Die Basis Daß der Bettelmönch Martin Luther zur Herausforderung für die Weltkirche, das Heilige Römische Reich deutscher Nation und darüber hinaus wurde, hat immer wieder verwundert Die Basis, die ihm zur Verfügung stand, war vergleichsweise winzig. Seit seinem 28. Lebensjahr lebte er in Wittenberg, einer Stadt von höchstens 2 500 Einwohnern, die keinesfalls ein größeres geistiges Zentrum war und nur als sächsische Fürstenstadt und Sitz einer eben gegründeten Universität eine gewisse Bedeutung hatte. Dort spielte sich sein Leben hauptsächlich zwischen der Zelle und der kleinen baufälligen Kapelle des Augustinerklosters ab, dem Katheder des Professors, an dem er seit 1512 lehrte, und der Kanzel der Stadtkirche, von der er seit 1514 regelmäßig zu predigen hatte. Eine Existenz im Winkel — und Luther wollte zunächst nicht mehr. Immerhin standen ihm für seine Publikationsmittel eine Druckerpresse und notfalls weitere im nahen Leipzig zur Verfügung. Seinen Beruf als Theologieprofessor und Prediger darf man weder über-noch unterschätzen. Der Fachgelehrte war an sich eingebunden in das feste Wissenschaftssystem der spätmittelalterlichen Scholastik. Bei entsprechender Fundiertheit seiner Äußerungen konnte er jedoch bereits auf Gehör und Aufmerksamkeit unter den Gelehrten rechnen.
Außerhalb Wittenbergs und Kursachsens hat Luther nur wenige große Auftritte gehabt. Im Frühjahr 1518 konnte er auf dem Kapitel seines Ordens in Heidelberg seine neue Theologie vertreten. Im Herbst stand er in Augsburg vor dem päpstlichen Legaten Cajetan wegen der Anklage der Ketzerei und mußte dann fluchtartig die Stadt verlassen. 1519 kam es in Leipzig zu der großen Disputation mit dem Professor Johann Eck als dem Verteidiger der alten Theologie. Dieser galt zunächst als der Sieger; erst nachträglich sprach sich die öffentliche Meinung für Luther aus. 1521 stand er dann vor dem Reichstag in Worms, aber nur, um zu widerrufen, und kurz nach seiner Abreise wurde er in die Reichsacht genommen. 1529 fand das Religionsgespräch in Marburg mit Huldrych Zwingli statt, bei dem der Abendmahlsstreit beigelegt werden sollte. Aber dieses Gespräch führte zu keiner Einigung. Während der Verhandlungen auf dem Augsburger Reichstag 1530 saß Luther faktisch im Abseits auf der Veste Coburg. Triumphale Erfolgserlebnisse waren alle diese Ereignisse gewiß nicht.
Rückhalt besaß Luther zunächst nur unter den Theologen seines Klosters; seine Professorenkollegen mußte er erst für sich gewinnen. Seine früheren Lehrer in Erfurt blieben jedoch immer auf Distanz. Doch auch seine Freunde erschraken regelmäßig, wenn er wieder einmal „in die Kriegstrompete" geblasen und sich so heikle Themen wie den Ablaß, die Stellung des Papstes oder die Sakramente kritisch vorgenommen hatte. Äußere Unterstützung fand er bei seinem Landesherrn, Friedrich dem Weisen, und dessen Hof, den dabei offensichtlich nicht nur politische Erwägungen leiteten. Die tonangebende kritische Bildungsbewegung der Humanisten ging zunächst mit Luther, versagte sich aber zum Teil, als er ihr zu radikal wurde. Eine große Chance eröffnete sich, als Luther bereits 1518 die akademische Jugend für sich zu gewinnen vermochte, obwohl er ihr keineswegs nach dem Mund redete und sich als Professor auch einmal gegen einen handfesten Studenten-krawall stellte. Von Opportunität und Taktik ließ sich Luther in seinem Verhalten überhaupt nur höchst selten bestimmen. Ohne Rücksicht auf einen möglichen Sympathieverlust stellte er sich später aus theologischer Überzeugung gegen die Revolution der Bauern und verzichtete aus den gleichen Gründen auf eine antikatholische Koalition der Protestanten. Das große Mittel seiner Wirkung, das ihm zur Verfügung stand, war das gesprochene und vor allem das geschriebene Wort Seine einfache, klare, verständliche und zugleich ausdrucksvolle Sprache bildete sich freilich erst nach und nach, sozusagen von innen heraus, je gewisser er sich dessen wurde, was er zu sagen hatte. Seine Sprachmöglichkeiten reichten von der schlichten, auch dem gemeinen Mann und Laien begreifbaren Aussage bis zur geschliffenen, manchmal paradox gespannten Sentenz. Er verfügte über zarte, zu Herzen gehende Töne ebenso wie über beschwörenden Ernst oder scharfe, mitunter auch grobe Polemik, über die man lachen konnte oder bei der einem das Lachen verging. Der Einsatz dieser Sprachmittel erfolgte eigentlich immer sachbezogen, nicht zum Zwecke bloßer Agitation.
Die Situation seiner Zeit hat Luther in mancher Hinsicht begünstigt. Es bestand eine breite Kritik an der Kirche und der Geistlichkeit, die aufgelistet in den „Beschwerden der deutschen Nation" sogar die Reichstage beschäftigte. Die Wissenschaft der Scholastik galt als veraltet, überkompliziert und kaum verständlich. Soziale Unruhe machte sich in verschiedenen Schichten bemerkbar. Den aufsteigenden Fürstenstaaten wie Kursachsen, die ihre Kompetenzen nach allen Seiten ausdehnten, gehörte die Zukunft. Aber Luther war nicht einfach der Exponent der neuen Kräfte. Er war ursprünglich ein gehorsamer Sohn seines Ordens und seiner Kirche. Seine Kirchen-und Theologiekritik setzte meist anders und tiefer an als die der Humanisten. Er ließ sich weder von Bauern, Bürgern oder Rittern vereinnahmen, noch war er der gefügige „Fürstenknecht", obwohl er dem Fürstenstaat viel verdankte. Mochten auch gewisse günstige Voraussetzungen von der Stellung des begabten Professors und seinem Ansehen her gegeben sein, daß der Mönch aus den bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen zum Gegenspieler von Papst und Kaiser, von Herzog Georg von Sachsen oder König Heinrich VIII. von England werden würde, war nicht eben wahrscheinlich. So stellt sich die Frage, von woher Luther zu erklären ist und woher sein Potential stammte, wenn es nicht primär die äußeren Umstände waren. Die Antwort fällt der heutigen, vor allem auf Meßbares und Quantifizierbares ausgerichteten Wissenschaft nicht leicht. Die Psychologen nehmen die Bewältigung einer seelischen Lebenskrise an, die erstaunliche Kräfte entbunden hat. Das war es gewiß auch, damit ist jedoch inhaltlich noch nichts erklärt Die Fremdheit des Phänomens Reformation liegt heute darin, daß sie im Zentrum ein religiöser und theologisch-wissenschaftlicher Vorgang war.
Die Vorgeschichte Begonnen hat die Reformation im Wittenberger Kloster, im Leben eines Mönchs, der zugleich als Professor die Bibel zu erklären hatte. In Luthers Fall war das mehr als intellektuelle Schreibtischtätigkeit. Die Psalmen, die er auszulegen hatte, betete er zugleich im klösterlichen Stundengebet, und er betete sie konzentriert. Die Bibeltexte begegneten ihm auch in den gottesdienstlichen Lesungen. Er vernahm sie, als wenn sie zu ihm gesprochen wären, meditierte über sie und bezog sie auf seine eigene Situation. Und daran entzündete sich sein Fragen, sein Verstehen oder auch Nichtverstehen, das nach Klärung suchte. Theologisch-wissenschaftliche Reflexion und mönchische Frömmigkeit bildeten einen Zirkel. Das eine wirkte auf das andere. Keines von beiden war fraglos und selbstverständlich. Im Gegenteil! Luther war 1505 ins Kloster eingetreten, um Gott mit seinem ganzen Leben zu dienen und dadurch das Seelenheil zu erlangen. Der strengen Forderung Gottes konnte nur der Einsatz des ganzen Lebens entsprechen. Folgerichtig nahm er die Pflichten des Klosterlebens ungeheuer ernst. Bei seiner unerbittlichen Selbsterforschung machte er jedoch die Erfahrung, daß er zur völligen Gottesliebe und Hingabe nicht fähig war und hinter der totalen Forderung zurückblieb. Äußerlich gesehen handelte es sich um Bagatellen wie Abschweifung beim Gebet oder Gedanken-und Unterlassungssünden. Luther jedoch diagnostizierte, daß ihn auch das Mönchtum, die strengste christliche Lebensform, nicht in Einklang mit Gott brachte. Das führte zu jahrelang anhaltenden furchtbaren Ängsten vor Gott als dem Richter und Anfechtungen wegen der eigenen Verloren und Verworfenheit. Beachtlicherweise gab Luther in dieser Situation nicht auf und schraubte auch die Anforderungen nicht herab. Er stieg nicht aus, sondern blieb im Gespräch mit seinem Gott Hilfe und Impulse, aber auch neue Schwierigkeiten empfing er dabei aus der Bibel, mit der er sich seit Anfang der Klosterzeit in einzigartiger Weise vertraut gemacht hatte. Eine Zwischenlösung wurde zunächst damit erreicht, daß er dem richtenden Urteil Gottes über sich recht gab und es in der Selbstanklage anerkannte in der Hoffnung, daß Gott den nicht richtet, der sich selbst richtet und nach dem Vorbild Christi unter das Kreuz begibt. Damit waren die Sündigkeit des Menschen und die Wahrheit des göttlichen Richterspruchs anerkannt. Luther hatte eine letzte Stufe mittelalterlicher Frömmigkeit erreicht, auf der er sich allerdings bereits im Widerspruch zum Nominalismus befand, jener Richtung der scholastischen Theologie, in der er groß geworden war. Sie vertrat die Auffassung: Gott versagt dem, der das Seine aus seinen Kräften tut und Gott damit liebt, die Gnade nicht. Luther hielt solche Eigenbeteiligung am Heil für unmöglich, wußte er sich doch völlig auf das Erbarmen Gottes angewiesen. „Dein bin ich, mach mich selig!“ Schon hier bahnte sich also die Auseinandersetzung mit der Scholastik an. Daß es sich dabei um mehr als um einen Gelehrten-streit handelte, war noch nicht abzusehen.
Wahrscheinlich ist Luther von dieser sehr strengen Position aus 1517 in den Ablaßstreit geraten, in dem er zunächst für die lebenslange ernsthafte Buße gegen ein billiges Sich-Loskaufen von den Folgen der Sünde stritt.
Die Entdeckung Ansatzweise hatte sich bei Luther schon in den Jahren zuvor ein entscheidender Wandel in der Gottesvorstellung vollzogen, den er in aufrichtiger Demut jedoch zunächst nicht eigentlich wahrnahm: Gott ist nicht der, der eine vom Menschen zu erbringende Gerechtigkeit fordert, sondern er schenkt sie ihm umsonst in Jesus Christus und macht ihn dadurch gerecht. Nach Luthers Berichten brach diese Erkenntnis bei einem erneuten Nachdenken über Römer 1, 17: „die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart", voll-
ends durch. Das bedeutete: Zum Empfang der Gerechtigkeit bedarf es nicht mehr als des Glaubens an das Evangelium, wobei unter Evangelium die Botschaft von der dem Glaubenden zugut geschehenen Menschwerdung, dem Leben, Leiden, Sterben und der Auferstehung Christi gemeint war. Durch diesen Glauben, der sich nicht mehr auf sich und seine Qualitäten, sondern auf Gottes Tat verläßt, rechtfertigt Gott. So war die Fortsetzung von Römer 1, 17 zu verstehen: „Der Gerechte lebt aus Glauben." Plötzlich wußte Luther Gott in jeder Hinsicht auf seiner Seite. Gott wirkt im Glaubenden mit seiner Kraft und gibt ihm Teil an seiner Stärke, Weisheit, Heil und Herrlichkeit. Der Glaubende ist in eine merkwürdig ekstatische Existenz versetzt, entnommen allen eigenen Qualitäten samt deren Unzulänglichkeiten und dafür mit den Qualitäten Gottes begabt. Man versteht es, daß Luther sich wie neu geboren vorkam, wie an die Tür des Paradieses versetzt. Das Wunder der Begabung mit der fremden, von Gott geschenkten Gerechtigkeit wird jubelnd laut: Christus als Bräutigam schenkt der Seele als seiner unwürdigen Braut im „fröhlichen Wechsel" alles, was sein ist, und nimmt dafür ihren Makel hin. Alle Verheißungen von der Barmherzigkeit Gottes ließen sich nunmehr verifizieren. Das war die reformatorische Entdeckung. Das war und blieb lebenslang die Mitte seines Glaubens und der von ihm vertretenen Theologie, der er in immer neuen Formulierungen Ausdruck zu geben wußte. Als Beispiel für viele sollen hier die Strophenanfänge seines persönlichen Bekenntnis-liedes „Nun freut euch lieben Christen gmein" stehen: „Dem Teufel ich gefangen lag ... Mein gute Werk die galten nicht ... Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend ... Er sprach zu seinem lieben Sohn, die Zeit ist hie zu erbarmen ... Der Sohn dem Vater ghorsam ward ... Er sprach zu mir, halt dich an mich ...
Das Christusgeschehen ist der befreiende Einbruch Gottes in die durch die ehernen Gesetze von Endlichkeit, Tod, Schuld und Leid gebundene verlorene Welt. So hat Luther später den zweiten Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses ausgelegt. An dem Glauben an die Erlösung allein durch Christus hing für ihn fortan alles. Das war „der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt". Er bildete das Zentrum des Wirkens und der Wirkung Luthers, führte ihn mit seinen Kon5 Sequenzen freilich auch in den lebenslangen Konflikt. Luther wurde durch die Entdeckung der Glaubensgerechtigkeit zu einem innerlich freien Menschen. Die neue Einsicht machte eine umfassende Grundlagenrevision seiner ganzen Theologie erforderlich. Dabei blieb es keineswegs bei der radikalen Theorie. Bezeichnenderweise entwickelte und entfaltete sich Luthers Theologie jeweils an konkreten Sachfragen und war deshalb zugleich vielfach relevant für die kirchliche Praxis oder das alltägliche Leben. Insofern bildeten die neue Theologie und das reformatorische Programm eine Einheit. Das soll nunmehr an einigen Aspekten exemplarisch belegt werden. mik, die sich zu ungeheurer Grobheit und schroffsten Urteilen steigern konnte, zutage Die Problematik solcher Äußerungen war Luther keineswegs fremd, und er vermochte sich auch immer wieder zurückzunehmen. Aufgrund seines Glaubens konnte sich Luther schließlich in kindlichem Vertrauen in seinen Tod schicken, eine Kunst, die er schon Jahrzehnte zuvor seine Mitmenschen gelehrt hatte. Der letzte Zettel, den er hinterließ, handelte von der die Möglichkeiten des Menschen übersteigenden Aufgabe der Bibelauslegung. Er war darin Meister gewesen, aber er bekannte demütig: „Wir sind Bettler, das ist wahr."
Leben aus der Rechtfertigung Aus der Erfahrung der Rechtfertigung und des Angenommenseins durch Gott bezog Luther die Kraft für seinen weiteren Weg. Er hatte sie bitter nötig, denn die Papstkirche begann bereits gegen ihn vorzugehen. Selbstverständlich beschlich ihn anfangs die Angst um sein Leben, denn es war nicht vorauszusehen, ob sein Landesherr ihn auf Dauer zu schützen vermochte. Seine Glaubensüberzeugung um der persönlichen Sicherheit willen aufzugeben, war ihm unmöglich, „weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun", wie er in Worms sagte. Als Friedrich der Weise ihn wissen ließ, er könne ihn in Wittenberg nicht schützen, falls Luther von der Wartburg zurückkehre, entgegnete dieser: „Wer am meisten glaubt, der wird hier am meisten schützen." Dabei war Luthers Glaube keineswegs unangefochtener Besitz. Die Zweifel und Anfechtungen, auch die wegen seines Werks, blieben nicht aus. In diesem Zusammenhang spielten sich seine drastischen Kämpfe mit dem Teufel ab. Daneben konnte er großartig gelassen sein. Er vertraute darauf, daß Gottes Wort sein Werk tut, und darum meinte er, auf gewaltsame Aktionen verzichten zu können. Er wußte, daß Gottes Reich wuchs, während er sein Wittenbergisch Bier trank. Luther war kein Heiliger, sondern verstand sich als der Sünder, dem Gott vergeben hat. „Gerecht und Sünder zugleich", das ist die paradoxe Seins-weise des Glaubenden während seines ganzen Lebens. Die Kanten von Luthers Persönlichkeit treten am deutlichsten in seiner Pole-DasProblem der Autoritäten oder Normen Luther hatte das freimachende Evangelium entdeckt. Zuvor hatte sein Problem nicht zuletzt darin bestanden, daß er aus der Bibel vor allem die göttliche Forderung herausgehört hatte, die diese in Geboten, Drohungen, Mahnungen und Beispielen zahlreich enthält, ohne ihr gerecht werden zu können. Er mußte also zu unterscheiden lernen zwischen der Forderung des Gesetzes und der Verheißung des Evangeliums. Die Kategorien lieferte Paulus. Das Gesetz, an dem der Mensch scheitert deckt diesem seine hoffnungslose Situation auf. Die Funktion des Gesetzes besteht also nicht in seiner Erfüllung, sondern darin, den Menschen zu der im Evangelium verheißenen Barmherzigkeit Gottes in Christus hinzutreiben. Das Gesetz ist somit etwas Vorläufiges, die eigentliche Mitte der Bibel bildet Christus mit seinem Heilsangebot.
Die Glaubensgerechtigkeit wird heute auch als katholische Glaubenswahrheit bejaht. Damit wird unverständlich, warum es über sie zum Konflikt kam. Hätte der Bruch bei etwas mehr Geduld und Liebe vermieden werden können? Die Verschiebung des Streitfalles von der Ablaßproblematik auf die Frage der Autorität des Papstes war von Luther nicht intendiert gewesen. Allerdings lag die eigentliche Ablaßgewalt beim Papst, der aus dem angeblich durch die Heiligen angesammelten Schatz guter Werke den Ablaß austeilte. Die päpstlichen Theologen sahen deshalb mit Luthers Ablaßkritik sofort die Autoritätsfrage gestellt und suchten ihn deshalb zum Schweigen zu bringen. Luther gehorchte nicht, denn nun wurde ihm bewußt, daß die päpstliche Gesetzgebung sich durchaus nicht immer im Einklang mit der Bibel befand. Das Papsttum war also irrtumsfähig. Auf der Leipziger Disputation 1519 mußte sich Luther zu der weiteren Einsicht durchringen, daß auch die Entscheidungen eines Konzils, der andern entscheidenden kirchlichen Autorität, nicht unbesehen übernommen werden durften, da in Konstanz 1415 einige gut christliche Sätze von Jan Hus verurteilt worden waren. Luther war von Haus aus alles andere als antiautoritär. Er war auch ferner bereit, kirchliche Autoritäten anzuerkennen, allerdings mußten ihre Entscheidungen stets anhand der Bibel überprüfbar bleiben. Damit stellte sich freilich das schwierige Problem, nach welchen Kriterien die Bibel auszulegen war, damit nicht subjektive Willkür Platz griff. Für Luther legte sich die Bibel von ihrer Gesamtheit her selbst aus; im übrigen muß man sich auf die Kraft des Heiligen Geistes und seine Macht im Wort verlassen. Eine unfehlbare sonstige Absicherung gibt es nicht, so schwierig das auch in der Praxis sein mag, wenn Auslegung gegen Auslegung steht.
Die Fragwürdigkeit der päpstlichen Autorität hatte sich Luther nicht zuletzt von den bestehenden Verhältnissen her aufgedrängt. Die damalige Kirche begegnete ihm als in rechtlichen Vorschriften erstarrtes System, das fordernd und reglementierend in viele Lebensbereiche eingriff. Das ging nicht nur auf Kosten der christlichen Freiheit, sondern mußte den fatalen Eindruck erwecken, man könne durch die Befolgung kirchlicher Vorschriften das Heil verdienen. Das gesetzliche System der Kirche pervertierte also das Evangelium. Nachdem Luther dieser Mißstand aufgegangen war, meinte er, im Papst selbst den endzeitlichen Antichrist sehen zu müssen, durch den das Christentum verführt wurde. Dennoch dachte er nicht daran, seiner Kirche den Rücken zu kehren. Er kritisierte sie schärfstens, aber er wollte sie damit zur Sache, zurück auf den Boden der Bibel rufen. Die Verbrennung der Bannandrohungsbulle am 10. Dezember 1520 war eine NichtigkeitserÜärung seines Ausschlusses aus der Kirche.
Mit der gleichzeitigen Verbrennung des Kir-Chenrechts wurde die Ablehnung des kirchlichen Rechtssystems überhaupt dokumentiert. Noch an einem anderen Punkt mußte Luther mit der hierarchischen Priesterkirche in Konflikt geraten. Christus hat Petrus und der Gemeinde das Amt des Bindens und Lösens übertragen. Der Priester übermittelt dem Glaubenden in der Beichte die Lossprechung und Vergebung Christi. Er ist dabei nichts als der Beauftragte Christi und der Diener der Glaubenden. An sich kann jeder Christ das Vergebungsamt ausüben. Entscheidend ist einzig, daß der Glaubende die zugesprochene Vergebung als verläßliches Wort Christi glaubt. Damit waren eigentlich die Sonderstellung des Priesters und die Abstufung der Hierarchie hinfällig und der persönliche Glaube wie der christliche Laie aufgewertet. Das hat seinen Ausdruck gefunden in der Theorie vom allgemeinen Priestertum aller Getauften. Die Priester sind lediglich die aus ihrer Mitte herausgestellten Exponenten zum Dienst an den Glaubenden. An sich gibt es keine höhere christliche Qualifikation, als die in der Taufe zugesprochene Gotteskindschaft und Bruderschaft Christi. Im Notfall hat auch der getaufte Laie sich der Kirche anzunehmen. Von daher forderte Luther den christlichen Adel zur Reform der Kirche auf, nachdem das Papsttum sich gegen eine Erneuerung mittels seines Rechtssystems immunisiert hatte. In der Kirche — nicht hingegen im politischen Bereich! — hat Luther die Gleichheit aller Glieder vertreten.
Die Sakramente Vom Neuen Testament her kam Luther auch zu radikalen Konsequenzen in der Sakramentslehre, die er bezeichnenderweise in der Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" vorbrachte, womit ausgedrückt war, daß die Kirche an diesem Punkt nicht mehr bei sich selber war. Dabei ging es erneut um das System als ganzes, nicht um bloße Theologenfündlein. Das damalige Handeln der Kirche vollzog sich im Zentrum in den Sakramenten. Für Luther waren sie ein Teil jener gnädigen Beziehung, die Gott zu den Menschen aufgenommen hat. In der Taufe wurde die Annahme zur Gotteskindschaft, im Abendmahl die Vergebung um Christi willen jeweils sinnenfällig durch die äußeren Zeichen von Wasser bzw. Brot und Wein bezeugt. Der schwache Glaube des Menschen bedarf nach Luther solcher persönlicher Zueignung und konkreter Vergewisserung. Die Sakramente mußten freilich von Christus eingesetzt sein und sowohl eine Verheißung als auch ein äußeres Zeichen haben. Aufgrund dieser Kriterien kam es zu einer großen Reduktion. Firmung, Priesterweihe, Ehe und letzte Ölung waren nicht von Christus eingesetzt. Das Bußsakrament hingegen entbehrte des äußeren Zeichens. Luther gab es nicht auf, interpretierte es jedoch als Rückbezug auf die Taufe. Die Ehe wurde zwar durchaus positiv bewertet; sie gehörte jedoch zum Bereich der Schöpfung und war eigentlich ein „weltlich Ding". Auch Taufe und Abendmahl erfuhren einschneidende Veränderungen. Um der Verständlichkeit willen wurde die Liturgie in deutscher Sprache gefordert. Das Abendmahl war in beiderlei Gestalt auszuteilen. Eliminiert wurde im wesentlichen der Gedanke des Opfers, durch den die Messe zur frommen Leistung verkehrt worden war, was ihrem Gabecharakter widersprach. Das Abendmal war Gemeindefeier, somit entfielen die Privat-, Votiv-und Totenmessen. Das rührte nicht zuletzt an das kirchliche Finanzsystem.
Die neue Ethik Wenn man allein aus dem Glauben gerechtfertigt wird, dann erscheinen kurzschlüssig die guten Werke als überflüssig, und die Folge ist ein ethischer Quietismus. Dieser Vorwurf wurde Luther in der Tat von seinen Gegnern alsbald gemacht, und ein derartiges Mißverständnis breitete sich auch unter manchen seiner Anhänger aus. Luther war ganz anderer Meinung: Der Glaube stellt frei zur Liebe und ihrer spontanen Tat. Diese ist allerdings nicht Gott zu erweisen — ihm gibt man mit dem glaubenden Vertrauen die höchste Ehre —, sondern dem Mitmenschen, dem es brüderlich zu helfen gilt. Damit gewann anstelle des besonderen frommen Werks das alltägliche Handeln in Haus und Beruf seine Qualität als Gottesdienst. Das Tun der Hausfrau, des Handwerkers, des Dienstboten, aber auch der Staatsdienst erhielten so eine neue Würde und Sinnstiftung unabhängig von Erfolg und Verdienst. Die Auffassung vom Beruf wurde hier vertieft und neu motiviert, allerdings innerhalb des Systems einer ständischen Gesellschaft. Aufgehoben war zugleich die Zweiklassenethik von Klerus und Laiei So großartig dieser ethische Ansatz sein mag und obwohl er hilfreiche Orientierung geboten hat, seine Verwirklichung war immer auch schwierig. In der Routine von Alltag und Beruf und angesichts vielerlei Reglementierung konnte das evangelische Ethos leicht verloren gehen. Seine Grundwerte sind damit jedoch keineswegs falsifiziert.
Das Beten schied aus der Reihe der herkömmlichen guten Werke aus. Im Gebet kam es auf das Reden des Herzens mit Gott als die gesammelte Kommunikation mit ihm an. Das führte zu einer erheblichen Umformung der Gebetssitte. Das Fasten wurde nunmehr als in Freiheit geübte Selbstzucht des eigenen Leibes verstanden. Die Unterstützung der Bedürftigen ist selbstverständliche Christen-pflicht. Umfassend hat Luther die christliche Existenz in dem Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen'1 beschrieben. Der Christ ist innerlich frei durch das rechtfertigende Evangelium, äußerlich hingegen dem Nächsten dienstbar. Das ist als Ablenkung von den wahren emanzipatorischen Interessen des Menschen, insbesondere seinen politischen, denunziert worden. Man übersieht dabei die große Entlastung, indem der Mensch sein eigenes Heil oder Glück nicht selbst schaffen muß. Er ist damit freigestellt, für seinen Mitmenschen da zu sein, und von daher ergeben sich bedenkenswerte Möglichkeiten einer menschlicheren Gestaltung der Welt.
Der Staat Der zum Dienst am Mitmenschen freigestellte Gerechtfertigte, der auf Selbstdurchsetzung verzichtet, ist in der weltlichen Gesellschaft ein Außenseiter, und so fragt es sich, wie sein Verhältnis zu ihr zu bestimmen ist. Luther anerkannte von Anfang an, daß Recht und Gewalt des Staates zur Ordnung des Zusammenlebens unverzichtbar sind. Gerade um der Liebe willen, die im weltlichen Beruf praktiziert wird, jedoch nicht für sich selbst, beteiligt sich der Christ an den staatlichen Aufgaben, u. U. auch als Büttel und Hen ker, und hilft so mit, die äußere Rechtsordnung zu bewahren. Sie ist nicht zuletzt auch eine äußere Rahmenbedingung für die Existenz der Kirche in der Welt. Der Staatszweck ist dabei ein begrenzter. Er kann nie mehr sein als eine äußere, vorläufige Ordnung in einer von Unordnung bedrohten Welt, nie das Heil selbst. Bei aller Anerkennung des Staates steht der Christ etwaigem Fehlverhalten wie Egoismus, Cliquenherrschaft, Kompetenzüberschreitung und Überreaktion kritisch gegenüber, wie Luther das vielfach selbst praktiziert hat. Obwohl der Staat ein eigenständiger Bereich ist, darf er nicht einfach seiner Eigengesetzlichkeit überlassen werden, sondern ist auf seine Verantwortung anzusprechen. Wegen der Differenz zwischen dem politischen Bereich und dem Christi muß der Glaubende zwischen seiner politischen Funktion und seiner persönlichen christlichen Existenz unterscheiden, so schwierig das auch sein mag, weil hier eine ethische Doppelgleisigkeit droht. Sehr nüchtern ist das Wissen, daß politische Fragen keine Heilsfragen sind und auch nicht dazu gemacht werden dürfen. Umgekehrt steht aber auch dem Staat hinsichtlich des Heils keine Kompetenz zu. Er darf sich darum in die Freiheit des Gewissens nicht einmischen und keine Machtmittel gegen sie anwenden. In dieser Einsicht bestand Luthers Beitrag zur Gewissensfreiheit, auch er, wie seine Staatsauffassung, eine Konsequenz seiner Rechtfertigungslehre.
Der Bauernkrieg Im Bauernkrieg von 1525 entluden sich die sozialen Spannungen, unter denen vor allem die Bauern infolge erhöhter Abgaben und Beanspruchungen bei gleichzeitiger Vorenthaltung politischer Mitsprache litten. Ihre Wucht erhielten die bäuerlichen Forderungen durch die Berufung auf die Bibel und die evangelische Freiheit. Große Erwartungen richteten sich auf Luther. Dieser hätte aber wohl auf jeden Fall kritisch reagieren müssen. Seine Antwort wurde noch verschärft durch die neue Heilslehre Thomas Müntzers. Sie be-sagte, daß Gott seinen Geist den Unterdrückten und Armen gibt und aus ihnen sein Volk sammelt, das das Gericht an den Gottlosen Vollzieht. Luther mußte schärfstens ablehnen, daß die Geistverleihung wieder von einer menschlichen Qualität, nämlich Armut und Leiden, abhängig gemacht wurde und das Reich Gottes durch die Aktion eines gewaltsamen Umsturzes verwirklicht werden sollte. Das mußte zu Verwirrung der Gewissen und äußerem Chaos führen. Trotz anerkannter Berechtigung der bäuerlichen Forderungen konnte sich Luther hier nur versagen, mochte das auch noch so viele Sympathien kosten. Mit seelsorgerlichem Ernst warnte er vor einem weltlichen Mißbrauch des Evangeliums, politisch bemühte er sich um eine Verhandlungslösung, die freilich den Bauern nicht viel zugestand. Als der Aufstand die politische Ordnung hinwegzufegen drohte, forderte er aus Angst vor dem Chaos dessen erbarmungslose Niederschlagung. Wie sich an Luthers Schülern zeigt, wäre im einzelnen eine differenziertere Reaktion möglich gewesen; sofern jedoch die Ideologie eines von Menschen zu beschaffenden irdischen Heils im Spiel war, erfolgte seine Ablehnung zu recht.
Schon 1521/1522 hatten radikale Anhänger Luthers in Wittenberg eine gewaltsame reformatorische Neuordnung begonnen, bei der u. a. die Messe verändert und die Bilder und Altäre aus den Kirchen entfernt wurden. Wegen dieser Vorgänge kehrte Luther von der Wartburg zurück und machte die Reformen weithin rückgängig, weil mit ihnen eine noch altgläubige Mehrheit überfahren wurde. Er wollte nicht den alten kirchlichen Zwang durch einen neuen ersetzen. Um gewichtigere Probleme ging es im 1524 beginnenden Abendmahlsstreit. Nicht wenige im reformatorischen Lager, vor allem aber die Schweizer Theologen, vermochten das Abendmahl nur noch als symbolisches Gedenken an Christi Tod zu verstehen. Luther widersprach aus zwei Gründen: Eine solche Auffassung war mit dem Wortlaut der Einsetzungsworte nicht vereinbar. Außerdem kam ihm alles auf die wirkliche Mitteilung von Leib und Blut Christi zur Stärkung seines Glaubens an. Die objektive Übermittlung der Sündenvergebung im Abendmahl war für ihn so wichtig, daß er deswegen die Kirchengemeinschaft mit den Schweizern aufs Spiel setzte.
Der unfreie Wille Obwohl Luther der Gelehrtenbewegung des Humanismus anfängliche Unterstützung und wichtige sprachliche Hilfsmittel für die Bibel-auslegung verdankte, hatte er schon früh erkannt, daß eine gravierende Differenz zwischen seinem und dem humanistischen Menschenbild bestand. Wie jeder Humanismus überhaupt, so ging auch sein bedeutendster damaliger Repräsentant, Erasmus von Rotterdam, von der Bildungsfähigkeit des Menschen zum Höheren, Göttlichen aus. Dem widersprach Luthers Erfahrung von der anhaltenden Bündigkeit und Unfähigkeit des Menschen, an seinem Heil mitzuwirken. Für Erasmus machte eine solche Auffassung jegliche Moral unmöglich, und deshalb griff er 1524 das Problem der Freiheit des menschlichen Willens zum Guten auf. Schwierige theologische Fragen wie die der Erwählung ließ Erasmus dabei als überflüssig und zu dunkel beiseite. Offensichtlich hatte er die Erfahrung des modernen Menschen, seine Angelegenheiten in die eigene Hand nehmen zu können, für sich. Allerdings ging es in dem Streit nicht um die menschliche Verfügungsfreiheit in den alltäglichen Angelegenheiten, sondern um seine Fähigkeiten bei der Herstellung eines intakten Gottesverhältnisses und der Gewinnung des Heils.
Luther widersprach Erasmus 1525 in der tiefen Schrift „Vom unfreien Willen". Er bestritt, daß man die Erwählung ausklammern könne, schließlich mußte der Christ hinsichtlich der wichtigsten aller Fragen, nämlich der seines Heils, Gewißheit haben. Der Erwählung darf sich trösten, wer an die Hingabe Christi für sich glaubt. Der menschliche Wille hingegen vermag in der Frage des Heils nichts oder allenfalls das Falsche zu bewirken, denn Heil zu schaffen ist Sache Gottes. Dahinter steht Luthers Erfahrung von seinem Scheitern in der Bemühung um das Heil. Dieses konnte der schwache Mensch für sich nicht besorgen; sein Trost, seine Geborgenheit und Gelassenheit lagen darin, daß er den rechtfertigenden Gott für sich verläßlich am Werk wußte. Das ergab sich konsequent aus der Rechtfertigungslehre. Luthers innere Freiheit resultierte aus der akzeptierten Abhängigkeit von Gott. Der optimistische Humanismus kommt an diesem Punkt nie aus der Unsicherheit heraus, und seinem Bemühen haftet etwas Tragisches an. Dennoch folgte die Neuzeit auf die Dauer eher Erasmus als Luther. Seine Auffassung von der Freiheit aus der Bindung hat darum jedoch nichts von ihrer Bedeutung verloren.
Fazit Luther war nicht eigentlich ein Dogmatiker, sondern Bibelausleger, Prediger und Schriftsteller. Dennoch dürfte die Zentriertheit seines ganzen Denkens und Handelns auf die Rechtfertigung des Menschen durch Christus, die sich noch an zahlreichen weiteren Problemstellungen vorführen ließe, deutlich geworden sein. In einem Nachruf auf Luther listete sein Schüler Johannes Brenz 1546 auf, was durch jenen neu geworden war: die Lehre von Gesetz und Evangelium, die Sakramente, das Gebet, der Kirchengesang, die an der Bibel orientierte Theologie, dazu die Auffassung von der staatlichen Gewalt, vom Ehestand, Ackerbau, Handwerk und Handel. Der Ausgangspunkt dieser Reformation von Theologie, Kirche, Frömmigkeit, öffentlichem und privatem Leben war die Rechtfertigungslehre. Sie war freilich nie selbstverständlich oder gesicherter Besitz, wie sich schon an Luthers Leben und Wirken zeigte. Dauernd bestand die Gefahr, daß die notwendige Unterscheidung von Gesetz und Evangelium verwischt wurde, und davor waren selbst die Nachfahren Luthers nicht gefeit, die immer wieder in eine unevangelische Gesetzlichkeit zurück-fielen. Die Motivation zur spontanen Tat der Liebe stumpfte sich ab und wurde unlebendig. Staat, Beruf und Wirtschaft hatten die Tendenz, sich zu säkularisieren und zu verselbständigen und entzogen sich damit der kritischen Beurteilung durch den Glauben. Das allgemeine Priestertum blieb auf Kosten einer Pastoren-und Staatskirche nur zu leicht auf der Strecke.
Man kann erwägen, ob der durch die reformatorische Entdeckung bewirkte Umbruch seinen ungeheuren Preis, die Zertrennung der Christenheit, die Zerschlagung der Hierarchie-und Sakramentskirche, das Zerbrechen der hergebrachten Frömmigkeitsformen, lohnte. Man muß sich dabei freilich bewußt sein, daß das für Luther keine beliebige Frage war. Um der Wahrheit des Evangeliums, seines Gewissens und des Heils seiner Seele willen konnte er nicht anders. Trotz aller Gefahr-düng und Anfälligkeit war das Resultat auch keineswegs bloß destruktiv. Man würde die Anhänger der Reformation tief unterschätzen, würde man ihnen unterstellen, daß es ihnen lediglich um Entlastung von kirchlichen Verpflichtungen und äußerliche Vorteile gegangen wäre. Es gelang die Schaffung einer neuen kirchlichen Ordnung mit Predigt und Sakramenten im Mittelpunkt. Es entstand eine neue Frömmigkeitssitte mit den Medien Bibel, Katechismus und Gesangbuch. Aus dem evangelischen Glauben heraus ließ sich das Leben bestehen, verantwortlich handeln und getrost sterben. Bis zu einem gewissen Grad konnte die christliche Obrigkeit bei ihrer Verantwortung für das christliche Gemeinwesen behaftet werden. Die Gesellschaft profitierte von der aus dem Glauben motivierten Pflichterfüllung.
Die historische Bilanz entbindet die Gegenwart nicht von der eigenen Stellungnahme. Luthers zentrale Entdeckung bleibt ein ursprüngliches Ereignis, das immer wieder neu bedacht zu werden lohnt. Sie bietet freilich keine allgemein menschlichen Anweisungen, sondern lädt zu einem Leben aus dem Glauben an Christus ein. Der Glaubende existiert nicht aus sich selbst, sondern aus dem Geschenk des Angenommenseins durch Gott. Folglich hat er es nicht mehr nötig, sich selbst zu behaupten. Seine Würde liegt nicht zuletzt in der aus der Rechtfertigung resultierenden, unveräußerlichen inneren Freiheit, die durch keine Zwänge angetastet werden darf. Das ist allem, die Gewissen unfrei machenden Druck, an dem es auch heute, z. B. in einer moralisierenden Publizistik, nicht fehlt, entgegenzuhalten. Der Glaubende weiß von der Unvollkommenheit, ja möglichen Schuldverstrickung alles seines Tuns. Die ihm zugesprochene Vergebung bietet jedoch immer wieder die Chance zum neuen Anfang.
Der Glaubende weiß ferner, daß er von sich aus weder sein eigenes noch das Heil der Welt sicherzustellen vermag. Er kann darum gelassen auf allen falschen Leistungsstreß und die hektische Jagd nach dem Glück verzichten. Damit ist er freigestellt zum besonnenen und vernünftigen Handeln für seinen Mitmenschen, gegebenenfalls auch zum opferbereiten Verzicht auf eigene Ansprüche. Aus diesen Andeutungen dürfte hervorgehen, daß Luthers reformatorische Erkenntnis nach wie vor großartige Offerten enthält, das eigene Leben und das Zusammenleben mit seinen Aufgaben zu bestehen.