befindet sich in einem stetigen Rückgang. Das wird durch das Luther-Jahr 1983 sicherlich ebenso bestätigt werden wie durch das Preußen-Jahr 1982. Diese Entwicklung ist nicht historisch entstanden, sondern politisch gewollt. Geschichte ist für die DDR ein wichtiges 1-

Element zur innergesellschaftlichen Stabilisierung und eigenstaatlichen Legitimation.

8. Die Veränderung der gemeinsamen historischen Herkunftskonstruktion, die zwischen der Bundesrepublik und der DDR eingesetzt hat, ist auch als ein effektives Mittel für politische Abgrenzung zu bewerten.

Wenn man über den Traditions-und Emotionshaushalt der Geschichtsbücher hüben und drüben nachdenkt und solche Einblicke gewinnt wie hier im Luther-Bild, so läßt sich daraus — hält man an der Gemeinsamkeit der Nation fest — schließlich doch nur die Fordeung nach pädagogischer Ausdauer, politischer Phantasie und zäher Kraft zur Verteidigung historischer Gemeinsamkeiten folgern.

Nicht forsche Töne, pauschale Behauptungen und polemische Kurzschlüsse sind gefragt, sondern die Bereitschaft, sich auch auf signifikanten Kleinfeldern in die Vielschichtigkeit des deutsch-deutschen Verhältnisses einzulassen und damit seinen Wandlungen angemessen zu begegnen. Die Geschichte selbst sollte uns wenigstens dieses lehren, daß Konkurrenzverhältnisse und Gegensätze auf längere Dauer nicht durch den Einsatz von politischer Macht entschieden werden, sondern durch intellektuelle und moralische Überzeugungskraft — also auf einer Ebene der Qualität.

Dazu gehört, daß andere historische Rekonstruktionen in Inhalt und politischer Funktion ernst genommen werden; daß am historischen Material und mit verläßlicher Methode geprüft, kritisiert und diskutiert wird; und daß auch die eigene, vielleicht liebgewonnene Rekonstruktion von Geschichte dieser Diskussion ausgesetzt wird. Gemeinsamkeiten finden sich sicherlich nicht in einem gleichen Geschichtsbild, wohl aber darin, daß sich der Diskurs auf die gleiche Geschichte bezieht Auf der Ebene der Schulbuchdarstellung läßt sich vorerst nur feststellen, daß der bilaterale Diskurs weder als Aufforderung noch als Problem wahrgenommen wird.

Das Auseinanderklaffen der Darstellungstypen und -modi wird unter der Frage nach der Verwendung von Geschichte evident Bei der DDR wird an Luther die inhaltliche Bestimmung dessen, was Nation sein soll, zu einer handlungsbestimmten Ordnungsvorstellung — sichtbar schon allein daran, daß mit der „frühbürgerlichen Revolution" der Sinn der Reformationsgeschichte als erschöpft erkannt wird, daß hier der Band des Lehrwerkes endet und daß die Gegenreformation oder „katholische Erneuerung" überhaupt nicht mehr thematisiert wird. Geschichte ist der auf inhaltliche Normen eines Kollektives bezogene Beweisgegenstand. Er wird abgelegt, sobald sich sein direkter Nutzen erschöpft hat In den Lehrbüchern der Bundesrepublik Deutschland hat die Reformationsdarstellung dagegen keinerlei Bezug auf ein heutiges Selbstverständnis. Ansätze zur Identifikation sind sorgfältig getilgt. Da die Geschichte weitergeht, verschwindet die Reformation. Sie bezeichnet nur einen Knoten in der Chronologie, wird auch später nicht mehr aufgenommen. Die Reformation wird damit zur „abgelebten" Geschichte, ohne Bedeutung für heute und ohne einen legitimatorischen Willen. Lehrbuchdarstellungen, die auf solche Weise „unmittelbar zu Gott" geordnet und keimfrei gehalten werden, arbeiten jedoch einer Geschichtsdidaktik nicht in die Hand, die ihre Legitimität und Zielenergie aus der Bestim-mung von inhaltlichen Werten folgert. Insofern stehen die Lehrbücher der Bundesrepublik in ihrer Reformationsdarstellung quer zu dem, was das Unterrichtsfach „eigentlich" soll.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Schulbuchforschung allgemein vgl.den präzisen und gedankenreichen Überblick: Karl-Ernst Jeismann, Internationale Schulbuchforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/82 (11. 9. 1982), S. 27— 37.

  2. Grundlegend für unser Thema ist Josef Foschepoth, Reformation und Bauernkrieg im Geschichtsbild der DDR. Zur Methodologie eines gewandelten Geschichtsverständnisses (= Historische Forschungen 10), Berlin 1976. Vgl. auch neuerdings Rainer Wohlfeil, Das wissenschaftliche Lutherbild der Gegenwart in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik, Ein Vergleich. Hrsg. v. d. Nds. Landeszentr. f. pol. Bildung. Hannover 1982.

  3. Hans-Georg Wolf, Die Entwicklung des Geschichtsunterrichts in der DDR von 1955 bis 1975, Diss. phil. (Münster) 1979.

  4. Michael Stürmer, Ein Preußen für die DDR — umstrittenes Erbe, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 9 (1982), S. 582— 589 (Zitat: 590).

  5. „Thesen über Martin Luther", in: Geschichte und Staatsbürgerkunde 10 (1981), S. 906— 918 (ebenfalls publiziert in: Einheit 9 (1981), S. 890— 903).

  6. Ebenda, S. 906.

  7. Ebenda.

  8. Ebenda, S. 918.

  9. Adolf Laube, Luther und Müntzer in der Erbe-Und Traditionsauffassung der DDR, in: Geschichte Jud Staatsbürgerkunde (1982), S. 691 ff. u. 749ff. Es handelt sich um Laubes erweiterten Diskussions-Deitrag auf der Tagung des Rates für Geschichts-Wssenschaft zum Problem von Tradition und Erbe dazu auch Horst Bartel/Walter Schmidt, Hi-8 “ risches Erbe und Traditionen — Bilanz, Proble-m& Konsequenzen, in: Zs. f. Geschichtswss. 9 (1982), -816— 829).

  10. Ebenda, S. 691.

  11. Ebenda.

  12. Ebenda.

  13. Ebenda, S. 692.

  14. Ebenda.

  15. Ebenda.

  16. Ebenda.

  17. Ebenda, S. 693.

  18. Ebenda, S. 694.

  19. Ebenda.

  20. Ebenda, S. 695.

  21. Ebenda.

  22. Ebenda, S. 696.

  23. Ebenda.

  24. Geschichte, Bd. 6. Entwickelt unter Verantwor-wng der Fachrichtung Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Leitung des Autorenkol«tivs: Rigobert Günther, Hans Hermes, Berlin W Volk und Wissen) 1966 (1. Aufl.).

  25. Geschichte, Bd. 6. Entwickelt unter Verantwor-ing der Sektion Geschichte an der Karl-Marx-universität Leipzig, Leitung des Autorenkollektivs: ans Wermes, Sieglinde Müller, Berlin (Vig. Volk und Wissen) 1981 (4. Aufl.).

  26. Vgl. ebenda. S. 187.

  27. Für die staatlich-ideologischen Konturen vgl. Martin Luther und unsere Zeit. Konstituierung des Martin-Luther-Komitees der DDR am 13. Juni 1980 in Berlin, Berlin (Aufbau-Vlg.) 1980.

  28. Christenheit, bearb. v. Wilhelm Borth .. „ Frankfurt/Main (Hirschgraben) 1980 (5. Auf!.).

  29. Geschichtliche Weltkunde, 2: Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Von Wolfgang Hug, Wilfried Danner u. Hejo Busley, unter Mitarb. v. Franz Bahl, Frankfurt/Main (Diesterweg) 1975 (2. Auf!.).

  30. Spiegel der Zeiten, B 2: Vom Frankenreich bis zum Westfälischen Frieden. Von Hejo Busley, unter Mitarb. v. Franz Bahl, Frankfurt/Main (Diesterweg) 1975 (8. Aufl.).

  31. Zeiten und Menschen, B 2: Die Zeit der abendländischen Christenheit (900— 1648). Bearb. v. Robert Hermann Tenbrock u. E. Goerlitz, Paderborn-Hannover (Schöningh-Schroedel) 1978 (überarb. Neuaufl., 3. Druck).

  32. Menschen in ihrer Zeit, 2: Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Von Wolfgang Hug, Erhard Rumpf und Joist Grolle, Stuttgart (Klett) 1976 (1. Aufl., 8. Druck).

  33. Grundzüge der Geschichte, 2: Vom Franken-reich bis zum Westfälischen Frieden. Bearb. v. Joachim Herbst..., Frankfurt/Main (Diesterweg) 1975 (11. Aufl.).

  34. Ich beabsichtige, zu dieser Frage ein praktikables Rechenmodell zur Diskussion zu stellen, das auf die Kenntnis der wirklichen Marktanteile von Lehrbüchern verzichten kann. Diese letzteren Informationen werden von den Lehrbuchverlagen als Geschäftsgeheimnis betrachtet und stehen daher bekanntlich nicht zur Verfügung.

  35. Eine Veröffentlichung seiner Ausführungen, zusammen mit denen von Joachim Rohlfes (Leiter der Sektion), Bodo v. Borries und Heinz Dieter Schmid wird in der Zeitschrift GWU erfolgen. — Es wäre vermutlich sehr aufschlußreich, diesen Ausführungen die inzwischen in Form von Arbeitsbericht® vorliegenden Ergebnisse der in der DDR betriebenen empirischen Unterrichts-und Lehrbuchforschung gegenüberzustellen, die nach Standardkonditionen für die Optimierung von Lernergebnissen (und entsprechender Gestaltung von Schulbüchern! sucht.

  36. Zu den Religionsbüchern der späten sechziger Jahre vgl. Irmgard Hantsche, Die Reformation als Thema des Geschichts-und Religionsunterrichts und ihre Darstellung in Schulbüchern für die Sekundarstufe I, in: Zur Sache Schulbuch, Bd. 3 (1973), S. 64— 87.

  37. Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Göttingen 1970 (2. neu bearb. u. erw. Aufl.). Bornkamms älteres Quellenheftchen dürfte dagegen kaum noch benutzt werden: Luthers Bild in der deutschen Geistesgeschichte, Stuttgart (Klett) o. J., 48 Seiten. -Als neuere Arbeiten vgl. die beiden Beck'schen Elementarbücher: Bernhard Lohse, Martin Luther Eine Einführung in sein Leben und sein Werk. München 1981-, Rainer Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982. — Eine gute Orientierung zur internationalen Darstellung in Schulbüchern ist noch immer: Reformation und Gegenreformation in den Schulbüchern Westeuropas, Schriftenreihe des Internat Schulbuchinstituts, Bd. 20, Braunschweig 1974.

  38. Für die nachfolgenden, relativ abstrahierenden Überlegungen habe ich wichtige Anstöße einer vom Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig, veranstalteten Arbeitstagung zu verdanken, die dem Problem . Geschichte als Legitimation“ gewidmet war (November 1981). Das Institut plant die Veröffentlichung der Tagung als Band seiner Schriftenreihe.

Weitere Inhalte

Wolfgang Jacobmeyer, Dr. phil., geb. 1940; seit 1978 stellv. Direktor am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig; Studium der Geschichte und Germanistik in Hamburg, Oxford und Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Heimat und Exil. Die Anfänge der polnischen Untergrundbewegung im Zweiten Weltkrieg, 1973; Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939— 1945, eingel. u. hrsg. zus. m. Werner Präg, 1975; Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland: Eine Dokumentation, 1979; Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945— 1951, erscheint 1983; Aufsätze zu Fragen der Zeitgeschichte.