Zur religiösen Problematik unseres Weltbezugs
Die Titelfrage scheint — nach evangelischem Verständnis — ein Ärgernis. Martin Luther, der Reformator, und Thomas Müntzer, der ... Hier stockt man schon als Lutheraner. Wer war er eigentlich, der Müntzer? Was ist er uns? Das Skandalon scheint noch empörender, wählt man die alternative Fragestellung: Luther oder...? Die Gegensätze kommen hier zwar besser zum Ausdruck, eben deshalb aber ist das gar keine Frage, könnte man meinen: hie Leitfigur — da Negativfigur? Indes, was ist denn hier das Positive, das von einem Negativen zu sprechen erlaubte? Anders gefragt: Wer war et eigentlich, der Luther? Was ist er uns?
Die Frage nach Luther mag hierzulande abwegig klingen; wie wenig sie es tatsächlich ist, bezeugen renommierte Lutheraner. So bedauert Walther von Loewenich „bei evangelischen Theologen ... eine schmerzliche Lutherfremdheit" und Gerhard Müller, Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche von Braunschweig, beklagt die „Luther-Vergessenheit“ im deutschen Protestantismus der Gegenwart Kaum einer, der den Namen nicht kennt. „Aber die Gestalt selbst scheint weit entfernt, entrückt von allem, was die Gegenwart berühren könnte — längst eine Beute der Wissenschaft, die ihn selbstgenügsam pflegt und konserviert." Daß dem nur so zu sein scheint, wird zunehmend offenbar mit der Nähe jenes Datums, das derzeit auf die Medien und die gesamte Kulturindustrie nachgerade suggestive Wirkung ausübt: die fünfhundertste Wiederkehr von Luthers Geburtstag. Sie bietet — nicht allein der Kultur-industrie — willkommenen Anlaß, der Wissenschaft ihre „Beute" zu entreißen, um sie einer breiten Öffentlichkeit — marktgängig aufbereitet — darzureichen. So falsch das Bild in gewisser Hinsicht ist, denn entrissen wird hier nichts — im Gegenteil! —, so richtig ist der Vorgang der Vermarktung, dringt doch bereits jetzt die mediale Popularisierung Luthers in alle Ecken und Enden kollektiven Bewußtseins. Ob die mit dieser Geschäftigkeit der Bewußtseinsindustrie produzierte Quantität auf Seiten des Publikums in Qualität umschlagen wird, mag bezweifelt werden. Das Beispiel jüngsten Goethe-Gedenkens könnte Skepsis angebracht erscheinen lassen. Jedoch die beiden „Gewaltigen" aus der Gilde deutscher Geistesheroen sind nicht so ohne weiteres in Analogie zu setzen.
Luther, „ein konservativer Revolutionär"
Noch immer ist bedenkenswert, was Thomas Mann in seiner berühmten Rede „Deutschland und die Deutschen" hierüber sagte. Luther charakterisiert er als „eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens" und bekennt: „Das Deutsche in Reinkultur, das Separatistisch-Antirömische, Anti-Europäische befremdet und ängstigt mich, auch wenn es als evangelische Freiheit und geistliche Emanzipation erscheint." Demgegenüber habe mit Goethe „Deutschland in der menschlichen Kultur einen gewaltigen Schritt vorwärts getan — oder sollte ihn getan haben; denn in Wirklichkeit hat es sich immer näher zu Luther als zu Goethe gehalten."
Auf Luther und Goethe bezieht sich Thomas Mann in diesem Kontext nicht primär als auf konkrete Personen, vielmehr spricht er ihnen als in davon abstrahierter Form Geschichts-mächtigkeit zu. Er unterstreicht das, indem er feststellt, „daß Luther ein ungeheuer großer Mann war, groß im deutschesten Stil, groß und deutsch auch in seiner Doppeldeutigkeit als befreiende und zugleich rückschlägige Kraft, ein konservativer Revolutionär" Deutlich werde das durch Luthers ablehnende Haltung gegenüber dem „Bauernaufstand, der, evangelisch inspiriert, wie er war, wenn er gesiegt hätte, der ganzen deutschen Geschichte eine glücklichere Wendung, die Wendung zur Freiheit hätten geben können ... Für den traurigen Ausgang dieses ersten Versuchs einer deutschen Revolution'* trage der Wittenberger „ein gut Teil Verantwortung" Ihm, der „voll deutscher Bejahung tragischen Schicksals" bestätigt Thomas Mann, „das spezifisch und monumental Deutsche“ darzustellen, eines, das „antipolitische Devotheit" präge, „repräsentativ ... für das kerndeutsche Auseinanderfallen von nationalem Impuls und dem Ideal politischer Freiheit“ Thomas Mann, der nur Goethe „mit wahrer Herzensneigung" zugetan ist, während der „stiernackige Gottesbarbar" aus Wittenberg in ihm recht zwiespältige, eher zur „Abneigung" tendierende Empfindungen hervorrief, sagt Luther und meint die Deutschen.
Das von ihm dargestellte Lutherbild zeigt den Reformator in mythischer Abstraktion.
Dergestalt mythisiert, wird Luther auch in der Gegenwart — da verschämter, dort unverschämter — ideologisch in Dienst zu stellen versucht. Man bemächtigt sich seiner, um das jeweilige System der Welterklärung aus einem obersten Wert heraus zu beglaubigen.
Die solcherart verfertigten Luther-Bilder widerspiegeln freilich eher die Weltbilder derer, die sie schufen, als die Denkwelt jenes „Riesen an Denkkraft" (Engels), dessen Vorbild sie nachzueifern trachten. Während so der mythische Luther gebraucht wird, die Gesellschaftsteilnehmer untereinander und miteinander auf allgemeingültige Wertüberzeugungen zu verständigen, ihnen eine systemkon-
Zugehörigkeits-und Identitätsform zu forme geben, geriet und gerät der wirkliche Luther immer mehr zum unbekannten Luther.
Der Denkhaltung, aus der heraus das geschieht, verdankt Luther entscheidende Impulse. Er hat, im Vorgriff auf ein neues Zeitalter, die Weltlichkeit der Welt und damit auch ein von weltlicher Vernunft geleitetes Handeln der Christen anerkannt. Mit dieser weltlichen Rationalität, die dem Menschen der Neuzeit sein Selbstverständnis wesentlich verleiht, gesellt sich zur vertikalen Denkrichtung eine horizontale. Einen wichtigen Anstoß für solches Denken gewahrte Luther, sich vom Mittelalter abwendend, in der Natur des Menschen, der nicht wolle, daß Gott Gott ist, vielmehr möchte, daß er Gott und Gott nicht Gott sei. Was er jedoch im Zusammenhang mit dieser 17. These aus der Disputation gegen die scholastische Theologie (1517) als Gegenposition zur Heilsgewißheit theologisch forderte, eingrenzte und legitimierte: die im menschlichen Denken sich findende Gewißheit, das verselbständigte sich in der Neuzeit — je näher der Gegenwart, desto stärker — und versuchte, sich aller christlichen Bedingtheit zu entledigen.
Dieser Art denkerischer Selbstverwirklichung und Lebensrechtfertigung bereitete Luther noch in anderer Hinsicht den Denkweg: Seine Auffassung von menschlicher Freiheit und ihrer Heilsbedeutung, wie er sie in De servo arbitrio'entwickelte, impliziert, indem sie ihn verneint, den liberum arbitrium, dergestalt, daß mittelalterliche Denkungsart in ihrer äußersten Radikalisierung als Herausforderung an den Menschen Neuzeit auf-scheinen läßt. Nach Luthers Weltverständnis wird ein säkularisierter Weltbezug vom christlichen notwendig bedingt sowie aufgehoben. Neuzeitliches Denken hat hier aber eine Dissoziation bewirkt, wobei es das Stigma der Gottlosigkeit als sein Kennzeichen nicht nur annahm, sondern auch sich dazu bekannte. So bezog der Mensch der Neuzeit seine Welterklärung primär von einem immanenten Absoluten und nicht länger ausschließlich auf das transzendente Absolute. Teilerfolge solcher Verweltlichung können über das Ausbleiben des Gesamterfolgs nicht hinwegtäuschen, auch wenn der moderne Sisyphos nicht wahrhaben will, daß die Welt durch bloßes Negieren oder rationales Umdenken ihrer christlichen Realität nicht human zu verwirklichen ist. Säkularisation bedeutete Fortschritt, sofern sie realisierte, daß die Zeit vorbei war, in der die Religion alleiniger oder vorrangiger Welt-bezug sein konnte, ja mußte. Sie schlug um in Rückschritt, sobald sie die christliche Dimension aus dem Zentrum menschlicher Existenz an den Rand der Welt verdrängte. Solcherart Verweltlichung qua Entchristlichung endet allemal mit einem hiatus irrationalis, der im Mythos ein Surrogat findet für seine Ursprünge. Deren Wahrheit sich anzuverwandeln, bleibt jenem Menschen versagt, der Mitte und Maß alles Seienden zu sein wähnt Sein prometheischer Versuch mythischer Sinngebung schlägt alles mit der Ähnlichkeit seiner selbst. Ohne die zukunftsweisende Kontinuität christlicher Tradition führt er dorthin, wo wir heute in bestimmten Bereichen schon angelangt zu sein scheinen: ins Zeitalter des post-histoire. In diesem nachgeschichtlichen Stadium wird alle Überlieferung letztlich obsolet: entweder wird sie zum Verschwinden gebracht oder im Zustand endlosen Leerlaufs sinnentleert. Derartige Verhältnisse sind keines positiven Wandels mehr fähig.
Vorzeichen solcher Zeitenwende ist eine Sinnkrise, deren Symptome sich in der Gegenwart häufen. Daß den Sinnforderungen der Menschen mit säkularisierten Formen der Sinngebung allein nicht zu genügen ist, geht aus den vielfältigen Bemühungen hervor, diese in religiösen Kategorien einzuklagen, verbunden mit dem Bestreben, christliche Sinnzusammenhänge wieder aufzurichten. Da die Ressource Sinn knapp geworden ist, wächst ein „zeitsymptomatisches Unbehagen" (Habermas). Mit dieser Sinnkrise geht eine Legitimationskrise unseres Gemeinwesens einher, sie ist zugleich eine Krise unserer eigenen wie unserer kollektiven Identität. Zum einen wurzelt sie in der Unvereinbarkeit konkurrierender Wertüberzeugungen, zum anderen im Fehlen von Sinngehalten, aus denen sich unsere Lebenszusammenhänge rechtfertigen lassen, privat und gesellschaftlich. Indem der Mensch der Neuzeit die religiöse Dimension unseres Seins säkularisierend über-und umformte, hat er die normative Gültigkeit existenznotwendiger Sektoren unseres Wertesystems als eines Ensembles intersubjektiv verbindlicher und wechselseitiB ger Verhaltenserwartungen teils gemindert, teils außer Kraft gesetzt.
Aus dieser Situation unserer Zeit führt kein Weg zurück in die vergangene Totalität religiösen Weltbezugs. Eine vernünftige Identität ist heutzutage nicht mehr zu begründen mit Werten, für die allein die Religion einsteht freilich auch nicht ohne sie. Unsere diesbezügliche Mitgift kann von der Rationalität unseres technischen Zeitalters nicht getilgt werden. Sie ist auch da, wo sie säkularisiert wurde, wirksam. Sich ihrer mehr und mehr zu versichern, verlangt, sie vom mythischen Rand der Welt hereinzunehmen in unsere Existenz, um diese im „Vorgriff auf die Ursprünge" (Blumenberg) ihr humanes Potential ausschöpfen zu lassen.
Die Voraussetzungen für solchen „Vorgriff auf die Ursprünge" sind nicht ungünstig, wenn wir den Bedeutungszuwachs zum Maßstab heranziehen, der gegenwärtig — nicht nur in unserem Staat — der religiösen Dimension zuteil wird. Die Rahmenbedingungen dieses identitätsbildenden Vorgriffs werden mitbestimmt von Gestaltungen säkularisierter Art etwa in Form von Mythenbildung. Luther bietet sich als hierfür zeittypischer Protagonist an. Sein Wirken und seine Wirkung erschlossen nicht nur neue religiöse Dimensionen, sie öffneten auch Denkräume der Weltlichkeit und der Verweltlichung. In diesem Rahmen ist er nicht nur eine Gestalt deutscher Geschichte, er hat auch Geschichte gemacht -und an ihm vollzieht sich seit Jahrhunderten Geschichte. Was in dieser Hinsicht dem Reformator fraglos konzediert wird, mag, hierzulande, bei Thomas Müntzer manchem fragwürdig erscheinen. Aus diesem Urteil sprechen Unterschiede der jeweiligen Wirkungsgeschichte, auf die noch näher einzugehen sein wird.
Solche „Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit" (Marx) wollen wir als zukunftsorientierte Erinnerung praktizieren, als Verifizierung von Gedanken der Gegenwart in der Vergangenheit. Indem wir uns so der Vergangenheit erinnern, vermögen wir deren auf die Zukunft gerichtete Tendenz zu erkennen und in ihrer humanen Leistungsfähigkeit in der Gegenwart sinnhaft zu realisieren. Unter dem Blickwinkel aktueller Ausschöpfung humanen Potentials gilt es, in metaphorischer Pointierung formuliert, Marx vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das heißt nicht, einem neuen Idealismus das Wort reden zu wollen, etwa gar einem Hegelscher Provenienz. Vielmehr geht es um einen humanen Realismus, der die Versagungen am Humanum, die im Kapitalismus wie im Sozialismus gleichermaßen unübersehbar, so aufhebt, daß er die unbestreitbaren Vorzüge beider Systeme miteinander vermittelt, um sie sich als funktionale Strukturelemente zu integrieren. Die uns dergestalt aufgegebene Systemverbesserung hat zum Ziel, Sinn zu vermitteln, Sinn verstanden als Beglaubigungsgrund nicht nur für Seiendes schlechthin, sondern für eines von humaner Qualität. In Anbetracht dieser Gegebenheiten muß Marxens vielzitierter elfter These über Feuerbach widersprochen werden, sind doch zwischenzeitlich Veränderungen eingetreten, deren Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit sie sich mehr und mehr verselbständigen, d. h.
menschlicher Kontrolle entziehen lassen. So unterschiedlich sie auch sind: in der Reduzierung humanen Potentials stimmen sie überein. Die Überfülle geradezu entzeitlicher Beispiele verlangt und begründet als zeitgemäße Gegenthese: Die Menschen haben die Welt nur allzulang sinnlos verändert, es kommt jetzt darauf an, sie sinnvoll neu zu interpretieren.
Die angesprochenen Veränderungen haben eine Exstirpation des Sinnes in globalem Ausmaß bewirkt. Soll sie sich nicht noch weiter ausbreiten, sind durch Neuinterpretation die Voraussetzungen zu schaffen für eine humane Veränderung der Welt. Die so geartete Rehumanisierung unserer konkreten Existenzsituation erfordert angesichts des geschilderten Problemhorizontes nicht nur neue interpretatorische Denkanstrengungen, sondern auch einen Interpretationsrahmen mit Richtpunkten, die der erforderlichen Sinnfindung den Weg zu weisen geeignet sind. Wie mit keinem anderen Diktum Luthers ist diesem Anspruch in Erinnerung seiner berühmten 19. und 20. These aus der Heidelberger Disputation (1518) gerecht zu werden. Demnach kann es nicht darum gehen, das Unsichtbare schauen zu wollen, begriffen durch das Geschaffene, vielmehr lautet das Gebot der Stunde: das Sichtbare und die Rückseite Gottes, an Leiden und Kreuz erschaut, zu begreifen. Dies zu konkretisieren, soll am Beispiel Luthers und Müntzers versucht werden.
Auf der Anklagebank der Geschichte In unserer „Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit" rekurrieren wir zeit-und traditionsgeschichtlich auf beide in ihrer Doppelgestaltlichkeit, d. h. in ihrem jeweiligen wirklichen bzw. mythischen Sein. Diese Seinsmodi bilden eine dialektische Einheit, in der sie sich, im Hegelschen Sinne, wechselseitig aufheben. Daß Luther mit Müntzer in ebensolcher Einheit zu sehen ist, erhöht die Komplexität der Sachlage. Wir wollen sie, unserem Erkenntnisinteresse angemessen, reduzieren auf eine Problemzone, die im Verhältnis beider zueinander und in ihrem Verhältnis zu uns von herausragender Bedeutung ist: auf den Bauernkrieg.
Der Ausgang ist bekannt, die Situation paradox: Martin Luther, der Anhänger der siegreichen Partei, wird schon seit längerer Zeit von manchen auf die Anklagebank der Geschichte gesetzt — mit guten Gründen, wie die, die das tun, meinen; womit nicht ausgedrückt sei, daß die, die das nicht tun, es stets aus guten Gründen nicht täten. Wird die Anklage auch in unterschiedlicher Formulierung vorgebracht, im Tenor gleicht sie den diesbezüglichen Ausführungen Thomas Manns.
Ist diese Anklageerhebung gerechtfertigt? Exakter: Wird man mit ihr Luther gerecht? Bedenken seien angemeldet, nicht um an seinem Tun und Lassen hinsichtlich des Bauern-kriegs etwas zu beschönigen, sondern weil sie uns in ihrer Begründung fragwürdig erscheint. Kritik verfehlt nämlich ihr Ziel, wenn sie nicht Selbstkritik einschließt. Die Wahrnehmung eines Ursachengefüges erfolgt zwangsläufig in ideologischer Verzerrung, in notwendig falschem Bewußtsein, wenn der, der sie macht, die Bedingtheit seines Ansatzes nicht reflektiert und mit seiner Kritik vermittelt. Wird die Dialektik der Ideologiebildung nicht mit bedacht, dann scheitert die erstrebte Wahrheitsfindung an nicht wahrgenommenen Erkenntnisschranken. Statt Aufklärung wird derart Anti-Aufklärung bewirkt, statt Aufhebung von Wirklichkeitsverfälschung deren Apologie.
Wenn Dieter Forte in seinem Bühnenstück „Martin Luther und Thomas Münzer oder die Einführung der Buchhaltung" (1971) auf jedwede Ideologiekritik seiner selbst und des historisch-gesellschaftlichen Bedingungsgefüges seines Selbst verzichtete, so ist das seine Sache, schließlich wollte er ein Spektakulum. Es ist eine andere Sache, daß er meinte, in seinen dem Werk beigefügten Erläuterungen „Zur Methode" durch Hinweise auf originalgetreues Arbeiten seine Bühnenfiguren, allen voran Luther als frühkapitalistische Charaktermaske, verifizieren zu können: „Daß Luther anders dasteht, als wir ihn kannten, ist für viele gewiß schmerzlich. Aber es sind schließlich seine Worte. Wenn ein Münzer zu heutig wirkt, dann ist das nicht mein Verdienst.“ Daraus spricht, im negativen Sinne, falsche Bescheidenheit. Im dokumentarischen Gestus der Ideologiekritik geschieht hier Ideologisierung, dergestalt, daß auf Kosten Luthers Müntzer zum Sympathieträger aufgebaut wird. Das Bemühen, diesem hierzulande endlich breitenwirksam sein Negativimage zu nehmen, hat solchermaßen Schaden genommen. Indes, Forte befindet sich in bester Gesellschaft. Sein Beispiel ist nur das in jüngerer Vergangenheit populärste. Mit einer der seinen zwar entgegengesetzten, im Endeffekt aber nicht weniger geschichtsverfälschenden Ideologisierung begegnen in der Bundesrepublik innerhalb und außerhalb von Theologie und Wissenschaft noch immer Beispiele eines mehr oder weniger verzerrten Müntzer-Bildes Das auf diese Weise verzeichnete Geschichtsbild versperrt, nicht selten als Glorifizierung Luthers kaschiert, den Blick auf den wirklichen Luther. So betrachtet, könnten wir beide vergessen, blieben sie zukunftsorientierter Erinnerung entzogen.
Aus dieser Verlegenheit hilft, Luther zu entmythisieren, ihn von der Gloriole der Überlebensgröße zu befreien, ihn vom leblosen Denkmal herunterzuholen, um ihm einen, seinen Sitz im Leben, in unserem Leben einzuräumen, einen, den er als „Madensack", wie er sich nannte, zu seiner Zeit ebenfalls inne-hatte. Auf dieser Ebene bleibt die schier unüberbrückbare Kluft der Jahrhunderte, der Tradition, die er mitgeprägt hat, die mit ihm geprägt wurde, in der Wirklichkeit und Mythos koinzidieren, in der wir stehen. Es ist die Person Luther, die sich uns, ungeachtet mancher Rätsel, noch am ehesten erschließt: Luther, der Mensch, der in einer Zeit tiefen Wandels die Sinnfrage neu stellte. Sein Problem war: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" Es „war im Ansatz rein theologisch. Er meinte nur den . gnädigen Gott'und die . Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und nicht den . gnädigen Nächsten und das Recht, das die unterdrückten Stände verlangen mußten ... Theologisch waren Luthers 95 Thesen wider den Ablaßhandel (1517) motiviert, ebenso die programmatischen Hauptschriften von 1520: An den christlichen Adel deutscher Nation', , Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche und , Von der Freiheit eines Christenmenschen'. Zwar war die soziale Frage nicht im vornherein völlig ausgeschlossen, aber Luthers Verständnis gesellschaftlich-politischer Ordnung und seine Einschätzung der , von Gott verordneten Obrigkeit'bestimmte seine vielgerügte zwiespältige Haltung den Bauern gegenüber."
Leidender Gehorsam Luther hat, aus aktuellem Anlaß, in der Schrift , Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei’ (1523) seine — von ihm nie so bezeichnete — Zwei-Reiche-Lehre entwickelt. In typisch evangelischem Schriftverständnis ist dieser Text derart kanonisiert worden, daß seine Zeitgebundenheit nachgerade gänzlich außer Betracht geriet Luthers Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Reich bzw. Regiment beinhaltet nichts, was weltliche Obrigkeit von Untertanenseite aus ernstlich, d. h. gewaltsam in Frage stellen ließe. Hier wie da sei und bleibe Gott der Handelnde. Als „Doktor der Heiligen Schrift“, wie er sich später gegen weitergehende Ansprüche zu bescheiden pflegte, hat er, in jeder Hinsicht auf der Höhe seiner Zeit, die Welt theologisch interpretiert. Dem weltlichen Reich, das er nicht auf Staat und Obrigkeit einschränkte, sondern schlechterdings als den gesamten weltlichen Aufgabenbereich faßte, gestand er, politisch durchweg systemkonform, eine Eigenständigkeit zu, die Züge trägt von Eigengesetzlichkeit. Diese Anschauung läßt keinen Raum für mitgestaltende, sozialkritische oder gar sozialrevolutionäre Aktivitäten der christlichen Gemeinde. Die Obrigkeitsschrift ist nicht ein Werk politischer Rückwärtsgewandtheit, sondern eine an den Herrschaftsverhältnissen der damaligen Zeit ausgerichtete Denkschrift christlicher Weltverantwortung. Ihr Verfasser war alles andere als weltfremd. Obrigkeitliche Praxis, wie sie damals gang und gäbe war, wußte er realistisch einzuschätzen: „Sie konnten nicht mehr denn schinden und schaben, einen Zoll auf den andern, einen Zins über den andern setzen ... und handeln, daß es Räubern und Buben zuviel wäre und ihr weltlich Regiment ja so tief darniederliegt, als der geistlichen Tyrannen Regiment ... Und sollst wissen, daß von Anbeginn der Welt gar ein seltsam /selten/Vogel ist um einen klugen Fürsten, noch viel seltsamer um einen frommen Fürsten. Sie sind gemeiniglich die größten Narren oder die ärgsten Buben auf Erden ••Man wird nicht, man kann nicht, man will nicht eure Tyrannei und Mutwillen die Länge leiden. Liebe Fürsten und Herren lernet euch danach zu richten, Gott wills nicht länger haben. Es ist jetzt nicht mehr eine Welt wie vorzeiten, als ihr die Leut wie das Wild jagtet und triebet. Darum laßt ab von euerem Frevel und eurer Gewalt.“
Aus dieser Einsicht sozialethische Folgerungen zu ziehen im Sinne eines Widerstands-rechtes gegen die Staatsgewalt, daran hinderte ihn sein Schriftenverständnis, insbesondere seine Auslegung des Römerbriefes, als dessen Schlüsselstelle sich ihm die bekannten beiden Anfangsverse des 13. Kapitels darboten. So vermochte er über die verbale Geißelung sozialer Mißstände nicht hinauszugehen. Sich und seinem einzigen Maßstab, Gottes Wort, treu bleibend, reagierte er auf eine der wichtigsten Bauern-Flugschriften mit seiner . Vermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben'(April 1525). Was die Grundgedanken seiner Obrigkeitsschrift schon erahnen ließen, hier kommt es bereits deutlicher zum Ausdruck: eine im großen und ganzen konservative Weltanschauung. Weder wollte er, daß beide Reiche vermischt würden, noch war er bereit, umstürzlerische Bestrebungen gutzuheißen, geschweige denn sie zu fördern. So riet er denn zu gütlicher Einigung. In diesem Sinne appellierte er an „die Fürsten und Herren", während er seine „lieben Freunde", die Bauern, beschuldigte, im Unrecht zu sein, und sie darauf hinwies, die Erlösung durch Christus vertrage sich durchaus mit irdischer Unfreiheit. Die theologische Radikalität seiner Schrift-deutung ließ ihn für den politischen Radikalismus der Bauern kein Verständnis aufbringen. Er kann sich dabei auf eine Interpretationsleistung stützen, die im Streben nach dem rechten Schriftsinn beispiellos ist. Dabei gilt ihm die Heilige Schrift als alleinige sowie letztendliche Quelle der Offenbarung und als deren Medium, durch das Gott sich fortwährend bekundet. Das Formalprinzip sola scriptura verleiht seiner Schriftdeutung den Rang verbindlicher Handlungsanweisung. Dergestalt gewinnt er zugleich seine Handlungsmaximen. Die Grenzen solchen schriftgeleiteten Handelns markiert die Rechtfertigung sola fide et gratia. Allein schon aufgrund dieser Glaubensgrundsätze lag eine Parteinahme zugunsten der Bauern jenseits seines theologischen Horizontes. Hinzu kommt, daß er leidenden Gehorsam forderte, die untertänige Anerkennung der stets von Gott gesetzten Obrigkeit.
Möglicherweise begünstigt durch eigene politische Grunderfahrungen, sah er keine Notwendigkeit, die Zwei-Reiche-Lehre zu korrigieren, sie mit sozialethisch aktiven Vorzeichen zu versehen. So folgert er konsequent, „christliches Recht sei, nicht sich sträuben wider Unrecht, nicht zum Schwert greifen, nicht sich wehren, nicht sich rächen, sondern da-hingeben Leib und Gut, daß es raube, wer da raubet Wir haben doch genug an unserem Herrn, der uns nicht verlassen wird, wie er verheißen hat. Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz ist der Christen Recht, des und kein anders."
Mit seiner neuen Theologie hat Luther im religiösen Bereich eine Umbruchsituation geschaffen, für die es keine Parallele gibt. Die weltlichen Implikationen dieser Tat kamen zu seiner Zeit über das Stadium der Latenz nicht hinaus. Daher trat damals Enttäuschung ein und wuchs auf Seiten der Bauern, auf Seiten der unterdrückten Untertanen ganz allgemein. Seine einzigartige Volkstümlichkeit begann zu schwinden. Die Popularitätskurve Thomas Müntzers verlief entgegengesetzt. Sein Wirken ist ebenso kurz wie intensiv. Es währte ein halbes Jahrzehnt. Im Mai 1520 übernahm er vertretungsweise eine Pfarrstelle in Zwickau. Luther hatte sie ihm vermittelt. Fünf Jahre später, im gleichen Monat, starb er den Tod, welchen er zuletzt gepredigt hatte: den durch das Schwert. Anfänglich Parteigänger Luthers, mit diesem in Grundsätzlichem einig über die Untragbarkeit der Mißstände in der alten Kirche, schied er sich von ihm doch schon früh in bezug auf das Wie bessernder Veränderung. Offensichtlich hatte ihn Luther weniger beeindruckt als die Zwikkauer Nachfahren spätmittelalterlicher Enthusiasten, die in wirtschaftlicher Not und gesellschaftlicher Deklassierung eine von tiefer Religiosität beseelte Christusnachfolge lebten. Geistesgewisser Chiliasmus entflammte in ihm geistesverwandte Gestimmtheiten, gegründet im alttestamentlichen Prophetentum und mittelalterlicher Mystik, in ketzerischer und humanistischer Tradition, die er sich bei seiner Sinnsuche mit umfassender Bildung erschlossen hatte.
Eine deutsche Liturgie Auf der Grundlage solcher Einstimmung entwickelte Müntzer seine religiöse Überzeugung von der Allgegenwart des Geistes. Gott habe sich nicht nur den Vätern, den Propheten Israels und den urchristlichen Aposteln mitgeteilt, er bekunde sich auch heute noch, immer wieder neu. Die Offenbarung setze sich somit in der Gegenwart fort. Sie ge schehe nicht nur vermittels der biblischei Schriften. In diesem Zusammenhang wende sich Müntzer gegen das Wortverständnis de Reformatoren. Zwar will er das rechte Wor Gottes und dessen sorgfältige Beachtung doch lehnt er es ab, sein Wortverständnii durch die Identifikation von biblischem Klar text mit dem Wort Gottes einschränken zt lassen. Entsprechende Passagen finden siel im . Prager Manifest'(1521) seiner erster wichtigen Programmschrift, einem Aufruf zr religiöser Veränderung, der jedoch wirkungs los blieb. Das Wort, das er zu verteidigen, in christliche Aktivität umzusetzen auffordert ist das lebendige Wort Gottes, es mag aus der Geschichte des Gottesvolkes sprechen, kann sich aber ebenso in Träumen, Visionen und inneren Stimmen enthüllen Demnach verfügt jeder Mensch über den Geist. Um die Wahrheit zu erkennen, bedarf es nur, sich seiner zu bedienen. Rettung ist für jeden gleich nah bzw. fern. Auf den Geist werde sich freilich nur der Leidende besinnen, d. h. in der Regel die Unterdrückten.
Müntzers religiöse Sinnsuche hat stets eine soziale Dimension. Er betont das nachdrücklich: „Da werden denn die armen dürftigen Leute also hoch betrogen, daß es kein Zung genug erzählen mag. Mit allen Worten und Werken machen sie es ja so, daß der arme Mann nicht lesen lerne vor Bekümmernis der Nahrung, und sie predigen unverschämt, der arme Mann soll sich von den Tyrannen lassen schinden und schaben. Wenn will er denn lernen, die Schrift lesen? I... I die Schriftgelehrten sollen schöne Bücher lesen, und der Bauer soll ihnen zuhören, denn der Glaube kommt durchs Gehöre."
Die Polemik gegen die Wittenberger Wort-theologie ist unübersehbar. Die Bindung des Glaubensbekenntnisses an die rechte Schrift-auslegung erscheint Müntzer als Versuch, das Volk weiterhin in geistiger Unmündigkeit zu belassen. Um das zu ändern, hat er, zwar nicht als erster, aber noch vor Luther, eine deutsche Liturgie geschaffen. Über alle Unterschiede hinweg korrespondiert diese praktisch-liturgische Aktivität mit dem, was Luther als das „allgemeine Priestertum aller Gläubigen" propagierte.
Gesetz und Kreuz Müntzers von christlichem Chiliasmus geprägte Theologie des Geistes basiert auf Gesetz und Kreuz. Das wahre Wort Gottes erkennt nur, wer Gottes Gesetz beachtet. Kreuz und Leid erfahren müssen alle, um geläutert Glaubensgewißheit zu erlangen: „Keiner mag sagen, daß er ein Christ sei, so er durch sein Kreuz nicht vorhin empfindlich wird, Gottes Wort und Werk zu erwarten /... /Es kostet viel Mühe, Gottes Werk zu erdulden!" Dementsprechend wendet er sich gegen den „süßen Jesus", der weithin gepredigt werde. Seine christliche Sinnforderung zielt ab auf den „bittern Christus“, mit dem man sterben müsse, um mit ihm auferstehen zu können Es sind für gewöhnlich die Armen, die sich, indem sie das Kreuz auf sich nehmen, bereit machen, den Geist zu empfangen. „Diese Schule Gottes wird niemand erspart. Aber während die Gottlosen in dieser Erprobung zugrunde gehen, erkennen die Auserwählten Gottes Strafe und erforschen Gottes Bezeugung in ihrem Leben. Ihnen erscheint der lebendige Gott inmitten ihrer großen Furcht.
Die Beachtung des Gesetzes distanziert Müntzer von manchen anderen Spiritualisten.
Die Kreuzestheologie rückt ihn sogar Luther nahe. Aber bei dem Wittenberger hat das Kreuz einen anderen Ort. Es ist nicht Durchgangsstation auf dem Weg zur Offenbarung, sondern der allein legitime Rahmen für alle theologischen Erkenntnisse, wie wir aus De servo arbitrio'wissen."
Müntzer spricht zwar von . Auserwählten", hoch mit Luthers Lehre vom unfreien Willen stimmt er nicht überein. Seines Erachtens liegt es in der Macht jedes einzelnen, Gott anzunehmen oder abzulehnen. In permanentem Aufbruch begriffen und voll Geistesgewißheit auf Veränderung bedacht, ist er überzeugt, Gottes direktes Eingreifen in das weltliche Geschehen stehe kurz bevor. Es gelte, die erforderlichen Vorbereitungen zu treffen. Diese Überzeugung expliziert er in einer — von Ernst Bloch mit Recht als „dämonisch" bezeichneten — Predigt am 13. Juli 1524 im Allstedter Schloß vor erlauchten Zuhörern, an deren Spitze Herzog Johann von Sachsen und dessen Sohn Johann Friedrich. Werbend und beschwörend versucht er unter Hinweis darauf, daß Endzeit sei, die Fürsten in die Pflicht zu nehmen. „Sein Thema ist auch in der . Fürstenpredigt'die Veränderung" „Es ist wahr und /ich /weiß fürwahr, daß der Geist Gottes jetzt vielen auserwählten frommen Menschen offenbart, /daß /eine treffliche, unüberwindliche zukünftige Reformation von großen Nöten ist, und es muß vollführet werden." Seinen fürstlichen Zuhörern redet er eindringlich ins Gewissen, sich der Sache Gottes anzunehmen, Knechte Gottes zu werden gegen die Gottlosen. Er beruft sich hier, wie Luther, auf das 13. Kapitel des Römerbriefes, nur, er führt die Verse 3 und 4 ins Feld. Die Fürsten sollten ihres Amtes walten, mit dem Schwert „die Gottlosen zu vertilgen", diese müßten „ohne alle Gnade" erwürgt werden. „Denn die Gottlosen haben kein Recht zu leben." Sein Argument: . Anders mag die christliche Kirche zu ihrem Ursprung nicht wieder kommen."
Hinter diesem Programm steht der Wille nach einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung unter religiösen Gesichtspunkten. Neben die Gewalt des Wortes tritt hier die des Schwertes, vor welcher Herrscher im Falle ihrer Gottlosigkeit auch nicht verschont bleiben. Verschlössen sie sich dem endzeitlichen Gebot, zu handeln, sei der „gemeine Mann" als Werkzeug Gottes befugt, die Macht zu ergreifen, um die Gottlosen zu vernichten. Müntzer befürwortet also ein Widerstands-recht gegen eine gottlose Obrigkeit. Die Unterdrückten hätten die Pflicht, ihr das Schwert zu nehmen, um es selbst zum Zwecke der Gewaltausübung zu führen
Er hielt diese Situation für gegeben, hatte doch alles Werben und Beschwören nicht geholfen, die Fürsten für seine „Reformation" zu gewinnen. Nun erklärte er ihnen den Kampf in der als revolutionärer Kommentar des Lukas-Evangeliums aufgemachten Schrift . Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens der ungetreuen Weit'(1524). Dieser Abrechnung mit seinen politischen Gegnern ließ er die mit seinem theologischen Widersacher folgen: . Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das geistlose sanftlebende Fleisch zu Wittenberg'(1524). In diesem Pamphlet äußert er abschließend seine Zuversicht: „Das Volk wird frei werden und Gott will allein der Herr darüber sein."
Zu weiteren Streitschriften ist er nicht mehr gekommen. Die Ereignisse überschlugen sich. Müntzer trat an die Spitze der aufständischen Bauern, um als Vollstrecker göttlichen Willens „das Schwert Gideons" zu führen. An Sprachgewalt Luther kaum unterlegen, verfaßte er das . Manifest an die Bergknappen', einen Brief, dessen Diktion die Ungeduld des Eiferers verrät Aus diesem Meisterstück religiöser Beredsamkeit spricht ein unbeirrbarer Veränderungswille, getragen von revolutionären Impulsen ebenso wie von religiöser Ergriffenheit Was der „Theologe der Revolution" in dieser Hinsicht zu leisten imstande war, übertraf jedoch bei weitem die politische und militärische Leistungsfähigkeit jener, die er anführte, ja, wohl auch die eigene. So war auf diesem Felde die Schlacht bereits verloren, ehe sie überhaupt begann. Was als solche dann in die Geschichte einging, verdient den Namen kaum, höchstens im Sinne eines furchtbaren Hinschlachtens, so überlegen war die fürstliche Streitmacht. , Ein schrecklich Gedicht., Durch diesen Ausgang sah Luther Müntzers, „des mörderischen und blutgierigen Propheten", Lehre und Wirken Lügen gestraft. In der noch vor dessen Hinrichtung erschienenen Schrift , Ein schrecklich Geschieht und Gericht Gottes über Thomas Müntzer'bittet er zugleich die Sieger, sie „wollten gnädig sein" den Gefangenen gegenüber. Freilich, vorher, als sich ein Sieg der Bauern anzubahnen schien, hatte er seinen Gedanken über die Aufständischen freien Lauf gelassen. In dem als Nachwort zur Vermahnung zum Frieden'verfaßten „harten Büchlein" . Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der andern Bauern'(1525) sind sie mit unmißverständlicher Klarheit zusammengefaßt: „Es ist des Schwerts und Zorns Zeit hier und nicht der Gnaden Zeit. So soll nun die Obrigkeit hier getrost vordringen und mit gutem Gewissen dreinschlagen, weil /solange /sie eine Ader regen kann ... Steche, schlage, würge hier, wer da kann. Bleibst du drüber tot, wohl dir, seliglichern Tod kannst du nimmermehr überkommen /erreichen /... Dünkt das jemand zu hart, der /be /denke, daß unträglich ist Aufruhr, und alle Stunde der Welt Verstörung zu /er /warten sei."
Die Metapher vom bevorstehenden Weltuntergang ist typisch für die Maßlosigkeit, mit der Luther zur physischen Liquidation Müntzers auch die theologische beizusteuern versuchte. Zweifellos hatte er richtig erkannt daß es diesem um Revolution ging. Was er allerdings ablehnte, ablehnen mußte, wie aus den dargelegten Unterschieden in den Theologien beider erhellt, war der theologische Anspruch, den Müntzer mit seinen Veränderungsaktivitäten verband. War Luther auch die theologische Liquidation seines Widerparts nur teilweise gelungen, die damit einhergehende historische, an der auch Philipp Melanchthon und Johann Agricola mitwirkten, drängte Müntzer jahrhundertelang in die geschichtliche Bedeutungslosigkeit Der auf diese Weise entstandene Mythos Müntzer verstellte den Blick auf Müntzers Theolo-gie. So wurde man lange Zeit des religiösen Begründungszusammenhangs nicht oder nur unzureichend gewahr, aus dem heraus sein Veränderungswollen sich erklärt Es ist keines, das im politischen Sinne auf Revolution abzielt. Das Marxsche Diktum: „Damals scheiterte der Bauernkrieg, die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte, an der Theologie“ ist deshalb so unrichtig nicht, sofern es nicht von seinem Kausalitätsanspruch her, sondern von dem in ihm vorausgesetzten theologischen Handlungszusammenhang beurteilt wird.
Müntzers revolutionäre Theologie zielt auf ein Reich der „Auserwählten", in dem sich staatliche Ordnung erübrigt. Politisch-ökonomischer Betrachtungsweise erschließt sie sich nicht. Sie reicht nicht aus, wie Ernst Bloch betonte, „um allein nur den Eintritt eines historischen Ereignisses von der Wucht des Bauernkriegs vollkommen, konditional und kausal zu erklären, geschweige denn, daß ihre Analyse imstande wäre, die tieferen Inhalte der hier aufglühenden Menschengeschichte ... eines endlich brüderlichen Reichs aufzulösen, ... zu reflexieren und ins rein Ideologische zu entrealisieren"
Die hier angesprochene religiöse Dimension derartigen Veränderungswollens veranschaulicht Bloch „als Umgang des ältesten Traums, als breitesten Ausbruch der Ketzergeschichte, als Ekstase des aufrechten Gangs und des geduldlosesten rebellischen Willens zum Paradies" Veränderung dieser Art will letztlich nicht die Herrschaftsverhältnisse unter Menschen umkehren. Durch sie soll vielmehr alle Macht dem gestrengen Gott als dem alleinigen Herrscher zugewiesen werden. Letzten Endes wollte Müntzer nichts anderes, als durch seine Theologie die Möglichkeit und Wirklichkeit christlicher Teilhabe am „brüderlichen Reich“, über nationale und konfessionelle Grenzen hinweg, bewahren erfor-derlichenfalls mit der Gewalt einer Revolution von unten.
So betrachtet war er ein revolutionärer Konservativer, dem sich in sinnsuchendem Denken Identität als Kategorie des Nochnicht erschließt. Im antizipierenden Bewußtsein dieser konservativen Identität gewinnt er das Movens für ein gesellschaftliches Verändern zum Zwecke theologischen Bewahrens.
Mythenbildung Im Laufe der Jahrhunderte sind Luther und Müntzer zu Mythen funktionalisiert worden. Luther hat ein überaus bewegtes mythisches Fortleben entwickelt Dabei wurde seine Theologie vom jeweils herrschenden System zur Ideologie instrumentalisiert. Daß er die Herrschaftsgewalt der Obrigkeit theologisch rechtfertigte, und wie er das tat, im Bauern-krieg, hat in Deutschland die Entwicklung demokratischer Verhältnisse sicher nicht gefördert. Ob er sie damit für längere Zeit verhinderte, das im einzelnen nachzuweisen, müßte zwischen seinem wirklichen und seinem mythischen Sein streng geschieden werden. Wann in der Geschichte welcher Luther wo, in Kirche oder Staat, begegnet, läßt sich nicht selten nur schwer ermitteln, nicht immer mit der wünschenswerten Exaktheit und Differenziertheit. Kaum sonst sind die Zusammenhänge so relativ eindeutig wie bei einem Teil der evangelischen Kirche während des Dritten Reiches. Dennoch führt kein Blick an dem Faktum vorbei, daß eine Affinität der lutherischen Kirchen zu konservativen Weltanschauungen, und umgekehrt, in der Traditionsgeschichte eher die Regel als die Ausnahme darstellt. Doch in diesem Umstand als solchem liegt nicht das Problem, sondern in der damit einhergehenden Prädisponiertheit des Luthertums, Luthers Theologie zur Ideologie zu verdinglichen. Dergestalt zum Mythos enteigentlicht, ist der Reformator vor politischer Indienstnahme und damit vor jedweder Art von Mißbrauch nicht länger zu bewahren. Der Beispiele hierfür sind zu viele, um hier angeführt werden zu müssen. Die Traditionsgeschichte Müntzers vollzieht sich im gleichen Prozeß der Mythenbildung. Maßgeblichen Anteil besitzt hier Friedrich Engels, der 1850 über den Bauernkrieg schrieb, veranlaßt wohl durch das Scheitern der Revolution von 1848. Mit seiner Abhandlung versucht er, der proletarischen Bewegung neue Identifikationsfiguren zu vermitteln: „Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition. Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können..., wo Bauern und Plebejer mit Ideen und Plänen schwanger gingen, vor denen ihre Nachkommen oft genug zurückschauderten."
In diesem Kontext mythisiert Engels Müntzer zum revolutionären Heros, der als verpflichtendes Vorbild gleichsam prophetisch auf künftige Klassenkämpfe vorausweise. Damit gab er das Signal, aber auch den Deutungsrahmen für eine Müntzer-Forschung sozialistischer Observanz, die Beachtliches geleistet hat, um Müntzer aus der historischen Versenkung zu holen Nicht zuletzt dank dieser Forschungsbemühungen, von der wesentliche Impulse ausgingen auch auf die ungleich umfangreichere nichtsozialistische Müntzer-Forschung, steht er längst nicht mehr im Schatten Luthers. Hanns Liljes Würdigung ist hierfür beispielhaft: „Wer die blutige Episode des Bauernkrieges in allen ihren Zusammenhängen überdenkt und die handelnden Gestalten in dieses grausame Bild einzuzeichnen versucht, der wird immer dazu neigen, in Thomas Müntzer den konsequenteren, vielleicht auch den in viel stärkerem Maße heroischen Akteur zu sehen."
Solche Wertschätzung endet jedoch regelmäßig dort, wo es gilt, Müntzers Theologie ernst zu nehmen. Nur so aber ist dem wirklichen Müntzer gerecht zu werden. Andernfalls wird sozialistischer Mythenbildung lediglich eine theologische an die Seite gestellt. Müntzers Theologie verkommt dergestalt zur Ideologie, d. h. zur Apologie falschen Bewußtseins. Den Sinnforschungen der Gegenwart wird damit nur scheinbar genügt.
Luther und Müntzer — eine dialektische Einheit Erforderlich ist statt dessen eine „Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit", die sich sowohl Luthers als auch Müntzers erinnert, derart, daß sie neben deren wirklicher auch deren mythische Dimension in den Erschließungsakt kritisch mit einbezieht. Sinnschöpfung geht hierbei zurück auf die Sinnfülle der Theologien beider in ihrer interpretierenden und verändernden Wirkmächtigkeit. Sie sind miteinander so zu vermitteln, daß uns „identitätsbezogenes Wissen über konkurrierende Identitätsprojektionen, also: in kritischer Erinnerung der Tradition" zuteil wird Luther, der konservative Revolutionär, und Müntzer, der revolutionäre Konservative, bilden somit keine sich gegenseitig ausschließende Alternative, sondern eine dialektische Einheit. Nur als solche sind sie in und für uns sinnstiftend zu aktualisieren, zu einem neuen Leben mit Zukunft zu erwecken. Auf dieser qualitativ neuen Ebene läßt sich dann im Zusammenhang mit der Frage nach dem Sinn unserer Existenz wieder stärker auf deren religiöse Dimension abheben. Daß bei diesem zukunftsorientierten „Vorgriff auf die Ursprünge" in der Gegenwart Luther größere Bedeutung zukommt als Müntzer, ergibt sich aus der Situation unserer Zeit, in der — im beschriebenen Sinne — dem interpretatorischen Weltbezug Vorrang einzuräumen ist gegenüber dem verändernden.