I. Vorbemerkungen und Thesen
Leicht überarbeitete Fassung eines Referats, vorgelegt auf der wissenschaftlichen Fachtagung „Ziele, Formen und Grenzen der . besonderen Wege'zum Sozialismus. Zur Analyse der Transformationskonzepte europäischer kommunistischer Parteien in den Jahren zwischen 1945 und 1948" in Mannheim vom 29. September bis 1. Oktober 1982.
Daß in der SBZ zwischen 1946 und 1948 von der KPD/SED zunächst positiv, dann kritisch/selbstkritisch über einen „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus" gesprochen wurde, ist evident und wird durch die zeitgeschichtliche und politikwissenschaftliche Literatur hinreichend dokumentiert -über die Entstehung und die Folgen dieser programmatischen Variante ist bislang — über allgemeine Aussagen hinaus — aber kaum publiziert worden. Dies hat dazu beigetragen, daß in der bundesdeutschen Literatur einerseits die Erwägungen über einen deutschen Sonderweg zum Sozialismus — mehr oder minder einhellig — dem zugeschrieben werden, der sie am intensivsten öffentlich diskutierte, dem damaligen Spitzenfunktionär der KPD, Anton Ackermann Andererseits wurde so der politische und zeitgeschichtliche Zusammenhang vernachlässigt, in dem sie vorgetragen wurden. Das gilt weniger für ihre unmittelbare Funktion, mehr jedoch für den Kontext der Strategie und Taktik der kommunistischen Weltbewegung.
Die Funktionsbestimmung der Sonderweg-Reflexionen auszudifferenzieren, ihre Entstehung zeitlich zu präzisieren, die Urheberschaft zu verdeutlichen sowie den konzeptionellen Bezugsrahmen stärker zu konturieren, soll der vorliegende Text beitragen.
Auf die Untersuchung der sozialstrukturellen Umbrüche dieser Jahre soll hier verzichtet werden Weder für ihren Vollzug noch für ihre Legitimierung hatten diese Erwägungen nachhaltige Bedeutung. Sie waren — so meine These — weder politikbestimmend im Sinne eines Beitrages zu einem handlungsanleitenden Konzept, noch wurden sie operationalisiert im Sinne einer abgeleiteten politischen Praxis Zwar wich die Transformationspolitik dieser Jahre in wesentlichen Bereichen von der im nachrevolutionären Rußland geübten Praxis ab, und sie unterschied sich auch in ihren Formen von den politischen Maßnahmen, die zur gleichen Zeit in den ost-und süd-osteuropäischen Ländern durchgesetzt wurden Inhaltlich aber war sie mit diesen weithin identisch. Zudem ist kein politischer Schritt in der Phase der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" bekannt, bei dem sich die KPD ausdrücklich auf ihre Sonder-weg-Thesen berufen hätte.
Bedeutsamer war ihr Stellenwert im politisch-psychologischen Bereich, d. h. für die Taktik der Kommunisten im Prozeß der konfliktreichen Annäherung und schließlich Verschmelzung der Sozialdemokratischen und der Kommunistischen Partei. Hier dienten sie dem Ziel, der Sozialdemokratie den Wandel des herkömmlichen Politikverständnisses und der entsprechenden Zielsetzungen als dauerhaft glaubhaft zu machen. Ihre Bedeutung lag so vor allem in den Konnotationen: Der Terminus „besonderer Weg" provozierte Assoziationen über ein besonderes Ziel. Zugleich sollten die Formeln eine breitere politische Öffentlichkeit von der außenpolitischen Unabhängigkeit der KPD (und später auch der SED) überzeugen, und sie zielten damit wohl auch auf die Unterstützung der gesamtdeutschen Politik der Partei.
Diese zugespitzten Aussagen betreffen die nationale Funktion der Sonderweg-Überlegungen, nicht ihren politischen und intellektuellen Entstehungszusammenhang. Der war — auch wenn einzelne Sozialdemokraten und Kommunisten dies nicht erkannten und mit der Sonderweg-Programmatik eine entsprechende nationale politische Praxis einfordern wollten — internationalistisch bestimmt. Seine politischen Determinanten resultierten aus den strategischen wie taktischen Erwägungen im Machtzentrum der Kommunistischen Weltbewegung, und sie waren mithin so variabel oder konstant wie die jeweiligen Interessenlagen der Sowjetunion.
II. Der internationale Kontext
Daß die Aussagen über besondere, nationale Wege zum Sozialismus, die zwischen 1944 und 1946 von Kommunistischen Parteien präsentiert wurden, auf Überlegungen der Kominternführung zurückgehen und in ihrem Kern auf jenen Erwägungen, Ratschlägen bzw. „Direktiven“ beruhten, die Georgi Dimitroff zwischen 1941 und 1944 (zunächst als Generalsekretär der Komintern, dann als Leiter der beim ZK der KPdSU gebildeten Abteilung für internationale Information) den Kommunistischen Parteien gegeben hatte, ist evident und wird von der neueren osteuropäischen Forschung betont. Nun könnte gerade diese ostentative Hervorhebung den Eindruck erwecken, als gehe es diesen Historikern vor allem um organisationspolitische Belege für den „modernen" Trend der osteuropäischen Zeitgeschichtsschreibung, um den Nachweis des „einheitlichen revolutionären Prozesses" in allen osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften Schon Jahre zuvor freilich hatten verschiedene Autoren diese Lesart mit zahlrei-chen Quellenhinweisen vertreten Was nun verstärkt vorgelegt wird, folgt also einer gewissermaßen etablierten Sichtweise und nicht nur aktuellen politischen Notwendigkeiten folgenden Interpretationsmustern.
Scheint somit der Entstehungszusammenhang dieser programmatischen Aussagen — ihre gemeinsame Verwurzelung in politischen Erwägungen der KPdSU-Führung und ihre Formulierung gemäß entsprechenden „Direktiven" der Komintern-Führung bzw. nach Konsultationen mit Dimitroff — rekonstruierbar, so ist bislang die Frage nach den politischen Zwecken und der zeitlichen Dimension des programmatischen Zwischenspiels nicht eindeutig beantwortet. Käse, der den Mitte der sechziger Jahre erreichten Forschungsstand analysierte, läßt offen, ob das lange währende offizielle Schweigen der Sowjetführung zu den programmatischen Äußerungen der Kommunistischen Parteien tatsächlich eine Akzeptanz von Sonderwegen zum Sozialismus bedeutet habe oder allein taktischen Überlegungen entsprang, die mit dem Kalten Krieg und dem Jugoslawien-Konflikt hinfällig bzw. dysfunktional wurden
Ähnlich unbestimmt bleibt Heiter Er verweist zwar auf eine Äußerung Molotows vom November 1947, in der der sowjetische Außenminister (zwei Monate nach der Kominform-Gründung!) positiv erwähnt hatte, daß die damals noch „neue Demokratien" genannten volksdemokratischen Länder „mit ihren eigenen besonderen selbständigen Wegen ... Schritte zum Sozialismus (machen)". Er knüpft an dieses Zitat die Erwägung, die Sowjetunion habe mit dieser Stellungnahme ihre Überein-stimmung mit den in den Volksdemokratien herrschenden Kommunistischen Parteien bekunden wollen, gibt aber zugleich zu bedenken, der „große Spielraum" der Volksdemokratien in dieser Zeit gehe auf die internen Schwierigkeiten der Sowjetunion bei der Rekonstruktion ihrer Volkswirtschaft zurück, und er bietet überdies als Erklärung an, die besonderen Entwicklungsformen dieser Länder hätten den westeuropäischen Gesellschaften als Entwicklungsmodell dienen sollen.
Zu komplexeren — und damit überzeugende-ren — Schlüssen gelangte Mc Cagg. Er sieht die Entstehung der Sonderweg-Thesen einerseits im Zusammenhang mit der sowjetischen Außenpolitik seit der Bildung der Anti-Hitler-Koalition und ordnet sie andererseits der staatstheoretischen Begrifflichkeit der „neuen Demokratie", der damaligen Fassung des Konzepts der Volksdemokratie, zu. Im Zentrum dieses Entwurfs für das politische System für Gesellschaften der nachfaschistischen Periode stand ein sozial wie politisch breites, von der Kommunistischen Partei geführtes Bündnis, und dieses Bündnis war — nach Mc Cagg — nichts anderes als die innenpolitische Umsetzung der von der Sowjetunion eingegangenen breiten außenpolitischen Allianz Er legt mithin den Schluß nahe, daß die seit 1945 von den Kommunistischen Parteien betonten Sonderwege den Stalinschen Erwägungen über die internationale Nachkriegspolitik entsprachen und letztlich in dessen Über-zeugung wurzelten, die Kooperationsformen der Kriegsperiode könnten auch nach der Niederlage Hitler-Deutschlands erhalten werden. Mehr noch: Transformationskonzepte, die sich explizit vom sowjetischen Weg abgrenzten, mögen in der Sicht der Sowjetführung notwendig gewesen sein, um die Kooperationsbasis mit den Westmächten nicht zu gefährden. Wie Djilas berichtet, ging die Vorsicht so weit, daß es selbst Georgi Dimitroff untersagt wurde, sofort nach der Befreiung seines Landes nach Bulgarien zurückzukehren, weil nach sowjetischer Deutung „die westlichen Staaten seine Rückkehr als offenes Anzeichen für die Einführung des Kommunismus in Bulgarien auslegen würden" Dieses taktische Verhalten sieht auch Mc Cagg. Er deutet aber zugleich eine von Djilas überlieferte Stalin-Aussage vom März 1945, heute sei für den Sozialismus nicht mehr überall eine Revolution nö-tig, Sozialismus sei sogar unter der englischen Monarchie möglich als Hinweis auf den theoretischen Kontext, in dem diese Politik wurzelte.
Argumentationsmuster, die speziell auf die sowjetischen Interessenlagen verweisen, sind bislang vor allem von westlichen Beobachtern vorgelegt worden Um so bemerkenswerter erscheint es, daß jetzt der bulgarische Historiker Ilo Dimitrow in der DDR eine Studie veröffentlichte, die eben diese Einsicht unterstreicht. Er schreibt in einem Aufsatz „Über den Charakter der volksdemokratischen Macht in Bulgarien" zu den Determinanten der Politik seiner Partei in diesen Jahren: „Die sowjetische Regierung hielt sich an die Politik der Festigung der Anti-Hitler-Koalition, an die Politik der konfliktlosen Lösung der Widersprüche mit ihren kapitalistischen Bündnispartnern. Entsprechend der gemeinsamen Vereinbarung sollten in den vom Faschismus befreiten Ländern parlamentarische, demokratische Regimes wiederhergestellt werden. Unter diesen Umständen führte die BAP (K) ihre Politik so, daß sich die Beziehungen der Alliierten nicht verschlechterten und die Meinungsverschiedenheiten unter ihnen nicht vergrößert wurden. Die Partei verstand, daß die Proklamierung der sozialistischen Macht und die Verwirklichung sozialistischer Maßnahmen der sowjetischen Außenpolitik Schwierigkeiten bereitet und die internationale Situation Bulgariens erschwert hätte." Zur Bekräftigung zitiert er Traitschko Kostoff, den damaligen (1949 hingerichteten) Generalsekretär der KPB, der auf einer Plenartagung des ZK im März 1945 rückblickend ausgeführt hatte: „Es ist klar, wenn wir am 9. September (1944 — St.) einen Versuch der Errichtung der Sowjetmacht unternommen hätten,... daß dieser für uns und für die Sowjet-Union große Schwierigkeiten geschaffen hätte. Und wir erklären auch nachdrücklich, daß ein solches Vorgehen vom Kommando der Roten Armee nicht gebilligt worden wäre."
Auch wenn bislang die Parteigeschichtsschreibung der SED diesen auch für die KPD/SED-Politik beherrschenden Kontext nicht benennt, wird man doch davon ausgehen müssen, daß entsprechende (im Hinblick auf ganz Deutschland wohl modifizierte) Erwägungen auch für die eigene Parteiführung von Bedeutung waren.
Neben diesen weltpolitischen Zusammenhängen mögen aber bei der Bestimmung der Nachkriegspolitik auch jene Prognosen mitgespielt haben, die von der sowjetischen Ökonomie über die Entwicklungschancen des Kapitalismus nach dem Kriege erarbeitet worden waren. Von Belang ist hier vor allem die 1946 von Eugen Varga vorgelegte, in wesentlichen Kapiteln bereits 1945 publizierte Studie über die Wandlungen des Kapitalismus unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft Zwar ist nicht zu entscheiden, ob Vargas Aussagen über Struktur und Entwicklungschancen des Nachkriegskapitalismus die Funktion hatten, den Stalinschen Entwurf für die sowjetische Weltpolitik der Nachkriegszeit wissenschaftlich zu legitimieren oder ob sie im Prozeß der Politikformulierung, der Konzeptbildung, von Bedeutung waren. Festzuhalten aber ist immerhin, daß sie in ihren kapitalismusanalytischen Passagen ebenso wie in ihren Aussagen über die Demokratie „neuen Typus" geeignet waren, „mittlere“ Wege der Kommunisten in Ost-wie Westeuropa theoretisch zu begründen bzw. ideologisch zu sanktionieren.
Varga ging gegen Kriegsende offenbar davon aus, die „verarmten" Siegerstaaten Europas würden etwa zehn Jahre benötigen, um die Kriegsfolgen, die Unterproduktionskrise, ökonomisch und politisch zu überwinden. In diesem Wiederaufbauprozeß, so Varga weiter, könnten die im Kriege entwickelten Formen staatsinterventionistischer Eingriffe in das Wirtschaftsleben nur langsam abgebaut werden, so daß die „größere oder geringere Beteiligung an der Staatsverwaltung ...den Hauptinhalt des politischen Kampfes zwischen den beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat, .,." bilde, überdies rechnete Varga mit einem raschen Zusammentreffen der Unterproduktionskrise in den europäischen Ländern und Japan mit der Überproduktionskrise in den USA, Kanada und den während des Krieges neutralen Ländern, die sich zu einer Weltwirtschaftskrise zuspitzen könnten. Speziell die Vorhersage eines andauernden Staatsinterventionismus schien angesichts der breiten national akzentuierten antifaschistischen Grundstimmung und der während des Krieges gewachsenen nationalen Reputation der Kommunistischen Parteien günstige Voraussetzungen für die Teilhabe der Kommunistischen Parteien an den Staatsgeschäften zu bieten, und diese Chance wiederum verlangte nach formal wie inhaltlich gemäßigter Pro-grammatik. Insofern entsprach das Nachkriegskonzept der Kommunistischen Parteien sowohl den sowjetischen Sicherheitsinteressen als vermeintlich auch den Bedingungen kommunistischer Politik in Ost-wie Westeuropa. Die von Varga 1945 so genannte „Demokratie neuen Typs (gesellschaftliche Verhältnisse, „unter denen die feudalen Überbleibsel, der Großgrundbesitz, liquidiert werden, Privateigentum an Produktionsmitteln existiert, aber große Unternehmen der Industrie, das Transport-und Kreditwesen verstaatlicht werden, und der Staat selbst und sein Apparat nicht den Interessen der Monopolbourgeoisie dienen ..") war nach dieser Sicht nicht nur in Ost-, sondern auch in Westeuropa zu erreichen.
Bemerkenswert an dieser Zielrichtung der kommunistischen Weltbewegung in der Phase des Sieges über den deutschen Faschismus war mithin vor allem zweierlei: Sie galt als erfolgversprechend sowohl für Agrar-wie für Industriegesellschaften und als anwendbar sowohl in den westeuropäischen, d. h. von den Westmächten dominierten, wie in den osteuropäischen, d. h. unter sowjetischem Einfluß stehenden Ländern. Konnten die kommunistischen Parteien Osteuropas (gestützt auf die Nähe oder die Präsenz der Roten Armee) von der Realisierbarkeit des Programms in ihren Ländern ausgehen, mochten die westeuropäischen Kommunisten auf die moralische und politische (alliierte Kontrollorgane in Deutschland, Italien und Österreich) Unterstützung durch die Sowjetunion setzen. Der KPdSU selbst diente das Konzept offenbar vor allem zur Absicherung des Wiederaufbaus ihres zerstörten Landes durch die Bildung von Regierungen an ihren West-und Ostgrenzen (China, Korea), die außenpolitisch sowjet-freundlich waren und sich innenpolitisch zu verbal-sozialreformistischen (inhaltlich: sozial-revolutionären) Konzepten verpflichteten. Für Westeuropa bedeutete das den Verzicht auf die Ermunterung von revolutionären Bewegungen, deren Chancen dort (angesichts der Dominanz der USA und Großbritanniens) ohnehin gering waren.
Nun wäre es reizvoll, anhand der genannten Komponenten des Übergangskonzepts, das die Kommunistische Weltbewegung in der Nachkriegsphase weithin einheitlich vertrat, zu überlegen, ob ihm ursprünglich ein eher langfristiges (strategisches) oder ein stärker kurzfristiges (taktisches) Kalkül zugrunde lag. Fragen wie diese sind jedoch aufgrund der Quellenlage bislang nur spekulativ zu beantworten. Insbesondere die lange Kontinuitätslinie des Theorems der Demokratie „neuen Typs" (sie reicht bis zum VII. Weltkongreß der Komintern zurück) und die fortgesetzten ideologischen Bemühungen um diesen Begriff sprechen aber m. E. dafür, daß dieser Kategorie strategischer Stellenwert beigemessen wurde, daß die „mittlere Demokratie" als Durchgangs-phase auf dem Wege zum Sozialismus galt. Den Weg-und Zielbeschreibungen hingegen, die diese Etappe analytisch fassen und prognostisch erschließen sollten, kam strategische Bedeutung nur insofern zu, wie sie (auch angesichts des fragilen Kriegskonsenses der Weltmächte) die Möglichkeit eines „friedlichen Übergangs" betonten. Jenen Momenten der Sonderweg-Thesen indes, die auf ein Sozialismusmodell zu verweisen schienen, das stärker als vom Sowjetmodell von den historischen, kulturellen, sozialen und politischen Spezifika der jeweiligen Gesellschaft geprägt sein sollte, dürfte (angesichts der ideologischen Fixierung ihrer Verfasser, aber auch angesichts der politisch-ökonomischen Interessen der Sowjetunion) eher taktische Bedeutung zugemessen worden sein. Das schloß nicht aus, daß sie im Verlaufe des Transformationsprozesses in einzelnen Ländern politische Virulenz gewannen und in manchen Bereichen zur Legitimierung abweichender Politik genutzt wurden
Dogmen-oder theoriegeschichtlich wäre im übrigen zu fragen, inwieweit sich die Über-gangsprogrammatik der Nachkriegszeit überhaupt vom herkömmlichen leninistischen Revolutionskonzept unterschied, von der Zwei-Revolutionen-Theorie, die Lenin 1905 entwarf, und die schließlich auch (nach der Phase des Kriegskommunismus, die in Lenins Ent-wurf von 1905 nicht vorgesehen war, von ihm später aber legitimiert wurde) bis zur Stalin-sehen Industrialisierungspolitik („Sozialismus in einem Lande”) die Transformation der russischen Gesellschaft zumindest mitbestimmte
III. Entstehung und Inhalte der Sonderweg-Thesen der KPD/SED
1. Zur Entstehung Geht man davon aus, daß die Sonderweg-Thesen vor allem als taktisches Interpretationsmuster der zeitgenössischen Theorie der Demokratie neuen Typs zu werten sind, dann muß ihre Entstehung im Zusammenhang mit der Diskussion und Präzisierung dieses theoretisch-strategischen Kontextes untersucht werden, und es ist zu fragen, in welcher Phase der Konzeptbildung die Betonung von nationalen Besonderheiten auftrat. Offenkundig wird hier, daß die KPD-Führung im sowjetischen Exil bei ihren Diskussionen über die politische Taktik und deren programmatische Formulierung offenbar keinen Denkschritt ging, ohne zuvor bzw. im Denkprozeß selbst die Komintern und/oder deren leitende Funktionäre zu konsultieren. Diese Kominternhilfe leistete nach der Auflösung der Internationale Georgi Dimitroff unmittelbar. Er wurde bei der Formulierung des Programms für den „Block der kämpferischen Demokratie” von der Parteiführung ebenso konsultiert wie bei der Diskussion des Gründungsaufrufs der KPD vom 10. Juni 1945. Nach der neuesten DDR-Lesart führte Wilhelm Pieck mit Dimitroff bereits am 30. Mai 1945 „ein ausführliches Gespräch über die Konzeption dieses Aufrufs". Erst danach wurde er — am 5. Juni 1945 — von Ackermann, Ulbricht, Sobottka und Pieck vorformuliert und schließlich noch einmal mit Dimitroff durchgesprochen
Diese enge Zusammenarbeit führte dazu, daß schon der Gründungsaufruf der KPD weithin dem entsprach, was Dimitroff seit 1941/42 und dann wieder bei der Formulierung der Nachkriegsprogramme für die Kommunistischen Parteien an Ratschlägen und Formulierungshilfen beigesteuert hatte. So kritisierte er Ende 1943 das Programm der 1941 als PAP wiedererstandenen polnischen Partei wegen der darin enthaltenen Volksfrontaussagen und riet im Dezember 1944 den tschechoslowakischen Kommunisten, das „Sowjetsystem weder zu forcieren noch durchzusetzen" Vor diesem Hintergrund erscheinen die programmatischen Vorarbeiten für die Zeit nach dem Faschismus und die Formulierung des Sofortprogramms für die Wiederaufbauphase, der Gründungsaufruf der KPD, denn auch weniger als Resultate einer eigenen Analyse der konkreten deutschen Situation, sondern vielmehr als Versuche, die Parteiprogrammatik der dominierenden Linie der Kommunistischen Welt-bewegung anzupassen. Was im Gründungsaufruf als Reaktion auf die Lage Deutschlands anklingt, etwa die Bejahung des Privateigentums, die Betonung der bürgerlich-demokratischen Umwälzung oder das Nahziel der parlamentarischen Republik, muß deshalb ebenso als Ausdruck des herkömmlichen Internationalismus gewertet werden wie die Einsicht, daß es „falsch" sei, Deutschland „das Sowjetsystem" aufzuzwingen.
Den theoretischen Kern der Nachkriegsprogrammatik bildete der Begriff der Demokratie neuen Typs. Dieses Ziel war seit dem VII. Weltkongreß als Zwischenetappe auf dem Wege zum Sozialismus entworfen und von der Weltbewegung insgesamt vertreten worden. Für die KPD hatte sich insbesondere Anton Ackermann um die Propagierung dieses Konzepts verdient gemacht Er zog 1937 aus einer Kritik der Weimarer Verhältnisse und der Versäumnisse der SPD den Schluß, daß für seine Partei eine Rückkehr zu den politisch-sozialen Strukturen der ersten deutschen Republik nicht möglich sei und entwarf einen Maßnahmenkatalog für die erste Phase einer nachfaschistischen deutschen Übergangsgesellschaft. Zu ihm gehörte die Zerschlagung des „reaktionären Staatsapparats", die Einschränkung der „Macht der Bürokratie“, der Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung und — generell — die Vernichtung der „schlimmsten Reaktion der Monarchisten, Generäle, Junker und Großkapitalisten". Den politisch sozialen Gehalt der Zwischenetappe umriß er so: „Die allgemeinen demokratischen Aufgaben so weit zu lösen, daß die Vorrechte des Großkapitals praktisch beseitigt werden, das ist die Demokratie neuen Typs."
Der gleichen Stoßrichtung entsprachen — nach dem zeitweiligen Rückzug der Komintern auf die Positionen der Vorvolksfrontprogrammatik zwischen 1939 und 1941 — grundsätzlich sowohl die Programme für das „Nationalkomitee Freies Deutschland” als auch die Aussagen für die Regierung eines „Blocks der kämpferischen Demokratie”. An allen hatten neben Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht vor allem Anton Ackermann mitgearbeitet -Er hatte Ende 1944 den letzten Entwurf für das Blockprogramm formuliert, in dem der historische Bezug, den die Parteiführung seither immer wieder betonte, deutlich benannt wurde: „Was die demokratischen Kräfte 1848 durch verhängnisvolle Schwäche nicht vermochten, und was 1918 frevelhafter Weise unterblieb, das muß nun endlich zur Lösung gebracht werden: eine wirkliche Demokratisierung Deutschlands. ”
Der historisch-ideologischen Legitimierung, womöglich aber auch der strategischen wie taktischen Zuordnung dieser Theorie einer Revolution der gleitenden Übergänge diente der Rückgriff auf Lenins „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der bürgerlichen Revolution". Zwar hatte Lenin die Anwendbarkeit seines Konzepts der Überleitung der bürgerlich-demokratischen in die sozialistische Revolution für entwickelte Länder wie Deutschland ausdrücklich ausgeschlossen, die KPD
Führung aber setzte sich seit 1944 gleichwohl intensiv mit seiner Theorie auseinander
In einem Schulungsvortrag vom 9. November 1944 über das Programm für den „Block der kämpferischen Demokratie" bezog sich Wilhelm Pieck ausführlich auf die Lenin-Schrift. Wie Lenin seine „Zwei Taktiken", interpretierte der KPD-Vorsitzende das Blockprogramm als ein „Aktionsprogramm", das „den objektiven Bedingungen des gegebenen historischen Augenblicks und den Aufgaben der proletarischen Demokratie entspricht". Dieses Programm sei „das ganze Minimalprogramm unserer Partei, das Programm der nächsten politischen und ökonomischen Umgestaltungen, die einerseits auf dem Boden der jetzigen gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse vollauf durchführbar und andererseits für den weiteren Schritt vorwärts, für die Verwirklichung des Sozialismus notwendig sind”. An dieses Zitat schloß Pieck die Verlesung einer anderen Stelle an, „weil sie für uns — wenn auch nur im übertragenen Sinne — eine weitere wichtige Lehre für unsere Aufgabe gibt. Lenin schreibt: . Unsere Losung: revolutionäre, demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft... ist... bestrebt, die demokratische Umwälzung für die Zwecke des weiteren erfolgreichen Kampfes des Proletariats für den Sozialismus in denkbar bester Weise auszunutzen'
Damit war das strategische Gerüst und zugleich auch das Argumentationsschema, dem die Kommunisten in ihrer Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie bei der programmatischen Vorbereitung der Einheitspartei folgten, vorgeprägt: relativ deutliche Konzessionen an das Demokratieverständnis der Partner für die erste Phase (die Demokratie neuen Typs), relativ allgemeine Aussagen über den sozialökonomischen und politischen Gehalt der zweiten Phase, den angestrebten Sozialismus. Dem entsprach auch die formale Unterscheidung zwischen Minimal-und Maximal-programmen, an der die KPD-Vertreter festhielten und von deren Sinnhaftigkeit sie die sozialdemokratischen Verhandlungspartner auch überzeugen konnten. Die „objektiven Bedingungen des gegebenen historischen Augenblicks", deren präzise Kenntnis Lenin gefordert hatte, wurden jedoch in keiner der bekannten Exil-oder Nachkriegsdiskussionen bis zum Beginn des Jahres 1946 nachhaltig analysiert. Die Spezifika, die Besonderheiten der deutschen Nachkriegsentwicklung, wurden allenfalls im Zusammenhang mit der Tatsache erörtert, daß die Besatzungsmächte in Deutschland eine einheitliche Entwicklung des Landes und damit auch einheitliche Arbeitsbedingungen der Kommunisten erschweren würden. 2. Widersprüchliche Annäherung Wie bereits angedeutet, stand die Formulierung des Weg-Theorems in engem Zusammenhang mit der Diskussion über die Pro-grammatik der künftigen Einheitspartei. Auf der 1. Sechziger-Konferenz hatten sich die SPD-und KPD-Spitzen darauf verständigt, zur Formulierung des Programms eine paritätisch besetzte „Studien-Kommission" einzusetzen Nach den wenigen Mitteilungen über die Arbeit dieser Kommission traf sie sich erstmals am 15. Januar 1946 und kam danach noch sechsmal zusammen, das letzte Mal am 25. Februar. Ihre Diskussionen waren zunächst bestimmt vom wachsenden Druck der Kommunisten und der sowjetischen Militärbehörden auf einheitsunwillige oder zögerliche Sozialdemokraten. Am 15. und 18. Februar aber wurde über die Prinzipienerklärung, die „Grundsätze und Ziele", beraten — wie bei der ersten Sechziger-Konferenz auf der Grundlage eines KPD-Entwurfs, der zuvor am 9. Februar von einer Konferenz des ZK und der Bezirks-sekretäre gebilligt worden war. Schon am 15. Februar hatte die Kommission über den Inhalt des ersten Heftes der „Einheit" (damals noch Organ zur „Vorbereitung der Sozialisti-sehen Einheitspartei") beraten und festgelegt, daß u. a. Helmut Lehmann über die Marxsche Kritik am Gothaer Programm der SPD und Anton Ackermann über „Demokratie und Sozialismus" einen Artikel schreiben sollten.
Vier Tage später, also knapp drei Wochen vor der Auslieferung der „Einheit", erschien in der „Deutschen Volkszeitung" zum 22. Todestag Lenins ein Artikel über „Lenins Bedeutung für die demokratische Erneuerung Deutschlands". Er galt dem wöchentlichen politischen Schulungstag der KPD-Mitgliederschaft, der in dieser Woche dem Thema „Lenin über den demokratischen Kampf der Arbeiterklasse" gewidmet war
Der Verfasser, A. Feldner stellte zwei Erkenntnisse in den Mittelpunkt. Zunächst erklärte er, stets habe Lenin betont, daß die „Marxsche Theorie der Arbeiterbewegung lediglich grundlegende Leitsätze gibt, die in jedem Lande ihre besondere Anwendung erfordern". Diese müsse „in Rußland eine andere sein als in England, in Deutschland eine andere als in Frankreich und Amerika". Das bedeute für die deutschen Marxisten, „daß wir uns auf die deutschen und nur auf die deutschen Verhältnisse orientieren dürfen. Für uns kann die Orientierung weder Süd noch Nord, Ost oder West heißen". Die kommende Einheitspartei müsse daher „selbständig und unabhängig" sein, „ihre Politik und Taktik entsprechend den Interessen der deutschen Werktätigen und den speziellen Bedingungen" entwickeln. „Von den Besonderheiten der Entwicklung unseres Volkes ausgehend, soll die Einheitspartei einen eigenen Weg, den spezifisch deutschen Weg einschlagen." Den Weg selbst umriß Feldner nicht. Er skizzierte allein ein Zwischenziel: den „Kampf um die demokratische Erneuerung Deutschlands".
Charakteristisch für diese Aussagen (wie im übrigen auch für alle nachfolgenden Äußerungen zur Notwendigkeit eines spezifischen Weges) war der Verzicht auf die Konkretisierung der Wegstrecke. Sie im einzelnen (über einen allgemeinen Maßnahmenkatalog hinaus) einem theoretischen Kontext zuzuordnen, waren die Autoren in Anbetracht des eben erst begonnenen Aufbaus sicherlich überfordert. Bedeutsamer war das Fehlen eines zumindest skizzenhaften Umrisses des angestrebten Ziels. Genannt wurde allein — auch bei Feldner — der „Sozialismus". Dessen politisch-sozialer Gehalt aber wurde als unstrittig unterstellt. Nicht zu erörtern war deshalb die Frage, über die sich Sozialdemokraten und Kommunisten bis dahin nicht hatten verständigen können: die politische und soziale Verfassung der Sowjetunion. Sie blieb für die KPD-Sprecher sakrosankt und stand mithin unausgesprochen am Ende ihres Weges Bei Feldner klang das so: „Es wird leider vergessen, daß es in der Welt ganzen keine Partei gibt, die eine solche Tradition, eine solche Klarheit und Folgerichtigkeit ihrem demokratischen Kampf
aufzuweisen hat, wie die von Lenin gegründete bis zu seinem Tod von ihm geführte und Partei Rußlands." Kommunistische Was Feldner ausführte, entsprach in der Sache, weniger in der Emphase, präzise dem, was Walter Ulbricht schon am 12. Oktober 1945 in einer Rede vor einer Berliner KPD-Funktionärskonferenz angemerkt hatte. Ulbricht damals: „Wir Kommunisten und Sozialdemokraten müssen den Weg des antifaschistischen Kampfes gemeinsam finden, wie er den besonderen Entwicklungsbedingungen in Deutschland entspricht. Dieser Weg kann nicht eine schematische Übertragung der Entwicklung der Sowjetunion auf Deutschland sein, aber auch nicht eine schematische Übertragung der englischen Verhältnisse auf Deutschland ... Wir Kommunisten und Sozialdemokraten müssen vielmehr den Weg gemeinsam suchen und finden, der den eigentümlichen Entwicklungsbedingungen in Deutschland entspricht."
Diese m. W. die erste Erwähnung ist der Notwendigkeit eines eigenen
deutschen Weges zum Sozialismus. Sie wurde in der Folgezeit von den Parteipropagandisten freilich nicht wiederholt. Zwar warben Agitation und Propaganda für das Konzept der Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution. Sie verharrten jedoch bei den Formeln, die bereits im Gründungsaufruf propagiert worden waren In die gleiche Richtung zielten auch Artikel von Oelßner und Ackermann vom November bzw. Dezember 1945. Zum 28. Jahrestag der Oktoberrevolution wiederholte Oelßner es sei — angesichts der „heute noch" von der Nazi-Ideologie verseuchten oder zumindest ideologisch verwirrten „breiten Massen", angesichts fehlender revolutionärer Masseninitiative — falsch, dem deutschen Volk das „Sowjetsystem aufzwingen zu wollen ...".
Einen Monat später veröffentlichte die „Deutsche Volkszeitung" Auszüge aus einer Rede Anton Ackermanns, die er auf einer KPD/SPD-Kundgebung anläßlich des 125. Geburtstages Friedrich Engels'gehalten hatte In dieser Rede setzte sich Ackermann auch mit „der demokratischen Republik und dem Kampf um den Sozialismus" auseinander. Nach seiner Sicht war für Marx und Engels die bürgerlich-demokratische Republik „keinesfalls der Staat, unter dessen Fittichen der Sozialismus verwirklicht werden kann ... Marx und Engels anerkannten nur die Aufrichtung der politischen Macht der Arbeiterklasse als den Weg zum Sozialismus 1'. Wenn man heute die Resultate der Anwendung der „Theorie des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus überprüft", so Ackermann weiter, so könne man von keinem Lande sagen, daß dieser Weg zu einem Erfolg führte. „Auf der anderen Seite" freilich habe eine Partei und die Arbeiterklasse eines Landes die „Lehren von Marx und Engels konsequent befolgt": die „Partei Lenins und Stalins". Sie habe den Staatsapparat zerschlagen und den „Weg der Aufrichtung der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse beschritten". Aus dieser Gegenüberstellung zog der Redner den Schluß: „Folglich müssen wir anerkennen, daß der von Marx und Engels aufgezeigte Weg sich als der richtige erwies, der die geschichtliche Prüfung bestand und zum vollen Erfolge führte". Ackermann blieb mit dieser Äußerung inhaltlich präzise auf der auch von Oelßner vertretenen Linie und erwähnte mit keinem Wort die Möglichkeit eines anderen, eines besonderen deutschen Weges zum Sozialismus.
Allerdings: Wenige Tage nach der Veröffentlichung der Ackermann-Rede übernahm das ZK den zuerst von Walter Ulbricht vorgetragenen Gedanken offenbar voll und ganz. Am 19. Dezember 1945 — dieses Faktum ist bisher von der SED-Geschichtsschreibung übersehen worden — leitete das ZK dem SPD-Zentralausschuß seinen Resolutionsentwurf für die am 20. Dezember beginnende Sechziger-Konferenz zu. Dort hieß es: „Was soll die neue, einheitliche Partei der sozialistischen Bewegung sein? Das Programm dieser Partei soll im Minimum die Vollendung der demokratischen Erneuerung Deutschlands im Sinne des Aufbaus einer antifaschistisch-demokratischen Republik parlamentarischen Typus ...sein; im Maximum soll das Programm die Verwirklichung des Sozialismus auf dem Wege der AusÜbung der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse im Sinne der Lehren des konsequenten Marxismus sein ... Die Einheitspartei soll eine selbständige und unabhängige Kraft sein. Es ist ihre Aufgabe, ihre Politik und Taktik entsprechend den Interessen der deutschen Werktätigen und den speziellen Bedingungen in Deutschland zu entwickeln. Sowohl bei der Verwirklichung des Programm-Minimums wie des Programm-Maximums soll sie, von den Besonderheiten der Entwicklung unseres Volkes ausgehend, einen besonderen Weg einschlagen. Die restlose Zerschlagung des alten staatlichen Machtapparates und die konsequente Weitertreibung der demokratischen Erneuerung Deutschlands kann auch besondere Formen des Übergangs zur politischen Herrschaft der Arbeiterklasse und zum Sozialismus schaffen."
Diese Textpassage wurde, an nur wenigen Stellen stilistisch überarbeitet, Element der Entschließung der Sechziger-Konferenz Eine Diskussion über diese Punkte fand nicht statt. Otto Grotewohl erklärte lediglich: „Zu den allgemeinen Aussagen des Vorschlages ... haben wir im großen und ganzen nichts hinzuzufügen; sie stimmen im wesentlichen mit dem vollkommen überein, was auch wir zu sagen hätten."
Dieser Zusammenhang verdeutlicht, daß die Notwendigkeit einer taktisch geschmeidigen Argumentation der KPD-Führung insbesondere im Vorfeld ihrer Bemühungen um dieVereinigung mit der SPD bewußt wurde, daß die Betonung der Besonderheiten der deutschen Situation und die Erwägung über einen deutschen Weg zum Sozialismus diese Zielset-zung taktisch unterstützen sollten. Diese Deutung gestattet auch der seither viel berufene — seltener gelesene — Ackermann-Text vom Februar 1946.
IV. Die Ackermann-Überlegungen
1. Der Artikel in der „Einheit“
Daß Anton Ackermann mit seinem Artikel speziell auf die zögerlichen Sozialdemokraten zielte, geht nicht allein aus dessen Entstehungszusammenhang und dem Publikationsdatum hervor Er betonte dieses in seinem Text selbst eindringlich: .... auf welchem Wege und in welchem Tempo Deutschland künftig zum Sozialismus schreiten wird, das hängt ausschließlich davon ab, in welchem Tempo jetzt die Einheitspartei verwirklicht wird!“ Diese Quintessenz konnte er ziehen, weil ihn seine „Klassiker" -Exegese und Situationsanalyse im wesentlichen zu vier Schlüssen geführt hatte:
Zunächst erklärte er — im Anschluß an seine Deutung von Marx-, Engels-und Lenin-Zitaten —, daß „auf gar keinen Fall das friedliche Hineinwachsen in den Sozialismus durch den Aufbau von Produktivgenossenschaften ..
die Beschränkung nur auf das Mittel des allgemeinen Wahlrechts (das Lassallesche Übergangskonzept, St.) den besonderen deutschen Weg zum Sozialismus darstellen kann."
Zweitens hätten aber weder Marx noch Lenin die Möglichkeit ausgeschlossen, „unter besonderen Umständen auch ohne Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmaschinerie auszukommen; allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sich das bürgerlich-demokratische Regime nicht auf Militarismus und reaktionäre Bürokratie stützen kann". Der Übergang sei dann auf „relativ friedlichem Wege möglich, wenn die Klasse der Bourgeoisie nicht über den militaristischen und bürokratischen staatlichen Gewaltapparat verfügt, der es ihr sonst möglich macht, den Machtanspruch des Proletariats mit dem Bürgerkrieg ... zu beantworten”.
Drittens — und hier begann seine knappe Situationsanalyse — sei die Herausbildung solcher Bedingungen in Deutschland grundsätzlich möglich. Ob diese Möglichkeit freilich Wirklichkeit werden könne, ob es die Chance geben werde, „im Verlauf der weiteren Entwicklung ... auf friedlichem Wege ... zur sozialistischen Umgestaltung weiterzugehen“, das hänge von „einem Faktor ab, der außerhalb des Einflusses der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung“ liege: von den Besatzungsmächten. Immerhin gebe es positive Anzeichen: „weitgehend zerschlagen“ sei der alte Staatsapparat, der preußisch-deutsche Militarismus solle — laut alliierter Übereinkunft — „bis auf den Rest liquidiert werden”, „konsequent durchgeführt" werde „in großen Teilen Deutschlands" die Entnazifizierung des Verwaltungsapparats, und den „imperialistischen Kräften sei (durch die Bodenreform) bzw. werde (durch Zerschlagung der Trusts, Konzerne und Banksyndikate) „die ökonomische Basis entzogen", „fortschrittlicher Einfluß" komme durch die Mitbestimmung der Entwicklung der Gesamtwirtschaft zugute.
Neben diesen positiven sah Ackermann auch negative Tendenzen. Die Erneuerung des Verwaltungsapparates lasse zu wünschen übrig; aus dem Fortbestehen kapitalistischer Produktion erwachse die Gefahr, daß die Bourgeoisie erneut zur Macht dränge; nicht überall könne das Mitbestimmungsrecht als gesichert gelten. „Alarmierend" sei, „daß die Kräfte der Restauration des reaktionären imperialistischen Deutschlands bereits wieder aus den Mauselöchern hervorkriechen" und „offensichtlich bestrebt" seien, sich auch wieder legale Instrumente ihrer Politik zu schaffen, „vor allem eine Presse und die Organisation der Konterrevolution". Insbesondere mit diesem Hinweis unterstrich Ackermann, was er bereits in seinem Theorieteil als „unvermeidlich, selbst im demokratischsten Land und bei der . fortschrittlichsten Bourgeoisie ”, behauptet hatte: Immer, wenn das Bürgertum sehe, daß es zu „unterliegen droht”, werde es versuchen, „der sozialistischen Arbeiterbewegung das Rückgrat zu brechen". Diese Bilanz führte ihn zu seiner vierten und entscheidenden Konsequenz: „Je gründlicher und umfassender wir alles Für und Wider der kommenden Entwicklung untersuchen, desto stärker müssen wir der Überzeugung Ausdruck geben, daß die rasche Entfaltung der kämpferischen Fortschrittskräfte in der Arbeiterklasse und im gesamten schaffenden Volk letzten Endes den Ausschlag geben wird. Das ist aber in erster Linie gewährleistet durch die Schaffung der Einheitspartei der Arbeiter ... Das ist der tiefere Grund, weshalb die Vereinigung der KPD und SPD auf keinen Fall auf die lange Bank geschoben werden kann."
Inhaltlich war der Weg mithin als möglicherweise „relativ friedlich" bestimmt, ungesagt blieb, wie weit er parlamentarisch sein werde, und ungewiß blieb auch, wohin er führen sollte. Sicherlich lag es nahe, aus den Ackermann-sehen Aussagen über die Besonderheiten des russischen Weges (Revolution in einem ökonomisch „zurückgebliebenen" Lande mit einer schwachen Arbeiterklasse und geringer Produktivität) mit dem Verfasser den Schluß zu ziehen, daß „im Verhältnis zu den Opfern, die vom russischen Volk für den Aufbau des Sozialismus gebracht werden mußten, unsere Anstrengungen relativ geringer sein werden". Ackermanns einzige Andeutung aber über Unterschiede im Ziel blieb doppeldeutig. Gefördert durch eine Einheitspartei „auf dem Boden des konsequenten Marxismus" werde sich „die weitere politische Entwicklung wesentlich anders gestalten als nach dem Sieg der Oktoberrevolution .... Hier brauche es — anders als dort — dann nicht zur „Zerschmetterung der menschewistischen Partei (die zu einer konterrevolutionären Partei geworden war) ... zu kommen. Und auch dies „müßte" ein „schnelleres Hervortreten der konsequenten sozialistischen Demokratie zur Folge haben".
Sprach hier aus Ackermann ein kritischer Kenner der Stalinschen Sowjetunion, oder war es die Warnung eines Bolschewiken an die Sozialdemokraten? Eine klare Antwort läßt sich wohl kaum geben.
Offen blieb in diesem Text (wie später auch in denen anderer KPD-Führer), ob dieses Konzept für alle Teile Deutschlands Gültigkeit haben könne. Das politische Kräfteverhältnis der Deutschen in den Westzonen wurde nicht erwähnt, und hinsichtlich der Alliierten setzte Ackermann „Neutralität aller Besatzungsmächte in bezug auf die zukünftige Gesellschaftsstruktur Deutschlands theoretisch voraus .. Auch hier also blieben die Konturen eines „deutschen Weges" zum Sozialismus nebulös. Deutlicher dagegen trat der Zweck der vorgestellten Reflexionen hervor: scheinbares Eingehen auf Bedenken von Sozialdemokraten und wortreiches Verschweigen der grundsätzlichen politischen Differenzen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, d. h.der unterschiedlichen Interpretation der angestrebten künftigen sozialistischen Gesellschaft. 2. Aufnahme und Verwertung der Ackermann-Reflexionen Daß diese Absicht auch kurzfristig zu Erfolgen führte, zeigte die zweite Sechziger-Konferenz. Noch auf den Sitzungen der „Studien-Kommission" hatte es — nach den Notizen Piecks — Differenzen über den KPD-Entwurf für die „Grundsätze und Ziele" gegeben. Nach intensiven Diskussionen zwischen Ackermann und Lehmann fanden Kommunisten und Sozialdemokraten jedoch zu gemeinsamen Formulierungen. Und die zweite Sechziger-Konferenz verabschiedete am 26. Februar 1946 die Prinzipienerklärung offenbar ohne nennenswerte Diskussionen Und es war in der SPD-Führung denn auch vor allem Lehmann der sich zum Sprecher der gemeinsamen Plattform machte. Er deutete die Verständigung über die „Grundsätze und Ziele", zu der Ackermann einen wesentlichen Beitrag geleistet hatte, kurz darauf so: „... die Sozialdemokratische Partei von 1945 lehnt die Vorstellung ab, der Sozialismus könne auf dem Wege friedlicher demokratischer Entwicklung erreicht werden; ... die Kommunistische Partei von 1945 verzichtet auf die Anwendung von Gewalt, solange es möglich ist, den Kampf um die Eroberung der politischen Macht mit den Mitteln der Demokratie zu führen. Mit anderen Worten, die bei-* den Parteien kehren zurück zu der Ideologie, die die Sozialdemokratische Partei in dem Jahrzehnt nach dem Fall des Sozialistengesetzes unter der Führung von August Bebel und der Patronanz von Friedrich Engels beherrscht hat"
Kurz darauf stellte Lehmann immerhin die Frage nach dem politischen Stellenwert der allgemeinen Akzeptanz eines demokratischen Weges in der Übergangsphase durch die KPD-Führung. Er ging davon aus, die Erfahrung habe die KPD gelehrt, daß es nicht möglich sei, „unmittelbar zum Sozialismus über(zu) ge-, hen". Es könne daher „nicht nur taktische Überlegung sein, wenn die Kommunistische Partei heute die Demokratie als ihren Kampf-boden anerkennt". Dabei sei es „belanglos, ob sie aus taktischen Überlegungen oder aus Überzeugung zu dieser Auffassung gelangt ist". Entscheidend war es nach Lehmann, „daß die KPD sich auf den Boden der Demokratie gestellt" habe
Nun ist nicht überliefert, ob diese konfuse Deutung auch von anderen einheitswilligen Sozialdemokraten akzeptiert wurde. Anzunehmen aber ist, daß die Befürworter der Einheitspartei in der SPD für jede KPD-Äußerung dankbar waren, die angesichts ihrer verfahrenen Einheits-Taktik ihre ohnehin alternativ-lose Position legitimierte. Und diese — unterstellte — Neigung förderten die KPD-Führer bis zum Vereinigungsparteitag nach Kräften. Speziell Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht äußerten sich in diesen Wochen wiederholt zum Problem der nationalen Besonderheiten und zu den Chancen eines friedlichen deutschen Weges. Dabei spielte — insbesondere in Stellungnahmen Piecks — der Verweis auf die Ackermann-Reflexionen eine erhebliche Rolle So stellte er in seiner Rede auf der KPD-Reichskonferenz am 2. März die theoretische Frage, ob es denn nun „schlimmster Opportunismus" sei, wenn wir von der Möglichkeit eines gewissermaßen friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus reden?" Bei der Antwort stütze er sich „im wesentlichen auf die Arbeit des Genossen Ackermann", die er allen Genosseh .. dringend zum ernsten Studium" empfahl, weil „gerade dort in ausgiebigem Maße mit den Worten von Marx, Engels und Lenin dargelegt" worden sei, „wie man zu dieser Frage zu stehen hat, ohne etwa in illusionäre Vorstellungen oder gar in Opportunismus zu versinken"
Auch Walter Ulbricht schloß sich dieser Sicht an. Zwar setzte er den Akzent stärker auf die konkreten Schritte, die gegangen werden müßten, um die Möglichkeit eines „demokratischen Weges" zu sichern. Grundsätzlich aber bewegte er sich in dem von ihm und Ackermann abgesteckten Argumentationsrahmen, wenn er auf der Parteikonferenz der KPD im März ausführte: „Wir können nicht einfach die Erfahrungen und Methoden, die in anderen Ländern dabei angewandt wurden und sich dort mehr oder minder bewährt haben, auf unsere deutschen Verhältnisse übertragen, weil Deutschland besondere Entwicklungsbedingungen hat." Um Konkretisierung bemühte sich auch Franz Dahlem, der auf einer gemeinsamen Konferenz von SPD und KPD in Schwerin forderte, die deutsche Arbeiterklasse müsse „jetzt die selbständige Politik des Suchens eines eigenen Weges im Rahmen der Möglichkeiten der Potsdamer Bedingungen durchführen", Resultat könne nur eine „deutsche’ Politik" sein
Eine intensive Parteidiskussion kam aber nicht zustande. Die Parteischulung widmete sich zwar dem „Weg zum Sozialismus" betonte aber nur die „Besonderheiten der heutigen Lage“ und nicht einen „besonderen Weg". Immerhin folgte sie der bisherigen öffentlichen Argumentation insofern, als sie davon ausging, daß „die Möglichkeit einer Höherentwicklung ohne gewaltsame Revolution nicht ausgeschlossen" sei. In der Parteipresse widmete sich allein Wolfgang Leonhard dem Thema. Er stellte seine Betrachtung zum Schulungstag unter den Titel „über den deutschen Weg zum Sozialismus", referierte inhaltlich aber präzise das, was Anton Ackermann zuvor publiziert hatte
Die Aufgabe der funktionalen Zuspitzung übernahm schließlich wiederum Anton Ackermann. In einer kurz vor den letzten KPD-und SPD-Parteitagen veröffentlichten Broschüre führte er — unter dem Zwischentitel „Meinen es die Kommunisten ehrlich?" — den neuen KPD-Kurs auf die Brüsseler Parteikonferenz von 1935 zurück und den bis dahin häufigen „scheinrevolutionären Dogmatismus" der Partei auf die „Erbschaft der Linken vor 1914". Die „Hauptwurzeln für Dogmatismus und Sektierertum" erkannte er selbstkritisch in der „Unterschätzung der nationalen Besonderheiten Deutschlands", in dem „Versuch einer schematischen Übertragung der Erfahrungen der großen russischen Revolution auf Deutschland"
Den Stellenwert dieser Bemühungen bestimmte Ackermann auf dem letzten KPD-Parteitag so: „Ohne diese Änderung unserer Haltung in der Frage der demokratischen Republik wäre es nicht möglich gewesen, den Kurs auf die Vereinigung mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands einzuschlagen und diese Vereinigung durchzuführen."
Nun soll durch diese Wertung nicht etwa der Eindruck erweckt werden, als würde hier der Konzeptwandel der KPD insgesamt einem kurzfristig-zweckrationalen Kalkül zugeordnet. Dies wäre im Sinne der oben (S. 19) versuchten Unterscheidung zwischen dem mittelfristigen Konzept der zwei Revolutionen und dem taktisch eingesetzten Theorem vom „besonderen Weg" sicherlich falsch. Verdeutlicht werden sollte allein das taktische Moment, dessen Bedeutung m. E. darin lag, mit einer begriffsleeren Worthülse eine Entscheidung der KPD für einen dritten Weg und ein gewissermaßen drittes Ziel zu suggerieren und so die politisch-inhaltlichen Differenzen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zu überbrücken.
V. Gab es einen „besonderen deutschen Weg"?
1. Die programmatische Fixierung Die taktische Absicht, mit der die KPD-Führung die schillernde Vokabel in Umlauf setzte, galt freilich nur der Diskussion im Vorfeld der letzten Vereinigungsphase. Was immer Sozialdemokraten und Kommunisten in die neue Formel hineininterpretiert haben mochten, in den „Grundsätzen und Zielen“ konnten sie kaum etwas davon wiederentdecken. Die dem Vereinigungsparteitag vorgelegte Programmatik hielt sich strikt an die herkömmliche Begrifflichkeit der Zwei-Revolutionen-Theorie Lenins, nach der es galt, unter Führung der Partei zunächst die bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende zu führen und dann zum Sozialismus überzugehen. Diese Orientierung erschien in der Formel: „Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands kämpft um diesen neuen (sozialistischen — St.) Staat auf dem Boden der demokratischen Republik".
Von einem „deutschen Weg" war keine Rede mehr, und die Berücksichtigung der „nationa-len Besonderheiten" schrumpfte zu der — angesichts der Besatzungsherrschaft — scholastisch-banalen Erkenntnis, daß „die gegenwärtige besondere Lage“ in Deutschland die „Möglichkeit" einschließe, die „reaktionären Kräfte daran zu hindern, mit den Mitteln der Gewalt ...der endgültigen Befreiung der Arbeiterklasse in den Weg zu treten". Geschehe dies, dann werde die neue Partei „zu revolutionären Mitteln greifen". Generell aber „erstrebt sie den demokratischen Weg zum Sozialismus" Die einzige Reverenz, die den Sonder-weg-Erwägungen erwiesen wurde, fand sich in der Charakterisierung der SED. Sie erschien als „unabhängige Partei", die in ihrem Lande für die wahren nationalen Interessen ihres Volkes" kämpfe
Zwar hatte der Vereinigungskongreß beschlossen, vom 1. SED-Parteitag ein vollständiges Parteiprogramm verabschieden zu lassen, doch dies geschah erst 1963. Formal galten mithin die „Grundsätze und Ziele" bis dahin als programmatisches Dokument. Von ungleich höherem politischen Rang aber waren stets die Richtlinien-Beschlüsse von ZK-Tagungen und Parteikonferenzen bzw. Parteitagen
Schon kurz nach dem Vereinigungsparteitag begannen die ersten Versuche, den Begriff der demokratischen Republik instrumentell auszuformulieren. Formulierungshilfe gab die Sowjetische Militäradministration. Nach Wolfgang Leonhard überbrachte ein sowjetischer Verbindungsoffizier wenige Wochen nach dem Einheitsparteitag ein russisches Manuskript, forderte dessen Übersetzung, und der Text wurde in der „Einheit" unter dem Titel „Was ist Demokratie?" veröffentlicht In diesem Aufsatz wurde jene von Ulbricht im September 1945 benutzte Formel wiederholt, daß für Deutschland weder eine schematische Übertragung des sowjetischen noch die eines westlichen Systems in Frage komme. Statt dessen verwies der Autor auf die „demokratisehen Volksrepubliken", auf Jugoslawien, die ÖSR, Bulgarien, Polen und Rumänien, und schlußfolgerte (wie Varga): „Die historische Betrachtung der Frage der Demokratie gibt uns die Möglichkeit, die Notwendigkeit des Bestehens einer mittleren Form der Demokratiezu verstehen, die zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Form der Demokratie besteht." Diese Form sei „fortschrittlicher als die bürgerliche Demokratie“ und geeignet, „die Bedingungen (zu) schaffen, die für den Aufbau des Sozialismus notwendig sind”. Der Autor vertrat die Ansicht, daß „in der heutigen Etappe der Entwicklung Deutschlands gerade dieser Typus der Demokratie am annehmbarsten ist".
Die SED-Führung stimmte dieser Sicht zu. Zwei Monate später veröffentlichte Rudolf Appelt eine Betrachtung der „Volksdemokratien" -Er resümierte, in „veränderter Form“ stünden die „Probleme", die dort „zur Entwicklung von Volksdemokratien“ führten, „auch vor dem deutschen Volke". Bei den „gegebenen Verhältnissen" gab es „nur die Wahl zwischen der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie und der Volksdemokratie“. Dabei sei es allerdings „selbstverständlich, daß eine Volksdemokratie in Deutschland der besonderen deutschen Entwicklung angepaßt wäre und ihre besonderen deutschen Züge hätte“.
Diese Zielrichtung — sie wurde bis zum Jahre 1948 weiter präzisiert — prägte seither die Wandlungen der SED-Programmatik: Sie galten der sukzessiven Eingliederung der SBZ in den politischen, sozialen und legitimatorisehen Entwicklungs-und Begründungszusammenhang der Volksdemokratien. Der „deutsche" Weg, den manche SED-Mitglieder womöglich erhofft hatten, reduzierte sich auf die „mittlere Demokratie“, und der Weg zu ihr stellte nur insoweit einen „besonderen" dar, als er in einem historisch, kulturell, politisch und sozial anderen Terrain lag, als in dem, das die „Bruderparteien" vorgefunden hatten. Auf diesen anderen Wegen aber gingen die Volksdemokratien gemeinsam zum gleichen Ziel, zum Sozialismus sowjetischer Prägung. Und: Wie lange „Besonderheiten" von der Sowjetunion akzeptiert werden konnten, das hing letztlich von den Faktoren ab, die für die sowjetische Politik entscheidend waren: von den Entwicklungen des Ost-West-Konflikts. 2. Die gesellschaftliche Praxis Vor diesem Hintergrund stellt sich denn auch nicht so sehr die Frage, wie sich die Arbeit der Planer, Initiatoren und Aktivisten des Wiederaufbaus vom Transformations-Modell der KPdSU unterschied, wo und wie bewußt sie an den überkommenen administrativen, organisatorischen oder politischen Traditionen Deutschlands bzw.der deutschen Arbeiterbewegung anknüpften oder sich innovativ verhielten. Daß sie beides taten, steht außer Frage ist für unseren Zusammenhang aber sekundär, zumal es in nur wenigen Bereichen geschah (Formen der Verstaatlichung, Organisation der zentralistischen Administration) und bislang keine relevante Entscheidung bekannt ist, bei der sich Individuen, Gruppen oder gar die Partei als ganze explizit auf den „besonderen Weg" berufen hätten. Von größerer Bedeutung sind dagegen die in der SBZ wie in allen Ländern des sowjetischen Einflußbereichs (mit der markanten Ausnahme Jugoslawiens) durchgesetzten und weithin zeitgleich gegangenen Transformationsschritte: die Schaffung überwiegend gleicher sozialer Strukturen, einheitlicher — der KP-Dominanz dienlicher — Herrschaftsverhältnisse, die schrittweise Etablierung zentralistischer Verfügungsgewalt über die industrielle Produktion, die Banken und den Handel und schließlich auch die permanente Anpassung der Revolutionstheorie an die jeweils neueste Entwicklung der sowjetischen Lehre. Und von Bedeutung war schließlich auch die Tatsache, daß dieser Weg gegangen wurde ohne Rücksicht auf das entscheidende Spezifikum der deutschen Situation: die faktische Teilung des Landes.
Von einem „besonderen Weg" läßt sich im Hinblick auf die SBZ deshalb nur insofern sprechen, als die SED — anders als ihre Bruderparteien in Osteuropa — die Verfaßtheit ihrer Gesellschaft 1948 ausdrücklich nicht als „volksdemokratisch" im Sinne des in anderen Ländern proklamierten Übergangs zum Sozialismus charakterisierte. Womöglich nicht aus eigenem Entschluß, sondern auf Drängen der Sowjetunion, die die Glaubwürdigkeit ihrer verbal auf die nationale Einheit zielenden Deutschlandpolitik gefährdet sah Doch diese Besonderheit hinderte die SED-Führung nicht, die Theorie des Sonderweges präzise zu dem Zeitpunkt zu kritisieren, an dem dies auch ihre Bruderparteien taten.
VI. Die formelle Aufkündigung des Sonderweges
Der Zusammenhang, in dem die Parteiführung die ursprünglichen Reflexionen über einen deutschen Weg zum Sozialismus verwarf, ist bekannt und braucht hier nur benannt zu werden. Er war geprägt durch die rasche Zentralisierung des „Lagers der Volksdemokratien" im Gefolge des Kalten Krieges und des Kominform-Konfliktes mit der Kommunistischen Partei Jugoslawiens Diese externen Zwänge beschleunigten die in der SBZ seit 1947 ohnehin erkennbaren Zentralisierungs-Bewegungen im ökonomischen und administrativen Bereich und forcierten die Umbildung der bis dahin noch keineswegs marxistisch-leninistisch organisierten SED in eine Partei Stalinschen Typs. Unter dem Aspekt der SED-Geschichte markiert mithin die kritische Abwendung von Aussagen, mit denen die KPD-Führung die Bildung der Einheitspartei erleichtert hatte, das Ende der ersten Entwicklungsetappe der SED hin zu einer zeitgemäßen Kommunistischen Partei. Dieser Metamorphose entsprach die Form der Abkehr: Statt einer kollektiven Selbstkritik der Parteiführung hatte der Funktionär öffentlich abzuschwören, der die von der Sowjetunion empfohlene und kollektiv akzeptierte Taktik im Parteiauftrag ausformuliert hatte. Ob sich An-ton Ackermann dieser Prozedur zu widersetzen suchte, ist nicht überliefert In seiner öffentlichen Selbstkritik erklärte er, daß es „von Anfang an grundfalsch" gewesen sei, von einem „besonderen deutschen Weg" zu sprechen. Als Ursache des Fehlers benannte er das „Zurückweichen vor der wilden antikommunistischen Hetze", die „besonders kraß im Zusammenhang mit der Vereinigung der KPD und der SPD zur Sozialistischen Einheitspartei einsetzte".
Er sagte zumindest damit, so scheint mir, durchaus die Wahrheit, zwar in der Formel-sprache der Partei, doch deshalb nicht weniger wahr.