Territorialkonflikte entbrennen oft dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Wer hätte es noch vor einem Jahr für wahrscheinlich gehalten, daß der größere Teil der britischen Kriegsmarine zur Wiedergewinnung einer entlegenen Kolonie abkommandiert werden würde? Einander entgegengesetzte Gebietsansprüche, gibt es fast so viele wie es Staatsgrenzen gibt. Die meisten sind nur einem kleinen Kreis von Experten und Völkerrechtlern bekannt, bis dann einer der beiden Seiten (meist aus rein innenpolitischen Gründen) die „Geduld ausgeht" und es zum bewaffneten Streit kommt. Inseln kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Im Zeitalter des klassischen Imperialismus galt es für die Großmächte so viele Inseln wie möglich zu besitzen, um die großen Seewege zu kontrollieren und die Nachschub-routen ihrer Kriegsflotten zu sichern -Es ist durchaus kein Zufall, daß eine der bedeutendsten Seeschlachten des Ersten Weltkriegs in den Gewässern der Falkland-Inseln stattfand.
Mit der Entwicklung globaler Waffensysteme, atomarer Abschreckung und Interkontinental-raketen büßten solche vom Mutterland weit entfernte Eilande an Bedeutung ein und wurden ihren Regierungen mehr oder weniger zur Last; bekannt waren sie höchstens noch Briefmarkensammlern oder nostalgischen Nachtrauerern imperialer Größe.
Ende der sechziger Jahre jedoch bahnte sich in der Praxis des Seerechts eine Wende an, die für Inseln wichtige Folgen haben sollte: Mehr und mehr Staaten verkündeten eine „Wirtschaftszone“ von 200 Seemeilen um ihre Küsten. Das bedeutete, daß ein einziger Felsen im Meer seinem Besitzerland nunmehr völlige Verfügungsgewalt über die Ressourcen eines Gebiets von über 400000 Quadratkilometern einbrachte. Fast vergessene Überseebesitzungen wurden somit wieder attraktiv, besonders natürlich, wenn man in den anliegenden Gewässern auf Erdölvorkommen hoffen durfte.
Somit ging es bei insularen Gebietskonflikten von nun an um mehr als „nationale Ehre" oder Strategie
Die beiderseitigen Gebietsansprüche und die ihnen zu Grunde liegenden Argumente sind im Falle der Falkland-Inseln sehr kompliziert. Au fond geht es darum, wer zuerst da war: Engländer oder Spanier, deren Rechte nach der Unabhängigkeit Argentiniens auf dieses Land übergegangen sind. Hier soll nicht im einzelnen auf diese Argumente und Gegenargumente eingegangen werden Zusammenfassend läßt sich aber sagen, daß, was die Frage der ersten Besetzung angeht, argentinische Ansprüche ein wenig gerechtfertigter sind. Dem stellen die Briten eine ununterbrochene Verwaltung von fast 150 Jahren gegenüber, und letzten Endes den Wunsch der Bevölkerung, die unzweideutig für den Fortbestand der engen Bindungen an England eintritt. Es mangelt der Situation also nicht an einer gewissen Ironie: Die alte Kolonialmacht Großbritannien hat Teile ihrer Kriegsmarine und einige alte Vulcan-Bomber entmottet, um für das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu Felde zu ziehen!
Wie steht es aber mit diesem Selbstbestimmungsrecht der Völker? Waren die Argentinier eindeutig Aggressoren? Für Argentinien ist das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts im Falle der Inseln nicht anwendbar. Die UN-Resolution 1514 von 1960, die dieses Prinzip formulierte, sah für Kolonien drei Möglichkeiten vor: Unabhängigkeit, Assoziierung mit einem anderen Staat oder einfach Anschluß an ein bestehendes Land. Auf die Idee, daß unter bestimmten Umständen eine Kolonie für den Fortbestand des Kolonialstatus optieren könnte, kamen die Verfasser des Beschlußes, in ihrer Mehrheit Vertreter erst kürzlich unabhängig gewordener Staaten, nicht. Nicht daß es keine Präzedenzfälle gegeben hätte: Im Jahre 1861 unterwarf sich die Dominikanische Repu-blik freiwillig spanischer Oberhoheit (die dann aber doch nur bis 1865 dauerte); und 1935 entschloß man sich auf Neufundland, wieder eine britische Kolonie zu werden, weil man sich den Dominionstatus finanziell nicht leisten konnte. Auch sind die Falkland-Inseln nicht das einzige Gebiet, das man sozusagen über die Köpfe der Bevölkerung hinweg emanzipieren will. Puerto Rico, wo die UNO oft auf Unabhängigkeit drängt, die Einwohner aber nur zu höchstens 10% dafür eintreten, Gibraltar und die spanischen Städte an der Nordküste Marokkos können in diesem Zusammenhang erwähnt werden.
Bei den Falkland-Inseln spricht Argentinien den dort lebenden sogenannten „Keipern“ es ab, ein „Volk" zu sein. Drei Argumente werden angeführt: 1. Die Einwohnerzahl (rund 1 800) ist zu klein. Dazu kann bemerkt werden, daß dies heute kein relevantes Kriterium mehr ist. Konnte vor dem Zweiten Weltkrieg der Völkerbund Kleinststaaten wie Liechtenstein die Mitgliedschaft verweigern, so hat heute das kleinste UN-Mitglied, Tuvalu, ganze 8 000 Einwohner. Der bevölkerungsärmste unabhängige Staat der Erde (sieht man einmal von solchen Kunstgebilden wie dem Heiligen Stuhl und dem Malteserorden ab) ist die Republik Nauru, zu der sich um 5000 Bürger bekennen. Unabhängigkeit ist auch der Insel Pitcairn versprochen worden, auf der 62 Nachkommen der Bounty-Meuterer leben. Im übrigen war es kein geringerer als ein sowjetischer Delegierter, der 1964 verkündete, daß das Selbstbestimmungsrecht mit Größenordnung nichts zu tun habe.
2. Bei den Keipern handelt es sich um eine künstlich angesiedelte Bevölkerung, der es an Bodenständigkeit mangelt. Könnte man dieser These im Falle Gibraltars eine gewisse Stichhaltigkeit nicht absprechen, so ist sie auf die Falkland-Inseln bezogen nicht sehr überzeugend. Erstens hatten die Inseln keine Ureinwohner und zweitens sind die Argentinier selbst verpflanzte Europäer, deren Vorfahren in ihrer Mehrheit lange nach denen der Keiper in die neue Welt kamen. Auch sollte es wohl klar sein, daß es weder juristisch noch politisch noch moralisch vertretbar ist, eine Bevölkerung wegen der „Sünden" ihrer Ahnen zu diskriminieren.
3. Das dritte Argument muß ernster genommen werden. Artikel 6 der UN-Resolution besagt, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht ein Vorwand für Separatisten werden darf, die sich von einem bestehenden Staat lossagen wollen: Die UNO garantiert die territoriale Integrität ihrer Mitglieder. Was immer man von der Wirksamkeit der Weltorganisation halten mag, fest steht, daß in den letzten vierzig Jahren keiner der separatistischen Bewegungen Erfolg beschieden worden ist. Aserbaidschan, Katanga, Biafra, Eritrea, Nagaland, Südsudan, Bougainville, Kurdistan: die Liste der Fehlschläge ist lang.
Es ist kein Zufall, daß die einzige Ausnahme, Bangladesch, ein Gebiet betrifft, das Tausende von Kilometern vom „Mutterland" entfernt lag. Die Kernfrage ist also: Was ist die kleinste territoriale Einheit, auf die man das Selbstbestimmungsrecht anwenden kann? Akut wurde die Frage 1975, als sich bei einer Volksabstimmung im damaligen französischen „Territoire dOutremer" der Komoren die Bewohner der Insel Mayotte fast einstimmig für den Verbleib bei Frankreich aussprachen, während sich die drei restlichen Inseln für die Unabhängigkeit entschieden. Frankreich respektierte das Votum der „Mahorais“, wie die Einwohner von Mayotte genannt werden, im Namen des Selbstbestimmungsrechts; die Rumpf-komoren, die Organisation für Afrikanische Einheit und die UNO hingegen pochten auf die Eingliederung Mayottes in den Komorenstaat
Die Fälle Mayotte und Bangladesch weisen darauf hin, daß physische Trennung eine günstige Ausgangslage für eine eigenständige politische Entwicklung schafft. Das trifft natürlich auch auf die Falkland-Inseln zu.
Eine zweite Folge der Insellage besteht darin, daß sie territoriale Kompromißlösungen erschwert. Während bei kontinentalen Grenzkonflikten das umstrittene Gebiet aufgeteilt werden kann, bilden Inseln in sich geschlossene Einheiten. Das bedeutet einerseits, daß sie für den jeweiligen Nationalstolz einen gewissen Symbolwert erhalten, und andererseits, daß man sie nur schwer aufteilen kann.
Hier soll nicht der Eindruck entstehen, daß England bei seinen kleinen Besitzungen konsequent das Selbstbestimmungsrecht respektiert. Es darf daran erinnert werden, daß die 800 Einwohner der Insel Diego Garcia im Chagos Archipel gegen ihren Willen nach Mauritius evakuiert wurden, um für einen amerikanischen Militärstützpunkt Platz zu machen, und daß die Inseln Rodriguez und Barbuda gegen den Willen ihrer gewählten Vertreter zur Union mit Mauritius und Antigua gezwungen wurden. Wenn englische Regierungen wirklich den Interessen der Bewohner der kleinen Außenbesitzungen den Vorrang gegeben hätten, hätten sie diese, mutatis mutandis französischem Beispiel folgend, in Überseegrafschaften des Vereinigten König-reiches verwandeln müssen, was 1978 vom Autor als englische Lösung für den Faiklandkonflikt vorgeschlagen wurde Gebiete wie die Falkland-Inseln, Gibraltar, St. Helena usw. hätten dann ihre eigenen Vertreter in Westminster, der kolonialen Situation wäre rechtlich ein Ende gesetzt und jeglicher Angriff auf diese Gebiete käme einem direkten Angriff auf England gleich.
Statt dessen scheint man in London die Absicht gehabt zu haben, das Problem durch Vernachlässigung aus der Welt zu schaffen. Obwohl die Falkland-Inseln eine negative Arbeitslosenquote hatten und es in England einige Hundert Anwärter auf Auswanderung gab, tat man wenig für die Erschließung des Archipels. Während die Falkland Islands Company jährlich Riesengewinne in die Metropole zurückführte, stagnierte die Wirtschaft der Inseln und die Bevölkerung nahm stetig ab Und als 1976 argentinische Wissenschaftler die Insel South Thule im Archipel der Süd-Sandwich-Inseln besetzten, hielt die damalige Labour-Regierung diese Handlung sogar dem Parlament vor. Übrigens scheint Spanien gegenüber den Städten Ceuta und Melilla eine ähnliche Politik zu verfolgen: Auch hier wird fast gar nicht investiert und die alteingesessene spanische Bevölkerung nimmt von Jahr zu Jahr ab
Ein letztes Argument für den Anschluß der Falkland-Inseln an Argentinien ist das der territorialen Kontiguität. Auf den Laien übt es einen gewissen Reiz aus: da die Inseln Argentinien so viel näher liegen als England, wäre es „logischer", sie würden ersterem Land zugesprochen werden. Es muß dazu gesagt werden, daß geologische Umstände keine Rechtsgrundlage schaffen, sonst müßten, um nur einige Beispiele zu nennen, die Kanalinseln an Frankreich, der Dodekanes an die Türkei, Bornholm an Schweden und die Kanarischen Inseln an Marokko kommen. Noch weniger stichhaltig ist dieses Argument, wenn man es auf die Faikland-Dependenzen bezieht. Süd-Georgien und die Süd-Sandwich-Inseln sind so weit von argentinischen Küsten entfernt, daß, ließe man Kontiguitätsansprüche gelten, keine Insel der Welt mehr vom nächsten Kontinentalland sicher sein würde. Im übrigen hat Argentinien erst 1937 auf diese Archipele Anspruch erhoben, dreißig Jahre, nachdem eine kontinuierliche englische Verwaltung auf ihnen eingerichtet wurde.
Es ist somit klar: die Faiklandkrise wurde dadurch möglich, weil sich hier verschiedene konkurrierende Rechtsansprüche gegenüber standen; eine Lösung ist deshalb nur politisch möglich. Die Inseln sind so abgelegen, daß es auf lange Sicht im eigenen Interesse der Keiper ist, mit Argentinien normale Beziehungen zu haben. Sollte man in Argentinien immer noch der Ansicht sein, daß hierfür die Bewohner der Inseln Argentinier werden müßten, muß die argentinische Staatsbürgerschaft erst einmal begehrenswerter werden, als sie es jetzt ist. Leider ist zu befürchten, daß das Gebaren der argentinischen Besatzungstruppen eine Verständigung auf lange Zeit erheblich erschwert hat.
Da es noch mehr solche Relikte aus der Kolonialära gibt, stellt sich hier die Frage, wo man noch mit ähnlichen Konflikten rechnen kann.
Hongkong und Macao haben (vorläufig jedenfalls) einen solchen wirtschaftlichen Nutzen für die Volksrepublik China, daß der jetzige Modus vivendi für die absehbare Zukunft gesichert scheint. Anders verhält es sich mit den Enklaven im westlichen Mittelmeergebiet. Schon benutzt die antikonstitutionelle Rechte Spaniens die zeitweilige Eroberung der Malvinas durch die lateinamerikanische Schwester-nation als Waffe in ihrer Kampagne gegen die demokratische Regierung, der sie Schwäche gegenüber England im Streit um Gibraltar vor-35 wirft. In Spanien herrscht unter allen politischen Gruppierungen Einigkeit über die Ansprüche auf Gibraltar. Das eigenartige ist nur, daß dasselbe Spanien sich seit mehr als anderthalb Jahrhunderten weigert, die Stadt Olivenca an Portugal zurückzugeben, wozu es sich gemäß Artikel 105 der Schlußakte des Wiener Kongresses verpflichtet hat
Sollte einmal ernsthaft am marokkanischen Thron gerüttelt werden, so ist es durchaus nicht ausgeschlossen, daß König Hassan II., um die „Einheit der Nation" wiederherzustellen, eine Invasion der spanischen Präsidien anordnen könnte. Keine spanische Regierung könnte es sich dann leisten, die Städte Ceuta und Melilla sowie die drei kleinen „Plazas Me-nores" nicht zu verteidigen.
Das Gebiet um die Walfischbucht in Namibia könnte auch leicht zum Streitobjekt werden. Völkerrechtlich gehört es seit eh und je zur südafrikanischen Kapprovinz, wurde aber bis 1977 von Südafrika als Teil Südwestafrikas verwaltet. Im Falle eines Rückzugs aus Namibia möchte Südafrika die Exklave zu behalten, während die namibische Befreiungsorganisation SWAPO das Gebiet als Teil Namibias betrachtet
Zum Schluß ist noch auf die französischen Inseln in der Straße von Mosambik hinzuweisen. Madagaskar erhebt Anspruch auf die Inseln Bassas da India, Europa, Juan da Nova und die Iles Glorieuses. Schon haben die Franzosen auf einer der Inseln eine Landebahn errichtet, und seit einiger Zeit sind dort Truppen stationiert, die die Inseln im Falle eines Angriffs schützen sollen. Alle diese Inseln sind unbewohnt und ihre Gesamtfläche beträgt weniger als 50 Quadratkilometer. Auf eine fünfte Insel, Tromelin, erhebt Mauritius Anspruch. Die Rückgewinnung dieses Eilands von Frankreich sowie Diego Garcias von England steht auf dem Regierungsprogramm des „Mouvement Militant Mauricien", einer Partei, die kürzlich auf Mauritius einen überwältigenden Wahlerfolg erzielt hat. Frankreichs Lage wird dadurch erschwert, daß diese Inseln administrativ zu keinem der Überseedepartements gehören, also Kolonien im klassischen Sinne sind Vielleicht ist die Sorge um diese Besitzungen einer der Gründe für die unzweideutige politische Unterstützung gewesen, die die französische Regierung Großbritannien im Faiklandkonflikt geleistet hat. Ähnliche Beweggründe erklären auch die Nuancen in den Reaktionen der südamerikanischen Staaten auf den Krieg. Die englisch-sprechenden Länder der Karibik standen im allgemeinen der alten Kolonialmacht bei, weil Guatemala immer noch Anspruch auf Belize erhebt und Venezuela zwei Drittel Guyanas, das Essequibo-Gebiet, als sein rechtmäßiges Territorium ansieht. Guatemala und Venezuela waren denn auch unter den Staaten, die sich am stärksten mit Argentinien solidarisierten. Chile und Kolumbien hingegen waren trotz aller „lateinischen Solidarität" viel vorsichtiger: Chile wegen des Grenzkonflikts mit Argentinien um die Inseln Picton, Nueva und Lennox; Kolumbien, weil die Sandinisten in Nicaragua einen alten Anspruch ihres Landes auf den kolumbischen San Andrs und Provi-
dencia-Archipel aktiviert haben, der innerhalb der Territorialgewässer Nicaraguas liegt, seitdem die Sandinisten diese auf 200 Seemeilen ausgedehnt haben
Die große Bewegung der Entkolonialisierung ist in ihre letzte Phase eingetreten. Mit Ausnahme Namibias gibt es keine großen Kolonien mehr. Konnten diese ohne grundsätzliche Schwierigkeiten in die Selbständigkeit entlassen werden, so ist diese Lösung im Falle der letzten Kolonien, dieses qualitativ so andersartigen über die Meere zerstreuten „Welt-reichkonfetti" absurd. Wo die Zukunft solcher Gebiete ein Streitobjekt zwischen zwei Staaten ist, könnte man die gerechtesten Lösungen vom Internationalen Gerichtshof im Haag erwarten. Der kann aber nur ein Urteil fällen, wenn sich beide Seiten des Konflikts über dieses Verfahren einig sind. Und dazu fehlt leider gar zu oft der gute Wille.