Zum Politikverständnis der Grünen
Die ersten Wahlbeteiligungen der Grünen begannen 1976/77. Inzwischen stellen sie über tausend Abgeordnete in Ländern, Kreisen und Gemeinden -Aber erst seit den Wahlen in Hamburg und Hessen wurde man sich in der etablierten Öffentlichkeit gewahr, daß die Grünen längst wer sind — ohne daß man deshalb wüßte, wer sie nun eigentlich sind
Unter dem Kürzel „die Grünen“ sollen hier alle Vereinigungen verstanden werden, die im Kontext der Ökologie-und Alternativbewegung zum Zweck einer Wahlbeteiligung entstanden sind. Ihren gemeinsamen Nenner haben sie in vier Programmsäulen definiert — ökologisch und sozial für das, was sie wollen, basisdemokratisch und gewaltfrei für das, wie sie es wollen Vor dem Hintergrund der aktuellen Notwendigkeiten der parlamentarischen Mehrheitsbildung gewinnt unter diesen vier Orientierungspflöcken das Konzept „Basisdemokratie“ an besonderem Interesse.
Festgeschrieben wurden die vier Programm-säulen erstmals in einem Artikel von Max Winkler 1978 für den gemeinsamen Programmausschuß der Aktionsgemeinschaft unabhängiger Deutscher (AUD), der Grünen Aktion Zukunft (GAZ), der Grünen Liste Umweltschutz (GLU) und der Grünen Liste Schleswig-Holstein. Darin hieß es, die Grünen könnten „nur mit basisdemokratischer Unterstützung und Rückkoppelung“ weiterkommen, denn „ökologische Politik ohne basisdemokratische Verankerung verkommt rasch ... zum zentralen Machtmißbrauch"
Dies war zunächst alles. Es zeigte allerdings deutlich genug, daß es bei diesem Ansatz nicht um eine Politik ging, die von einer wie immer definierten Basis bestimmt oder gar gemacht werden soll. Vielmehr zielte dies auf eine Politik, die von den Grünen, die selbst nicht zu dieser Basis zählen, bestimmt, dann allerdings mit dieser Basis rückgekoppelt werden soll, um deren Unterstützung zu erlangen. Diese Definition von Basisdemokratie hatte noch etwas kompromißhaftes. Sie klang radikal, war aber ihrem tatsächlichen Inhalt nach ohne weiteres zu verkraften für die konservativen Teile der genannten Gruppierungen, die sich ihrerseits damit abfanden, das Wort an und für sich zu benutzen. Es war dies eine Anpassungsgeste nach links, ein Ausdruck des inzwischen aufgegebenen Versuches, sich als sogenannte Gesamtalternative zu formieren, das heißt als Gruppierung quer zur parlamentarischen Links-Mitte-Rechts-Sitzgeographie bzw. jenseits derselben.
Tatsächlich kommt der Begriff aus der außer-parlamentarischen Bewegung der späten sechziger Jahre. Die Parlamentarismuskritik der APO verband sich in den siebziger Jahren mit der Praxis der Bürgerinitiativen. Bürgerinitiativen und ähnliche überschaubare Gruppen engagierter Bürger sind jene ursprüngliche Basis, von der Inspirationen zu einem Konzept der Basisdemokratie ausgegangen sind und auf die sie zugeschnitten sind. Es handelt sich gewissermaßen um den Versuch, das Selbstverständnis des außerparlamentarischen Basisgruppen-Aktivisten in den Raum parlamentarischer Parteiaktivitäten hinüberzutransportieren. Im Bundesprogramm der Grünen von 1980 heißt es: „Basisdemokratische Politik bedeutet verstärkte Verwirklichung dezentraler, direkter Demokratie ..., daß der Entscheidung der Basis prinzipiell Vorrang eingeräumt werden muß. überschaubare, dezentrale Einheiten (Ortsebene, Kreisebene) erhalten weitgehende Autonomie und Selbstverwaltungsrechte zugestanden" Hiermit wird eine regelrechte Reform der politischen Machtstruk-tur gefordert. Nicht nur andere Träger der Macht sollen her, sondern eine andere Machtverteilung. Die Politik der Grünen soll nicht nur durch die Basis unterstützt werden, sondern es soll sich um eine authentische Politik der Basis selbst handeln.
Hinter dieser Absicht steht eine gemeinsame Wahrnehmung vieler Grüner. Sie erleben das heutige Parteien-und Parlamentsgefüge als unbeweglich und bürokratisch, als zentralistisch und „abgehoben" (von der Basis der Bürger), als vereinnahmt von der Exekutive, zunehmend regiert als „Richterstaat" und einseitig mächtigen Verbandsinteressen verpflichtet, besonders der Großindustrie und den Gewerkschaften. Andere Interessen, etwa Umwelt-, Gesundheits-, Mieter-, Frauen-oder Hausfrauen-, Jugend-, Alten-, Freizeit-, Arbeitslosen-oder Ausländerinteressen, also die Interessen durchaus großer, aber kaum organisierter Minderheiten haben dabei weniger Durchsetzungschancen. Martin Jänicke sieht deshalb in der Alternativbewegung „die Gegenbewegung dieser organisatorisch Unterprivilegierten" und in den Grünen „das Produkt der Erfahrung, daß das politische System der entwickelten Industriegesellschaften lebensnotwendige Schutzfunktionen kaum noch erfüllt und überlebensnotwendige Steuerungsleistungen kaum noch erbringt" An dieser Stelle fallen gewisse Parallelen auf zur „neuen sozialen Frage“ und zur Regierungskritik, wie sie vom liberalen Flügel der CDU thematisiert worden sind Zumindest eine Ähnlichkeit im Ansatz ist nicht zu übersehen. Diese und eine Reihe anderer Feststellungen bezüglich Subsidiarität, Selbsthilfe, Wertkonservatismus u. ä. erlauben jedoch noch nicht den häufig anzutreffenden Kurzschluß, die Grünen und die Konservativen seien „entfernte Verwandte" Wir stoßen hier vielmehr auf ein Versäumnis der Mitte: Sozialdemokratie und Gewerkschaften haben auf wichtige Zeitfragen — außer der Umwelt-frage eben auch die neuerlichen Marginalisierungs-und Minderheitenprobleme — lange nicht angemessen reagiert. Ihr alter Glaube, quasi geschichtslogisch nun einmal an der Spitze der Entwicklung zu stehen, war offenbar nicht gebrochen genug.
Von der Hoffnung auf „mehr Demokratie" zur Hoffnung der Basisdemokratie
Die Parlamentarismuskritik der Grünen entspricht deutlich einem radikaldemokratischen Standpunkt. Vollzieht man den Diskussions-und Differenzierungsprozeß seit 1977 nach, in dessen Verlauf rechts-und linksorientierte Grüne sich zunehmend trennten, wird deutlich, daß sich bei den Grünen ab 1980 sozialreformerische Inhalte durchgesetzt haben Die Grünen sind zur vielbeschworenen Partei „links von der SPD" geworden. Ihre „ökosozialistische" Programmatik wie auch demoskopische Analysen ihrer Mitglieder und Wähler bestätigen dies eindeutig
Im ursprünglichen Versuch, Proteststimmen aus links-wie rechtsorientierten Kreisen zu versammeln, trafen sich Kräfte, die sich einerseits zunächst mehr der Arbeiterbewegung, besonders aber den neuen sozialen Bewegungen verpflichtet fühlten, und andererseits mehr der Natur-und Umweltschutzbewegung. Daß Rot und Grün dabei eine Verbindung eingehen würden, lag am Sachzusammenhang von Ökonomie und Ökologie. Wie Rudolf Bahro in seiner Rede auf dem Offenbacher Kongreß der Grünen im November 1979 sagte: „Die Sozialisten brauchen die Grünen, weil die Sicherung des Überlebens die Bedingung dafür ist, daß ihre alten Ziele erreichbar bleiben. Die Sozialisten werden von den Grünen gebraucht, weil das Überleben nur gesichert werden kann, wenn der Antriebsmechanismus der Monopolkonkurrenz außer Betrieb gesetzt wird." Unverträgliche grüne Konservatismen haben sich in diesem Verbindungsprozeß abgespalten oder aufgelöst. Auf rote Entsprechungen wird weiter unten noch einzugehen sein. Jedenfalls ist das Bild von den Grünen als einem „Vogel, der auf beiden Flügeln in die Höhe strebt", nicht nur werbewirksam, sondern auch in der Sache zutreffend
Man kann die Grünen heute als eine links-ökologische Partei verstehen, deren Mitglieder teils aus der SPD ausgewandert sind und sich ihr teils von vornherein verweigert haben. Dies mag die These plausibel machen, daß sich im Begriff „Basisdemokratie" ein zwar diffuser, nichtsdestotrotz starker Impuls ausdrückt, den in der Ara Brandt gescheiterten Versuch, „mehr Demokratie zu wagen", mit radikaldemokratischem Anspruch fortzuführen.
„Der Begriff Basisdemokratie", schreibt ein Tübinger Grüner anläßlich einer parteiinternen Debatte, „ist entstanden als Kampfbegriff, als Kampfansage gegen jenes herrschende Geschwätz, das bei allem und jedem mit dem Ausdruck . Demokratie'sein Schindluder treibt... und Bürokratenherrschaft unter das Prädikat .demokratisch legitimiert'zu stellen versucht. Der Begriff . Basisdemokratie'ist dabei von uns recht selten präzise definiert worden; mit ihm verband sich eher eine pauschale Negation der herrschenden und pervertierten Demokratie. Der Ausdruck . Basis-demokratie'wurde geboren als sprachliche Distanzierung: wenn Ihr diese entartete repräsentative Demokratie demokratisch nennt, dann nennen wir das, was wir wollen, basisdemokratisch"
Diese Äußerung, der sich eine Vielzahl ähnlich lautender von führenden Grünen hinzu-fügen ließen, zeigt deutlich, daß die außerparlamentarische Haltung der Grünen im Grunde durchaus nicht antiparlamentarisch ist. Dieser Anschein mag zwar durch gelegentlich heftige Äußerungen erweckt werden. Jedoch läuft, wie schon die Studentenrevolte von 1968, auch der grüne Protest auf eine Doppelstrategie hinaus. Deren eine Hälfte ist die direkte Aktion auf der Straße, in Basis-gruppen und Bürgerinitiativen, während die andere aus einer Beteiligung in den Institutionen der parlamentarischen Demokratie besteht. Die erklärte Absicht ist nicht, das Grundgesetz abzuschaffen, sondern es auszuschöpfen. Die Kritik an den etablierten Parteien lautet nicht, daß sie auf dem Boden des Grundgesetzes stünden, sondern daß sie nur so tun würden als ob, in Wirklichkeit aber, in einer restriktiven Verengung dieses Bodens, die demokratischen Rechte zunehmend untergraben würden durch jenen Prozeß der Bürokratisierung und korporativen Verflechtung, den Ossip K. Flechtheim als Neo-Cäsarismus charakterisiert hat Das Grundgesetz versteinert als ein in die Unwirklichkeit entrückendes Heiligtum. „Der tiefere Sinn unserer Forderung nach Basisdemokratie", schreibt Holger Heimann, einer der grünen Landtagsabgeordneten in Baden-Württemberg, „liegt in dem Wunsch, daß Demokratie lebendig werden möge" Die basisdemokratische Stoß-richtung geht also — was für manche verblüffend oder doch paradox erscheinen mag — dahin, die parlamentarische Demokratie neu zu beleben und sie dabei auch zu erweitern und durch außerparlamentarische oder vor-parlamentarische Demokratiefelder zu ergänzen.
Die Konkretisierung dieses Anliegens in systematischer Form ist bisher allerdings ausgeblieben. Darin können für die Grünen gewisse Fallstricke liegen. Unter dem Sachzwang, Wahlprogramme zu formulieren und Kandidaten loszuschicken, wurden vereinzelte Allgemeinforderungen und Verfahrensregeln zur Basisdemokratie aufgestellt, ohne daß deren Sinn und Nutzen immer kritisch hinterfragt worden wäre. Sie beziehen sich einmal auf eine anzustrebende Basisdemokratisierung der Gesellschaft im allgemeinen, dann auf die Rolle der Partei im Parlament hier und heute und schließlich auf die innerparteiliche Basisdemokratie.
Basisdemokratie in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Entsprechend ihrer Analyse, daß „es starke Tendenzen zu einem autoritären Maßnahmen-und Überwachungsstaat gibt", fordern die Grünen zunächst die . Aufhebung der staatlichen Eingriffe in die verbrieften Rechte der Meinungsfreiheit: Streichung von §§ 88 a (. Gewaltbefürwortung'), 90 a (Staatsverunglimpfung) sowie 130 a (. politische Zensur) des Strafgesetzbuches", da nach Auffassung der Grünen diese Bestimmungen zur Ausgrenzung mißliebiger Meinungen fehlangewendet werden. An ihre Stelle soll „die Möglichkeit der unzensierten Selbstdarstellung von Minderheiten und kritischen Meinungen in den Medien" treten. Den Ordnungskräften sollen Handhaben entzogen werden, das Versammlungs-und Demonstrationsrecht zu beeinträchtigen. Hausdurchsuchungen ohne richterliche Anordnung sollen verboten werden (auch bei „Gefahr im Verzug") und die Polizei soll keine Schußwaffen mehr tragen Alle derartigen Forderungen hängen sehr eng mit den Erfahrungen mancher Bürgerinitiativen und insbesondere der Bewegung gegen Atomkraftwerke zusammen.
Des weiteren möchten die Grünen den Föderalismus stärken (mehr Finanzmittel in Regionen, Kommunen und Stadtteile zu Lasten von Bundes-und Landesmitteln). Vor allem soll auch für eine „rechtzeitige und verständliche Information des Bürgers über alle Verwaltungsmaßnahmen" gesorgt werden. Als weitere einzuführende Maßnahme fordern sie, was ebenfalls ein unmittelbarer Ausfluß der Bürgerinitiativenbewegung ist, „daß durch verstärkte Mitbestimmung der betroffenen Bevölkerung in regionalen, landesweiten und bundesweiten Volksabstimmungen Elemente direkter Demokratie zur Lösung lebenswichtiger Planungen eingeführt werden“ Jedoch ist ein solcher Ausbau von Volksbegehren, Volksentscheid und Volksbefragung, die das Grundgesetz in Artikel 29 bisher lediglich bei der Neugliederung der Bundesländer vorsah, innerhalb der Grünen nicht unumstritten.
Die Anhänger des Plebiszits meinen, daß „in grundsätzlichen Fragen die Staatsspitze klare Weichenstellungen vollziehen können muß, unbehindert durch Lobbies, Ministerialbürokratie oder sonstige Eigeninteressen" Dieser geradezu führerstaatlich anmutende Gedankengang verkennt, daß die plebiszitäre Wirklichkeit meist das Gegenteil dessen bedeutet, womit hier argumentiert wird. Zu bedenken sind hier nicht nur Gefahren affektbedingter Fehlentscheidungen (Beispiel Todesstrafe). Bedeutender scheint mir, daß Plebiszite mit Sicherheit die Rolle des Parlaments weiter schwächen und damit die Regierung und ihre Bürokratie stärken und, wie das Beispiel der Schweiz zeigt, leicht zu einer politischen Beschäftigungs-und Besänftigungstherapie verkommen können. Bei hohem Kräfte-und Kostenverschleiß wird wenig bewirkt (es wird so gut wie immer mit Nein gestimmt), aber die Regierungs-und Ministerialbürokratie erscheint um so legitimierter. Dennoch dürfte es gerade angesichts der immer häufiger auftretenden Legitimationsnöte von staatlichen Maßnahmen angebracht sein, über plebiszitäre Möglichkeiten bei besonderen Bedingungen noch genauer nachzudenken. über die genannten Punkte hinaus besteht das Konzept der Basisdemokratie in der Wiederanknüpfung an genuin sozialdemokratische Standpunkte: fortschreitende Demokratisierung nicht nur von Staat und Politik, sondern auch der Wirtschaft und überhaupt sämtlicher Lebensbereiche Wo jedoch SPD und Gewerkschaften erst einmal die Mitbestimmung erreichen wollten, fordern die Grünen weitergehend gleich Selbstverwaltung der Unternehmen und Selbstbestimmung am Arbeitsplatz. Zu gesamtwirtschaftlichen Planungszwecken sollen jene Wirtschafts-und Sozialräte eingeführt werden, die bei SPD und DGB immer im Programm, aber nie auf der Tagesordnung standen Der Unterschied liegt des weiteren in einer stärkeren Betonung von Dezentralisierungsabsichten. „Die Großkonzerne sind in überschaubare Betriebe zu entflechten, die von den dort Arbeitenden demokratisch selbstverwaltet werden", heißt es dazu im Bundesprogramm der Grünen -An diesen Punkten entschied sich 1980 die Abkehr der rechtsorientierten Ökologen von den Grünen und deren weiterer Weg als neue Linkspartei.
Basisdemokratisches Selbstverständnis der Grünen im Parlament Es ist nach wie vor nicht ganz geklärt, warum die außerparlamentarische Protestbewegung überhaupt anfing, Parteien zu bilden. parlamentarische Engagement zieht den Gruppen der Bewegung Köpfe und Kräfte ab. Tatsächlich hat sich inzwischen gezeigt, wie Wolf-Dieter Narr feststellt, „daß die Grünen Bewegungsenergie absorbieren" und damit die Bewegung „ungewollt schwächen", so daß . Anzahl und Aktivitäten der Bürgerinitiativen eher abgenommen haben" 21“). Jedenfalls lag es auf der Hand, daß sich eine außerparlamentarische Bewegung mit einer parlamentarischen Beteiligung in komplizierte Widersprüche begeben würde.
Joachim Raschke macht dafür die revolutionäre Ungeduld verantwortlich, „den Drang, überhaupt etwas praktisch zu tun, und den Wunsch, nach langen Jahren der Erfolglosigkeit wenigstens ein bißchen Erfolg zu haben" Narr zitiert die Sehnsüchte einer heimatlosen und zersplitterten Linken: „Viele mit der sich wollen endlich eine Partei, man identifizieren kann: ihre Partei. Der Übergang in die Partei erfolgte jedenfalls eher gleitend als reflektiert. Man fühlte schlicht, daß ... etwas geschehen müsse. Und man benützt hierfür, wie könnte es denn anders sein, die zur Verfügung stehenden Formen. Also bildete man eine Partei."
So weit, so gut. Die Eiertänze der Grünen beginnen dort, wo sie das, was sie da willentlich geworden sind — eine Partei im Rahmen der parlamentarischen Demokratie —, dann doch wieder nicht sein wollen. Angesichts der „Gefahr, wir könnten plötzlich so parlamentarisch denken, daß wir die Straße vergessen", setzte Petra Kelly die Formel von der „Antipartei-Partei" in Umlauf Man darf dies wohl als parlamentarische Drohgebärde werten. Sie wiederholt, daß für die Grünen das Parlament nicht das alleinige Ziel, sondern Teil einer Strategie ist, eben einer grünen Doppelstrategie, deren „Standbein" die neuen sozialen Bewegungen und deren „Spielbein“ die parlamentarische Arbeit Grünen sein der soll Ein ähnliches Bild lautet, „Sprachrohr für die Bürgerinitiativen im Parlament" sein zu wollen
Offenbar können sich jedoch viele Grüne auf eine solche Aufgabenteilung von Partei und Bewegung nicht verstehen. Sie übertragen ihre natürliche Personalunion des Partei-und Basisgruppenmitglieds auf die Partei und sehen diese als „Spielbein" und „Standbein" zugleich, als Sprachrohr und Bürgerinitiative oder Bürgerinitiativen-Dachverband. So finden sich die Grünen als „halb Bürgerinitiative, halb Partei" wieder Von vornherein bleibt damit ungeklärt, wer die maßgebliche „Basis" eigentlich sein soll — die Wähler der Partei, die Basisgruppen, Bürgerinitiativen und Alternativprojekte außerhalb der Partei, oder die Parteimitglieder auf den Parteiversammlungen? Muß das nicht dazu führen, daß sich gewisse Strömungen bei den Grünen ihre Basis „nach Bedarf" aussuchen ? Die im Grunde doch einfache und klare Doppelstrategie wird so zu einer doppelbödigen Halbheit.
Das Dilemma der Grünen liegt darin, sich als Partei und Bewegung zu identifizieren. Auf Dauer unumgänglich wird dadurch die klare Beantwortung der Frage, ob außerparlamenta-risch unbedingt auch antiparlamentarisch bedeutet oder aber proparlamentarisch im Sinne einer konstruktiven Doppelstrategie. Dazu gehört nicht zuletzt auch eine ausdrückliche Festlegung darüber, ob man dem Parlamentarismus als einem historisch gewachsenen Gefüge den Abschied geben möchte oder ob man sich über den heutigen Parlamentsbetrieb lustig macht, weil man das Parlament und den Geist des Grundgesetzes tatsächlich sehr ernst nimmt.
Mit diesen Fragen stehen die Grünen vor ihrer eigentlichen Bewährungsprobe. Die offensive Abarbeitung des Dilemmas geriete für sie gegenwärtig zweifellos noch zu einer Zerreißprobe. So wird nachvollziehbar, daß sich die Grünen angesichts praktischer Zug-zwänge erst einmal auf ein defensives Konzept verständigt haben, das ihnen vorläufig noch einen gewissen Schon-und Spielraum läßt: im Parlament die Rolle einer „Fundamentalopposition" zu spielen.
Fundamentalopposition bedeutet erstens, in für das Selbstverständnis der Partei neuralgischen Fragen — z. B. Kernkraft, NATO-Doppelbeschluß — keine Kompromisse zu schließen, und zweitens, keine Koalitionen mit den bestehenden Parteien einzugehen. Es wird erklärt, sich „nicht an der Macht beteiligen" zu wollen. Aber dies tun die Grünen ja schon, indem sie sich an Parlamentsabstimmungen beteiligen, Vertreter in Parlamentsausschüsse entsenden und staatliche Ämter besetzen wie z. B. in Berliner Bezirken Stadträte für Gesundheit oder Bauen. Auch erklären die Grünen, in einzelnen Sachfragen durchaus positiv mit anderen Parteien zusammenzuarbeiten — was sie allenthalben auch tun. Was mithin bleibt, ist erstens die Ablehnung jeglicher ziviler und militärischer Nutzung der Kernkraft und zweitens die Ablehnung einer regelrechten Koalition, wie auch die Absicht, die absolute Mehrheit einer einzigen Partei verhindern zu wollen.
Die eigentlichen Gründe für die „Mitbenutzung der Parlamente" führt Martin Jänicke wie folgt aus: „Erstens kann die Alternativ-Bewegung auf diese Weise etwas von der Nachrichtensperre durchbrechen, die anzeigenabhängige Zeitungen und die Sender der etablierten Parteien und Interessenverbände über sie verhängen. Zweitens wird es auf diese Weise möglich, dem Parteiensystem Themen aufzuzwingen, die es lieber ignoriert Drittens verbessern sich die Arbeitsmöglichkeiten und die gesamte Infrastruktur für unterprivilegierte Organisationen wie Bürgerinitiativen, Mieterinitiativen usw. Viertens und vor allem: Der Bürger erhält die Möglichkeit, auch im Wahlakt seinen politischen Protest zu artikulieren.“ Ansonsten wird Fundamentalopposition auch darin gesehen, sich von „der Überfrachtung von Parlamenten mit Belanglosigkeiten aller Art" nicht verschleißen zu lassen, durch eine „gezielte Politik der leeren Stühle" Protest zu demonstrieren und zu zeigen, daß man das etablierte parlamentarische Spiel nur bedingt mitzumachen gedenkt
Die Erfahrungen der Grünen aus den verschiedenen Landesparlamenten zeigen, daß ihre fundamentaloppositionelle „Mitbenutzung der Parlamente" aufs erste erfolgreich verlaufen ist. Es gelang in der Tat in vielen Fällen, das Parlament als Forum für grüne Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen, gewisse Anliegen überhaupt erst einmal öffentlich zu thematisieren oder den Stellenwert von eingeführten Themen aufzuwerten, Informationen zu beschaffen, Bürgerinitiativen besser mit Finanz-und Organisationsmitteln zu unterstützen u. ä.
Andererseits geben sich die Grünen durch ihre unsichere und defensive Selbstdefinition als Fundamentalopposition gegenüber den etablierten Parteien eine nicht zu unterschätzende Blöße. Unversehens stehen sie vor der Öffentlichkeit als „Spielverderber" da. Ihnen wird die Schuld an der tatsächlichen Unregierbarkeit der Republik zugewiesen. Dabei ist dieser Vorwurf angesichts der Tatsache, daß die Grünen fast alles mitspielen außer dem Atom-und dem Koalitionsspiel, nicht einmal ohne weiteres gerechtfertigt. Dennoch haftet der Ruch des „Spielverderbers" den Grünen schon so fest an, daß es doppelter Mühen bedürfen wird, ihn wieder abzuschütteln. Vorerst scheint sie das wenig zu kümmern. Wenn Johannes Rau (SPD) ihnen „Machtverweigerung" vorwirft, fühlen viele Grüne sich darin nur bestätigt Redlicherweise in Verlegenheit bringen muß sie jedoch sein Argument, daß Koalitionsverweigerung „leicht zu Minderheitsregierungen führt, die jeden Tag gekippt werden können, oder zu großen Koalitionen“, und daß beides der Demokratie nicht guttäte • Es ist gewiß auch wohlverstandenes Eigeninteresse, wenn Günter Verheugen das „Gespenst der Unregierbarkeit" in Bund, Ländern und Gemeinden an die Wand malt Dennoch müssen sich die Grünen fragen, worin ihre faktischen Wirkungen im Par-teiengefüge bestehen, und ob sie ironischer-weise nicht gerade zu dem führen, was Fundamentalopposition doch auch verhindern soll, nämlich die absolute Mehrheit einer Partei, in diesem Fall der CDU/CSU. Jedenfalls hätten die Grünen mit einer Politik der bloßen Verweigerung und einer Politik der parlamentarischen Konfrontation ohne Kooperation vermutlich nicht einmal kurze Beine. So besteht bei den Grünen schon heute ein unguter Gegensatz zwischen gewissen Ideologien und entsprechenden Realitäten, in diesem Fall zwischen antiparlamentarischer Stimmungsmache und proparlamentarischem Bewährungsdruck.
Innerparteiliche Basisdemokratie Die Grünen verstehen sich als „eine Parteiorganisation neuen Typs". Deren Kerngedanke ist „die ständige Kontrolle aller Amts-und Mandatsinhaber und Institutionen durch die Basis und die jederzeitige Ablösbarkeit,... um der Loslösung einzelner von ihrer Basis entgegenzuwirken" sollen folgende Regeln dienen:
1. Mitgliederoffenheit ausnahmslos aller Gremien und Sitzungen;
2. Imperatives Mandat von Abgeordneten durch Mitgliederversammlungen der Partei;
3. Rotation aller politischen Ämter, in der Regel nach zwei bis sechs Jahren, wobei meist eine einmalige Wiederwahl möglich sein soll;
4. keine Ämterhäufung, besonders nicht gleichzeitige Wahrnehmung von Parteiamt und Abgeordnetenmandat oder von Parteivorstandsämtern auf Landes-und Kreisebene zugleich;
5. Ehrenamtlichkeit aller politischen Ämter (Abgeordnete behalten von ihren Diäten lediglich eine „Aufwandsentschädigung", meist in Höhe eines durchschnittlichen Facharbeiterlohnes von um zweitausend Mark, der Rest wird an die Partei abgegeben, Beraterverträge o. ä. sind verboten); 6. Minderheitenschutz in der Partei; insbesondere soll möglichst nach Konsensbildung und nicht mechanisch nach Mehrheitsbeschluß oder gar Kampfabstimmung vorgegangen werden
Diese Regeln machen deutlich, daß die Grünen, wie sie sagen, „das genaue Gegenbild zu den in Bonn etablierten Parteien" sein möchten Überall wird die Angst vor der Verselbständigung einer Kaste von Berufspolitikern deutlich. Statt dessen heißt die Devise bei vielen Alternativen: Avanti Dilletanti! Nun sind derartige Protestslogans durchaus bewußtseinsbildend, sie machen deshalb aber nicht auch schon lebenstüchtig. In der Tat erweist sich die Anwendung dieser Regeln als stellenweise so problematisch, daß bei den Grünen landauf landab eine permanente sogenannte Professionalisierungsdebatte schwelt. Sie ist das innerparteiliche Pendant zum Dilemma der Partei nach außen. Die un-bewältigte Professionalisierungsfrage führt dazu, daß sich die Grünen oft mehr mit sich selbst beschäftigen als mit ihren politischen Wirkungen nach außen.
Es war zu erwarten, daß die Finger der etablierten Öffentlichkeit besonders auf das imperative Mandat zeigen würden. So ver-säumte es die Junge Union nicht festzustellen, „das imperative Mandat würde nicht die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger, sondern lediglich die Macht der Parteiapparate stärken" Man kann dem nicht widersprechen. Gewiß haben die Grünen mit gutem Grund gekontert, daß ihr imperatives Mandat ein recht lockeres sei im Vergleich zur eisernen Fraktionsdisziplin der etablierten Parteien. Es bleibt dennoch unverständlich, weshalb eine Partei, die beansprucht, für mehr Autonomie, Selbstbestimmung, Selbstverwaltung und ähnliche libertäre Ziele einzutreten, ihren Funktionsträgern die formalistische Zwangsjacke des imperativen Mandats verpaßt. Die neuerlichen Erfahrungen damit hätte man aufgrund rätedemokratischer Mißerfolge der Vergangenheit voraussehen können. Meist ist das imperative Mandat entweder de facto überflüssig, oder es kann praktisch nicht befolgt werden, besonders dann nicht, wenn die Abgeordneten unter parlamentarischem Zugzwang stehen, während die Parteibasis noch nicht fertig diskutiert hat, was wiederum die Regel und nicht die Ausnahme ist Außerdem zeigt die Praxis, daß Gruppen oder einzelne Bürger, wenn sie Anliegen vorbringen möchten, sich damit meist nicht an die Partei wenden, sondern direkt an die Abgeordneten im Parlament
Erneut stellt sich den Grünen hier die Aufgabe, die Macht-und Legitimationskonkurrenz zwischen Parteibasis, Bewegungsbasis und Wählerbasis wenn schon nicht zu bereinigen, so doch etwas besser abzuklären. Für eine Basisdemokratie ist es schließlich wichtig zu wissen, welche Basis wofür maßgeblich ist und wodurch welche Basis in ihr Recht gesetzt wird.
Auch das wohlgemeinte Verbot der Ämterhäufung zeigt ungewollte Nebenwirkungen.
Zum Beispiel entstehen zwischen einer Abgeordnetenfraktion und einem Parteivorstand zwangsläufig gewisse Informationslücken. So verselbständigen sie sich voneinander. Gleichzeitig bevorzugen die Medien von außen einseitig die Parlamentarier. Die Folge ist zum einen ein schwacher und unmaßgeblicher Parteivorstand und zum anderen eine Fraktion, die zum Quasi-Vorstand wird, dabei aber nichts zu sagen hat
Das Rotationsprinzip wiederum, im Sinne der zwei-, drei-oder gar sechsjährigen Funktionärsverabschiedung, kann sich durchaus positiv auswirken. Nach Jänicke „hat sich gezeigt, daß die Probleme der Einarbeitung gering sind, daß die . Qualifikation’ eines Abgeordneten also überschätzt wurde“ Die Frage bleibt, ob dies auch bei komplexeren Ämtern so ist. Vor allem aber ist unklar, wo das immer neue Personal herkommen soll. In Baden-Württemberg zum Beispiel ist die Mitglieder-basis, passive Mitglieder eingerechnet, so gering, daß bei weiterer Beteiligung an allen Wahlen bald „jedes Mitglied ein Kandidat“ werden müßte
Das Prinzip der Ehrenamtlichkeit und die Verherrlichung des Amateurstatus verstärken dieses Problem. Die Mitglieder, zumal jene mit Funktionen, verschleißen sich in nicht enden wollenden Aufgaben, Terminen und Auseinandersetzungen. Für Milan Horacek von den Frankfurter Grünen ist es „ein ganz großer Widerspruch, einzutreten für ein menschenwürdiges Dasein und sich selbst keins zu gestatten" Den arbeits-und zeitintensiven Raubbau an den eigenen Lebenskräften können auf Dauer bei einer rein ehrenamtlich arbeitenden Amateurspartei zudem nur Nicht-Erwerbstätige wie „Studenten, Rentner oder Reiche" mitmachen, wie die Vorsitzende der Stuttgarter Grünen, Marieluise Beck-Oberdorf ihre Erfahrungen resümierte Dazu gesellt sich nun ein verbreitetes antiautoritäres Mißtrauen gegen alle und alles, was tatsächlich oder vermeintlich Macht besitzt oder auch nur Kraft und Überzeugung ausstrahlt. Keine Macht für niemand! Ironischerweise haben dabei die Grünen, wie ein Teilnehmer der Professionalisierungsdebatte feststellt, „den kürzesten Weg nach oben. Bei welcher anderen Partei kann man nach halbjähriger Mitgliedschaft in einem Landesvorstand sein?" Ein anderer Teilnehmer stellt fest: „Die am heftigsten für die Basisdemokratie eintreten, erlebe ich am machthungrigsten und nicht sehr bescheiden.“ Der ständige Argwohn führt dazu, wie wieder ein anderes Mitglied zu bedenken gibt, „daß etliche fähige Freunde des erfahrenen psychischen Drucks wegen sich nicht mehr bereit finden, Verantwortung zu übernehmen“
Vollends kontraproduktiv kann sich die grüne Geschäftsordnung auswirken, wenn das antiautoritäre „Bock-Prinzip“ — Bock = Lust, null Bock = keine Lust — sich verbindet mit einer beliebigen „Mitgliederoffenheit" von Gremien und Sitzungen. Basisdemokratie artet dann leicht in eine Palaverdemokratie aus:
Es kommt, wer will, und wer-da ist, redet einfach mit und stimmt mit ab — ohne Verantwortung für die Folgen und somit auch meist folgenlos.
Die nicht geklärten Zugehörigkeiten und Zuständigkeiten werden dabei in aller Regel kompensiert durch ein informelles „unterirdisches“ Machtsystem der starken und gewieften Persönlichkeiten. Nach Ernst Hoplitschek wird die Alternative Liste Berlin, die 500 Aktive zählt, von einer informellen Struktur von weniger als 30 Aktiven dirigiert Dies kann funktionsfähig und wirksam sein. Es ist aber mit Sicherheit nicht, was Basisdemokratie unter anderem sein soll: durchschaubar, kontrollierbar, rechenschaftsfähig und rückrufbar.
Nun soll hier keineswegs hämisch Bilanz gezogen und der falsche Eindruck erweckt werden, daß die Grünen „so" seien. „So“ sind ei-nige ernst zu nehmende Probleme, mit denen die Grünen, aber wohl nicht nur sie, zu kämpfen haben. Dabei mehren sich in der Partei jene Stimmen und Kräfte, die einen positiven Ausgang dieser Gärungsprozesse als durchaus in Reichweite liegend erscheinen lassen. Langsam zwar, aber doch zunehmend wächst die Einsicht, daß man einen funktionierenden Bürobetrieb braucht mit festangestellten und angemessen bezahlten Kräften, daß in wichtigen Parteiangelegenheiten klare Verantwortlichkeiten gelten müssen, daß nicht in allen Gremien jede dahergelaufene Person ein Rede-oder gar Stimmrecht haben kann, daß man wichtige Funktionsträger beruflich freistellt und deshalb auch angemessen entlohnt, und daß, wenn schon das Wort „Professionalität" gescheut wird, man jedenfalls auf Qualität, Wirksamkeit und Zuverlässigkeit achten muß, man mithin also doch „eine gewisse Formierung für wünschenswert erachten" muß, wie die Frankfurter Grünen dies ausdrükken Dann müßten die baden-württembergischen Grünen auch nicht mehr in puristischer Weise „die Parteienfinanzierung durch den Steuerzahler ablehnen" und schamhaft darüber hinwegsehen, daß sie sich in Wirklichkeit zu 80% aus Steuergeldern finanzieren Es geht jedenfalls nicht darum, die innerparteilichen Basisdemokratieregeln einfach aufrechtzuerhalten oder fallen zu lassen, sondern sie als experimentelle Regeln zu verstehen, die noch einer genaueren Qualifizierung bedürfen.
Möglicherweise entstünden dann auch stabilere und förderlichere Rahmenbedingungen für jene basisdemokratische Regel, die in der etablierten Öffentlichkeit nicht zufällig nur wenig Beachtung findet, in der jedoch der eigentlich bedeutende Beitrag der Grünen zur Fortentwicklung der Demokratie liegen könnte: in der Relativierung des Mehrheitsprinzips zugunsten einer stärkeren Geltung des Konsensprinzips.
Eine jeweilige Mehrheit ist eine rechnerische Größe. Eine einheitliche qualitative Entsprechung, etwa die „schweigende Mehrheit" oder gar die „Mehrheitskultur", steht dahinter lange nicht mehr, falls derartige Begriffe überhaupt jemals mehr waren als Mystifikationen. Die fortgeschrittenen Industriegesellschaften sind vielmehr zunehmend fragmentiert Sie setzen sich aus einer Vielzahl von unterschiedlichsten Gruppen wirtschaftlicher, beruflicher, politischer, sozialer oder weltanschaulicher Art zusammen. Es handelt sich mithin um einen Pluralismus von Minderheiten. Diese bilden ein komplexes Feld von Interessenkonvergenzen und -divergenzen. Sachlich sowie zeitlich begrenzte und relativ häufig wechselnde „Koalitionen" müssen die Folge sein.
Unser politisches System, in seinen Grundzügen überwiegend im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt, wird diesem Umstand noch nicht immer gerecht. Man kann heutzutage buchstäblich bei nichts davon ausgehen, daß von vornherein Konsens bestünde oder ein solcher von Dauer wäre. Gerade deshalb wird zwar auch in Zukunft das Mehrheitsprinzip letztlich unbedingt gelten müssen, gerade deshalb aber auch wird das Konsensprinzip überhaupt erst erforderlich: Die diversen Minderheiten müssen erst einmal ihre Karten auf den Tisch legen können, um herauszufinden, in welcher Hinsicht und unter welchen Bedingungen sich eventuell Mehrheiten abzeichnen könnten.
Man wird also viel sorgfältiger abwägen müssen, wann Abstimmungen überhaupt sinnvoll und notwendig sind. In der Regel dürfte dies erst am Ende eines meist langen und leider auch mühsamen Prozesses der Diskussion und Meinungsbildung der Fall sein. Schließlich wird man auch genauer benennen müssen, wo eine Mehrheit besteht. Die Mehrheit im Parlament ist etwas anderes als der Mehrheitswille der Bevölkerung. Stimmt der Wähler für ein detailiertes Sachprogramm oder stellt er mit seinem Wahlkreuz eine Art Blankovollmacht für die Politiker aus? Heute kann es nicht mehr in jedem Fall ohne weiteres als legitim gelten, wenn unter Berufung auf eine Parlamentsmehrheit, die auf doch eher blankoscheckmäßig ausgestellten Wahlkreuzchen beruht, eine Regierung einen Beschluß durch-boxen will, der von einem Viertel oder einem Drittel der Bevölkerung, also einer großen
Minderheit, absolut abgelehnt wird kann mit 51% keine Revolution beschli aber auch ebenso wenig einfach den Status quo aufrechterhalten wollen.
Die „Kinderkrankheiten“ der Grünen: linke Orthodoxien und antiautoritärer Rigorismus
Die geschilderten Widersprüche und Probleme sind ein Ausdruck dafür, daß die eingangs erwähnte Synthese von Grün und Rot zwar unterwegs, aber noch nicht erreicht ist Um genauer zu sein, muß man sich in diesem „Farbspiel" auch wieder des Schwarzen erinnern. Die grüne Bewegung war ebenso mit einem konservativen Schwarz verbunden wie früher auch die Arbeiterbewegung und heute die neuen sozialen Bewegungen mit dem Anarchisten-Schwarz von früher libertären, heute antiautoritären Strömungen. Nun sind die rechtsorientierten Teile der grünen Bewegung noch immer ansehnlich, aber von der Partei „Die Grünen'1 und den Alternativen Listen haben sie sich inzwischen bis auf wenige Reste abgespalten. Die linksorientierten Teile dagegen sind in den Grünen aufgegangen — und nicht alle haben sich dabei von ihrer Herkunft wirklich emanzipiert So sind es aus meiner Sicht im wesentlichen zwei Strömungen, auf welche die geschilderten Probleme zurückgehen, nämlich das , Altrot“ von kommunistischen Orthodoxien und das „Schwarz'eines antiautoritären Rigorismus, um nicht von Dogmatismus zu sprechen.
Für die meisten, die unter dem Einfluß von kommunistischen Orthodoxien stehen, ist das Wort Basisdemokratie nur ein neuer Schlauch für den sauer gewordenen alten Wein der Rätedemokratie. Der Begriff „Dezentralisierung" ruft bei ihnen die selben Organisationsmuster hervor wie der „demokratische Zentralismus": der Ordo bleibt schließlich gleich, nur werden die Vektoren der Macht je nach Bedarf umgekehrt, „von oben nach unten", von „unten nach oben", und wieder zurück.
Die Vorstellungen der orthodoxen Linken vom Wirken einer Partei sind traditionsge-maß keineswegs auf das Parlament oder jedenfalls die staatliche Sphäre begrenzt. Sie fühlen sich, und damit die Partei, vielmehr für die Gesellschaft im ganzen und für alles in dieser Gesellschaft im einzelnen zuständig. Dazu gehört insonderheit die Führung von sozialen Bewegungen, auch wenn man heutzutage nicht mehr dirigistisch „organisiert“, sondern „Organisationshilfe zur Selbstorganisation" anbietet. Es ist weniger Lenins Avantgarde-Konzept, das hier fortlebt, als mehr Rosa Luxemburgs Vorstellung von der Partei als einem Sekretariat der Bewegung. So wird die Partei denn auch mehr als ein Büro zur Massenmobilisierung betrachtet -Die so denken, werfen dann der grünen Partei vor, daß sie auf dem besten Wege sei, Wählerpartei anstatt Militantenpartei zu werden, Programmpartei anstatt Protestpartei und schließlich Parlamentspartei anstatt Bewegungspartei
Die „Basis" erscheint dabei, wie Wolf-Dieter Narr schreibt, „ohne Konturen, als dauernde Appellationsinstanz, die gegebenenfalls auch... jedes opportunistische Verhalten zu rechtfertigen vermag" Die wirkliche Basis sind indes jederzeit die Aktivisten der Partei selbst. Der Begriff „Basis“ dient ihnen als das gleiche Mythologem, wie früher schon die Begriffe „Volk", „Masse" oder . Arbeiterklasse“ in anderen totalitären Denkwelten.
Das Gegenstück zur Mythologie der Basis ist bei denen, die wiederum unter dem Einfluß eines verhärteten Antiautoritarismus stehen, die Mythologie der Betroffenheit. Betroffenen — etwa von Umweltvergiftungen oder Bau-spekulation Betroffenen — soll wohl durchaus zu Recht bei Planungen und Entscheidungen eine besondere Stellung eingeräumt werden. Vor dem Hintergrund eines übersteigerten Subjektivismus und Spontaneismus werden jedoch gewissermaßen alle und überall in den Rang von „Betroffenen" erhoben. So werden „die Interessen der unmittelbar Betroffenen" zur mythologischen Bezugsbasis und jeder einzelne kann seine persönlichsten Son-derinteressen zum Nabel der Weltpolitik erheben. Der Minderheitenschutz verkommt dann dazu, daß die beteiligten Minderheiten einander auf der Nase herumtanzen.
Die Plagegeister der Grünen entsprechen offenbar jenen „Kinderkrankheiten", die Lenin 1920 schon seiner Partei attestierte. Die Bedeutung solcher „Kinderkrankheiten" ist bekanntermaßen zwiespältig: einerseits beeinträchtigen sie den betroffenen Organismus, andererseits mobilisieren sie seine Kräfte, so daß — um das Bild auf die Grünen zu beziehen — die Partei erst durch die Auseinandersetzung mit ihren „Kinderkrankheiten" an Stabilität und Orientierung gewinnt.
Abschließende Feststellungen: Linkspartei, Klassenpartei, Parlamentspartei Die vorangegangenen Erörterungen lassen sich in einer Reihe von Feststellungen zusammenfassen: 1. Die Grünen sind, wie empirische Erhebungen dies bestätigen, „eine Linkspartei, sowohl nach dem Urteil ihrer Gegner als auch nach dem Verständnis ihrer Anhänger“ Sinngemäß bilden sie eine ausgewanderte SPD und teilweise eine draußen vor gebliebene SPD. Ihr programmatisches Spektrum wird eröffnet durch das Zusammenfließen eines libertären und demokratischen Sozialismus einerseits und der ökologischen Weltproblematik andererseits. Von herkömmlichen Linksparteien unterscheidet sie nicht nur die Betonung der ökologischen Frage, sondern auch die Betonung der neuen sozialen Fragen, innenpolitisch in Gestalt der marginalisierten Sonder-und Randgruppen, international in Gestalt der Dritte-Welt-Problematik. Verbunden mit beidem ist die besondere Betonung der Menschenrechte und demokratischen Grundrechte und der Vorrang der Friedens-und Abrüstungsfrage.
2. Die Grünen sind eine neue Klassenpartei. Mitglieder und Wähler der Partei stammen überwiegend aus den neuen Mittelschichten, insbesondere ihren sozialberuflichen Teilen. Diese orientieren sich wiederum in ausgeprägter Weise an den von R. Inglehart so ge-nannten nach-materialistischen Werten: Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Partizipation und „Sein statt Haben" nehmen darunter einen hohen Stellenwert ein
Nach Ernst Hoplitschek handelt es sich überwiegend um „Beschäftigte im öffentlichen Dienst; darunter wiederum dominierten die Beschäftigten im Gesundheits-, Bildungs-und Ausbildungsbereich" Nicht mehr Maurer und Grubenarbeiter, sondern Lehrer und Sozialarbeiter sind die neuen Symbolfiguren. Diese Kreise sind ihrerseits beruflich wie bewußtseinsmäßig dem weiten Feld der Nicht-Erwerbstätigen verbunden: Schüler, Studenten, (Haus-) Frauen, Rentner, Arbeitslose, Ausländer, Behinderte, Kranke usw. Die Grünen haben sich insofern „als Nicht-Arbeiter-Partei herausgestellt" Günter Verheugen nennt sie deshalb „Systemveränderer mit Pensionsanspruch” Damit trifft er sie bei dem doch recht wunden Punkt, daß die Grünen einerseits zwar eine Bürokratiekritik vorbringen und z. B. ihren Abgeordneten Amateur-status zumuten, andererseits aber aus berufsständischem Eigennutz in ihren De-facto-Forderungen eine weitere Ausdehnung des Staatsanteils anstreben und sich meist relativ kritiklos der verbreiteten OTV-Mentalität anpassen. „Staatsknete" ist für das Gros der Grünen kein Problem, sondern eine selbstverständliche Forderung. Die Grünen belegen jedenfalls schwerpunktmäßig den tertiären Sektor und den informellen Sektor der gesamtwirtschaftlichen Arbeitskraft. Sie zielen damit auf ein Potential, das heute und auf absehbare Zeit die absolute Mehrheit der Bevölkerung darstellt.
3. Im Rahmen dieses Potentials können sich die Grünen auf eine dreifache Basis beziehen: — ihre Mitgliederbasis aus aktiven und passiven Parteimitgliedern, — ihre Bewegungsbasis unter den Gruppen der neuen sozialen Bewegungen (Friedens-, Ökologie-, Alternativ-, Frauen-, Antipsychiatriebewegung u. a.), — ihre Wählerbasis aus Stammwählern und Wechselwählern.
Wie es jedoch für die alten sozialistischen Parteien ein Irrtum und Fehlanspruch war zu meinen, die Zukunft der Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse gepachtet zu haben, so können auch die Grünen heute weder die Gruppen der neuen sozialen Bewegungen noch das genannte klassenanalytische Potential einfach als ihnen zugehörig betrachten. Die Bewegungsbasis und die Wählerbasis gehören nicht zur Partei. Ihre Unterstützung muß, wie das bei einer Partei nun einmal ist ständig neu erlangt und rechtfertigt werden. 4. Basisdemokratie im engen Wortsinn oder auch direkte Demokratie ist notwendigerweise auf überschaubare, also relativ kleine Gruppen beschränkt. Man muß deshalb sehen, um nochmals einen Teilnehmer der Professionalisierungsdebatte zu zitieren, „daß Basisdemokratie ihre natürlichen Grenzen hat Diese werden gezogen durch die Zahl der Menschen einer Gruppe, ihr Engagement, ihren Informationsstand ... Wo diese Grenzen erreicht werden..., muß ein repräsentatives Element in die Demokratie eingeführt werden. Dies mag man bedauern oder die Augen davor verschließen, es bleibt eine Tatsache." Dabei ist die Absicht einer ständigen mißtrauischen Kontrolle der Parteimitglieder untereinander keine Grundlage für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Ein Mindestmaß an Professionalisierung, bei kontrolliertem Vertrauen, ist unvermeidlich. Jedoch kann die Besonderheit der Sache durchaus darin liegen, professionelle Arbeit und ehrenamtliche Laienarbeit wegweisend miteinander zu verbinden. 5. Die Grünen sind eine Partei im Rahmen des parlamentarischen Systems. Dabei mag das Bild einer Doppelstrategie für sie leitend sein. Sie können jedoch nicht gleichzeitig auf beiden Hochzeiten tanzen, also Parlamentspartei und außerparlamentarische Bewegungen verkörpern wollen. Allenfalls können sie, wie andere Parteien das auch tun, ihnen nahestehenden Gruppen gelegentlich Hilfestellung leisten. Und selbstverständlich können sie, wie sie verbal erklären, „Sprachrohr" von Bewegungen oder von Teilen derselben im Par lament sein. Ihr Betätigungsfeld ist jedoch i® wesentlichen auf die parlamentarische und staatliche Sphäre begrenzt.
Mit Rücksicht auf gewisse innerparteiliche Selbstverständigungen können die Grünen im Parlament eine Zeitlang Fundamentalopposition betreiben, um sich in dieser Rolle zu schonen. Mit Rücksicht auf ihre langfristigen Wirkungsmöglichkeiten kann diese Rolle jedoch nur eine anfängliche und vorübergehende sein. Will man nicht in Bedeutungslosigkeit zurückfallen, wird es ab einem bestimmten Punkt unumgänglich werden, offensiv und konstruktiv eine Beteiligung an der politischen Führung des Staates anzustreben. Dies alles, wohlverstanden, sind Feststellungen, nicht Empfehlungen. Widersprüche treiben voran, aber sie müssen auch gelöst werden, und sei es nur, weil sich neue auftun. „Der Versuch, sich an Wahlen zu beteiligen, aber nicht Partei zu werden", so Joachim Raschke, „ist angesichts des basisdemokratischen Impulses verständlich und sympathisch, aber vergeblich, über kurz oder lang ist der Punkt erreicht, wo entweder an der Effizienz oder an der radikaldemokratischen Erwartung Abstriche gemacht werden müssen."
Die Grünen haben der SPD das Argument entgegengehalten, ihre bewährte Kompromißformel „so wenig wie möglich, so viel wie nötig“ führe sich in der Atom-und Rüstungsfrage ad absurdum. Man könne nicht die Entsorgungsfrage ein bißchen unbeantwortet lassen und die Mehrfachtötungskapazität ein bißchen weniger todbringend machen. Man kann auch nicht ein bißchen eine Partei sein und ein bißchen keine ...