I. Einführung
Die Schonfrist von achtzehn Monaten, die sich die linke Regierung Frankreichs für den von ihr angestrebten „Wandel" selbst zugebilligt hat ist verstrichen. Bis heute wollte der sozialistische Staatspräsident Francois Mitterrand wichtige Reformen seiner Politik des „Changement" in Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung begonnen und teilweise auch schon beendet haben.
Doch obgleich die Parlamentswahl vom Juni vergangenen Jahres den im Mai 1981 gewählten Sozialisten mit der absoluten Parlamentsmehrheit ausstattete konnte er längst nicht so viele seiner Vorstellungen realisieren, wie es den günstigen Mehrheitsverhältnissen in der Nationalversammlung entsprechend möglich gewesen wäre. Das lag allerdings nicht an der Aufnahme von vier kommunistischen Ministern in die Regierungsmannschaft sondern an der wirtschaftlichen Entwicklung Frankreichs.
Die Koalition mit den Kommunisten erweist sich vielmehr heute, unter dem Eindruck einer zunehmenden internationalen und damit auch französischen Wirtschaftskrise, als äußerst geschickter Schachzug Mitterrands, mit dem er die Parti Communiste Francais (PCF) in die Regierungsverantwortung einband und so die der PCF nahestehende Gewerkschaft CGT bisher noch weitgehend zügeln konnte.
Gerade dies ist für Mitterrand jetzt um so notwendiger, als sich achtzehn Monate nach dem spektakulären Wahlerfolg der Sozialisten zahlreiche Befürchtungen der Mehrzahl der französischen Unternehmer, Bauern und höheren Angestellten gegenüber dem soziali-stischen Konzept bestätigten und sich die Hoffnungen breiter Bevölkerungskreise auf mehr soziale Gerechtigkeit und eine spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse immer weniger zu erfüllen scheinen.
Nach zwei Franc-Abwertungen sowie Preis-und Lohnstopp ernüchtern die jüngst ergangenen Maßnahmen zur Sanierung des Sozial-haushalts auf Kosten der versprochenen Real-erhöhung von Sozial-und Mindesteinkommen immer mehr Mitterrand-Wähler und lassen die Popularitätskurve des Präsidenten fallen.
Der sozialistische Reformprozeß ist offenbar in einigen Bereichen ins Stocken geraten. Auf welchen Gebieten die sozialistisch-kommunistische Regierung eine andere Politik als ihre Vorgängerin, die Mitte-Rechts-Regierung unter Valry Giscard d'Estaing, anstrebt und wie erfolgreich, sie bisher betrieben werden konnte, zeichnet sich bereits ab:
Die Betonung höherer sozialer Gerechtigkeit nach dem Motto: „In Frankreich gibt es genug Geld, man braucht es nur bei den Reichen zu holen" nimmt ab, und Mitterrand geht sogar zum Sozialismus französischer Prägung vorsichtig auf Distanz: „Ich habe gelegentlich vom Sozialismus ä la Francaise gesprochen, aber ich habe nie eine Bibel daraus gemacht." In der Dezentralisierungspolitik tritt die französische Regierung dagegen mit dem neuen geplanten Status von Großstädten die Flucht nach vorn an und fordert die Opposition — darunter vornehmlich den RPR-Führer und mächtigen Pariser Bürgermeister Chirac — heraus.
Für die Dezentralisierung von Departements und Kommunen sowie die Regionalisierung legte die Regierung mit einem ersten Gesetz zwar einen Grundstein für weiterreichende Veränderungen, doch bislang bewirkten nur die Nationalisierungen tatsächlich einen bedeutenden Wandel im Wirtschaftssystem der V. Republik. In der Sozialpolitik stockte die sozialistische Reformpolitik jedoch. Hier kann die von Giscard eingeschlagene Richtung voraussichtlich nicht mehr als eine Modifizierung erfahren, obwohl die in raschem Tempo aufeinander folgenden Sozialreformen während der ersten Monate unter Mitterrand zunächst auf einen spürbaren Bruch mit der Politik seiner Vorgänger schließen ließen
Nicht zuletzt wegen fehlender innenpolitischer Erfolge steht die EG-Politik der Sozialisten eher noch stärker als bisher unter dem Primat nationaler und insbesondere wirtschaftlicher Interessen.
II. Wandel und Kontinuität in der Wirtschaftspolitik
Ihr wichtigstes Ziel sieht die Regierung Mauroy im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit Konsumankurbelung einerseits und sektorale wie regionale Strukturhilfen an Unternehmen andererseits sollen die schon unter Giscard geringe Investitionslust der Wirtschaft, die jedoch unter Mitterrand noch weiter sank fördern. Dieses Bestreben wird um so dringlicher, je rasanter die Talfahrt der französischen Wirtschaft verläuft.
Die Instrumente, mit denen Mitterrand seine wirtschaftspolitischen Ziele erreichen will, sind jedoch andere als die seinerzeit von Giscard und Barre benutzten:
So soll die soziale Gerechtigkeit ein zentrales Kriterium wirtschaftspolitischer Maßnahmen sein. Dementsprechend erhöhte Mitterrand bald nach seiner Wahl die Mindestlöhne, Renten und das Kindergeld. Er führte die Vermögens-und Erbschaftssteuer ein, reduzierte die Wochenarbeitszeit und verlängerte den Jahresurlaub
Der restriktiven Geldmengen-und Haushalts-politik der Regierung Barre, die auf Senkung der Inflation ausgerichtet war, stellten die Sozialisten damit eine neukeynesianische — mit Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen angereicherte — Wirtschaftspolitik gegenüber, die inflationsfördernd wirkte. Das Haushaltsdefizit erhöhte sich dann auch von rund 30 Mrd. Francs 1980 auf 81 Mrd. 1981 und wird 1982 voraussichtlich etwa 125 Mrd. Francs erreichen
Darüber hinaus greift der Staat unter Mitterrand intensiver als unter Giscard in das Wirtschaftsleben ein, wie an dem bis November verhängten Lohn-und Preisstopp erkennbar wird. Hier ist also ein deutlicher Wandel von einer liberalen zu einer interventionistischen Wirtschaftspolitik zu verzeichnen, die sich ihrerseits allerdings auf eine jahrhundertealte französische Tradition gründet 1. Die Planifikation: Zurück zu de Gaulle Ganz im Sinne der dirigistischen Wirtschaftspolitik Mitterrands ist das seit 1946 existierende wirtschaftspolitische Instrument der Planifikation zu sehen. Unter „planification" wird die Aufstellung eines Wirtschaftsplans für fünf Jahre verstanden, der die wichtigsten mittelfristigen Eckdaten der angestrebten wirtschaftlichen Entwicklung des Landes festlegt. Das „commissariat du plan" und Expertengruppen erarbeiten die Eckwerte anhand umfangreicher Analysen der einzelnen Wirtschaftssektoren wie Energie, Verkehr oder Regionalplanung. Abschließend wird der Rahmenplan jeweils vom Parlament verabschiedet Damit beschreibt er als oberstes Koordinationsinstrument der Wirtschaft das „intrt gnral", das Gesamtinteresse.
Bereits unter Charles de Gaulle galt die Planifikation als hervorragendes Instrument der Wirtschaftspolitik für das industriell aufholende Frankreich Der Rahmenplan besitzt für die private Wirtschaft nur indikativen, für die Verwaltung jedoch verbindlichen Charakter.
Unter den Sozialisten soll die regionale Dimension des Plans in besonderem Maße durch die Beteiligung der Gebietskörperschaften an seiner Erstellung gesetzlich verankert werden.
Wie wichtig den Sozialisten die Kohärenz ihrer Wirtschaftspolitik durch deren Einbindung in die seinerzeit von Giscard den liberalen Tendenzen seiner Regierung geopferten Planifikation ist, zeigt die bereits im Dezember 1981 vorgenommene Verabschiedung eines vorläufigen Zwischenplans für zwei Jahre, des Plan Interimaire 1982— 1983. Für die anschließende Periode gilt ein Fünfjahresplan, der die künftigen Orientierungsdaten der seit Juni 1982 verfolgten Austeritätspolitik bestimmen soll.
Angesichts der anhaltenden Wirtschaftsprobleme wird die Planifikation zur Prioritäten-setzung noch wichtiger, als sie dies ohnehin schon für die Sozialisten ist; soll der Rahmenplan doch künftig insbesondere zur Förderung der französischen Provinz eine wichtige Rolle spielen. Der Zwischenplan verlor zwar durch seinen Mangel an konkreten Planzahlen viel von seinem Wert als Orientierungsdatum für die Industrie. In dieser Hinsicht soll der Fünfjahresplan jedoch verbessert werden. Im Zuge seiner Entwicklung kam es allerdings bereits zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten: Möchte Premierminister Mauroy im atmosphärischen Interesse seiner Politik optimistische Daten zur Grundlage seines Plans machen, geht der verantwortliche Planungsminister Michel Rocard eher von pessimistischen Daten aus. Mit den zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist jedoch die Realitätsnähe jeglicher „Planification" überhaupt in Frage zu stellen
In engem Zusammenhang mit der Planifikation steht die Raumordnungspolitik, „l’amnagement du territoire", indem sie die sektoralen Ansätze des Rahmenplans durch die territoriale Dimension ergänzt. Organisatorisch kommt dies schon dadurch zum Ausdruck, daß Planifikation und Raumordnung in Personal-union durch Minister Rocard wahrgenommen wird. Im Unterschied zur Planifikation zeichnen sich bei der sozialistischen Raumordnungspolitik keine einschneidenden Veränderungen ab.
Raumordnungspolitik bleibt unter Mitterrand ihrer Definition nach nicht nur eine nationale Politik, die lediglich in den Grenzen des Plans von lokalen Gremien mitbestimmt wird. Sie ist zugleich Regierungspolitik und wird als solche nach wie vor auf der nationalen Ebene allein von der Regierung definiert.
Das Parlament hat bisher noch nie über Raumordnungsprogramme abgestimmt und wird dies voraussichtlich unter den Sozialisten auch nicht tun.
Dies ist mit dem Selbstverständnis des „rationalisierten Parlamentarismus" unter präsidentieller Hegemonie der V. Republik zu erklä-ren Zwar kritisierten die Sozialisten noch vor ihrer Wahl die Interpretation der präsidentiellen Machtfülle und deren Ausübung durch Giscard aufs heftigste. Doch schon bald nach seinem Amtsantritt fühlte sich Staatspräsident Mitterrand in seiner Kompetenzmacht außerordentlich wohl, und nun wollen die Sozialisten die Kontinuität der verfassungsmäßigen Institutionen und damit die bestehende Kompetenzabgrenzung zwischen Regierung, Parlament und Präsident sowie deren von de Gaulle geprägten traditionellen Gebrauch gern bewahren -So sehen sie, wie bereits ihre Vorgänger, in der national definierten Raumordnungspolitik lediglich ein Mittel zur Verwirklichung regionaler Chancengleichheit
Auch die Instrumente dieser Politik, wie etwa die Fonds, die nach regionalen Bedürfnissen ausgeschüttet werden, oder eine Vielzahl spezifischer Verträge zwischen dem Staat und einer oder mehreren Gebietskörperschaften sowie regionale Entwicklungsprogramme, bleiben grundsätzlich die gleichen
Die unter Pompidou und Giscard eingerichteten Raumordnungsbehörden behalten in der Mehrzahl ebenfalls ihre Aufgabenstellung bei. Zwar soll die Realisierung von Raumordnungszielen in Zukunft stärker dezentralisiert werden, ungeachtet dessen wird jedoch die nationale Politikdefinition im wesentlichen beibehalten, schon um ihre Kohärenz mit den Planzielen zu gewährleisten. Insofern sind Planifikation und Raumordnungspolitik einerseits sowie sektorale Verstaatlichung andererseits als Instrumente eines unter den Sozialisten deutlich verstärkten Staatseinflusses zu verstehen, die sich gegenseitig noch in ihrer jeweiligen Wirkung verstärken. 2. Die Verstaatlichung: Wandel in der Wirtschaftsstruktur Die interventionistischen Tendenzen der sozialistischen Regierung zeigen sich insbesondere in der rigoros durchgeführten Nationalisierungspolitik, der „nationalisation". Zwar hatte Frankreich schon 1936 und 1945 Nationalisierungen erlebt, aber sie hatten sich auf wenige Schlüsselindustrien beschränkt: So wurden 1936 vom Volksfront-Kabinett Leon Blums die Bank von Frankreich sowie Rüstungsbetriebe verstaatlicht, und 1945/46 kam es unter de Gaulle zur Verstaatlichung von vier großen Depotbanken, elf Versicherungsgruppen, von Kohlebergwerken, der Air France sowie der Gas-und Elektrizitätswerke. Die heute gern als Paradepferd für eine gelungene Nationalisierung angeführten Renault-Werke kamen jedoch „eher zufällig" in die Hand des französischen Staates, da der Firmengründer das Unternehmen wegen angeblicher Kollaboration mit den Nazis aus der Hand hatte geben müssen.
Die umfassenden — vom französischen Verfassungsrat im Grundsatz gebilligten — Verstaatlichungen Mitterrands bedeuteten demgegenüber einen tiefgreifenden Wandel der Wirtschaftsstruktur: Statt bisher 18% kontrolliert der Staat nunmehr 32% des Umsatzes der gesamten französischen Industrie. Darüber hinaus verfügt er nach der Verstaatlichung der meisten Banken über 75% der Kredite und Einlagen des französischen Bankensystems
Zwar sucht Mitterrand, der sich als Präsident aller Franzosen versteht, einen Kompromiß zwischen Staats-und Privatwirtschaft in einer gemischten Wirtschaftsform zu finden. Dennoch sind die Nationalisierungen mehr als nur eine „Vollendung" und „Weiterführung" der Gesetze von 1936 und 1945 Für die Kommunisten und die Mehrheit der Sozialisten bedeuten sie den „qualitativen Sprung von der Herrschaft des Kapitals zur Herrschaft des Volkes durch den Staat"
Im Zusammenwirken mit der Planifikation erhöhen sie den Einfluß staatlicher Behörden in einem Maße, das die von der Regierungsseite stets wiederholte Betonung des Prinzips vom freien Unternehmertum für die verstaatlichten Unternehmen unglaubwürdig klingen läßt. In der Praxis besitzen die nationalisierten Betriebe denn auch lediglich eine begrenzte Entscheidungsfreiheit: Sie müssen ihre Unternehmenspolitik in Mehrjahresverträgen mit dem Staat festlegen, die sich an den Planzielen der Regierung orientieren Damit stehen die verstaatlichten Betriebe im Dienste des vom Staat definierten Gesamtinteresses.
In diesem Sinn gedenkt die Regierung Mauroy auch die nationalisierten Banken zu nutzen. Sie sollen dezentralisiert werden, damit sie, wie schon bisher die genossenschaftlich organisierte „grüne“ Bank („cr 6dit agricole"), mehr Kredite an kleinere und mittlere Unternehmen in der Provinz vergeben. Dabei sind sie gehalten, die Kreditvergabe an den vom Staat definierten Kriterien auszurichten.
Die Produktionsunternehmen sollen vor allem auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Modernisierung durch Investitionen und die Ausstrahlungskraft („rayonnement") der französischen Industrie hinwirken. Premierminister Mauroy will die Verstaatlichung zur Verbesserung der französischen Industrie und Finanzkraft und zum Nutzen von Arbeitsbeschaffung und sozialem Fortschritt einsetzen. Zwei noch ausstehende Gesetze, eins über eine Reform der Bankorganisation sowie ein weiteres über die Demokratisierung des öffentlichen Sektors (durch Mitbestimmung der Arbeitnehmer), werden die nationalisierten Betriebe bald in das politische Gesamtkonzept der Regierung Mauroy integrieren -Ob die Nationalisierungen diese beiden Ziele angesichts der Krise der französischen Wirtschaft erfüllen können, scheint heute allerdings mehr als fraglich zu sein.
Dem Wandel der französischen Wirtschaftsstruktur auf dem Weg der Verstaatlichung steht eine gewisse Kontinuität in den Unternehmensspitzen gegenüber. Zum einen hat die sozialistische Regierung bei der Ernennung der Generaldirektoren der nationalisierten Unternehmen zwei äußerst kompetente Männer auf ihren Posten bestätigt und zum anderen vornehmlich Männer in die Chefetagen befördert, die bereits zur Elite des Landes gehörten. Diese rekrutiert sich weitgehend aus den „Grandes Ecoles", den Eliteschulen mit schweren Aufnahmeprüfungen wie der „Ecole Nationale d’Administration" (ENA) für die höchsten Beamten und der naturwissenschaftlich ausgerichteten „Ecole Polytechnique" Die Elite absolviert bei allen individuellen Unterschieden eine einheitliche, durch jahrelanges Lernen geprägte technokratische Ausbildung die ihre zukünftige Arbeit in den verstaatlichten Unternehmen prägen wird. Hierbei wird sie nicht zuletzt die Ideologie vom „Intrt general" beeinflussen, die einst entwickelt wurde, um den Beamten von seiner Klassenherkunft zu entfernen und ihn dem Staatswohl zu verpflichten Angehörige dieser Elite saßen auch schon vor dem Regierungswechsel von 1981 auf den Direktoren-, Aufsichtsrats-und Präsidentensesseln der wichtigsten staatlichen und auch privaten Unternehmen, nachdem sie allerdings von der Industrie teuer aus dem Beamtenstatus ausgelöst worden waren Durch die jüngste Erweiterung des öffentlichen Sektors wird der Einfluß dieser Elite jedoch noch erheblich zunehmen, zumal die Sozialisten an diesem Elitesystem bis auf die geplanten Reformen an ENA-Ausbildung — welche aber nicht das Elitesystem an sich in Frage stellt — grundsätzlich nichts zu ändern gedenken. Auch dies dürfte also unter den Sozialisten den staatlichen Einfluß verstärken. 3. Wandel und Kontinuität in der Europapolitik: Primat nationaler Interessen Ganz im Dienste der sozialistischen wirtschaftspolitischen Ziele sieht die Regierung Mauroy ihre Europapolitik. Mehr noch als bei seinem liberalen Vorgänger Giscard steht sie bei Mitterrand deshalb unter dem wirtschaftspolitischen Primat und läßt daher weniger Spielräume für Kompromisse zu.
Darüber hinaus entziehen sich durch die Verstaatlichungen noch mehr französische Wirtschaftsbereiche einem freien europäischen Marktsystem, da der ohnehin nicht leicht zu integrierende französische Nationalstaat entscheidende Bereiche, die bisher den freien, grenzüberschreitenden Verflechtungen offen-standen, in seinen Zugriff nahm Zwar zeigten die vergangenen Monate immer deutlicher, daß sich Frankreich keine isolierte, von seinen EG-Partnern abgeschottete Europapolitik leisten kann, weil es auf deren Hilfe zur Stützung des Franc angewiesen ist. Doch gerät Frankreich durch diese Abhängigkeiten zunehmend in einen Zwiespalt, da es seinen Markt möglichst von der Konkurrenz ausländischer Produkte befreien möchte. Die soge-nannte Rückeroberung des französischen Marktes lassen aber die auf Freihandel abgestellten Römischen Verträge nicht zu. Deshalb will Mitterrand die Gemeinschaft wenigstens für seine übrigen wirtschafts-und sozialpolitischen Ziele nutzen, wie dies in seiner Forderung nach einem „sozialen Europa“ und der „relance europenne" zum Ausdruck kommt.
Bisher konnte der Sozialist seine EG-Partner jedoch nicht von diesen Vorstellungen überzeugen, kosten sie doch — wie die 35-Stunden-Woche — Geld, über das keine europäische Regierung — zumal mit Sparhaushalt — verfügt.
So fühlen sich die Sozialisten durch die EG eher zur Flucht nach vorn getrieben und neigen vermehrt zu einer protektionistischen Haltung, die sie zu ihren Partnern in einen größeren Gegensatz bringt, als dies bei dem liberalen Giscard der Fall war Unter Bundeskanzler Kohl, so fürchten Regierungskreise, in Paris, werde sich der Gegensatz eher noch vertiefen. Könnten doch durch eine von der CDU/CSU-FDP-Regierung rigoros durchgeführte Sparpolitik der wirtschaftspolitische Kurs und der ökonomische Unterschied beider Länder im Zuge einer positiven konjunkturellen Entwicklung der Bundesrepublik womöglich immer weiter voneinander abweichen
Trotz dieser Schwierigkeiten ist die neue Bundesregierung darauf bedacht, die deutsch-französische Freundschaft mit Leben zu erfüllen, dank eines doch nicht zuletzt auch gemeinsamen Interesses beider EG-Partner, wie sich jüngst in dem Konflikt um das US-Erdgasröhren-Embargo zeigte. In diesem Fall wurde die französische Betonung nationaler Unabhängigkeit für die Bundesrepublik wieder einmal zu einem Schlepptau, in das sie sich als eine den USA gegenüber stärker verpflichtete Nation gerne nehmen ließ. Auch die Frage der Süd-Erweiterung der EG, der Frankreich unter Mitterrand sehr zurückhaltend gegenübersteht, ist von seinen nationalen Wirtschaftsinteressen geprägt: Frankreich fürchtet die Konkurrenz bei zahlreichen Agrarprodukten aus Spanien und Portugal.
III. Wandel im französischen Zentralismus
Als Beginn einer Revolution betrachten viele Franzosen den Vorgang, der sich seit Mitterrands Wahl auf dem Gebiet des traditionsbeladenen Zentralismus abspielt. Denn jetzt soll der französische Einheitsstaat, der im „Ancien Regime" wurzelt und danach wesentlich von Napoleon geprägt wurde, durch die Übertragung zentralstaatlicher Kompetenzen an die Gebietskörperschaften, die Departements und Kommunen in entscheidendem Umfang dezentralisiert werden. Diese Dezentralisation wird von einer Regionalisierung, d. h.der Kompetenzerweiterung der 22 französischen Regionen, begleitet. Mit diesem umfangreichen Projekt, das nacheinander mit mindestens vier Gesetzen verwirklicht werden soll, wollen die Sozialisten nicht zuletzt ein Problem lösen, das sich besonders im Frankreich der V. Republik stellt: Die sachgerechte Kompetenzverteilung zwischen dem Zentralstaat und seinen Gebietskörperschaften. Aber Mitterrand geht es bei der Dezentralisierung und Regionalisierung auch um mehr Transparenz in der französischen Demokratie, um mehr Verantwortung in ihrer Gesellschaft und damit also auch in lokalen Gremien sowie um vielfältigere Entfaltungsmöglichkeiten für Kultur, Unterhaltung und Information in der Provinz Zwar wurden zur Lösung dieses Problems seit 1958 verschiedene Versuche unternommen; sie scheiterten jedoch entweder an mangelnden Mehrheiten oder griffen zu kurz.
So wollte de Gaulle bereits Ende der sechziger Jahre Regionen mit wirtschaftlichen und kulturellen Kompetenzen als Gebietskörperschaften einrichten. Er scheiterte jedoch 1969 mit einem Referendum, in dem er diese Reform mit einer Senatsumbildung verbunden hatte.
Sein Nachfolger Georges Pompidou schuf daraufhin 1972 die Regionen lediglich als soge-nannte Gebietsanstalten d. h. mit weitaus weniger Kompetenzen, als sie de Gaulle vorgesehen hatte.
Vor dem Hintergrund des wachsenden politischen Regionalismus mit der Forderung nach mehr regionaler Mitbestimmung — vor allem in Korsika, der Bretagne und dem französischen Baskenland — wollten weder Pompidou noch später Giscard gesetzlich mehr Kompetenzen auf die Regionen übertragen.
Sie fürchteten um die von der Verfassung der V. Republik geforderte Einheit der Nation da sich kompetenzreiche Regionen möglicherweise partikularistisch verhalten könnten. Allerdings wuchs die Notwendigkeit, die Regionen zur Aktivierung der regionalen Wirtschaft mit mehr wirtschaftspolitischem Entscheidungsspielraum auszustatten — zumal unter Giscard — erheblich. Deshalb duldete seine Regierung, daß sich die Regionen auf dem Gebiet regionaler Strukturpolitik und der Raumordnungspolitik im Zuge des „funktionalen Regionalismus" über das Gesetz hinausgehende Kompetenzen zueigneten. Teilweise wurden ihnen auch neue Kompetenzen per Dekret übertragen
Tatsächlich besaßen die Regionen also bereits am Ende des Septennats von Giscard einige der Kompetenzen, die ihnen de Gaulle gesetzlich hatte übertragen wollen.
Aus Furcht vor einem Erstarken des politischen Regionalismus setzte Giscard jedoch offiziell — in einem Gesetzentwurf zur Dezentralisierung — auf Dezentralisation und nicht auf Regionalisation. Die im Entwurf geplante Erweiterung der Verantwortlichkeiten der Gemeinden und Departements wurde zwar noch am Ende des Septennats von Giscard ins Parlament eingebracht konnte vor dem Regierungswechsel jedoch nicht mehr rechtzeitig verabschiedet werden. Das Gesetz sah die Neuverteilung einiger Kompetenzen — vor allem der Schul-, Sozial-und Urbanismus-Politik — zugunsten von Gemeinden und Departements vor.
Die geplante Umverteilung der Kompetenzen blieb jedoch in einem viel kritisierten, zu kleinem Rahmen stecken, zumal sie nicht von einer Verbesserung der finanziellen Ausstattung der Gebietskörperschaften zur Erfüllung ihrer neuen Aufgaben begleitet werden sollte. Die Gebietskörperschaften wären so weiterhin zur Finanzierung ihrer Aufgaben wesentlich auf staatliche Subventionen angewiesen gewesen
Jetzt wollen die Sozialisten mit einer weitergehenden Dezentralisation, als sie Giscard mit seinem Dezentralisierungsprojekt angestrebt hatte, und mit einer Regionalisierung, die de Gaulles Vorstellungen noch übertrifft, dem Bedürfnis der Franzosen nach stärkerer Transparenz politischer Entscheidungen und lokaler Mitbestimmung nachkommen.
Außerdem folgen sie mit ihrem Vorhaben der zunehmenden wirtschaftlichen Notwendigkeit einer Dezentralisation, um eine gezielte regionale und lokale Strukturpolitik durchführen zu können.
Im Gegensatz zu de Gaulle verfügt die sozialistische Regierung über eine ausreichende Mehrheit im Parlament, um ihre Vorstellungen durchsetzen zu können. Daran hat auch die Anrufung des Verfassungsrates wegen des Dezentralisierungsgesetzes und der Regionalisierung durch die Opposition grundsätzlich nichts geändert 1. Die Dezentralisation Bereits im Frühjahr 1982 — also nicht einmal zwölf Monate nach dem Regierungswechsel in . Paris — trat das Dezentralisierungsgesetz in Kraft Das Gesetz betrifft insbesondere die traditionellen Gebietskörperschaften: die Departements und Kommunen. Denn die bisher vom Präfekten als dem Statthalter des Zentralstaates in der Provinz ausgeübte Staatsaufsicht über die Beschlüsse ihrer Departements-und Gemeinderäte fällt nun weitgehend fort.
Diese „tutelle" wird es damit als (häufig politische) Opportunitätskontrolle künftig gar nicht mehr und als Legalitätskontrolle nur noch „ä posteriori" ausgeübt, indem der . Präfekt innerhalb einer Frist von 15 Tagen nach der Beschlußfassung der Räte ein aufschiebendes Veto einlegen kann -Der Präfekt verliert dadurch eine seiner wichtigsten Aufgaben. In den Departements verliert er darüber hinaus seine Exekutivgewalt für die Ausführung der vom „conseil gneral", dem Departementsrat, gefaßten Beschlüsse. Dieses Recht steht nach dem neuen Gesetz jetzt dem vom Departementsrat gewählten Präsidenten zu.
Weiterhin erhalten die Departements und Kommunen erstmals in der französischen Geschichte fast völlige Budgetfreiheit. Ihre Haushalte werden künftig nicht mehr von den Präfekten, sondern von ihren gewählten Räten vorbereitet. Die Präfekten verlieren durch das neue Gesetz also weitgehend ihre ursprünglichen Kompetenzen, sind allerdings weiterhin allein für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zuständig. Als sogenannte Kommissare der Republik sollen sie nun vornehmlich die Dienststellen der staatlichen Behörden in den Departements leiten und koordinieren; dies gehörte auch bereits bisher zu ihren wichtigsten Aufgaben.
Das neue Gesetz bringt für die Gebietskörperschaften somit zahlreiche Vorteile: Durch die erheblich reduzierte Staatsaufsicht können sie jetzt in vielen Fällen schneller handeln, warteten doch bislang wichtige Akten monate-, wenn nicht jahrelang in Pariser Amtsstuben auf ihre Bearbeitung Das Gesetz könnte sich dazu günstig auf'die wirtschaftspolitischen Aktivitäten der Kommunen und Departements auswirken. Nach Artikel 4 und 34 unterstützen sie jetzt selbständig „in ihrer Existenz gefährdete Unternehmen" mit Investitionshilfen und Subventionen allerdings ohne die im Plan gesetzten Prioritäten zu verletzen. Gerade auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik hat die Regierung Mauroy damit den Gebiets-körperschaften mehr Kompetenzen eingeräumt, weil sie dies für eine erfolgreiche regionale Strukturpolitik als nötig erachtet. Da Kommunen und Departements rund ein Viertel ihrer Haushalte für Investitionen verwenden, der Staat dagegen 95% seines Etats für laufende Ausgaben verwendet ist der gezieltere und schnellere Einsatz der gebietskörperschaftlichen Gelder mittel-bis langfristig durchaus ein möglicher wirtschaftsstimulierender Faktor. 2. Die Regionalisierung Durch das Dezentralisierungsgesetz erhalten die Regionen nunmehr den Status einer Gebietskörperschaft. Demnach wählen sie ihre „conseils regionaux" (Regionalräte) in direkter Wahl, die ihren Präsidenten aus ihrer Mitte bestimmen. Dem Präsidenten des Regionalrates kommt die Exekutivgewalt zu, die bisher der Regionalpräfekt innehatte. Zur Wahrnehmung ihrer erweiterten Aufgaben werden die Regionen über eigene Behörden verfügen dürfen, was ihnen vorher verwehrt war.
Die erweiterten Kompetenzen der neuen regionalen Gebietskörperschaften liegen neben der Gesundheits-, Sozial-und Kulturpolitik weitgehend im Bereich regionaler Strukturpolitik. So können die Regionen sogenannte ai-des regionales, bestimmte Subventionen und Investitionshilfen in ihren Gebieten eigen-ständig, wenn auch, wie die Departements und Kommunen, gebunden an den Rahmen der Plan-und Raumordnungsziele, vergeben Außerdem sollen sie bei der Vorbereitung des nationalen Wirtschaftsplans stärker als bisher beteiligt werden.
Auch in der Raumordnungspolitik sind gemäß den Planzielen zahlreiche Strukturhilfen vorgesehen. So wird den Regionen nun die Aufstellung eigener regionaler Raumordnungspläne zugebilligt. Bisher auf nationalem Niveau eingerichtete Sonderverwaltungen zur Durchführung von bestimmten raumordnerisch wirksamen Maßnahmen, wie u. a. interministerielle Verwaltungsmissionen, werden regionalisiert. Das gilt z. B. auch für die interministerielle Mission für die touristische Gestaltung der Küste in Aquitaine (MIACA), die bisher in einer Art Vertragspolitik zwischen dem Zentralstaat und den Gebietskörperschaften Tourismusinvestitionen in Aquitaine gemäß von in Paris einseitig ausgearbeiteten Raumordnungsplänen förderte. Sie wird nun aufgelöst und ihre Kompetenzen werden auf die Region Aquitaine verlagert.
Das wegen seines ausgeprägten politischen Regionalismus in den vergangenen Jahren zunehmend zum Problem gewordene Korsika erhält einen Sonderstatus Korsikas Regional-rat wird künftig bei Gesetzen, die die Insel betreffen, von der Regierung in Paris konsultiert. Außerdem soll die Region über üppigere finanzielle Quellen als andere Regionen verfügen. Die Opposition vertrat die Auffassung, daß dieser Sonderstatus zu ausgeprägte föderalistische Züge besitze und damit nicht verfassungskonform sei, wurde darin durch das Urteil des Verfassungsgerichts jedoch nicht bestätigt
Die im Dezentralisierungsgesetz vorgesehenen Veränderungen der Regionen sollen mit der Wahl zu den Regionalräten erst 1983 nach einer z. Z. laufenden Übergangsperiode mit besonderen Bestimmungen in Kraft treten Korsika wählte allerdings seinen Regionalrat gemäß dem Sonderstatus bereits am 8. August 1982, also ein Jahr vor den in den übrigen Regionen geplanten Wahlen
Damit die anderen Regionen möglichst bald ihre wichtige ökonomische Rolle spielen können, dürfen sie bereits jetzt Kredite an Industrieunternehmen vergeben und alle bisher von ihnen entwickelten wirtschaftlichen Aktivitäten von regionalem Interesse weiter ausüben. Dabei greifen sie auf das Personal der Präfekturen zurück, bis sie — voraussichtlich im nächsten Jahr — eigenes Personal einstellen. Der „Kommissar der Republik" hat nur noch darauf zu achten, daß die Entscheidungen des Regionalrates im regionalen oder im nationalen Gesamtinteresse liegen, d. h., daß die Regionen ihre Kompetenzen nicht überschreiten. Im Rahmen ihrer weitgehenden Entmachtung gaben die Regionalpräfekten schon im vergangenen April ihre Exekutiv-kompetenzen an die Präsidenten der Regionalräte ab -3. Einheit versus Vielfalt Mit dem skizzierten Gesetz ist erst ein kleiner Teil der gesamten Dezentralisierungsreform realisiert worden. Noch ausstehende Gesetzesvorhaben sollen u. a. folgende Bereiche regeln: — Die Kompetenzverteilung zwischen dem Zentralstaat und den Gebietskörperschaften
— Die Dezentralisierung der Großstädte Paris, Marseille und Lyon — Die Aufstockung der gebietskörperschaftlichen Finanzressourcen, so daß die Gebietskörperschaften nicht mehr — wie bisher — weitgehend auf die häufig weisungsgebundenen, spezifischen Subventionen angewiesen sind.
— Die Kooperation zwischen den Gebietskörperschaften untereinander
Erst wenn alle diese geplanten Gesetze in ihren Details sowie mit den dazugehörenden Anwendungsdekreten und Verwaltungsvorschriften verabschiedet sind, wird sich sagen lassen, ob die Sozialisten der Lösung des seit Tocqueville diskutierten Kompetenzverteilungsproblems zwischen Zentrale und Gebietskörperschaften näher gekommen sind. Dabei kommt es darauf an, in welchem Ausmaße Realisierungs-und Definitionskompetenzen von der Zentrale auf die Subebenen verlagert werden sollen und können.
Angesichts der zunehmenden finanziellen Probleme der sozialistischen Regierung erscheint insbesondere eine für den Erfolg der Dezentralisierung so entscheidende, durchgreifende Finanzreform z. Z. allerdings als unrealistisch, kostet doch schon bereits die Übertragung der Kompetenzen auf die Regionen stattliche Summen.
Sollten die Sozialisten dennoch so weitgehende Gesetze machen, wie sie dies ankündigen, könnte die Gesamtreform einen qualitativen Strukturwandel des französischen Zentralismus zur Folge haben.
Da Regierung und Verwaltung im französischen Regierungssystem des „rationalisierten Parlamentarismus" im Zusammenwirken mit dem während der Durchsetzung der Reform noch teilweise vorhandenen Zentralismus auf die Gesetzesanwendung großen Einfluß besitzen, ist eine konsequente Durchsetzung der Reform in der Praxis entscheidend. Diese demnach grundsätzlich guten Chancen einer solchen Strukturreform werden jedoch im wesentlichen durch vier Hindernisse beeinträchtigt. Zum einen stehen zahlreiche Bürgermei-ster, die zu einem erheblichen Prozentsatz in Personalunion mit den Mitgliedern des Senats und der Nationalversammlung in Paris vertreten sind, der geplanten Kompetenzerweiterung der Kommunen mißtrauisch gegenüber. Viele Bürgermeister kleiner Kommunen — es gibt rd. 36 000 — haben Angst vor der neuen Verantwortung. Sie fühlen sich dafür nicht genügend ausgebildet und können bei unangenehmen Entscheidungen nicht mehr bequem auf den ihnen übergeordneten Präfekten verweisen
Zum zweiten gibt es unter den Beamten noch eine Reihe Anhänger der Regierungsopposition Sie könnten entgegen der Ideologie vom „intrt gnral" versucht sein, technische zu politischen Fragen zu machen.
Die wirtschaftlichen Zielsetzungen der Reform könnten zum dritten durch leitende Bankangestellte gefährdet werden, die eine gezielte Obstruktionspolitik gegen die Reform betreiben könnten, indem sie z. B. die Kreditvergabe entgegen den Regierungszielen politisch einsetzen.
Zum vierten könnte die Reform mittel-bis langfristig zu Legitimationsproblemen der Regierung führen: Da die gestiegenen Kompetenzen der Gebietskörperschaften weitere Spielräume zu unterschiedlichen regionalen und lokalen Entwicklungen bieten, werden ihre Auswirkungen die an Einheitlichkeit bis hin zur Uniformität gewöhnten Franzosen mit vermehrter Vielfalt konfrontieren. Diese Vielfalt ist einerseits Ziel der Dezentralisierung, denn sie erlaubt die notwendige Anpassung an unterschiedliche Gegebenheiten und mehr Mitbestimmung. Die Vielfalt birgt jedoch auch die Gefahr, daß die an jahrhundertelange uniforme Gleichbehandlung durch den Staat gewöhnten Franzosen sie nicht gleich ohne Schwierigkeiten verstehen und akzeptieren werden. Könnte ihnen nicht anfänglich die Unterscheidung zwischen staatlichem und gebietskörperschaftlichem Handeln schwerfallen? Werden sie sich nicht vom Staat ungerecht — weil ungleich — behandelt fühlen, auch wenn es sich um Kompetenzen der eigenen Gebietskörperschaft handelt?
Wenn die Franzosen aber die neue Vielfalt verstehen lernen und die drei übrigen Risiken einer konsequenten Realisierung des Dezentralisierungsprogramms in Grenzen gehalten werden können, bedeutet dies eine wichtige Strukturänderung der V. Republik.
Die Dezentralisation wird damit nicht nur im politischen und verwaltungsmäßigen System einen Strukturwandel herbeiführen, sondern auch im gesellschaftlichen Bereich. Dann wäre auch die verfassungsmäßige Aussöhnung zwischen den Prinzipien der Einheit und der Vielfalt — nämlich der Garantie der Gebiets-körperschaften — zu einer neuen verfassungspolitischen Wirklichkeit geworden, wozu allerdings der durch die Dezentralisierung steigende Bedarf nach vertikaler und horizontaler Kooperation zwischen Staats-und Gebietskörperschaften einerseits und den Gebietskörperschaften andererseits in überzeugender Weise gelöst werden müßte.
In der französischen Gesellschaft würde das Bewußtsein direkter demokratischer Mitwirkung der Bürger gegenüber dem bisher fast allmächtig erscheinenden Staat wachsen und zu einer gefestigteren Legitimation des Staates führen.
Andererseits kann die weitergehende Autonomie der drei Subebenen des Systems — Regionen, Departements und Kommunen — zu einer Art vertikaler Gewaltenteilung führen. Diese wird zwar nicht das Ausmaß vertikaler Gewaltenteilung föderativer Systeme wie in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland erreichen. Aber die direkte Wahl des Regionalrates und der Kompetenzzuwachs der Gebietskörperschaften bedeuten eine Politisierung der drei Subebenen und eine Einschränkung der Kompetenzen der übergeordneten Gewalten Regierung und Parlament. Dabei wird die Regierung, der gemäß dem „rationalisierten Parlamentarismus" umfassendere Kompetenzen als dem Parlament zukommen, im Verhältnis zu diesem relativ mehr Befugnisse an die Gebietskörperschaften abtreten. Diese Gewalten-teilung könnte vermehrt dazu führen, daß ähnlich wie in föderalistischen Ländern auf der nationalen Ebene und den Subebenen unterschiedliche Parteien bzw. Koalitionen regieren. Nach den letzten Kantonalwahlen in Frankreich deutet sich an, daß die Verlagerung zentralstaatlicher Macht an die Gebietskörperschaften den Oppositionsparteien zugute kommt. Sie könnten nach ihren Wahlerfolgen in zahlreichen Kantonen nun von den erweiterten Kompetenzen der Gebietskörperschaften profitieren wobei ihnen jetzt bereits zunehmend ehemalige Präfekten zur Seite stehen, die wegen des neuen sozialistischen Kurses aus ihrem Präfektenberuf ausgeschieden und beurlaubt sind und nun ihr Wissen den Gebietskörperschaften ihrer politischen Couleur zur Verfügung stellen, wodurch eine Art oppositioneller Parallelverwaltung entsteht
IV. Fazit
Trotz Wandel ist die „changement" -Politik des sozialistischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand wesentlich durch Kontinuität bestimmt. Wandel wird vor allem in der Dezentralisierungs-und Regionalisierungspolitik erkennbar. Hier soll ein neues dezentralisiertes Einheitssystem geschaffen werden, dessen erste Konturen in diesem Jahr Gesetze wurden. Hier scheint Mitterrand auch noch achtzehn Monate nach seinem Wahlsieg zu einer konsequenten Durchsetzung seiner Ziele entschlossen zu sein. Durch Wandel sind aber auch einige Bereiche der Wirtschaftspolitik der Sozialisten gekennzeichnet. Hier stellen vor allem die Verstaatlichungen eine qualitative Änderung der Wirtschaftsstruktur dar. Zwar gehen Nationalisierungen auch auf gaullistische Traditionen zurück. Aber das Ausmaß der jetzt geplanten sozialistischen Verstaatlichungen schlägt in eine neue Qualität um.
Die Wiederbelebung der Planifikation bedeutet dagegen eher Kontinuität als Wandel. Denn die Nachkriegstradition der Planifikation — unter Staatspräsident Valry Giscard d'Estaing praktisch nur unterbrochen — wird von den Sozialisten jetzt lediglich wieder aufgenommen. Am wenigsten berührt ist die Raumordnungspolitik. Als nationale Politik wird sie im „rationalisierten Parlamentarismus'1 der V. Republik nach wie vor allein von der Regierung definiert. Daran werden auch Dezentralisation und Regionalisierung nichts Grundlegendes ändern. Denn der Wandel in der Dezentralisierungs-und Regionalisierungspolitik findet — wie die Wirtschaftspolitik — im Rahmen der Planifikation statt.
So ist der Plan Angelpunkt der sozialistischen Politik Frankreichs. Gebietskörperschaften und nationalisierte Unternehmen sollen sich an den in ihm festgelegten Zielen orientieren.
Vielfalt wird vom Staat also nur im Rahmen des im Plan definierten nationalen Gesamtinteresses gewährt, was diese Vielfalt in einem heute noch nicht absehbaren Maße relativieren dürfte: Dem Gesamtinteresse sind alle Politikbereiche unterstellt. Ihm dient auch die Europapolitik, die nach wie vor von Frankreichs nationalen Interessen dominiert wird. Unter den Sozialisten ist dies innen-wie außenpolitisch in naher Zukunft die Lösung des Arbeitslosenproblems und eine Konjunkturankurbelung.
In den genannten Politikbereichen decken sich die Vorstellungen Mitterrands in einigen wichtigen Punkten mit denen de Gaulles. So ist Mitterrand — ebenso wie es de Gaulle war — für Regionalisierung und Verstaatlichung, wenn auch de Gaulle bei der Verstaatlichung engere Grenzen zog. Wie seinerzeit de Gaulle strebt Mitterrand heute die Verbesserung und die Erhaltung der nationalen Unabhängigkeit Frankreichs an, die durch die Aktivierung wirtschaftlicher Ressourcen mit Hilfe von Nationalisierung, Planifikation und Regionalisierung erreicht werden soll. In der Außenpolitik stehen immer noch die französischen Interessen im Vordergrund, die Mitterrand jetzt ebenso wie damals de Gaulle in seiner „do-maine reserve" fast allein bestimmt, was insbesondere für die EG-Politik gilt Nicht ohne Grund wird der sozialistische Francois Mitterrand zunehmend mit Charles de Gaulle verglichen Die Ähnlichkeiten zwischen beiden sind im Schlüsselbegriff von der „grande nation“ zu finden.
Wie einst de Gaulle so will heute Mitterrand die „grande nation" Frankreich glaubhaft nach außen vertreten, die dafür im Innern stark sein muß. Sogar die dabei eingesetzten Instrumente der Innen-und Außenpolitik ähneln sich. Dem Ziel, daß Frankreich in der Welt eine wichtige Rolle der Unabhängigkeit spielt, bleibt die sozialistische Politik heute, wie die gaullistische damals, untergeordnet. So reicht der Wandel der Kontinuität die Hand: Die Kontinuität einer Politik nationaler Eigenständigkeit als Voraussetzung für einen Wandel durch sozialistische Reformen im Umfeld mehrheitlich nicht sozialistischer EG-Staaten.