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Die „Britische Krankheit“ Krisenphänomene und Lösungsstrategien | APuZ 49/1982 | bpb.de

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APuZ 49/1982 Die „Britische Krankheit“ Krisenphänomene und Lösungsstrategien „Changement" -Kontinuität trotz Wandel im sozialistischen Frankreich Thesen zum amerikanischen Konservativismus

Die „Britische Krankheit“ Krisenphänomene und Lösungsstrategien

Karlheinz Dürr

/ 42 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Krise der Wirtschaft Großbritanniens wird allzu häufig ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Der vorliegende Beitrag setzt sich deshalb zum Ziel, die Komplexität der Krisenphänomene, ihre historischen, gesellschaftlichen und systemimmanenten Ursachen und Hintergründe in ihrer Breitenwirkung zu beleuchten. Die Überalterung der Strukturen schlägt sich in der Ineffizienz nieder, die für große Teile des Wirtschaftssystems zu konstatieren ist. Ebenso zeigt sie sich in der Dysfunktionalität des politischen Systems und der im sozialen Umfeld vorherrschenden Perspektivlosigkeit und Konflikthaftigkeit. An den Beispielen der Arbeitsbeziehungen wie auch des Regierungssystems wird diese Verkrustung sichtbar und rückt als zentraler Faktor der komplexen Krisenphänomene in den Vordergrund des Interesses. Die erstarrten Strukturen mit ihren längst abgegrenzten Entscheidungs-, Einfluß-und Interessensphären lassen den Ad-hoc-Charakter der britischen Politik immer deutlicher zutage treten. Der Versuch der Krisenbewältigung der konservativen Regierung Thatcher ist demgegenüber zumindest dem Anspruch nach auf langfristigen Wandel angelegt; seine Problematik liegt jedoch vor allem im Experimentalcharakter einer bislang völlig unerprobten Politik, die das wirtschaftspolitische Instrumentarium auf monetäre Maßnahmen reduziert und die sozialen Folgekosten weitgehend ignoriert. Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages steht deshalb die Wirtschafts-, Lohn-und Gewerkschaftspolitik der Regierung Thatcher, aber auch die enormen sozialen Probleme, denen Großbritannien gegenübersteht. Die im politischen System sichtbar werdenden Veränderungstendenzen relativieren jedoch den latenten Pessimismus der Analyse: Hier ist, was die Erstarrung der politischen und gesellschaftlichen Strukturen betrifft, ein Prozeß der Bewußtwerdung in Gang gekommen, der Herausforderung und Chance zugleich bietet.

Einleitung

INHALT Einleitung I. Die Ursachen der Krisen II. Der Krisenbewältigungsversuch der Konservativen Die Wirtschaftspolitik der Regierung Thatcher Die Lohn-und Gewerkschaftspolitik der Regierung Thatcher III. Die sozialen Probleme IV. Veränderungstendenzen im politischen System Schlußbetrachtung

Großbritannien erlebt gegenwärtig eine der tiefsten Rezessionen seiner Wirtschaftsgeschichte. War schon in der gesamten Nachkriegsperiode die Entwicklung des Landes durch stagnierendes Wirtschaftswachstum, geringe Produktivität, veraltetes Produktivkapital, hohe Handelsbilanzdefizite, hohe Staatsverschuldung, rapiden Währungsverfall und konfliktorientierte Arbeitsbeziehungen gekennzeichnet, so ist doch die Rasanz, mit der sich dieser Abstieg in den letzten Jahren fortsetzte, erstaunlich. Die Gefahr, daß dieses einst hochentwickelte und führende Industrieland auf „den Stand eines Entwicklungslandes" reduziert werden könnte, nimmt vor diesem Hintergrund konkrete Gestalt an.

Es ist undenkbar, daß irgendeine Nation solche gravierenden Veränderungen ohne soziale und politische Spannungen übersteht; dies wäre ja ein Anzeichen für den völligen Verlust der selbstkorrigierenden Fähigkeiten eines Gesellschaftssystems. Daher stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die permanent erscheinende Wirtschaftskrise auf die gesellschaftlichen und politischen Strukturen und Institutionen hat.

Greift man willkürlich einige aktuelle Phänomene der britischen Gegenwartsgesellschaft heraus, so zeigt sich bereits hier, wie sehr die krisenhaften Entwicklungen miteinander verflochten sind und sich gegenseitig bedingen. Die schweren Jugend-und Rassenunruhen beispielsweise, die die Großstädte im Sommer 1981 erschütterten, sind ohne das katastrophale Ausmaß der Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit der Jugend, die wachsenden Rassenprobleme, die zunehmende Verelendung ganzer Bevölkerungsteile undenkbar. Aber auch Erfolgsmeldungen, wie der Wieder-aufstieg der Londoner „City" zum wichtigsten Finanzzentrum der Welt und die unglaublichen Gewinne, die dort insbesondere in den letzten Jahren erwirtschaftet wurden sind paradoxerweise mit dem Verfall der britischen Industrie verknüpft. Die britische Groß-finanz war nämlich aufgrund des kolonialen Erbes seit jeher besonders stark auf die internationalen Finanzmärkte orientiert. Kapital-export und Auslandsinvestitionen solchen Ausmaßes ließen sich jedoch nur unter Vernachlässigung der Inlandsinvestitionen verwirklichen; der daraus resultierende deutliche Interessengegensatz zwischen „finance" und „industry" muß auch heute noch als ein wesentliches Problem aufgefaßt werden.

Der Verfall etablierter Wertestrukturen, der mit den ökonomischen und sozialen Krisenhaftigkeiten einhergeht, setzt sich im Verfall der politischen Kultur des Landes fort. Apathieproblem und politische Indifferenz ganzer Bevölkerungsteile können zwar — wie anläßlich des Falkland-Kriegs — kurzfristig zurücktreten. Die komplexen sozio-ökonomischen Krisenentwicklungen, die z. B. in der Krise des Parteiwesens, sichtbar vor allem als innerparteiliche Demokratiedefizite, in der Antiquiertheit des britischen Parlamentarismus und der zunehmenden ideellen und materiellen Polarisierung der Bevölkerung weiter-wirken, lassen aber eine drohende Möglichkeit offenkundig werden: Den Zusammenbruch des gesamtgesellschaftlichen Konsenses — einer historisch seit über einem Jahrhundert gewachsenen und (scheinbar) in sich gefestigten Grundordnung, deren Prinzipien Mäßigung, Toleranz und Achtung vor Recht und Gesetz lange Zeit als unerschütterlich gal ten.

I. Die Ursachen der Krisen

Seit 1974 macht das Wort von der „Zweiten Weltwirtschaftskrise dieses Jahrhunderts" (Helmut Schmidt) die Runde. Dahinter steht die Erkenntnis, daß der übliche Zyklus von Wachstums-und Rezessionsphasen unterbrochen ist, daß ökonomische Krisenphänomene erstmals seit 50 Jahren wieder mit weltweiter Gleichzeitigkeit auftreten.

Für Großbritannien allerdings stellt sich diese Situation etwas anders dar als für die übrigen Industrieländer. Die britische Ökonomie sieht sich schon seit Jahrzehnten in einem Teufelskreis gefangen, in dem das Zusammenwirken und die intensive gegenseitige Vernetzung historischer, gesellschaftlicher, ökonomischer und systemimmanenter Ursachenfelder zu verfestigten Krisenhaftigkeiten geführt haben, an denen bislang jeder Lösungsversuch gescheitert ist.

Der vorliegende Aufsatz zielt deshalb darauf ab, in einem ersten Schritt die Hintergründe dieser Ursachenfelder zu beleuchten, deren Kenntnis für das Verständnis der in den übrigen Abschnitten dargestellten Situation des Landes sowie des konservativen Krisenbewältigungsversuches unabdingbar ist. 1. Historische Ursachen Die frühe Industrialisierung, der Erfolg traditioneller Industrien, die ständige Verfügbarkeit billiger Rohstoffe. und Nahrungsmittel aus den Kolonien wie auch die leichte Zugänglichkeit kolonialer Absatzmärkte hatten schon im letzten Jahrhundert zur Folge, daß neue Technologien in Großbritannien vernachlässigt wurden, die Investitionen zurückgingen und das wirtschaftliche Wachstum sich verlangsamte. Rationalisierung und Modernisierung unterblieben aber auch aufgrund der fortgesetzten Verfügbarkeit billiger menschlicher Arbeitskräfte durch verstärkte Einwanderungen aus Irland. Die zunehmende Industrialisierung anderer Nationen (USA Frankreich, Deutschland) führte zur Flucht der bequem gewordenen britischen Exportwirtschaft aus dem härter werdenden Wettbewerb in Europ in die leichter zugänglichen Märkte, vor allen Indiens und Lateinamerikas. Auch auf den völlig ungeschützten britischen Binnenmarkl wurde die einheimische Industrie bald in die Defensive gedrängt.

So setzte schon in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der wirtschaftlich? Abstieg des Landes ein. Großbritanniens An teil an der Weltproduktion von Industriegü tern fiel rapide von 32% im Jahre 1870 auf 14% im Jahre 1913 Mit der Zunahme dei Handelsbilanzdefizite durch die Verlangsa. mung der Exporttätigkeit wuchs die Bedeutung der weltweit aktiven Hochfinanz und des Kapitalexports, der durch fallende Profitraten im Inland und steigende oder zumindest sicherer erscheinende Profite im Ausland gefördert wurde. Die Konzentration des Kapitals auf das Ausland verbaute der inländischen Industrie den Zugang zu den für seine Regeneration notwendigen Krediten.

Auch in der Zwischenkriegszeit setzte sich der wirtschaftliche Niedergang Englands fort, Die Umwandlung des Empire in ein in seinen Zielsetzungen kaum definiertes „Commonwealth of Nations" und die Etablierung der „Sterling-Zone" wirkten sich bald zuungunsten des Mutterlandes aus, da mit der wachsenden Unabhängigkeit der Commonwealth-Länder und mit dem zunehmenden Einbruch anderer Industrienationen in diese Märkte die Handelsbeziehungen zwischen den ehemaligen Kolonien und Großbritannien gelockert und die Englands Exportwirtschaft begünstigenden Handelspräferenzen abgebaut wurden. Aufgrund der hohen Kriegsverschuldung Großbritanniens, der Rolle Londons als Bankier der Sterling-Länder und der kurzfristigen Bewegungen der sogenannten „Sterling-Balances" ergaben sich weitere Probleme. Neben diesen Auswirkungen des imperialen Erbes, die sich in einer Schwächung der Finanz-und Wirtschaftskraft niederschlugen, resultierten auch nach 1945 das Festhalten an veralteten Produktionsformen und an „traditionell britischen Industrien" (Bergbau, Eisen, Stahl, Textilien), die fehlenden Inlandsinvestitionen und die allgemeine Kapitalknappheit in der „Vergreisung" des Produktivkapitals und in einer überholten Industriestruktur. Die verfrühte, freiwillige Beendigung der Marshallplan-Hilfe und vor allem aber der Versuch, den Weltmachtstatus durch übersteigerte Rüstungsanstrenungen zu wahren, erwiesen sich in jenen für die weitere wirtschaftliche Entwicklung so entscheidenden Jahren als wesentliche Belastung. Der seit dem Beginn des wirtschaftlichen Abstiegs immer deutlicher zutage tretende Widerspruch zwischen Hegemoniestreben und ökonomischem Potential blieb deshalb auch nach 1945 ungelöst und mußte sich mit der zunehmend krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung zwangsläufig verschärfen. Fehlentwicklungen, die durch die langjährige Ausrichtung auf die USA und den pazifischen Raum (Commonwealth) und durch die Selbstisolierung von den westeuropäischen Integrationsbestrebungen ausgelöst worden waren, konnten durch den verzögerten Beitritt der Briten zur Europäischen Gemeinschaft nicht ausgeglichen werden.

Die 1974 einsetzende weltweite Rezession traf in Großbritannien auf ein geschwächtes, seiner Kraftreserven längst beraubtes Wirtschaftssystem. Gemessen an der Wirtschaftsleistung pro Kopf war das Land schon 1977 auf den 23. Platz unter den 25 reichsten Nationen (einschließlich Olförderländer) zurückgefallen. Die seit 1960 fast permanent defizitäre Zahlungsbilanz weist erst seit wenigen Jahren durch eigene Ölförderung und -export wieder Überschüsse aus; 1975/76 konnte nur durch massive Stützungskredite des IMF der Staatsbankrott abgewendet werden. Das Pfund Sterling verlor seit 1949 gegenüber der Deutschen Mark fast drei Viertel seines Wertes. Allein zwischen 1975 und 1981 sank die Kaufkraft des Pfundes durch Preissteigerungen um 57 %.

Außenpolitisch führte der Verlust der Welt-machtposition und des Empire insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zu weitgehender Orientierungslosigkeit. Vom Weltmachtanspruch, der mit Hilfe der „special relationship" zu den Vereinigten Staaten bis zum Suez-Debakel von 1956 — weit länger als ökonomisch und politisch vertretbar — aufrechterhalten werden konnte, blieb nach der Abschwächung dieser Sonderbeziehungen seit Beginn der sechziger Jahre nur noch die „imperiale Pose" die sich hauptsächlich auf die unter hohen Kosten beibehaltene militärische Stärke und Präsenz an vielen strategisch wichtigen Punkten der Welt, auf die Funktion des Pfund Sterling als eine internationale Reservewährung sowie auf die weltweite Bedeutung der Londoner „City" als Finanzzentrum stützte.

Der Konflikt um die Falkland-Inseln hat jedoch erneut bewiesen, daß diese „imperiale Pose“ noch immer von einem großen Teil der britischen Bevölkerung als legitime Grundhaltung Großbritanniens angesehen wird. Die unerbittliche Entschlossenheit, mit der London diesen Konflikt weit über die Bedeutung des Anlasses hinaus eskalieren ließ, stützte sich eben nicht nur auf die Mittel-und Oberklassen und damit auf die üblicherweise als Artikulationsträger der „öffentlichen Meinung" fungierenden Bevölkerungsteile, sondern fand auch und gerade in den unteren Schichten breite Zustimmung. 2. Systemimmanente Ursachen Dieser Rückfall in die frühere Selbstherrlichkeit paßt jedoch ins Bild. Was auch heute noch gelegentlich als „Stabilität" britischer politischer Institutionen gepriesen wird ist so wohl eher Kennzeichen und Ausdruck einer Inflexibilität, die dazu geführt hat, daß die politische Praxis Großbritanniens an nicht mehr existenten Bedingungen orientiert ist, daß der grundlegende ökonomische, politische und soziale Wandel seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von den politischen Institutionen nicht nachvollzogen wurde.

Dazu gehört beispielsweise der Zentralismus, der vor dem Hintergrund zunehmenden nationalen Selbstverständnisses der nicht zum angelsächsischen Volksstamm gehörenden Bevölkerungsteile (Schotten, Waliser, Iren) einerseits wie auch der nach mehr Selbstbestimmung strebenden Kommunal-und Grafschaftsorgane andererseits von London aus mit Vehemenz verteidigt wird, obwohl die Differenzierung des politischen Lebens längst die wachsende Diskrepanz zwischen zentralen Entscheidungen und ihrer lokalen bzw. regionalen Durchsetzbarkeit zum politischen Problem hat werden lassen.

Mangelnde Flexibilität zeigt sich aber auch im Parlamentarismus. War das britische Unterhaus immer schon — im Gegensatz zum bundesdeutschen „arbeitenden" Parlament — primär ein Diskussionsforum, dessen Funktionsweise seine Entwicklungsgeschichte aus wirtschaftlichen Interessenpositionen und gesellschaftlichen Macht-und Einflußverhältnissen reflektiert, so zeigt sich in der Gegenwart durch die Tendenz der Regierungen zum „politischen Management" die Reduktion des politischen Gewichts des Unterhauses besonders deutlich.

Das Faktum häufig, ja regelmäßig wechselnder Regierungen — politikwissenschaftliches Paradigma des stabilen Demokratieverständ-nisses einer mündigen Wählerschaft — zeigt sich bei Betrachtung seiner konkreten Folgen ebenfalls als höchst problematisches Phänomen. In der Verstaatlichungsfrage beispielsweise verursachte der häufige Machtwechsel eine Schaukelbewegung zwischen Verstaatlichung und Reprivatisierung, die sich mit Sicherheit weder auf die Struktur noch auf die Effizienz und Investitionstätigkeit der betroffenen Industrien und Unternehmen positiv auswirkte über der Durchsetzung ideologischer Grundsatzpositionen werden hier die konkreten Probleme ganzer Industriebereiche grob vernachlässigt. Hier führt in der Tat die negative Dynamik des permanenten Kurswechsels jede zukunftsorientierte Politik ad absurdum.

Doch nicht nur im politisch-administrativen, sondern auch im ökonomischen System ist die Versteinerung von Strukturen und Abläufen weit fortgeschritten und wohl direkt für Ineffizienz, Fehlentwicklungen und mangelnde Perspektive verantwortlich zu machen. Wie noch zu zeigen sein wird, ist dies im System der Arbeitsbeziehungen besonders evident, wird aber auch im bereits erwähnten Spannungsverhältnis zwischen Finanzwelt und Industrie sichtbar. 3. Gesellschaftliche Ursachen Traditionalismus und Konservativismus bestimmen auch die Grundzüge der britischen Gesellschaft. Ein die frühindustriellen Gesellschaftsstrukturen reflektierendes Klassensystem, dessen Oberschicht sich mit Hilfe linguistischer Muster („Oxford accent") und elitärer Privatschulen (paradoxerweise „public schools“ genannt) und Universitäten (Oxford, Cambridge) ständig der fortgesetzten Kon-trolle der führenden Positionen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik versichert, beschränkt das Führungspotential auf relativ kleine Gruppen, behindert vertikale Mobilität, Leistungsmotivation und Wettbewerb und führt so zu Inkompetenz und Arroganz in den Leitungsgremien von Industrie und Wirtschaft

Dieser elitäre Charakter der britischen Gesellschaft ist in jeder größeren Stadt im Kontrast zwischen Elendsbehausungen und elegantesten, mondänen Wohnbezirken offenkundig; er wird ferner deutlich in der Exklusivität von Lebensstil und sozialer Interaktion, die in Nobelkarossen und Clubzugehörigkeiten ihren äußeren Ausdruck finden. Dem zugrunde liegt eine inegalitäre Einkommens-und Vermögensverteilung: 10% der Bevölkerung besitzen fast zwei Drittel des gesamten persönlichen Vermögens, während sich 90% der Bevölkerung das verbleibende Drittel teilen (1975).

Es ist nicht übertrieben, angesichts der ungleichen Verteilung des persönlichen Reichtums von einem „Two-Nations" -Charakter der britischen Gesellschaft zu sprechen. EineTendenz zur Nivellierung, die verschiedentlich reklamiert wird ist allenfalls innerhalb der Gruppe der reichsten 20 % der Bevölke-rung zu erkennen, und zwar insofern, als eine gewisse Verschiebung des Vermögens von den Superreichen zu den Reichen erfolgt. Vier Fünftel der Bevölkerung partizipieren allerdings nicht an dieser Umverteilung.

Im internationalen Vergleich zeigt sich die Ungleichheit der Vermögensverteilung besonders deutlich: Während 1970 die reichsten 1 % der Bevölkerung einen Anteil von 30 % am Volksvermögen hatten, betrug dieser Anteil in der Bundesrepublik beispielsweise 19%, in Frankreich 12,5%’

Diese Ausführungen mögen genügen, um deutlich zu machen, daß die britische Elite klarer als anderswo durch Bildung, Vermögen, Einfluß, Position und Namen abgegrenzt ist. Sie ist gekennzeichnet durch mangelnde Durchlässigkeit, schichtenspezifische Abkapselung und ein relativ hohes Maß an Solidarität. Selbst im Sprachgebrauch ist das Wort „Class" — anders als in der Bundesrepublik — keineswegs verpönt.

In dieser Gesellschaftsformation erstreben selbst die unteren Schichten ohne systemverändernde Absichten ihre volle Integration in die nächsthöhere Schicht und leisten so einen ständigen Beitrag zur Konservierung antiquierter Strukturen.

II. Der Krisenbewältigungsversuch der Konservativen

Im Mai 1979 gewann die konservative Partei mit Margaret Thatcher an der Spitze durch einen Erdrutschsieg über die zuletzt glücklos agierende Labour-Regierung unter Callaghan die Unterhauswahlen. *

Das Programm der neuen Regierung Thatcher basierte auf der Überzeugung, daß nur eine Radikalkur den Niedergang der Ökonomie aufhalten und eine Gesundung einleiten könne. Getragen wurde dieses Programm von zwei Säulen: Erstens der monetaristischen Theorie, die von Milton Friedman nicht zuletzt mit Blick auf die wirtschaftlichen Probleme Großbritanniens propagiert und von den Rechts-konservativen um Margaret Thatcher als letztlich einzige Lösungsmöglichkeit akzeptiert worden war Die zweite Säule sah man in einer radikalen Beschneidung der Gewerkschaftsmacht und in einer umfassenden Reform der Arbeitsbeziehungen. 1. Die Wirtschaftspolitik der Regierung Thatcher Traditionell niedrige Wachstumsraten und geringe Investitionsneigung, zu hoher Kapitalexport, übersteigerte Rüstungsausgaben, eine — auch zu Zeiten der sogenannten Vollbeschäftigung — relativ hohe Sockelarbeitslosigkeit und eine labile Währung kennzeichneten die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens mindestens seit Anfang der sechziger Jahre. Gleichzeitig wurde durch die Expansion wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und des Gesundheits-und Bildungswesens die Staatsquote in die Höhe getrieben; Verstaatlichungsmaßnahmen reduzierten die Bedeutung des privaten Sektors; die Technologisierung der Produktion und der Trend zur Dienstleistungsgesellschaft führten dazu, daß heute der Sekundär-sektor nur noch 39 % (zum Vergleich: Bundesrepublik 45 %), der Tertiärsektor jedoch 59 % (Bundesrepublik: 52 %) der Bruttowertschöpfung ausmachen.

Konfiktorientierte Arbeitsbeziehungen führten zur Zunahme der Streikaktivität, besonders der wilden Streiks. Die wachsende Macht der militanten Basisgruppen und der organisierten Arbeit insgesamt schlug sich in zeitweise stark überhöhten Lohnsteigerungsraten nieder. Zugleich blieb die Arbeitsproduktivität durch restriktive Arbeitspraktiken, hartnäckige Verteidigung bestimmter berufsspezifischer Privilegien und Veralterung des Produktivkapitals weit hinter der anderer Länder zurück. a) Grundzüge des Monetarismus Die keynesianische Wirtschaftspolitik war in Großbritannien angesichts der sich mehrenden Krisenzeichen schon seit Beginn der siebziger Jahre modifiziert worden. Insbesondere hatte die immer deutlicher werdende Wirkungslosigkeit staatlicher Nachfragesteue-rung zum Rückgriff auf die Galbraithschei Empfehlungen von Lohn-, Preis-und Dividen denkontrollen, schließlich aber auch zu erstei Versuchen der Regierungen Heath und Cal laghan geführt, das Geldmengenwachstun und das Zinsniveau zu kontrollieren. Hinte dem Keynesianismus der Wirtschaftspolitike: wurden damit schon vor Jahren die Elements einer anderen Konzeption sichtbar

Kritiker wie der amerikanische Ökonom Mil ton Friedman werfen dem keynesianischer Ansatz vor, lediglich kurzfristige Reaktioner auf langfristig wirksame Probleme anbieten zt können. Ziel müsse vielmehr der Übergang zt einer auf lange Sicht stabileren ökonomischer Ordnung sein.

Friedmans gemeinhin als „Monetarismus" be kanntgewordene Lehre basiert auf dem Kern satz der Quantitätstheorie, daß die Geldmenge das Preisniveau bestimme. Inflation ist dami für die Monetaristen immer und überall eir monetäres Problem, das aus dem im Vergleich zur Produktion überhöhten Geldmengenwachstum resultiere , Auf dieser Grundlage gab Friedman zur Gesundung der britischer Wirtschaft drei zentrale Empfehlungen:

— rigorose Kontrolle der Geldmenge — Verringerung des Staatsanteils — Freistellung von Ressourcen für den privaten Sektor.

Als Randerscheinungen dieser Politik müßten dabei eine temporäre Verlangsamung des ökonomischen Wachstums sowie ein „natürliches Maß an Arbeitslosigkeit" in Kauf genommen werden. Dabei setzt Friedman voraus, daß das angestrebte stabile ökonomische System langfristig quasi automatisch zur Vollbeschäftigung tendiere, wobei der Lohnmechanismus aufgrund des Beziehungsgefüges zwischen Lohnkosten und Beschäftigung diesen Anpassungsprozeß steuere Weitere wirtschafts-, konjunktur-oder einkommenspolitische Maßnahmen seien überflüssig. b) Wirkungen des monetaristischen Experiments der Regierung Thatcher Der Versuch der Konservativen, durch die Umsetzung der monetaristischen Theorie in die Praxis eine grundsätzliche ökonomische Wende einzuleiten, hatte — vereinfacht ausgedrückt — zum Ziel, die ökonomische Steuerungsfunktion des Staates zu reduzieren, Innovation, Unternehmergeist und Effizienz zu fördern und mittelfristig ein relativ rapides, nicht-inflationäres Wachstum zu erreichen. Im einzelnen umfaßt das Programm der Regierung Thatcher folgende Kernpunkte:

— Verschärfte Kontrolle der Geldpolitik und Drosselung des Geldmengenzuwachses durch die Erhöhung der Bankrate einerseits und die Kürzung der Staatsausgaben andererseits (Einsparungen im Sozial-und Bildungsbereich; Abbau der Personalausgaben im öffentlichen Sektor; Begrenzung des Kapitalbedarfs der nationalisierten Industrien);

— Reprivatisierung eines Teils der verstaatlichten Industrien;

— Stärkung des Außenwertes der Währung; — Förderung und Ermutigung der privaten Investitionstätigkeit durch steuerliche und regionalpolitische Maßnahmen;

— Erhöhung der Produktivität durch Beseitigung restriktiver Arbeitspraktiken und Beschneidung der Gewerkschaftsmacht

Die Radikalität, mit der die Regierung Thatcher diesen Zielkatalog zu verwirklichen sucht, löste in der britischen Wirtschaft einen Schock aus. Dem Vorwurf dogmatischer Inflexibilität, der ihr nicht nur von der Opposition, sondern auch von Teilen der eigenen Partei sowie insbesondere vom — konservativen Regierungen gegenüber sonst stets freundlich gesinnten — Industriedachverband CBI gemacht wird, hält die Regierung den Verweis auf die erwarteten Langzeitwirkungen ihres „austerity" -Programms entgegen: Die gegenwärtige Verschärfung der rezessiven Tenden-zen sei als „Reinigungskrise" geradezu die Voraussetzung für eine zukünftige gesunde und inflationsfreie Wirtschaftsentwicklung.

Im Hinblick auf die spätestens für Ende 1983 zu erwartenden Unterhauswahlen muß sich das monetaristische Experiment angesichts des primär von ökonomischen Fragen determinierten Wahlverhaltens der Briten allerdings an seinen bis dahin sichtbaren Erfolgen bzw. Mißerfolgen messen lassen. Der gegenwärtig immer häufiger erhobene Vorwurf des Fehlschlags dieser Politik basiert dabei auf folgenden Begründungen:

— Der Versuch, den Geldmengenzuwachs unter Kontrolle zu bekommen und damit die Kernforderung des monetaristischen Ansatzes zu verwirklichen, kann als gescheitert bezeichnet werden ,

— Die programmgemäß herbeigeführte Hochzinspolitik trieb das Zinsniveau zeitweise auf 15 %, doch mit den Folgen sinkender Inlandsnachfrage — insbesondere nach langlebigen Gebrauchsgütern — und teurer Kredite, die den Investitionswillen der Industrie abwürgen.

— Die Kürzung der Staatsausgaben fand nicht statt: Was im Sozial-und Bildungsbereich gestrichen wurde, kam der Verbesserung von „law and order" im Innern und der Erhöhung der Verteidigungsanstrengungen zugute Die nationalisierten Industrien wehrten sich erfolgreich gegen die ihnen vorgegebenen Kürzungen und Kreditbegrenzungen; Stahlindustrie und der Automobilkonzern British Leyland erhielten Rekordsubventionen. Die Staatsquote hat sich noch weiter erhöht. — Das Wirtschaftswachstum blieb aus: Während in den sieben wichtigsten westlichen Industrienationen insgesamt das Bruttosozialprodukt zwischen 1978 und 1981 um 5, 8 % wuchs, fiel es in Großbritannien im gleichen Zentrum um 2, 2 %

— Nach der offiziellen Statistik stieg die Arbeitslosenquote von 5, 7 % im Jahre 1979 auf 14% im Sommer 1982, real auf 3, 4 Millionen Menschen. Tatsächlich dürfte die Zahl der Erwerbslosen längst 4 Millionen überschritten haben.

Doch selbst jene Bereiche, in denen die Regierung Thatcher eindeutige Erfolge reklamiert, nehmen sich bei näherer Betrachtung eher als Mißerfolge aus:

So stabilisierte sich zwar der Außenwert des Pfund Sterling aufgrund des hohen Zinsniveaus und der damit angelockten Spekulationsgelder auf relativ hohem Niveau, doch mit verheerender Wirkung auf die Wettbewerbsposition der einheimischen Industrie

Die Drosselung der Inflationsrate, die im Sommer 1980 noch bei knapp 22% lag, auf nunmehr rund 9 % wird von vielen Experten nicht der monetaristischen Politik der Regierung, sondern den Faktoren Nordseeöl-Einnahmen, hoher Außenwert der Währung und damit verbilligte Importe zugeschrieben. Denn die verschärfte Import-Konkurrenz hindere die inländischen Anbieter, ihre Kostensteigerungen voll auf die Preise abzuwälzen.

Angesichts dieser Negativbilanz mag es müßig erscheinen, nach den Meriten dieser Wirtschaftspolitik zu fragen. Dennoch hat vermutlich gerade die Rigorosität bei der Durchsetzung der monetaristischen Theorie auch Entwicklungen eingeleitet, die langfristig zu strukturellen Verbesserungen in Teilbereichen der Wirtschaft führen könnten. So wurde durch den Abbau des umfangreichen Apparats von Preis-, Dividenden-und Devisenkontrollen die Entscheidungsfreiheit der Unternehmen deutlich gestärkt. Die überhöhten Lohn-zuwachsraten wurden gedrosselt, der Kostenfaktor Lohn ist volkswirtschaftlich wieder berechenbarer geworden. Durch die Senkung der Spitzensteuersätze von 83% auf 60% wurde ein Signal für mehr Leistungsmotivation in den Führungsschichten der Wirtschaft gesetzt Positive Veränderungen im sozialen Klima, die sich aus dem Abbau restriktiver Arbeitspraktiken und der Renaissance der Begriffe Leistung und Effizienz, vor allem jedoch aus der verminderten Durchsetzungsfähigkeit der organisierten Arbeitnehmerschaft ergeben, werden von vielen Unternehmen für längst überfällige Rationalisierungs-und Modernisierungsmaßnahmen genutzt, die die bislang unaufhaltsam scheinende Veralterung des Produktivkapitals abbremsen könnten.

Dennoch lassen die vorstehenden Ausführungen — in vollem Bewußtsein der Problematik einer solchen Aussage zu diesem noch relativ frühen Zeitpunkt — angesichts der Verschärfung der Rezession nur ein Urteil zu: Die Umsetzung der monetaristischen Doktrin in die politische Realität ist insgesamt bislang nicht gelungen. Die Vertreter der „reinen Lehre" werfen der Regierung vor, bei der Reduktion der Staatsausgaben und der Reprivatisierung eines Teils fier verstaatlichten Industrien versagt und somit wesentliche Voraussetzungen für den Erfolg des monetaristischen Modells nicht geschaffen zu haben. Der Ruf nach einer Kehrtwende — aus der eigenen Partei wie aus der Wirtschaft — ist inzwischen unüberhörbar. Im Zusammenhang mit der außerordentlich starken Stellung britischer Premierminister im Kabinett muß Mrs. Thatchers dogmatische Inflexibilität in wirtschaftspolitischen Angelegenheiten um so problematischer erscheinen, als ihr — nicht nur von ihren Gegnern! — relativ geringe Verständnisfähigkeit für die komplexen ökonomischen Zusammenhänge nachgesagt wird. Dabei darf nicht übersehen werden, daß auch ein Teil der mächtigen Whitehall-Bürokratie der monetaristischen Politik ablehnend gegenübersteht. Jedenfalls drängt sich die Frage auf, ob die Durchführung einer solchen — bislang völlig unerprobten und deshalb mit vielen Risiken verbundenen — Politik mit einer solchen Ri-gorosität und vor allem zu -einem solchen, für Experimente denkbar ungünstigen Zeitpunkt politisch und ökonomisch überhaupt zu verantworten ist 2. Die Lohn-und Gewerkschaftspolitik der Regierung Thatcher Die Regierung Thatcher war mit dem erklärten Ziel angetreten, die Lohnzuwachsraten zu drosseln und die Macht der Gewerkschaften zu beschränken. Im Wahlkampf hatten diese Themen eine große Rolle gespielt — wie überhaupt in Großbritannien das Verhältnis zwischen Regierung und Gewerkschaften ein hochbrisantes Thema darstellt, das spätestens seit Mitte der sechziger Jahre jede Unterhauswahl beherrscht und wohl auch entschieden hat.

Die Brisanz dieses Themas ist vor allem zwei Faktoren zuzuschreiben: Einmal sind die zum Teil überhöhten Lohnzuwachsraten der vergangenen Dekade auf das chaotisch anmutende Kollektivverhandlungssystem und die konfliktorientierten Arbeitsbeziehungen insgesamt zurückzuführen, die bislang jeden lohnpolitischen Ansatz der verschiedenen Regierungen haben scheitern lassen. Zum anderen ist die Gewerkschaftsbewegung Großbritanniens weit intensiver als die anderer Länder in einem zentralen Dilemma zwischen ökonomischen Systemzwängen und materiellen Interessen ihrer Basis befangen — eine Interessendivergenz, die sich mit der krisenhaften Entwicklung noch verschärft und zu einer Art „Parallel-Unionismus" geführt hat Dies galt in besonderem Maße unter den Labour-

Regierungen, ist doch die britische Gewerkschaftsbewegung historisch, politisch, finanziell und personell eng mit der Labour-Party verbunden a) Lohnpolitik und das System der Kollektivverhandlungen Das britische System der Kollektivverhandlungen ist durch eine ungewöhnliche Komplexität gekennzeichnet. So unterscheidet sich nicht nur das die offiziellen Institutionen und Regeln umfassende „formale System" deutlich vom tatsächlichen Verhalten der Beteiligten (dem „informalen System"), sondern die Verhandlungen finden sowohl auf nationaler bzw. industrieweiter Ebene zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden („zentralisierte Verhandlungen") wie auch auf lokaler bzw. betrieblicher Ebene zwischen Management und Shop Stewards (gewerkschaftliche Vertrauensleute) statt („dezentralisierte Verhandlungen"). Schließlich muß auch in rechtlicher Hinsicht zwischen „freiwilligen" und gesetzlich geregelten Verhandlungen unterschieden werden

Aus dieser — durch die hier angeführten grundsätzlichen Differenzierungen in seinen vielfältigen Verästelungen noch lange nicht hinreichend beschriebenen — Komplexität des Verhandlungssystems ergibt sich eine Reihe von Problemen. Die Fragmentiertheit der Prozeduren erschwert, um nicht zu sagen: verhindert jede Form von zentral gesteuerter Lohnpolitik. Die gleiche Wirkung ergibt sich aus der Tatsache, daß die Lohnabkommen inhaltlich ungenau, unvollständig und zu weit gefaßt sind, um richtungsweisend zu fungieren; eine zeitliche Fixierung ist erst seit wenigen Jahren üblich. Darüber hinaus verschiebt sich langfristig der Schwerpunkt der Lohnverhandlungen immer mehr auf die — kaum kontrollierbare — lokale Ebene: In den meisten Industrien hat der Anteil der national/industrieweit ausgehandelten Lohnraten am effek-* tiven Standard-Wochenlohn gegenüber den lokal ausgehandelten „substantiellen Vereinbarungen" (Überstunden, Wochenend-und Schichtzulagen, Stücklohnraten, Sozialleistungen etc.) deutlich abgenommen

Gerade diese Tendenz zur Dezentralisierung erhöht die Risiken und die Komplexität der Verhandlungen beträchtlich: Mit der fehlenden Pufferwirkung der Gewerkschaftsbürokratie nimmt langfristig die Spontaneität militanter Aktionen im Betrieb zur Durchsetzung von Forderungen zu Kompliziert werden die Verhandlungen vor allem aber auch durch die „Multi-Union'-Struktur in vielen Industrien und Betrieben

Das angesichts dieser Vielfalt zwangsläufige Scheitern der lohnpolitischen Ansätze vergangener Regierungen trug zu der Erkenntnis in der konservativen Partei bei, daß die Drosselung der Lohnzuwachsraten nur unter Verzicht auf jede Form gesetzlicher Lohnpolitik und im Vertrauen auf die selbsttätigen Regulierungsfähigkeiten der Marktkräfte erfolgen könne. Das Prinzip der Freiwilligkeit konnte jedoch nur für den privaten Sektor gelten; im öffentlichen Bereich — dessen Lohnabschlüssen Signalwirkung zugeschrieben wird — fixierte die Regierung Thatcher Lohnzuwachsgrenzen und verteidigte diese vehement in mehreren Arbeitskämpfen. In der Tat bleiben die Lohnabschlüsse in vielen Fällen unterhalb der Inflationsrate Erstaunlich ist dabei, daß die — auch aufgrund der zusätzlichen Belastung durch die Erhöhung der indirekten Steuern — immer gravierender erscheinende reale Reduktion des Lebensstandards (1981 : 2 %) von den sonst relativ „militanten" öffentlich Beschäftigten hingenommen wird. Bei der Abnahme der Basismilitanz und der Streikbereitschaft spielt die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes eine wesentliche Rolle; dahinter wird aber insgesamt eine eklatante Schwächung der politischen Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften sichtbar. b) Maßnahmen der Regierung zur Schwächung der Gewerkschaftsmacht Zur Zeit bestehen in Großbritannien etwa 450 Gewerkschaften mit rund 12 Millionen Mitgliedern (über 50 % aller Erwerbstätigen); davon sind ca. 110 Gewerkschaften mit 11 Millionen Mitgliedern im Dachverband „Trades Union Congress" (TUC) zusammengeschlossen. Eine der bundesdeutschen Situation vergleichbare Dominanz eines bestimmten Organisationsprinzips ist nicht feststellbar; Berufs-, Angestellten-und Allgemeine Gewerkschaften rekrutieren ihre Mitglieder branchenübergreifend, nicht selten in Konflikt zueinander oder zu den branchenspezifischen Industrie-gewerkschaften. Ein weiteres Charakteristikum der britischen Situation ist die Existenz einer ungewöhnlich großen Zahl kleiner und kleinster Gewerkschaften, obschon langfristig ein Trend zur größeren Gewerkschaft unverkennbar ist.

Der Organisationsgrad in den einzelnen Industrien ist recht unterschiedlich und reicht von 5 % (Gaststättengewerbe) bis 95 % (Bergbau, Bahn, Energieversorgung etc.). Generell sind im öffentlichen Sektor allgemein mehr Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert als in der Privatwirtschaft. Den geringsten Organisationsgrad weisen die sogenannten Niedrig-lohn-Industrien auf

Diese Komplexität des Gewerkschaftswesens und die daraus resultierende „Multi-Union" -Situation in vielen Unternehmen wirken sich negativ auf die Konsensfindung in den Lohn-Verhandlungsgremien und konfliktfreie Regelung auch alltäglicher Probleme auf nationaler wie betrieblicher Ebene aus.

Betrachtet man nun das komplexe System der Arbeitsbeziehungen und der Lohnverhandlungsprozeduren im Kontext dieser Frag-

mentiertheit des Gewerkschaftswesens, so wird deutlich, daß eine Transparenz — und damit Berechenbarkeit — der volkswirtschaftlich eminent wichtigen Entscheidungsprozesse in diesem Bereich nicht gegeben ist. Es kann deshalb nicht verwundern, daß der Reform der Arbeitsbeziehungen von fast allen Nachkriegsregierungen Priorität eingeräumt wurde, gelten doch Arbeitskonflikte, Basismilitanz, unkontrollierte und unkontrollierbare Lohnentwicklung seit langem als zentrale Kausalfaktoren der ökonomischen Dauerkrise. Die Einschätzung, all diese Probleme seien eine Widerspiegelung der wachsenden und übermäßigen Macht der organisierten Arbeit in einer der Vollbeschäftigung und sozialen Sicherheit verpflichteten Gesellschaft, wurde zur Grundlage der Versuche sowohl der Labour-Regierung unter Wilson wie auch der konservativen Regierung Heath, durch gesetzgeberische Maßnahmen die „negativen Aspekte“ der gewerkschaftlichen Aktivitäten zu beseitigen oder zumindest in ihrer volkswirtschaftlichen Wirkung einzuschränken.

Das Scheitern beider Vorhaben am Widerstand der Gewerkschaften legte den Grundstein für den Versuch der Labour Party, durch einen „Sozialpakt" mit den Gewerkschaften die Reform der Arbeitsbeziehungen vor allem über ein Arbeitsschutzgesetz, das die Regelung von Arbeitskonflikten, aber auch die individuellen Rechte der Arbeitnehmer verbessern sollte, anzustreben. Die Strategie der Einbindung der Gewerkschaften in den Sozial-pakt garantierte, daß die Gesetze von dieser Seite nicht unterlaufen wurden, obwohl auch hier Bestimmungen vorhanden waren, die die Gewerkschaften noch Ende der sechziger Jahre abgelehnt hatten. Insgesamt entsprachen die Gesetze jedoch den Vorstellungen der Gewerkschaften und verkörperten für sie eine „positive Reform“, stießen aber — vor allem aufgrund der Kosten, die die protektiven Regelungen des „Employment Protection Act" den Arbeitgebern auferlegten (Lohnfortzahlungen, Sozialpläne bei Entlassungen, Verbesserung des Kündigungs-und Mutterschutzes) — bei der Arbeitgeberseite auf scharfe Ablehnung. Es ist jedoch anzumerken, daß die arbeitsrechtlichen Bestimmungen dieses Gesetzes wenig mehr als die Angleichung der britischen Situation an kontinentale Standards bewirkten — eine Anpassung, die das anachronistische Kollektivverhandlungssystem offenbar nicht hatte herbeiführen können.

Den Gesetzen der Labour-Regierung ist jedoch vorzuwerfen, daß sie eine echte Reform der Arbeitsbeziehungen nicht bewirkten. In der Tat hat sich an den Strukturen und Verfahren wenig geändert, und hochbrisante Themen wie die verbreitete gewerkschaftliche Zwangsmitgliedschaft in den Betrieben, das Streikrecht und die Frage der militanten Streikposten wurden ausgeklammert.

Genau diese Themen wurden jedoch zentrale Inhalte des Wahlkampfes und des Programms der konservativen Regierung Thatcher. Die zunächst eingeleitete „Reform der kleinen Schritte" des Arbeitsministers James Prior konnte die auf schnelle Erfolge angewiesene Regierung jedoch nicht befriedigen. Der nach einer Kabinettsumbildung neuernannte Arbeitsminister Norman Tebbit legt deshalb seit dem Frühjahr 1982 ein schärferes Tempo vor. Eine Gesetzesvorlage, die beschönigend den Titel „Beschäftigungsgesetz" erhielt, richtet sich vor allem auf folgende Angriffspunkte: — Aufhebung der Immunität der Gewerkschaften: Die Gewerkschaftszentralen sollen künftig bei Kampfmaßnahmen ihrer Basis schadensersatzpflichtig werden.

— Einengung des Begriffs des „rechtmäßigen" Streiks: Kompetenz-, Abgrenzungs-und Rekrutierungskonflikte zwischen einzelnen Gewerkschaften sowie sämtliche Solidaritätsstreiks werden illegal. „Rechtmäßige" Streiks sind auf Konflikte um Löhne und Arbeitsbedingungen beschränkt. — Der Arbeitgeber erhält das Recht, auch während eines Arbeitskampfes einzelne Streikführer oder militante Arbeiter zu entlassen.

— Bei Vereinbarungen über gewerkschaftliche Zwangsmitgliedschaft in Betrieben („Closed Shop“) stärkt die Gesetzesvorlage die Rechtsstellung der davon betroffenen Arbeit-13 nehmer: Künftig soll jeder das Recht haben, aus Gewissensgründen (bislang galten nur religiöse Gründe) die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zu verweigern, ohne eine Entlassung befürchten zu müssen. Darüber hinaus muß das „Closed Shop" -Abkommen alle fünf Jahre durch mindestens 80 % der Belegschaft bestätigt werden.

In diesem Angriff auf „zentrale Bastionen" ihrer Macht sehen die Gewerkschaften bereits eine existentielle Bedrohung. Mit ihren weiteren Plänen: Gesetzliche Pflicht zur Durchführung von Urabstimmungen vor Kampfmaßnahmen, Einführung geheimer Wahlen für Gewerkschaftsfunktionäre, Beseitigung der „politischen Abgabe" an die Labour Party reizt die Regierung die Gewerkschaften und die Labour Party noch weiter. Die Lehren aus der Kraftprobe mit den Gewerkschaften, die die Heath-Regierung ziehen mußte, scheinen vergessen zu sein. Allerdings hat sich die Konstellation auch entscheidend verändert: Die Gewerkschaften müssen gegenwärtig eine bedeutende Schwächung ihrer Stellung hinnehmen. Regelmäßige, direkte Konsultationen zwischen Regierung und Gewerkschaften finden seit Mrs. Thatchers Amtsantritt nicht mehr statt; der politische Flügel der Arbeiterbewegung, die Labour Party, betreibt keine konstruktive Oppositionspolitik, sondern erschöpft sich in Flügelkämpfen und reduziert damit indirekt auch die politische Artikulationsfähigkeit der Gewerkschaften; schließlich aber müssen die Trade Unions auch den größten Mitgliederschwund seit den zwanziger Jahren verkraften, der sich 1980 und 1981 auf fast eine Million summierte. Gleichzeitig ist gegenwärtig die Bereitschaft in der Arbeitsbevölkerung gering, durch Streiks und sonstige Aktionen für die Erhaltung ihres Lebensstandards zu kämpfen. Immer häufiger laufen gewerkschaftliche Aktionen ins Leere; das Konzept der Regierung Thatcher scheint aufzugehen. Während also eine staatlich angeleitete Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen bislang stets scheiterte, erweist sich nun die rapide Verschlechterung der sozialen Situation der Lohnabhängigen — konkret: die Gefahr der Arbeitslosigkeit — als Disziplinierungsmittel, das die Durchsetzung von Reformvorhaben wesentlich erleichtert.

III. Die sozialen Probleme

1. Das Immigrantenproblem Nach den beträchtlichen sozialen Problemen, mit denen Großbritannien im Gefolge der Industriellen Revolution konfrontiert worden war (Landflucht, Verelendung des städtischen Sub-Proletariats, Masseneinwanderung der durch Mißernten ausgehungerten irischen Landbevölkerung und Verschärfung der Lohn-konkurrenz), erfolgte auch in unserem Jahrhundert in der Phase relativer ökonomischer Prosperität in den beiden ersten Nachkriegs-jahrzehnten eine neue Welle von Einwanderungen, vor allem aus den früheren Kolonien (Westindien, Pakistan, Indien), die durch Anwerbungskampagnen der Londoner Verkehrsbetriebe ausgelöst worden war.

Gegenwärtig erreicht zwar der Anteil der Immigrantenminderheit lediglich etwa 3, 5 % der Gesamtbevölkerung, doch führt die höchst ungleiche geographische Verteilung der Immigranten mit ihren Schwerpunkten in den industrialisierten Regionen um London, Birmingham, Liverpool, Manchester und Glasgow zu beträchtlichen sozialen Problemen.

Die Situation dieser Minderheit ist gekennzeichnet durch rassendiskriminierende Praktiken auf dem Arbeits-und Wohnungsmarkt, im Bildungswesen und bei der Zuteilung von Sozialhilfeleistungen; ihr Berufs-wie auch ihr Lohnniveau liegen zum Teil weit unter dem der Einheimischen. Ihre Integration wird unmöglich gemacht durch ihre Gettoisierung in den verfallenden Randbezirken der Großstädte — Bezirke, in denen die Arbeitslosigkeit weit über dem nationalen Durchschnitt liegt.

Das „Race Relations Act" von 1976 konnte diese Situation nicht wesentlich verbessern. Auf dem Arbeitsmarkt beispielsweise sind diskriminierende Praktiken der Arbeitgeber bei der Besetzung von Arbeitsstellen praktisch nicht nachweisbar. Selbst die Arbeit der Commission on Racial Equality wird durch die massive Artikulation von Interessen im Unterhaus behindert So verschärfen sich die Rassen-spannungen weiter: Seit Jahren kommt es in den Immigrantenwohnvierteln immer wieder zu Rassenunruhen, die im August 1981 zu blutigen Straßenschlachten in Toxteth (Liverpool) und Brixton (London) eskalierten und auf eine Reihe weiterer, auch kleinerer Städte Übergriffen. Die sich zuspitzende Konkurrenzsituation zwischen Einheimischen und Immigranten wird auch am Arbeitsplatz immer deutlicher. Mit der Veröffentlichung von nach Rassenzugehörigkeit aufgegliederten Kriminalitätsstatistiken, die eine überdurchschnittliche Kriminalität von Farbigen konstatierten, heizte Scotland Yard die Diskussion noch weiter an. Da nach polizeilicher Interpretation als gesichert gelten kann, daß die Straßenkriminalität (insbesondere mit älteren Personen als Opfer) in den „farbigen" Stadtteilen Londons überdurchschnittlich hoch ist, führen die ordnungspolitischen Gegenmaßnahmen (permanente Straßen-und Personenkontrollen; freizügiger Gebrauch vorbeugender Inhaftierung) wie auch die Repressalien von Seiten weißer Mitbürger zu stärkster Verbitterung jener 96 % der farbigen Immigrantenbevölkerung, die nicht der kriminellen Szene zuzurechnen sind — eine Verbitterung, die ein farbiger Jugendlicher treffend formulierte: „As long as you're young and black and living in Brixton, you're in trouble. Theres no future for you." 2. Arbeitslosigkeit Mit rund 3, 4 Millionen Arbeitslosen (einer Quote von knapp 14 %) war Großbritannien im Sommer 1982 unter den wichtigsten Industrie-ländern das Land mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Besonders hoffnungslos ist die Beschäftigungssituation für Jugendliche: Rund zwei Drittel der Erwerbslosen sind unter 35 Jahre alt; im Sommer 1982 waren rund 1 Million Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahre (oder jeder sechste dieser Altersgruppe) ohne Beschäftigung, und nach offiziellen Berechnungen werden Ende 1983 etwa zwei Drittel der Jugendlichen unter 18 Jahre arbeitslos sein

Die offiziellen Gesamtstatistiken müssen aber aufgrund der Registrierpraxis der Arbeitslosen in Zweifel gezogen werden. Schon die Volkszählung von 1971 wies neben den damals registrierten 650 000 noch weitere — nicht registrierte — 400 000 Arbeitslose aus. Da sich in der Regel nur Sozialhilfe-Berechtigte oder die an staatlicher Arbeitsvermittlung Interessierten registrieren lassen, dürfte das wahre Ausmaß der Arbeitslosigkeit weit über den offiziellen Angaben liegen — eine Vermutung, die neuerdings erstmals von amtlicher Seite bestätigt wird: In einer statistischen Publikation des Arbeitsministeriums wird davon ausgegangen, daß gegenwärtig eine „verdeckte" Arbeitslosigkeit von rund 700 000 Personen bestehe, die in den Statistiken nicht erfaßt sei Legt man diese Zahlen zugrunde, so müßten in Großbritannien zur Zeit etwa 4, 1 Millionen Menschen (ca. 17%) von Erwerbslosigkeit betroffen sein.

Durch verschiedene „Job Creation Programmes" versuchen die staatlichen Stellen, insbesondere die Arbeitsbehörde „Manpower Services Commission“, vor allem Schulabgänger und Jugendliche von der Straße zu holen. Dabei ist jedoch die Arbeitsmarktpolitik — entsprechend den wirtschaftspolitischen Ansichten der konservativen Regierung, wonach das Arbeitslosenproblem dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen bleiben müsse — weniger auf eine Steigerung des Angebots an Arbeitsplätzen als auf eine langfristige Verbesserung der Qualität der Erwerbsbevölkerung gerichtet. Die „Manpower Services Commission" stellte kürzlich fest, Großbritannien habe eine der am schlechtesten ausgebildeten Arbeit-nehmerschaften in der westlichen Welt, woraus sich für die britische Wirtschaft ein eklatanter Mangel an qualifizierten Kräften ergebe Daten zur Situation der Berufsausbildung bestätigen dies: Da die Zahl der von den Unternehmen angebotenen Ausbildungsplätze in den letzten zehn Jahren um rund ein Drittel zurückgegangen ist (allein in den letzten zwei Jahren um 10 %), treten gegenwärtig bei starker Zunahme der Zahl der Schulabgänger nur noch rund 14 % in ein Ausbildungsverhältnis ein — in der Bundesrepublik sind es 50 %

Die hohe Arbeitslosigkeit muß auch als zentrale Ursache der Rassenproblematik angesehen werden. Die Perspektivlosigkeit dieser Minderheiten zeigt sich in den von Rassenunruhen geschüttelten Stadtbezirken besonders deutlich: In Toxteth beispielsweise liegt die Arbeitslosenquote bei den Männern um 35 %, und von den 1556 Schulabgängern des Jahres 1982 in Toxteth konnten nur 84 eine Vollzeitbeschäftigung finden — 95 % von ihnen wechseln also von der Schule direkt in die Arbeitslosigkeit über Zwar ist eine nach ethnischer Zugehörigkeit aufgeschlüsselte Arbeitslosenstatistik nicht verfügbar, doch liegt einer Schätzung zufolge die Arbeitslosigkeit junger Farbiger in Toxteth bei 60 bis 70 %. 3. Armut Die bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts in England vorherrschende Einschätzung der Armut als ein Problem der Vergangenheit resultierte aus Vergleichen mit den Vorkriegsbedingungen. Auf diese Weise sah man insbesondere in der Etablierung des Wohlfahrtsstaates nach 1945 und im steigenden Lebensstandard der fünfziger und sechziger Jahre Belege für die endgültige Überwindung des Armutsproblems. In den letzten zwei Jahrzehnten wuchs jedoch die Kritik an dieser Grundhaltung: Heute wird Armut wieder — besonders vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit — als ein zentrales soziales Problem aufgefaßt.

Der Abbau des Wohlfahrtsstaates, der nicht erst von der gegenwärtigen konservativen Regierung, sondern auch bereits von ihren Labour-Vorgängern betrieben wurde, unter der Thatcher-Regierung jedoch ein schärferes Tempo annimmt, zeigt gravierende Auswirkungen. Die Arbeitslosenbeihilfen etwa sind mit durchschnittlich DM 180, — pro Woche für einen verheirateten Familienvater bei einem fast der Bundesrepublik entsprechenden Preisniveau für Lebensmittel, Energie und Dienstleistungen völlig unzureichend. Die Einführung von Selbstbeteiligungen im Gesundheitswesen, die Abschaffung der kostenlosen Schulmilch, die Beteiligung der Eltern an den Kosten für Schülertransport, Schulmahlzeiten, Lernmittel und Schuluniformen sind Belastungen, die von Haushalten mit geringem Einkommen kaum noch getragen werden können

über das Ausmaß der von Armut — aufgrund von Unterbezahlung und Niedriglohn, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Alter — betroffenen Bevölkerungsteile gibt es keine verläßlichen Angaben. Nach einer Statistik des Sozialministeriums lebten bereits 1972 schätzungsweise 4, 6 Millionen Familien (mit insgesamt über 7 Mill. Personen) unterhalb der offiziellen Armutsschwelle Hinzu kommt noch die große Gruppe der Beihilfeberechtigten, die dem bürokratisierten, verrechtlichten System des Wohlfahrtsstaates, dem Formularkrieg und der restriktiven Bewilligungspraxis der Behörden hilflos gegenüberstehen und deshalb von ihren Rechten keinen Gebrauch machen.

Statistische Daten vermitteln jedoch ohnehin nur einen unzureichenden Eindruck vom Ausmaß der Armut; vor allem erfassen sie nur deren materiellen — weil meßbaren — Aspekt und lassen ihre psychischen und physischen Folgen unberücksichtigt. Vor dem Hintergrund der sichtbaren Verelendung ganzer Stadtteile, in denen sich die Lebensbedingungen seit Jahren verschlechtern, wird die Be-hauptung der Regierungsstellen, den Lebensstandard der Armen in etwa gehalten zu haben, unglaubwürdig. Noch heute ist gerade in Großbritannien die Vorstellung von der Armut als selbstverschuldetem Übel, die im 19. Jahrhundert das soziale Empfinden der viktorianischen Gesellschaft prägte, weit verbreitet und möglicherweise auch für die relative Passivität der staatlichen Stellen verantwortlich zu machen -

IV. Veränderungstendenzen im politischen System

Wie eingangs bereits erwähnt, wurde das britische politische System bis vor kurzem für seine „Stabilität" gerühmt — eine Stabilität, die vor allem seinen hervorragenden Merkmalen Mäßigung, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Dynamik zugeschrieben wurde.

Aus heutiger Sicht sind jedoch Zweifel an dieser Einschätzung berechtigt. Zu undeutlich verläuft die Grenze zwischen „Stabilität" und . Inflexibilität", zu groß ist die heute im politischen System Englands spürbare Verunsicherung, als daß sie sich selbst von seinen Apologeten noch verdrängen ließe.

Auch der „gesamtgesellschaftliche Konsens", der gern als Grundlage des Systems angeführt wird, erweist sich bei dieser Betrachtungsweise als so gesamtgesellschaftlich nicht: Faktoren wie die soziale Herkunft der Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft, Recht und Verwaltung, das Apathieproblem der unteren Schichten, die ungleiche Einkommens-und Vermögensverteilung und die elitäre Struktur des Bildungswesens kennzeichnen ihn eher als elitenspezifischen Konsens.

Daß nunmehr total veränderte Rahmenbedingungen im Äußern und Innern die Fundamente des politischen Systems in Bedrängnis bringen, läßt . vermuten, daß die Fähigkeit des Systems zum Wandel — wenn auch stark retardiert — noch nicht völlig abhanden gekommen ist. Jedenfalls lassen sich gegenwärtig mehrere Hauptangriffe auf die verkrusteten Strukturen des Systems feststellen: die Infragestellung des Zentralismus, Reformbestrebungen in bezug auf die Demokratiedefizite des Regierungssystems, Umbrucherscheinungen in der Parteienlandschaft sowie die Infragestellung des Mehrheitswahlrechts. 1. Zentralismus Der britische Zentralismus ist die historische Folge des innerbritischen Kolonialismus. Der ökonomische und politische Erfolg Englands nach innen und außen war dabei über lange Zeit der Garant dafür, daß seine hegemoniale Stellung durch die ethnisch und kulturell eigenständigen Nationalismen der sogenannten keltischen Randzonen (. celtic fringe": Schottland, Wales, Nordirland) nicht in Frage gestellt wurde.

Die — besonders im Ausland verbreitete — Gleichsetzung von Zentralismus und nationaler Homogenität erweist sich jedoch vor dem Hintergrund der angesichts der Krisenhaftigkeit des Gesamtstaates zunehmenden Selbstbestimmungsforderungen des „celtic fringe" als Fehleinschätzung. So kann heute festgestellt werden, daß die keltischen Nationalismen durch eine Vielzahl von Ereignissen (Aufstieg der schottischen und walisischen Nationalistenparteien, Bürgerkrieg in Nordirland, Bedeutungswachstum der walisischen Sprache) wieder in die britische Politik eingetreten sind — eine Entwicklung, die wohl primär der jahrzehntelangen Vernachlässigung dieser Peripherien durch den Zentralstaat und ihrem Abstieg zu den eigentlichen Krisenzentren des Landes zuzuschreiben ist, daneben aber ihre Ursachen auch in der Rückbesinnung auf die je nationale Kultur findet. Insbesondere hat die Entdeckung reicher Ölvorkommen vor der schottischen Küste dazu beigetragen, daß in den keltischen Regionen Hoffnungen auf mehr nationale Selbstbestimmung und auf ein höheres Maß an Unabhängigkeit von den die Peripherien eindeutig benachteiligenden Um-Verteilungsmechanismen des Zentralstaates entstanden

Aber auch die Lokal-und Grafschaftsbehörden streben nach größerer Unabhängigkeit von den zentralisierten Entscheidungsstrukturen, vor allem im Hinblick auf die Verfügungsgewalt über die immer knapper werdenden Finanzmittel für lokale und regionale Aufgaben. 2. Regierungssystem Das Regierungssystem gerät durch gewisse ihm immanente Demokratiedefizite unter Reformzwang; gleiches gilt für den britischen Parlamentarismus allgemein. Die Stellung der „Mutter der Parlamente" ist durch die absolute Dominanz der Regierung, insbesondere des Premierministers, gekennzeichnet. Dies entspricht zwar im wesentlichen der verfassungsgeschichtlichen Grundtendenz mit ihrer Betonung einer starken Exekutive, und richtig ist wohl auch, daß sich angesichts der Besonderheiten des britischen Systems die Diskussion über das Kräfteverhältnis zwischen Parlament und Regierung nicht primär an der Machtfrage orientieren sollte, da es sich beim britischen Unterhaus in erster Linie um ein Diskussionsforum, weniger um ein „arbeitendes Parlament“ handelt. Dennoch muß die zunehmende Konzentration der Regierungsgewalt in einem exklusiven Kernbereich (bestehend aus Schatzamt, Cabinet Office und Civil Service Department), dem sogenannten Central Controlling Core, auf den der Premierminister direkten Zugriff hat, in bezug auf die Möglichkeiten des Parlaments zur demokratischen Kontrolle der Regierung als außerordentlich problematisch angesehen werden.

Weitere Problembereiche, die eine demokratisch legitimierte Kontrolle der Regierung vermissen lassen, sind die wachsende Diskrepanz zwischen Parteitagsbeschlüssen und dem tatsächlichen Regierungshandeln und die beherrschende Position der Regierung bei der Festlegung der Unterhaus-Prozeduren und bei der Besetzung der parlamentarischen Ausschüsse. Faktisch kann die britische Regierung durch das Parlament kaum gestürzt werden. Dennoch ist auch sie nicht omnipotent. Die Ereignisse unter der Heath-Regierung haben bewiesen, daß von außerparlamentarischen Interessengruppen sehr wohl eine wirkungsvolle Opposition inszeniert werden kann. Aber auch im Parlament selbst ergeben sich durch Revolten der Hinterbänkler der Regierungspartei mitunter Mehrheitskonstellationen, die zu empfindlichen Niederlagen der Regierung führen können.

Während jedoch die Notwendigkeit einer Refom des Unterhauses zwar erkannt wird, aber angesichts der Interessenidentität der beiden großen Parteien, die sich in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen in der Regierung ablösen und deshalb kein Interesse an der Einschränkung ihrer (zukünftigen) Handlungsfreiheit haben, wenig aussichtsreich erscheint, bietet sich in einer Refom des Oberhauses (der „Greisenkammer“, die von der Labour Party als Rudiment des Feudalismus bezeichnet wird) die Gelegenheit, Reformwillen zu beweisen, ohne die Substanz des Parlamentarismus anzugreifen. Reformbedürftig erweist sich auch die Verwaltungsmaschinerie („Whitehall"), in der sich in der höheren Beamtenschaft eine neue Feudal-klasse etabliert hat, die aufgrund ihrer Kontinuität und Permanenz — ganz im Gegensatz zu den häufig wechselnden Regierungen — über einen enormen Fundus an „Amts-und Herrschaftswissen" verfügt und sich durch Ämterpatronage ständig der fortgesetzten Kontrolle der führenden Posten versichert 3. Parteiensystem Das Parteiensystem, das bisher von zwei die Mehrheit der Aktivbürgerschaft erfassenden „Volksparteien“ getragen wurde, ist erstens durch die Abwendung der Wählerschaft von den großen Parteien, zweitens durch die immer deutlicher zutage tretenden innerparteilichen Demokratiedefizite und drittens durch die Infragestellung des Mehrheitswahlrechts in Bewegung geraten. a) Auflösungserscheinungen im Zweiparteiensystem Beide großen Parteien haben in den letzten beiden Jahrzehnten ihren früher typischen Klassenrückhalt teilweise verloren, was wohl einerseits der — im Gegensatz zur britischen Tagespresse — relativ parteineutralen Berichterstattung des neuen Hauptmediums Fernsehen zuzuschreiben ist, aber auch von den Parteien selbst um der Verbreiterung zur Volkspartei willen bewußt in Kauf genommen wurde.

Die abnehmende Parteiidentifikation ist jedoch in der Labour Party besonders ausgeprägt. Ihre versuchte Öffnung zur Mittel-schicht hin führte — wie sich auch an Mrs. Thatchers Wahlsieg im Mai 1979 erneut deutlich zeigen läßt — zum Verlust eines Teils der Arbeiterschaft Flügelkämpfe, Linksrutsch und Dominanz der Gewerkschaften prägen jedoch das Image der Partei und verhinderten, daß sich neue, diesen Verlust ausgleichende Identifikationsmuster — etwa in Teilen der Mittelschicht — zu beständiger Parteigängerschaft entwickeln konnten.

Wenn die beiden großen Parteien heute nur noch je 30 % der Stimmen der wahlberechtigten Bevölkerung auf sich vereinigen, so ist dies sicher Folge dieser Auflösung der Grundstruktur der politischen Willensbildung, des „dass based voting"; gleichzeitig wird darin jedoch auch eine beträchtliche Frustration der Wähler mit der Unfähigkeit der beiden großen Parteien erkennbar, Lösungsmöglichkeiten für die sozio-ökonomischen Probleme anzubieten. Darüber hinaus haben beide Parteien Positionen um die politische Mitte aufgegeben, nicht zuletzt infolge der Dominanz des rechten (bei den Konservativen) bzw.des linken Flügels (bei Labour). Die so entstandene Vakanz bietet Raum genug für eine neue Formation, die aus dieser Position heraus mit dem Anspruch auftreten könnte, rationale und pragmatische, vor allem aber für britische Verhältnisse relativ ideologiefreie Politik betreiben zu wollen.

Der neuen Sozialdemokratischen Partei (SDP)

ihrem der bzw. (Wahl-) Bündnis mit Liberalen Partei werden dafür nach den spektakulären Anfangserfolgen gute Chancen eingeräumt. Dennoch sieht sich die neue Gruppierung beträchtlichen Problemen gegenüber: Die zunehmende Konkretisierung ihrer Programm-arbeit hat bereits jetzt zu einer gewissen Desillusionierung ihrer potentiellen Wählerschaft geführt, stellen doch die wichtigsten Kernaussagen entweder einen Rückgriff auf frühere Positionen der Labour Party dar (z. B. zur „mixed economy" mit einem Element der Planung, zur Mitbestimmungsfrage und zur Dezentralisierung) oder sind gegenwärtig wenig populär und deshalb kaum als Stimmenmagnete anzusehen (radikale Ansätze zur sozialen Gleichheit, zur Frauenfrage und zur Rassenproblematik; Bejahung der EG-Mitgliedschaft; gesetzliche Lohnpolitik). b) Innerparteiliche Probleme Innerparteiliche Demokratiedefizite werden insbesondere der Labour Party zur Last gelegt. Ihre engen historischen, politischen, organisatorischen und personellen Verbindungen zu den Gewerkschaften wirken sich finanziell als absolutes Abhängigkeitsverhältnis aus, bringen doch die Gewerkschaften über die kollektive Parteizugehörigkeit von 6, 4 Millionen Gewerkschaftsmitgliedern bis zu 70 % der Finanzmittel der Partei auf

Mit Unterstützung der Gewerkschaften, die ihr Gewicht in Form von „Blockstimmen" voll in die Parteibeschlüsse einbringen (den 6, 4 Millionen Blockstimmen der Gewerkschaften stehen etwa 300 000 individuelle Mitglieder gegenüber), konnte die Parteilinke 1981 nicht nur einen neuen Modus bei der Wahl des Parteiführers durchsetzen sondern auch eine regelmäßige Bestätigungspflicht jedes Labour-Abgeordneten durch die Parteigremien seines Wahlkreises.

Beide Neuerungen erwecken den Anschein einer innerparteilichen Demokratisierung, sind aber — da sie die realen Kräfteverhältnisse innerhalb der Partei verzerrt wiedergeben — tendenziell undemokratisch. Erstens beruht nämlich die automatische, kollektive Parteimitgliedschaft der gewerkschaftlich Organisierten nicht auf einer freien Willensentscheidung des einzelnen, sondern auf passiver Hinnahme. In ihr drückt sich kein Interesse an Existenz oder Politik der Partei aus.

Mithin ist auch der Gebrauch der auf dieser „Zwangsmitgliedschaft'1 beruhenden Block-stimmen der Gewerkschaften bei den Parteitagen eine tendenziell undemokratische Methode, einen Parteiführer und möglichen Premierminister zu bestimmen.

Zweitens liegt nach der neuen Regelung die Wahl des Parteiführers zu 70 % außerhalb der Unterhausfraktion und wird damit auch dem indirekten Einfluß der Labour-Wählerschaft entzogen.

Drittens: Der regelmäßige Bestätigungszwang •für die Parlamentskandidaten durch die primär von linken Parteiaktivisten beherrschten lokalen Basisgruppen könnte zur Folge haben, daß in der Unterhausfraktion der linke Parteiflügel dominiert und sie damit ihre gesamtparteiliche Repräsentativität verliert. c) Infragestellung des Mehrheitswahlrechts Daß die beschriebenen Tendenzen in der Parteienlandschaft nicht ohne Konsequenzen für das Wahlrecht bleiben können, liegt auf der Hand. Insbesondere der Erfolg der SDP-Liberalen Allianz hat die Diskussion um das Mehrheitswahlrecht erneut entfacht. Dieses Wahlrecht begünstigt eindeutig die beiden großen Parteien und verschaffte ihnen in den elf Unterhauswahlen zwischen 1945 und 1979 zehn-malausreichende Mehrheiten, wobei die Begünstigung zum Teil auf ihren noch immer vorhandenen, obgleich stark abgeschwächten Klassenrückhalt sowie auf ihre Präsenzfähigkeit in allen Wahlbezirken zurückzuführen ist

Produzierte dieses „first-past-the-post" -System in der Vergangenheit zwar alternierende Mehrheiten, so birgt es aber auch zugleich die Gefahr, „hung Parliaments" mit sehr schwachen Mehrheitsverhältnissen hervorzubringen, die bei mangelnder Fraktionsdisziplin die Politik der Regierung auf den kurzfristigen Mehrheitserwerb reduziert

Generell ist aber das Mehrheitswahlrecht im Zweiparteiensystem bei der gegebenen Schwäche der Stellung des Parlaments eher auf die Produktion einer Regierung denn auf stabile parlamentarische Mehrheitsverhältnisse gerichtet, was ja auch in der britischen Aversion gegen Koalitionsregierungen deutlich wird. Verschiedentlich wird diese Wirkung des Mehrheitswahlrechts, eher eine Regierung als ein Parlament zu wählen, als demokratischer Fortschritt bezeichnet Gelänge es nun der SDP-Liberalen Allianz, dieses Zweiparteiensystem aufzubrechen, eine Koalition oder Ad-hoc-Kooperation mit einer der beiden anderen Parteien einzugehen, so stünde nicht nur die sofortige Reform des Wahlrechts an, sondern längerfristig auch eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Parlament und Regierung, die in der Tat die Stärkung der Kontrollbefugnisse des Unterhauses zur Folge haben könnte.

Schlußbetrachtung

Die vorstehenden Ausführungen hatten zum Ziel, Ursachen und Hintergründe der Krisen-phänomene Großbritanniens in ihrer Breiten-wirkung darzustellen.

Wurde dabei deutlich, daß die Deskription dieser Phänomene ohne Berücksichtigung historischer Entwicklungen und Erfahrungen nicht auskommt, so stellen auch die antiquierten politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen des Landes Kausalfaktoren dar, die insgesamt den Verdacht nahelegen, das Land sei unfähig zum Wandel.

Tatsächlich hat Großbritannien bis heute den Verlust seiner Weltmachtposition und des Empire weder politisch noch ökonomisch überwunden. Der historischen Herausforderung dieses Positionswandels begegnete es zwar mit dem widerstrebenden Rückzug aus der Weltpolitik, verfiel aber zugleich in das entgegengesetzte Extrem einer zunehmenden Selbstisolierung, die sich heute beispielsweise in der ambivalenten Haltung zur europäischen Integration niederschlägt Das schwindende ökonomische und militärische Potential stellt schließlich auch das Sehnen nach einer Restauration der Position einer Hegemonialmacht als hohle „imperiale Pose" bloß.

Auch im Innern sind Auflösungserscheinungen des noch im viktorianischen Zeitalter wurzelnden „Two Nations" -Charakters der britischen Gesellschaft kaum zu erkennen. Im Gegenteil: In der Krise scheint sich die Geld-und Herrschaftselite erneut durch die Einbeziehung einer neuen Meritokratie, bestehend aus den Aufsteigern aus Politik und Wirtschaft einschließlich der Gewerkschaftsführer, zu konsolidieren und gegen Nivellierungstendenzen abzuschirmen, wobei trotz aller Skandale der kaum erschütterten Monarchie eine zentrale Funktion zukommt.

Emotionale Distanz, kritische Rationalität, Toleranz und Mäßigung, die die politische Kultur des Landes ohne Zweifel über lange Perioden seiner Geschichte kennzeichneten, sind heute durch sporadisch ausbrechenden nationalistischen Fanatismus, durch zunehmenden Rassismus und durch die Polarisierung der Bevölkerung bedroht. Mit dem rapiden Anwachsen der langfristigen Arbeitslosigkeit ist der Prozeß der Marginalisierung eines bedeutenden Teils der Erwerbsbevölkerung eingeleitet, sind Perspektivlosigkeit, Apathie, aber auch eruptiver Haß bei Jugendlichen und ethnischen Minderheiten vorprogrammiert.

Die Trostlosigkeit dieser Perspektive ist nicht zuletzt der Konzeptionslosigkeit der britischen Politik zuzuschreiben. So ist es wenig realistisch, die ständigen Machtwechsel noch immer als regelmäßiges „Schwingen des (Macht-) Pendels“ und damit als Ausdruck eines geschärften Demokratiebewußtseins der Wahlbevölkerung zu werten. Heute sind sie vielmehr Resultat der abnehmenden Partei-identifikation und der Frustration der Wähler mit der offensichtlichen Unfähigkeit der beiden großen Parteien, von ihren je latent klassenspezifischen Definitionen des Gemeinwohls abzugehen und Lösungsmöglichkeiten für die immer drängender werdenden Probleme zu entwickeln.

Vor diesem Hintergrund ist dem Krisenbewältigungsversuch der konservativen Regierung Thatcher gutzuschreiben, daß er zumindest dem Anspruch nach nicht primär auf kurzfristige Erfolge, sondern auf langfristige Veränderungen gerichtet ist. Dabei gründet sich die ihm zuteil werdende Aufmerksamkeit vor allem auf seinen Experimentalcharakter. Nachdem auch die Reagan-Administration in den USA ihre Wirtschaftspolitik auf ähnliche Grundlagen gestellt hat, lassen sich die Wirkungen des angebotsorientierten Experiments nun gleich an zwei „Laborphasen" beobachten. Die Ergebnisse dieser Politik, die das wirtschaftspolitische Instrumentarium auf monetäre Maßnahmen reduziert und die sozialen Folgekosten weitgehend ignoriert, sind jedoch bislang kaum ermutigend. In beiden Ländern haben sich die rezessiven Tendenzen — nicht zuletzt aufgrund eines überhöhten Zinsniveaus — entschieden verschärft. In beiden Ländern gibt es ein Millionenheer von Arbeitslosen, erzeugt diese Marginalisierung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung — in Verbindung mit der Rassen-und Immigrantenproblematik — ein soziales Konfliktpotential, dessen langfristige Auswirkungen bestenfalls erahnt werden können.

Die Darstellung der britischen Krisenphänomene sollte trotz des — thematisch bedingten — pessimistischen Tenors nicht zu der pauschalen Schlußfolgerung verleiten, daß das Land der Bewältigung seiner vielfältigen Probleme chancenlos gegenüberstehe. Im Verlauf seiner Geschichte hat das Land immer wieder erstaunliche Kräfte mobilisieren können und den Mut zu ungewöhnlichen Lösungen aufgebracht. Darüber hinaus ist aber gerade in der Gegenwart in bezug auf die Erstarrung und Verkrustung der politischen und gesellschaftlichen Strukturen ein Prozeß der Bewußtwerdung erkennbar geworden, der Herausforderung und Chance zugleich bietet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Der Spiegel, Nr. 6, 1979, S. 153.

  2. Londons „City" ist gegenwärtig sowohl für Dienstleistungen im Versicherungs-und Finanzsektor wie auch für Fremdwährungstransaktionen noch vor New York das wichtigste Zentrum der Welt; allein ein Viertel der weltweiten Bankgeschäfte werden in London abgewickelt. (Vgl. Daily Mail, 4. 8. 1982).

  3. Vgl. Andrew Glyn, Bob Sutcliffe, British Capitalism, Workers and the Profits Squeeze, Harmondsworth 1972, Tab. 2. 1., S. 17.

  4. Vgl. Tony Burkett, Großbritanniens gesellschaftliches Dilemma: Evolution und Verfall, in: Europa-Archiv, Folge 5, 1976, S. 158.

  5. „Noch immer läßt sich am Beispiel Englands eine stabile, von einem tiefgreifenden Konsensus der Bevölkerung getragene parlamentarische Demokratie vorführen" (Vgl. K. Sontheimer, Das politische System Großbritanniens, München 1972, S. 13).

  6. Seit 1945 standen die beiden großen Parteien fast gleich lange in der Regierungsverantwortung: Labour: 1945— 1951, 1964— 1970, 1974— 1979; Konservative: 1951— 1964, 1970— 1974, seit 1979.

  7. Das beste Beispiel hierfür ist die Stahlindustrie, die 1946 von der ersten Labour-Mehrheitsregierung verstaatlicht, von den Konservativen 1953 reprivatisiert, von Labour 1967 erneut verstaatlicht und dabei so umstrukturiert wurde, daß eine erneute Reprivatisierung unmöglich schien. Auch die konservative Regierung Thatcher leitet seit 1979 wieder eine Reprivatisierungswelle ein, mit der ein Teil der seit 1974 von Labour durchgeführten Verstaatlichungsmaßnahmen (Luftfahrtindustrie; Beteiligungen der staatlichen Holding-Gesellschaft NEB etc.) wieder rückgängig gemacht werden sollen. Ihrer marktwirtschaftlichen Prämisse getreu will sich die Regierung dabei vor allem von profitablen Unternehmen (Nordseeöl; Telefondienst) trennen.

  8. Eine „public school'-Bildung haben beispielsweise rund zwei Drittel der Richter und mehr als die Hälfte der Führungskräfte der 100 größten Unternehmen.

  9. Jeweilige Anteile der reichsten 1%, 5 %, 10%, 20 % der Bevölkerung am geschätzten persönlichen Gesamtvermögen: 23, 2 %, 46, 5 %, 62, 4 %, 81, 8%. (Quelle: Royal Commission on the Distribution of Income and Wealth, Report No. 5: Third Report on the Standing Reference, Cmnd. 6999, (HMSO) London 1977, Tabelle 28, S. 70).

  10. Vgl. Lydall/Tipping, The Distribution of Personal Wealth in Britain, in: A. B. Atkinson (ed.), Wealth, Income and Inequality, Harmondsworth 1973, S. 243, sowie: Royal Commission on the Distribution of Income and Wealth, Report No. 5, a. a. O., § 169,

  11. Neuere, verläßliche Zahlen sind gegenwärtig nicht verfügbar. Auf diesem Gebiet herrscht eine beträchtliche statistische Dunkelheit.

  12. Quelle: Alan Harrison, The Distribution of Wealth in Ten Countries, Background Paper to Report No. 7, Royal Commission on the Distribution of Income and Wealth, (HMSO) London, 1979.

  13. Vgl. Milton Friedman, From Galbraith to Economic Freedom, London 1977; William Frazer, Milton Friedman and Thatchers Monetarist Experience, in: Journal of Economic Issues, Vol. XVI, No. 2, June

  14. Galbraiths Name kann in dieser Beziehung als Kennzeichnung des Übergangs von der keynesianisehen zur monetaristischen Wirtschaftspolitik in Großbritannien stehen.

  15. Vgl. Friedman, zit. in Frazer, a. a. O„ S. 527; fern er: The Observer, 26. 9. 1982, S. 24 („Friedman on Thatcher").

  16. Vgl. Dokumentation: öffentliche Erklärung ge gen die Wirtschaftspolitik der Regierung Thatcher, in: Hefte für Politische Ökonomie, H. 3, 1981, S. 41.

  17. An diesem Regierungsprogramm sind zwei Punkte bemerkenswert: In Übereinstimmung mit Friedmans Lehre ignoriert dieser Zielkatalog die sozialen Folgekosten. Zum andern steht die Kontrolle der Geldmenge auch über das Zinsniveau in einem Gegensatz zum Monetarismus: Durch die von der britischen Notenbank offerierten hohen Zinssätze für langfristige Papiere wird die Anti-Inflationspolitik der Regierung unglaubwürdig.

  18. Nachdem im ersten Fiskaljahr der Regierung Thatcher (April 79 — März 80) die Geldzufuhr noch innerhalb der Richtlinien geblieben war, liegt sie seither ständig um mehrere Prozentpunkte über dem gesetzten Limit. Für das Fiskaljahr 1981/82 lag der Geldmengenzuwachs bei einer Zielprojektion von 6— 10 % real bei 13 % (vgl. The Economist, 15— 21 May 1982, S. 37f).

  19. Ersteres war notwendig, um die wachsende soziale Unruhe zu bekämpfen; letzteres wurde insbesondere durch den Falkland-Krieg, aber auch durch den NATO-Doppelbeschluß legitimiert

  20. The Observer, 11. 7. 1982, S. 15. Geradezu katastrophal ist die Wirkung der monetaristischen Wirtschaftspolitik auf die Industrieproduktion, die 1981 unter den Stand von 1975 fiel (Vgl. auch: The Times, 21. 7. 1982).

  21. Exportorientierte Branchen finden ihre Produkte im Ausland aufgrund des hohen Wechselkurses nahezu unverkäuflich, während der britische Inlandsmarkt von billigen Importen erobert wird.

  22. Allerdings kam diese Steuersenkung ausschließlich den Beziehern hoher Einkommen zugute und wurde anschließend durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 15%, die die niedrigen Einkommen am stärksten belastet, gleich mehrfach wieder her-eingeholt.

  23. Friedman selbst, der noch 1980 das britische Experiment mit wohlwollenden Prognosen begleitet hatte (es seien nur geringe Produktions-und Beschäftigungsrückgänge zu befürchten, dafür aber günstige Auswirkungen auf die Investitionstätigkeit), geht inzwischen merklich auf Distanz zur britischen Regierung, die er beschuldigt, die reine Lehre verwässert zu haben. Civil Service und Teile der Tory-Partei beschuldigt er, die Politik zu unterlaufen (vgl. The Observer, 26. 9. 1982).

  24. Zur Problematik dieser Divergenz zwischen einer staatsfixierten und als Ordnungsmacht verpflichteten Gewerkschaftsführung und der nach Durchsetzung kurzfristiger materieller Interessen strebenden, z. T. militanten Basis vgl. Karlheinz Dürr, Konflikt und Kooperation. Die Situation der Arbeitsbevölkerung, das System der Arbeitsbeziehungen und die Strategien der Gewerkschaftsbewegung in Großbritannien in den 1970er Jahren, Frankfurt 1981.

  25. Ebd., S. 279 ff.; vgl. auch Abschnitt IV des vorliegenden Aufsatzes.

  26. Die überwiegende Mehrheit der Verhandlungen findet auf einer freiwilligen Basis statt; im Bereich der verstaatlichten Industrien und vor allem in den sogen. Niedriglohn-Industrien, in denen für freiwillige Verhandlungen keine ausreichende organisatorische Grundlage besteht, kann der Arbeitsminister jedoch paritätisch besetzte „Lohnräte" einsetzen.

  27. Vgl. W. Brown/M. Terry, The Changing Nature of National Wage Agreements, in: Scottisch Journal of Political Economy, Vol. 25, No. 2, June 1978, S. 122.

  28. In den internationalen Streikstatistiken nimmt Großbritannien seit Jahren eine Spitzenstellung ein. Im Durchschnitt gingen zwischen 1970 und 1980 567 Arbeitstage je 1000 Arbeitnehmer pro Jahr durch Streiks verloren (Bundesrepublik: 50 Arbeitstage). Welche Bedeutung dabei betriebliche Kampfmaßnahmen haben, zeigt die Tatsache, daß seit 1960 zu keinem Zeitpunkt mehr als 7 % aller stattfindenden Streiks als „offizielle" (d. h. von der Gewerkschaftszentrale gebilligte) Kampfmaßnahmen zu bezeichnen waren.

  29. Ein extremes Beispiels für eine „Multi-Union'-Struktur bietet der Automobilkonzern Ford (U. K.): Dort muß das Management mit insgesamt 21 Gewerkschaften verhandeln, die z. T. starke strukturelle, organisatorische und ideologische Unterschiede aufweisen.

  30. In der Lohnrunde 1980/81 betrug die (bereinigte) Lohnzuwachsrate 11, 5%; in der Lohnrunde 1981/82 9, 2 % — das beste Ergebnis seit 1976/77, als die Labour-Regierung auf der Basis des Sozialpaktes mit den Gewerkschaften den Lohnzuwachs auf 8, 5 % beschränken konnte (vgl. The Guardian, 16. 9. 1982,

  31. Ausführlicher zur Struktur des britischen Gewerkschaftswesens vgl. Dürr, a. a. O., S. 131 ff.

  32. Nur in wenigen Gewerkschaften (z. B. bei der Bergarbeiter-Gewerkschaft NUM) sind Urabstimmungen vor Kampfmaßnahmen vorgesehen. Wie es um die innergewerkschaftliche Demokratie bestellt ist, mag das Beispiel der größten Einzelgewerkschaft TGWU zeigen, deren Führer sich nur ein einziges Mal einer Wahl stellen muß, während alle anderen hauptberuflichen Funktionäre ernannt werden. Dieser Modus ist durchaus kein Einzelfall, über die korporative Mitgliedschaft ganzer Trade Unions in der Labour Party werden insgesamt 6, 4 Millionen Gewerkschaftsmitglieder zugleich Parteimitglieder. Die von ihnen erhobene „politische Abgabe" bringt die Partei finanziell in totale Abhängigkeit von den Gewerkschaften; ihre Beseitigung würden den Verlust bis zu 70 % der Parteieinnahmen bedeuten (vgl. auch Abschn. IV dieser Arbeit).

  33. Vgl. The Guardian, 14. 7. 1982.

  34. Vgl. Der Spiegel, 20. 7. 1981; The Times, 21. 7. 1982; The Sunday Times, 5. 9. 1982.

  35. The Guardian, 31. 7. 1982.

  36. The Sunday Times, Iß. 5. 1982, S. 55.

  37. Die Berufsbildende Schule, H. 6, Juni 1982.

  38. New Statesman, 9. 7. 1982.

  39. Der sich daraus ergebende Zwang zum Sparen resultiert in einer Veränderung der Konsumgewohnheiten: In den letzten zehn Jahren ging beispielsweise der Butterverbrauch zugunsten der Margarine um fast 40 % zurück, der Milchverbrauch um 15 %.

  40. Diese „poverty-line" stellt die Obergrenze für die Beantragung von Sozialhilfen dar; sie liegt in der Regel bei 50 % des Durchschnittseinkommens aus unselbständiger Arbeit.

  41. Eine Untersuchung über Einstellungen der öffentlichen Meinung zur Armut bezeichnete die Briten als besonders zynisch: 43 % der Bevölkerung sind nach dieser Umfrage der Meinung, Armut komme durch fehlende Willenskraft und Faulheit zustande; in den restlichen EG-Ländern glauben dies nur 10 %. Darüber hinaus sind 27 % der Briten am Armutsproblem überhaupt nicht interessiert (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, The Reception of Poverty in Europe, berichtet in: The Financial Times, 21. 7. 1977).

  42. Einen ausgezeichneten Überblick über diese Entwicklungen bietet der Beitrag von Rainer-Olaf Schultze, Neo-Nationalismus in Großbritannien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/80.

  43. Vgl. Hans Setzer, Parteiendemokratie im britischen System, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 29, H. 1, Febr. 1982.

  44. Ebd. S. 36ff.

  45. Vgl. hierzu die Jahresberichte der Labour Party sowie des Trades Union Congress.

  46. In Zukunft der Parteiführer nicht wie bisher durch die Unterhausfraktion allein, sondern durch ein Wahlverfahren bestimmt werden, in dem 40 % der Stimmen den Gewerkschaften und je 30 % der Unterhausfraktion und den lokalen Parteigruppen zustehen.

  47. Die damit implizierte Diskrimination gegen kleine Parteien ist differenziert: Kleine Parteien mit engem Einzugsbereich (z. B. die schottischen Nationalisten) werden relativ begünstigt, kleine Parteien mit nationaler Basis (z. B. die Liberalen) benachteiligt.

  48. Vgl. J. Curtice/M. Steed, Electoral Choice and the Production of Government: The Changing Operation of the Electoral System in the United Kingdom since 1955, in: British Journal of Political Science, Vol. 12, Part 3, July 1982.

  49. So z. B. vom Labour-Parteilinken Tony Benn; vgl. Setzer, a. a. O., S. 42.

Weitere Inhalte

Karlheinz Dürr, Dr. rer. soc., geb. 1947; kaufmännische Lehre, Hochschulreife auf dem Zweiten Bildungsweg; Studium der Politischen Wissenschaft und der Anglistik in Tübingen und Konstanz; seit 1980 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen, Projektgruppe Politische Bildung. Veröffentlichungen: Konflikt und Kooperation. Die Situation der Arbeitsbevölkerung, das System der Arbeitsbeziehungen und die Strategien der Gewerkschaftsbewegung in Großbritannien in den 1970er Jahren, Frankfurt/M. 1981; Politische Bildung: Rückkehr zur Institutionenkunde?, in: Die Berufsbildende Schule, 11/1981.