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Bilanz der Entspannungspolitik | APuZ 50/1982 | bpb.de

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APuZ 50/1982 Bilanz der Entspannungspolitik Vom Feindstaat zum Vertragspartner. Bilanz der Entspannungspolitik gegenüber Osteuropa und der Sowjetunion Die deutsch-deutschen Beziehungen in den siebziger Jahren Entspannungspause

Bilanz der Entspannungspolitik

Alois Mertes

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die gegenseitigen Vorwürfe bezüglich des Verhaltens der parlamentarischen Opposition in den fünfziger und siebziger Jahren sollten der Vergangenheit angehören. Wie die SPD die Westverträge, hat die CDU die Ostverträge als vorhandene Instrumente der deutschen Außenpolitik anerkannt. Dennoch ist es wichtig, den bekannten Bedenken der CDU/CSU und den Erwartungen der Sozialliberalen Koalition bezüglich der deutschen Ostpolitik die tatsächlichen Resultate der Politik der siebziger Jahre gegenüberzustellen. Langfristige Folge der Entspannungspolitik ist, daß sich das Gefahrenbewußtsein in der deutschen Öffentlichkeit verschoben hat. Das Risiko der atomaren Selbstvernichtung wird heute makroskopisch groß, das der schleichenden Selbstunterwerfung gegenüber der Sowjetunion hingegen mikroskopisch klein gesehen. Die These vom „Wandel durch Annäherung" hat sich als brüchig erwiesen, da letztlich eben nicht das Verteidigungspotential des Westens von den kommunistischen Regimen als fundamentale Bedrohung empfunden wurde, sondern die hier reale Existenz von Freiheit und Menschenrechten. Es ist in Zukunft darauf zu achten, daß die Deutschlandfrage nicht als spezifisch deutsches Problem betrachtet wird, sondern es kommt auf die gemeinsame Solidarität des Westens an, wenn die nationale Frage nicht zum sowjetischen Instrument gegen das Bündnis werden soll. Das Vier-Mächte-Abkommen hat die Gefahr einer Eskalation der Konflikte um Berlin vermindert, doch die Versuche einer schleichenden Aushöhlung der Lebensgrundlagen der Stadt halten an, so daß die Aufgabe für den Westen, ihnen zu widerstehen, weiter dringlich ist. Wesentlicher Bestandteil unserer Politik müssen weiterhin die Bereiche Abrüstung und Rüstungskontrolle bleiben. Allerdings ist darauf zu achten, daß das Thema Abrüstung nicht zum Instrument sowjetischer Einflußnahme auf die europäischen Verbündeten zu Lasten der westlichen Sicherheit degeneriert.

I. Die Ostverträge — Instrumente der deutschen Außenpolitik

Das Kernstück dessen, was man in der Bundesrepublik Deutschland unter Entspannungspolitik versteht, waren die Verträge mit Moskau und Warschau von 1970 sowie der innerdeutsche Grundlagenvertrag von 1972. Diese Vertragspolitik der SPD/FDP-Koalition führte zu einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag, aber auch in der deutschen Öffentlichkeit.

Die Ostverträge sind natürlich nicht vergleichbar mit den Westverträgen der fünfziger Jahre. Es ist und es war immer falsch zu sagen: Wir haben in den fünfziger Jahren die Verständigung mit dem Westen geschafft, nun müssen wir sie in den siebziger Jahren auch mit dem Osten schaffen. Diese geographische Betrachtungsweise wird entscheidenden Wertvorstellungen, ideologischen Unterschieden und Interessengegensätzen einfach nicht gerecht. Die Westverträge wurden geschlossen mit Staaten und Völkern, die mit uns ganz eindeutig den Vorrang der Menschenrechte und der Grundfreiheiten teilen, die mit uns sicherheitspolitisch in einem Boot sitzen. Die Westverträge haben uns niemals zu der Feststellung veranlassen müssen, der Vertragspartner habe seine Zusagen nicht eingehalten. Wir hatten auch niemals mit den Westverträgen den Auslegungsstreit, den wir mit den Verträgen und Absprachen im Osten haben. Niemals hieß es, daß unsere westlichen Partner die Verträge in irgendeiner Substanzfrage völlig anders auslegten als wir. Insofern kann man also die Westverträge mit den Ostverträgen nicht vergleichen.

Vergleichbar aber ist das Rollenverständnis der jeweiligen parlamentarischen Opposition in den fünfziger und siebziger Jahren. Es gehört zu den Leistungen der deutschen Sozialdemokratie, daß sie durch ihre scharf artikulierte nationale Sprache in den fünfziger Jahren zur Stabilität der Bundesrepublik Deutschland in einem entscheidenden Augenblick beigetragen hat. Männer wie Kurt Schumacher und Fritz Erler waren bedeutende deutsche Demokraten und bedeutende deutsche Patrioten. Sie haben zur demokratischen Gesundheit dieses Landes gerade auch in der scharfen Artikulation ihrer Sicht der nationalen Interessen gegenüber der Adenauerschen Westpolitik entscheidende Verdienste für dieses Land erworben. Die sozialdemokratische Partei wollte auch nach 1955, als die Verträge bereits in Kraft getreten waren, zunächst (fünf Jahre lang) noch den Kurs einer möglichen Revision gehen. Ihre Sicht der nationalen Interessen, ihre Sicht der Friedenssicherung konnte sich noch nicht damit abfinden, daß es nun wirklich so sein muß, wie es 1955 rechtens geworden war. Dann kam das Jahr 1960 und die Aussage Wehners: Die Verträge müssen jetzt eingehalten werden, müssen jetzt genutzt werden zum Wohle unseres Volkes.

Niemand hat damals der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zugemutet, sich hinzustellen und zu sagen: Alles, was wir vorher gesagt haben, war fasch; wir bereuen unsere Argumente. Es wäre eine undemokratische Zumutung gewesen, von ihnen eine Art Geständnis zu verlangen, vor der Ratifikation hätten sie sich geirrt. Sie hatten in dem Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition im geteilten Deutschland eine wesentliche Funktion erfüllt. Die Mehrheit und die Geschichte sind über sie hinweggegangen. Nicht aus Reue, sondern aus Realismus haben sie sich dann auf den Boden der Verträge gestellt. Das überzeugte, nach Abwägung des Für und Wider gesprochene . Nein'einer verantwortungsbewußten nationalen Opposition in der Phase der Beratung ist kein Makel, sondern ist Pflichterfüllung, ist eine demokratische Normalität. Jemand, der sagt: „Weil die SPD gegen die Westverträge und gegen die Schaffung einer Bundeswehr war, hat sie ein minderes Recht", der weiß nicht, was der demokratische Meinungs-und Willensbildungsprozeß in unserem Land bedeutet.

Dies muß ebenso für das parlamentarische Verhalten der Opposition vor dem Inkrafttreten der Ostverträge gelten. CDU und CSU haben einen entscheidenden Beitrag zur demokratischen Gesundheit und Stabilität dieses Landes geleistet, weil wir es waren, die nach den Maßstäben der Rechtsstaatlichkeit, d. h.des Grundgesetzes und der jetzt geltenden Verträge, unsere Sicht der nationalen Interessen, unsere Sicht der Friedenssicherung zur Geltung gebracht haben. „Die Ostverträge, der UNO-Beitritt und die Schlußakte von Helsinki sind nicht nur geltendes Recht, an das wir uns halten, vielmehr sind es jetzt Instrumente der deutschen Außenpolitik, die Völker-und verfassungsrechtlich richtig ausgelegt, aber auch politisch intensiv im Interesse unseres Volkes und des Friedens genutzt werden müssen". Mit dieser Formulierung in einer Bundestags-rede am 26. November 1980 hat Helmut Kohl unsere Haltung bekräftigt.

Die unterschiedlichen Einschätzungen der sowjetischen Politik und der notwendigen westlichen Reaktion werden auch in den achtziger

Jahren in Bonn zu Auseinandersetzungen führen; denn Gemeinsamkeit kann nicht die Preisgabe des demokratischen Ringens um den richtigeren Weg unserer Außen-und Sicherheitspolitik bedeuten. Aber die gegenseitigen Vorwürfe wegen des Verhaltens der jeweiligen parlamentarischen Opposition in den fünfziger und siebziger Jahren sollten der Vergangenheit angehören. Es gilt die demokratische Grundregel: Nach einem mit Mehrheit beschlossenen Gesetz und Vertrag kann sich jeder Bürger und jede politische Gruppierung unseres Landes — ohne Rücksicht auf die Haltung vor dem Inkrafttreten — auf das geltende Recht berufen. Die Auseinandersetzungen um die Ostverträge sind Schlachten von gestern.

II. Die Argumente der Opposition in der Debatte um die Ostverträge

Dies kann nicht bedeuten, geschichtsunbewußt zu werden. Deshalb will ich die gewichtigsten Argumente der damaligen Opposition nochmals in Erinnerung rufen.

Die erste Sorge war: Die östlichen Partner legen die Verträge in ihrer Substanz anders aus als wir, so daß es bis hin zur KSZE-Schlußakte zum Streit über Auslegung und Verwirklichung des Vereinbarten kommen wird. So legen wir, die Bundesrepublik Deutschland, den Moskauer Vertrag als Gewaltverzichtsvertrag aus, die Sowjetunion hingegen als endgültigen Grenzanerkennungsvertrag. Adenauer hatte gesagt: Hitler hat uns auch eingebrockt, daß wir Deutschen in West und Ost als vertragsbrüchig gelten; deshalb muß „eindeutige Vertragstreue — eindeutige Vertragsinhalte'1 unser oberster Grundsatz sein, sonst gibt es neue Spannungen und neue Vorwürfe, wir würden uns nicht an die Verträge halten. Die CDU/CSU hat an diesem Grundsatz festgehalten. Da wir uns nicht gegen die Verträge durchsetzten, haben wir zumindest Interpretationstexte durchgesetzt.

Unsere zweite Sorge war die, daß wir unwiderrufliche Leistungen statusrechtlicher Natur gegeben haben, während die andere Seite Gegenleistungen gegeben hat, die wir nicht für unbedeutend halten, von denen wir aber sagten und heute doch alle sagen müssen: sie sind nicht abgesichert, die andere Seite kann sie widerrufen.

Die dritte Sorge war: Durch das Klima einer falsch verstandenen Entspannung — welcher verantwortungsbewußte Mensch hierzulande will denn nicht Frieden und Entspannung in einem echten Sinn — könnte das Bewußtsein von der Natur und der Intensität der sowjetischen Bedrohung zurückgehen; es könnte zu einem geringeren Wissen um diese Bedrohung kommen und damit zu einer geringeren Motivation des Verteidigungswillens, d. h. zu seinem Rückgang.

Diese Bedenken der CDU/CSU und die Erwartungen der Architekten und Exekutoren der sogenannten neuen Ostpolitik will ich im folgenden auf drei wesentlichen Feldern mit den tatsächlichen Ergebnissen der siebziger Jahren konfrontieren.

III. Gewaltverzicht und Sicherheit

Im Mittelpunkt der Diskussionen im Bündnis und innerhalb unserer Länder steht seit der Berlin-und Kuba-Krise, als die Möglichkeit eines Krieges zwischen beiden Supermächten erstmals denkbar wurde, immer wieder die Frage nach der Einschätzung der Sowjetunion.

Denn deren politische Ziele und militärische Macht stellen die Bedrohung der europäisch-amerikanischen Gemeinschaft, also die Raison d’tre des Bündnisses dar, dessen politische Kohärenz und militärische Abschreckungsfähigkeit für uns seit jeher erste Priorität hat. Im westlichen Bündnis haben wir es uns seit Anfang der sechziger Jahre abgewöhnt, neben den sowjetischen Fähigkeiten und den unmittelbaren sowjetischen Absichten auch die erkennbar langfristigen politischen Ziele der Sowjetunion in unsere Überlegungen einzubeziehen. Während die Sowjets Clausewitz treu geblieben sind und sowohl ihre militärische Macht wie ihre Rüstungskontrolldiplomatie dem Primat ihrer politischen Ziele unterordnen, hat der Westen eine fatale Neigung, — Militärpolitik oder Abrüstungsdiplomatie als Selbstzweck zu behandeln; — alles das als nicht-existent zu behandeln, was nicht zur vorhersehbaren Zukunft gehört.

Je nach einer eher skeptischen oder optimistischen Bewertung des sowjetischen Kooperationspartners, der immer auch der dynamische Bündnisgegner blieb, divergierten die Haltungen zu den Versuchen der sechziger und siebziger Jahre, durch Verträge mit Moskau und seinen Verbündeten das Risiko eines Nuklear-krieges zu verhindern, die Spannung zwischen West und Ost zu vermindern und zunehmend Felder der Kooperation zwischen West und Ost zu schaffen. Diese Divergenzen begannen mit den europäischen Zweifeln an den optimistischen Kooperationsvorstellungen, wie sie Präsident Kennedy in seiner Rede vom 10. Juni 1963 über die „Strategie des Friedens" und Präsident Johnson in seiner Rede vom 7. Oktober 1966 über „Brückenbau und Aussöhnung mit dem Osten" entwickelt hatten. Der Teststoppvertrag von 1963, mit dem die DDR auf amerikanischen Wunsch erstmals in die internationale Staatengemeinschaft eingeführt wurde, und der Atomwaffensperrvertrag von 1968, in dem die Bundesrepublik Deutschland auf gemeinsames Drängen der USA und der UdSSR in einer Sicherheitsfrage einen Verzicht gegenüber dem Bündnisgegner ohne Gegenleistung Moskaus erbrachte, wurden zu Verkörperungen dieses amerikanischen Ent-spannungs-und Rüstungskontrolloptimismus, der Bonn immer stärker zur Flexibilität gegenüber Moskau, Warschau und Ost-Berlin drängte und der als Vorläufer der Entspannungspolitik der siebziger Jahre angesehen werden muß. Die Divergenzen im Bündnis über den amerikanisch-sowjetischen Bilatera-lismus endeten mit der großen Wende in der deutschen Außenpolitik von 1969/70, die alles in allem auch den Beifall Washingtons und der europäischen Verbündeten einschließlich der konservativen Parteien fand.

Die Gewöhnung der deutschen und europäischen Öffentlichkeit an das Vokabular und an die Psychologie von Entspannung und Rüstungskontrolle, damit aber auch der Rückgang von Wachsamkeit und Widerstand gegen die sowjetische Diplomatie vollzog sich seit 1963. Diesen Prozeß hat die amerikanische Politik eingeleitet.

Als langfristige Folge der Entspannungspolitik schwankt das Gewicht des Gefahrenbewußtseins in der westlichen Öffentlichkeit. Immer war den Verantwortlichen im Bündnis ein doppeltes Risiko für Frieden und Freiheit bewußt: das Risiko der nuklearen Selbstvernichtung und das Risiko der schleichenden Selbst-unterwerfung Westeuropas gegenüber der Sowjetunion. Moskau will einen politischen Sieg im atomaren Frieden. Es will weder das Risko der eigenen Selbstvernichtung noch das der Zerstörung Deutschlands. Die Sowjetunion erstrebt vielmehr ein präventives Wohlverhalten und eine zunehmende Gefügigkeit Westeuropas — vor allem der nichtnuklearen Bundesrepublik Deutschland — gegenüber dem politischen Einflußstreben Moskaus. Die militärische Machtentfaltung der Sowjetunion steht im Dienste dieses politischen Konzepts; d. h. konventionelles und eurostrategisches Über-gewicht soll die Fähigkeit zur Verängstigung und Einschüchterung, zu Druck und Drohung bis hin zu ultimativer Erpressung schaffen. Nicht die russischen Soldaten oder die Waffenpotentiale als solche bedrohen Westeuropa, sondern der politische Wille und die imperial-ideologischen Ziele, denen sie dienstbar sind. Staatliche Repression nach innen und dynamische Expansion (offen oder indirekt) nach außen, dieses Strickmuster sowjetischer Politik war und ist die eigentliche Ursache für Mißtrauen und Angst zwischen den Völkern und Systemen. Mißtrauen und Angst aber sind der Nährstoff für den Rüstungswettlauf zwischen Ost und West, übrigens auch für den erschreckenden Rüstungswettlauf unter den verfeindeten Staaten in der Dritten Welt. Dieser geschichtlich-politische Zusammenhang gilt grundsätzlich auch für die atomare Rüstungsentwicklung. Atomwaffen aber besitzen zudem eine nie dagewesene, erschreckende Eigenart: Im Falle ihrer Anwendung könnten sie die Selbstvernichtung der Menschheit bedeuten. Deshalb empfinden wir eine zweite Gefahr; jene nämlich, die durch ungehemmte Weiterverbreitung und Weitervermehrung von Kernwaffen, durch technische und psychologische Kalkulationsfehler, kurzum durch menschliches Versagen, ohne Angriffsabsicht entstehen könnten. Weite Teile der Bevölkerung Westeuropas und Nordamerikas sehen das Risiko der atomaren Selbstvernichtung heute makroskopisch groß, hingegen das Risiko der schleichenden Selbstunterwerfung mikroskopisch klein, oder sie leugnen gar seine Existenz.

Diese Leugnung ist auch eine späte Folge der Entspannungsperiode, während der die Sowjetunion nur noch als Kooperationspartner erschien, der sie auch weiterhin bleibt, aber nicht mehr als antagonistischer Bündnisgegner, der sie ja auch ist.

IV. Freizügigkeit und Menschenrechte

Erklärte Absicht der Entspannungspolitik war es, die Lage der Menschen im geteilten Deutschland, im geteilten Europa zu erleichtern, mehr menschliche Kontakte über Systemgegensätze hinweg, mehr Durchlässigkeit der Grenzen für Menschen, Informationen und Meinungen zu bewirken. Auf diesem Feld ist einiges an Verbesserungen erreicht worden, das nicht gering geschätzt werden darf. Natürlich sind „menschliche Erleichterungen“ nicht vergleichbar mit „Menschenrechten", ebensowenig wie die „sozialen Erleichterungen" bismarckscher Prägung mit „sozialen Rechten" vergleichbar waren, auf denen die Arbeiterbewegung damals mit Recht so nachdrücklich bestanden hat.

übrigens trifft es nicht zu, daß die Ausreisen und Familienzusammenführungen von Deutschen aus der Sowjetunion, Polen, der CSSR und der DDR ein Ergebnis der Vertragspolitik der siebziger Jahre sind. Die Grundlage für die Ausreisen von Deutschen aus der Sowjetunion ist das deutsch-sowjetische Repatriierungsabkommen vom April 1958, für das keine politischen Leistungen erbracht wurden. Aus dieser Zeit stammen auch die Rot-Kreuz-Abkommen mit Polen und der CSSR über die Aussiedlung von Deutschen aus diesen Ländern. In den siebziger Jahren stiegen die Zahlen der Ausreisen von Deutschen aus der Sowjetunion zeitweilig. Hingegen lagen die Durchschnitts-zahlen der Ausreisen aus Polen und der CSSR von 1956 bis 1969 und aus der DDR von 1963 (also nach dem Berliner Mauerbau) bis 1969 erheblich höher als in den siebziger Jahren.

Der wesentliche Unterschied zwischen menschlichen Erleichterungen und Menschenrechten besteht in der jederzeitigen Widerrufbarkeit der Gewährung solcher Erleichterungen. Die Erhöhung der Zwangsumtauschsätze für Besucher in der DDR, die schikanöse Behinderung der Arbeit westlicher Journalisten durch Ost-Berlin, die Störung von westlichen Rundfunksendungen, die Unterbrechung des Telefonverkehrs, die brutale Zerschlagung der Helsinki-Gruppen durch Moskau sind Beispiele dafür, wie brüchig die These vom „Wandel durch Annäherung" ist. Gleichzeitig offenbarten diese Vorgänge und die anschließenden Auseinandersetzungen über notwendige westliche Reaktionen das grundlegende Dilemma der Entspannungspolitik. Mit der Stabilisierung östlicher Regime durch Hinnahme des Status quo, wirtschaftliche Kooperation und Zurückhaltung bei der Geltendmachung von personalen Menschenrechten in nationaler Selbstbestimmung sollte den kommunistischen Herrschern der Spielraum für systemimmanente Lockerungen des Drucks im Inneren und nach außen eingeräumt werden. Die Grenzen dieser Konzeption wurden sehr bald deutlich. Nicht unsere Verteidigungswaffen, sondern die reale Existenz von Freiheit und Menschenrechten im Westen und die davon ausgehende Ansteckungsgefahr empfinden die kommunistischen Regime als fundamentale Bedrohung ihrer Herrschaft. Deshalb glaubten sie gezwungen zu sein, die Bremse wieder anzuziehen, den Druck im Inneren und nach außen zu erhöhen und statt vorsichtiger Öffnung entschlossene Abschottung praktizieren zu müssen.

Diese oft als besondere deutsche oder europäische Interessen bezeichneten Früchte der siebziger Jahre dürfen — so wichtig sie sind — nicht zu Einfluß-und Erpressungsinstrumenten gegen die Bündnis-und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland verfälscht werden. In der Substanz gibt es keine besonderen deutschen Interessen, die nicht auch gesamtwestliche Interessen sind. Unsere irreversible Entscheidung für den Westen ist nicht geographischer, sondern moralischer Natur. Sie gilt dem Vorrang der Freiheit und Menschenwürde, wie er in den westlichen Staaten seinen politischen und rechtlichen Ausdruck findet.

Nach der Erfahrung mit zwei Formen totalitärer Herrschaft auf deutschem Boden steht für die überwältigende Mehrheit des ganzen deutschen Volkes in beiden Teilen unseres Landes fest, daß die Freiheit und Rechtsstaat-B lichkeit der westlichen Demokratien die für unsere Nation gemäße Lebensform ist. Aber es ist gerade die moralische Natur der Menschheit, die es jedem deutschen Politiker verbietet, die Freiheit der Deutschen jenseits des Eisernen Vorhangs außerhalb seiner Verantwortung zu sehen. Nach jahrelangen innenpolitischen Auseinandersetzungen haben wir beim Eintritt in das westliche Bündnis der Sicherheit des Westens, dessen Teil die Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin ist, den Vorrang vor einer Politik ungewisser Bemühungen um die Wiedervereinigung Deutschlands gegeben. Aber dieses war ebensowenig das Ende unserer Solidarität mit den Deutschen in der Unfreiheit, wie die in den siebziger Jahren erreichten Begegnungsmöglichkeiten mit den Deutschen in der DDR zu einer Minderung unserer Loyalität zum Bündnis und seinen sicherheitspolitischen Notwendigkeiten führen dürfen. Dazu bedarf es aber des vollen Verständnisses und der vollen Solidarität des Westens in unserer nationalen Frage, in ihren aktuellen, tagespolitischen und ihren langfristigen, geschichtlichen Aspekten.

Die offene Deutschlandfrage macht die Bundesrepublik Deutschland zu einem schwierigen, aber letzten Endes besonders verläßlichen Partner des Westens. Um mit diesem Problem fertig zu werden, sind unsere deut.sehen Schultern zu schmal. Die heutige Nichtlösbarkeit der Frage im Sinne des Deutschlandvertrages von 1952/54 bedeutet nicht, daß ihr geschichtliches Gewicht abgenommen hat.

Der Osten wartet nur darauf, daß der Westen aus Kurzsichtigkeit und Bequemlichkeit die Deutschlandfrage als lästiges, spezifisches deutsches Interesse betrachtet, um sie östlicherseits zu einem spezifischen sowjetischen Instrument gegen den Westen zu machen.

V. Berlin

Berlin ist nicht nur eine Insel der Freiheit in einer totalitär-kommunistischen Umgebung, sondern auch die Verkörperung unseres Anspruches auf einen solchen „Zustand des Friedens, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Die Aushöhlung der Garantien für die Lebensfähigkeit eines freien Berlin gehört seit 1945 zu den zentralen Zielen sowjetischer Westpolitik — sei es durch direkte Anwendung von Pressionsmitteln wie in den Berlin-Krisen von 1948/49 und 1958/61, sei es durch juristische Aggressionen gegen den Status der Stadt, die Rechte und die Präsenz der Westmächte, die Bindungen Berlins an den Bund. Auch das Vier-Mächte-Abkommen hat den grundlegenden Dissenz über die Rechtsqualität der nach 1945 gewaltsam geschaffenen Fakten nicht beseitigen können. Die Rahmen-vorschriften des Abkommens verdeutlichen dieses „Agree to Disagree" zwischen den Westmächten und der Sowjetunion, aber auch ihren gemeinsamen Willen, dem anderen keine einseitigen Veränderungen der Lage zu gestatten, die im Text nicht ausdrücklich erlaubt sind. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Vier-Mächte-Abkommen in der Annahme zugestimmt, daß sich auch die DDR-Regierung nach Treu und Glauen an diese Untersagung einseitiger Veränderungen hält. Seit 1971 aber verändert die DDR-Regierung schrittweise die Lage Berlins im Sinne der Ziele der Deutschland-und Berlin-Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Sie verstößt damit laufend gegen Geist und Buchstaben des Vier-Mächte-Abkommens.

Vor Beginn der Vier-Mächte-Verhandlungen mußte klar sein, daß eine Übereinkunft über die strittigen Rechtsauffassungen unmöglich war. Das Abkommen sollte ein Modus vivendi sein, also praktischen Regelungen dienen. Hingegen leiten Moskau und Ost-Berlin zunehmend alle Rechte in Berlin aus dem Vier-Mächte-Abkommen her, und zwar so, als ob das Abkommen den Status der Westsektoren einschließlich der westlichen Rechte in Berlin erst begründe und regele.

Im Jahre 1971 hatte die sowjetische Führung aus politischen Erwägungen, die außerhalb der Berlin-Frage lagen, Anlaß zum Eingehen auf westliche Wünsche gesehen. Die Ratifizierung des Moskauer Vertrages, das Zustandekommen einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa — vorrangige Ziele Moskaus — hingen entscheidend davon ab, ob eine im Westen als befriedigend empfundene Berlin-Regelung zustande kam.

Diese Motive bestimmen die sowjetische Berlin-Politik heute nicht mehr. Vielmehr hat Moskau jetzt ein Interesse daran, die 1971 getroffenen Festlegungen so restriktiv wie möglich auszulegen und zu handhaben. Das Vier-Mächte-Abkommen hat eine relative Ruhe in und um Berlin gebracht und zu praktischen Erleichterungen beigetragen. Der grundsätzliche Dissenz, der dieses Abkommen prägt, hat aber eine letztlich verläßliche Regelung nicht erlaubt. Die Garantie für die Sicherheit, Lebensfähigkeit und den Status Berlins bleiben die Rechte und Verantwortlichkeiten der drei Westmächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und ihre daraus abgeleitete Präsenz in der geteilten Stadt. Die Sowjetunion und die DDR wollen die Stellung Berlins als Symbol der Dynamik von Freiheit und Menschenrechten und als Ausdruck der offenen Frage, der Vorläufigkeit sowjetischer Hegemonie über die osteuropäischen Völker politisch, rechtlich und wirtschaftlich austrocknen. Der Westen mit seiner Führungsmacht USA hat dieser Strategie in zwei Berlin-Krisen bis an die Grenze zur militärischen Konfrontation widerstanden. Das Vier-Mächte-Abkommen hat die Gefahr einer Eskalation der Konflikte um Berlin vermindert. Der Versuch einer schleichenden Aushöhlung der Lebensgrundlage des freien Berlin wird mit anderen Mitteln hingegen unverdrossen weiterverfolgt Zwar mag die Herausforderung heute nicht mehr so eindeutig erkennbar, so provokativ sein — die Aufgabe, ihr im gesamtwestlichen und gesamteuropäischen Interesse zu widerstehen, ist deshalb nicht weniger dringlich. Berlin ist nicht nur ein Testfall für den Willen zum Abbau politischer Spannungen, sondern auch für unseren Selbsterhaltungswillen.

VI. Perspektiven

Von den Anhängern der Entspannungspolitik wird zu Recht beklagt, daß dem, was sie politische Entspannung nennen, nicht die militärische Entspannung, also allgemeine Abrüstung und weitreichende vertrauensbildende Maßnahmen gefolgt seien. Diese Erwartung gründete in einem Mißverständnis der Natur sowjetischer Politik und der Ursachen von Spannungen und Frieden in der Welt. Unfrieden und Spannungen in der Welt gibt es nicht, weil es Soldaten und Waffen gibt. Unfrieden und Spannungen gibt es, weil ungelöste politische Probleme schwelen, weil politisches Mißtrauen nicht ausgeräumt ist. Seit Afghanistan, seit den entspannungsfeindlichen Maßnahmen der DDR infolge der systematischen Mißachtung der Schlußakte von Helsinki ist dieses Mißtrauen wieder gewachsen. Wer Rüstungsbegrenzung und Abrüstung will, der muß den politischen Rüstungsursachen auf den Grund gehen und sie beim Namen nennen, insbesondere die Tatsache, daß die Sowjetunion militärische Macht und Übermacht nicht nur für den Fall einer Aggression von außen aufbaut, sondern auch um Menschenrechte und Selbstbestimmung in ihrem Machtbereich zu unterdrücken und um ein Arsenal politischer Einschüchterungen und Drohungen aufzubauen, das Westeuropa politisch langsam aber sicher in die Knie zwingen soll. Die Sowjetunion hat ihre Abrüstungspolitik immer als einen Teil ihrer weltweiten politischen Strategie verstanden. Dagegen herrschte in den USA und Westeuropa lange Jahre die Auffassung vor, Rüstungskontrollfragen ließen sich von den zugrundeliegenden politischen Fragen, den politischen Rüstungsursachen trennen.

Die Entspannungspolitik der siebziger Jahre wählte den im Prinzip richtigen Weg, indem sie politische Vereinbarungen als Voraussetzung allgemeiner und kontrollierter Abrüstung anstrebte. Aber die Inhalte der Abkommen, die von den Vertragspartnern völlig unterschiedlich, eher gegensätzlich ausgelegt wurden, konnten kein dauerhafter Beitrag zur Bildung von gegenseitigem Vertrauen sein. Wir müssen dem Militarismus abschwören. Militarismus, hier verstanden als Theorie und Praxis des Vorrangs militärischer Macht im Ablauf der Geschichte, verkennt den in der Natur des Menschen liegenden Primat des politischen Willens. Da der militärischen Macht-entwicklung politische Ursachen zugrunde liegen, wird derjenige Betreiber von Rüstungskontrolle und Abrüstung zum umgekehrten Militaristen, der glaubt, diese seine Ziele als autonomes moralisches Gut an sich losgelöst von ihren politischen Ursachen erreichen zu können. Da er bereits am Anfang einen in die Irre führenden Denkfehler begeht, ist er demjenigen geistig unterlegen, der am Primat der Politik strikt festhält. Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen ein wesentlicher Bestandteil unserer Politik bleiben. Allerdings ist auch die Entschlossenheit wichtig, das Thema Abrüstung nicht zum Instrument sowjetischer Einflußnahme auf die europäischen Verbündeten zu Lasten der westlichen Sicherheit degenerieren zu lassen.

Darüber hinaus muß der Westen verstärkte Anstrengungen zum Abbau politischer Span-B nungsursachen unternehmen. Dazu aber bedarf es einer gemeinsamen gesamtwestlichen Einschätzung der sowjetischen Politik. Die zeitlich differierende Abkehr Amerikas und Westeuropas von den überzogenen Erwartungen der Entspannungsperiode ist zu einer tiefen innerwestlichen Auseinandersetzung über sinnvolle Reaktionen auf Völkerrechts-und vertragswidrige Akte der Sowjetunion geworden. Das Fehlen einer Gesamtstrategie macht aus jeder Ost-West-Krise eine Krise des atlantischen Bündnisses. Die Vertreter der „klassischen Entspannungsschule" empfahlen nur leise Reaktionen, um das Erreichte nicht zu gefährden, den Dialog aufrechtzuerhalten, die Atmosphäre nicht zusätzlich zu belasten. Grundlage einer echten Entspannung, eines gerechten Friedens aber muß im Inneren eines Staates ebenso wie in den internationalen Beziehungen das Recht sein. Wenn der Bruch des vertraglich vereinbarten oder allgemein anerkannten Rechts für einen Staat ohne Nachteil bleibt, wird die Suche nach internationalem Frieden erfolglos bleiben. Dies hat nichts mit Punishment zu tun. Eine Super-macht wie die Sowjetunion kann man nicht bestrafen. Aber wir müssen deutlich machen, daß wir zu einer großangelegten Zusammenarbeit auf allen Gebieten, sei es die Rüstungskontrolle, sei es die wirtschaftliche, technisch-wissenschaftliche Kooperation, sei es der kulturelle Austausch, nur unter der Bedingung der Respektierung des Rechts bereit sind. Klar und berechenbar müssen für die Sowjetunion die Folgen einer Verletzung grundlegender internationaler Normen sein. Ein Konzept der Kooperation unter allen Umständen gibt unseren Entspannungsbegriff von Menschenrechten und Gleichgewicht auf und fördert im Ergebnis den sowjetischen Entspannungsbegriff von Diktatur und Übergewicht.

Angesichts der auf uns zukommenden Gefahren, Probleme und Chancen sollten wir nicht zuviel Energie auf den Nachweis verwenden, welche Kräfte innerhalb des Westens in der Zeit der Entspannungseuphorie größere Fehleinschätzungen und größere Fehlentscheidungen zu verantworten haben. Die Schlachten der Vergangenheit sind vorbei. Uns kann nicht an endlosen rechthaberischen Debatten über den schillernden Begriff „Entspannung“ gelegen sein, sondern an einer zukunftsweisenden Strategie zur Sicherung des Friedens wie die Erklärung des NATO-Gipfels vom Juni 1982 und das mit den Europäern abgestimmte Abrüstungsprogramm Präsident Reagans. In einer solchen Friedensstrategie haben auch die Ostverträge und die Schlußakte von Helsinki unter der Voraussetzung richtiger Auslegung und Sinngebung ihren konstruktiven Platz in der deutschen Außenpolitik. Vor zwei Fehlhaltungen aber sollten wir uns in den achtziger Jahren hüten: der Überschätzung und der Unterschätzung oder gar Leugnung der Gebiete möglicher Kooperation und gemeinsamer Interessen mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Alois Mertes, Dr. phil., MdB, geb. 1921; Staatsminister im Auswärtigen Amt; 1969 bis 1971 Leiter des Referats Europäische Sicherheit und Regionale Abrüstung im Auswärtigen Amt; 1972 als Staatssekretär Bevollmächtigter des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund; Vorsitzender der Arbeitsgruppe Außenpolitik der CDU/CSU-Fraktion.