In der Bundesrepublik steckt die vergleichende Forschung der Geschichtsdidaktik und der politischen Bildung noch in den Anfängen. Das gilt ohne Einschränkung auch für die Auseinandersetzung mit der Geschichtsdidaktik in den USA. Zu dieser Thematik liegt in der Bundesrepublik bisher keine Monographie vor. Das ist um so erstaunlicher, als Kurse in amerikanischer Geschichte und in Weltgeschichte immer der zentrale Bestandteil des Social-Studies-Curriculum gewesen sind.
Ein günstigeres Bild bietet sich für den Informationsstand über die Social Studies unter Ausschluß des Geschichtsunterrichts. Es ist ein Verdienst der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn, in diesem Teilgebiet den Kontakt zwischen deutschen und amerikanischen Experten hergestellt zu haben. Drei internationale Tagungen gehen auf ihre Initiative zurück: an der University of Bloomington/Indiana (1975), in der Akademie für politische Bildung Tutzing (1977), an der University of Surrey/Guilford (1980). Die Dokumentation der amerikanischen Beiträge dieser Tagungen gehört für die Bundesrepublik zu den wichtigsten Informationsquellen über die Entwicklung der New Social Studies in den USA -Hinzu kommen Aufsätze, Projektbeschreibun-gen, Übersetzungen, die deutsche Autoren zumeist in den frühen siebziger Jahren veröffentlicht haben
Problemaufriß
Gleichwohl ist festzustellen, daß auch hier keine systematisch angelegte und kontinuierlich durchgeführte Auseinandersetzung stattfindet. Im Einzelfall sind Zerrbilder des amerikanischen Social-Studies-Curriculum vermittelt worden.
Für die praktische Arbeit der Lehrplanentwicklung in der Bundesrepublik wäre die Berücksichtigung der amerikanischen Forschungsergebnisse hilfreich gewesen und hätte Irrwege ersparen helfen. Das zeigte beispielsweise die Diskussion um die Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre und die Richtlinien Politik in Nordrhein-Westfalen, die zur Beantwortung der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Geschichte und systematischen Sozialwissenschaften die Ergebnisse der amerikanischen Social-Studies-Experimente ignorierte. Aber auch im Zusammenhang mit der Einführung der Wirtschaftsund Arbeitslehre oder der Rechtskunde für die Sekundarstufe I in einer Reihe von Bundesländern erscheint es sinnvoll und zweckmäßig, die Erfahrungen nutzbar zu machen, die das seit 1916 etablierte, fächerübergreifend konzipierte Social-Studies-Angebot in den USA erbracht hat. Bis zum Vietnamkrieg und Watergate vermittelten die USA den Eindruck einer homogenen Gesellschaft mit einem relativ geschlossenen System von Werten, Normen, Verhaltensweisen und Realitätsvorstellungen. Erst seit den sechziger Jahren müssen sie zunehmend auf innen-und außenpolitische Herausforderungen Antworten geben. Innenpolitische Erschütterungen und außenpolitische Niederlagen haben in den USA zu einer Bewußtseinsänderung geführt, die den Blick für die eigenen ungelösten sozialen Probleme ebenso geschärft hat wie für außenpolitische Fehlentscheidungen, internationale Krisen und gegenseitige Abhängigkeiten
Von diesem Wandel ist auch die amerikanische Jugend betroffen. Daher schwindet nach empirischen Erhebungen zunehmend deren Interesse am bisherigen historisch-sozialwissenschaftlichen Unterricht, der den Herausforderungen der Zeit nicht genügend Rechnung trage.
Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, daß gegenwärtig von führenden Experten, die unterschiedliche Ausgangspositionen vertreten, das vorherrschende traditionelle Konzept des Social-Studies-Curriculum kritisiert wird. Dabei suchen diese Kritiker, zu denen neben anderen der Historiker Howard Mehlinger, die Ökonomen Suzanne W. Helburn und Irving Morrissett, die Erziehungswissenschaftler John D. Haas, Robert D. Barr, James L. Barth, S. Samuel Shermis, die Politikwissenschaftler John J. Patrick und Cleo H. Cherry-holmes gehören, zugleich konstruktive Re-formvorschläge aufzuzeigen.
Im Unterschied zur kritischen Auseinandersetzung mit den Social Studies in den siebziger Jahren insbesondere von Donald W. Oliver und seinen Schülern Harold Berlak, James P. Shaver und Fred M. Newmann, besteht in den achtziger Jahren ein breiter Konsens über die Notwendigkeit einer Veränderung. Darin liegt die relativ größere Chance, dieses Mal ein tragfähiges Fundament für die politische Sozialisation zu schaffen.
In der Bundesrepublik gibt es über diesen sich anbahnenden Prozeß der Veränderung des traditionellen amerikanischen Social-Studies-Curriculum kaum Informationen und noch keine Auseinandersetzung.
Der Aufweis der zentralen Fragestellungen und der wichtigsten Versuche, neue Zugriffe und Ansätze des historischen und sozialwissenschaftlichen Unterrichts zu entwickeln, Ziele zu modifizieren und neue Inhalte einzubringen, soll an den gegenwärtigen amerikanischen Social-Studies-Diskussionsstand heranführen und die Frage beantworten helfen, wieweit diese Ergebnisse für die Auseinandersetzung in der Bundesrepublik nützlich sein können, bei der es in Hessen noch immer um eine Revision der Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre geht, in Nordrhein-Westfalen um eine Reform des Geschichtsunterrichts und in Niedersachsen um neue Rahmenrichtlinien für den Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II.
Das traditionelle Grundmuster der Social Studies und die Reformbemühungen der sechziger und siebziger Jahre
Zum Verständnis der gegenwärtig in den USA geführten Grundsatzdiskussion um das Social-Studies-Curriculum ist ein Rückgriff in die Entwicklungsgeschichte dieser Disziplin notwendig. Dabei werden unter der zentralen Fragestellung nach veränderten Zielen und Inhalten nur Wendepunkte dieses Prozesses berücksichtigt, durch die langfristig andauernde Veränderungen eingeleitet wurden.
In den USA stehen die verschiedenen Reformversuche um eine Verbesserung des historisch-sozialwissenschaftlichen Unterrichts jeweils in engem Zusammenhang mit den wiederholten Bemühungen einer Revision des (Sekundär-) Schulwesens insgesamt. Auf Veränderungen der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Verhältnisse und daraus abgeleitete Forderungen gesellschaftlicher Gruppen antwortet der Bildungssektor jeweils mit einer Curriculumreform. Getragen wurden diese Initiativen von Berufsverbänden (Historikern, Politikwissenschaftlern, Okono-men, Psychologen etc.) Schulbuchverlagen und Lehrmittelherstellern, Stiftungen, halb-staatlichen Institutionen und seit den fünfziger Jahren im Rahmen der Möglichkeiten, die das föderative Bildungssystem bietet, auch vom U. S. Department of Health, Education and Welfare Eine führende Rolle haben beim Aufbau des Social-Studies-Curriculum Lehrer-und andere Berufsverbände gespielt. Durch die Veröffentlichung und Diskussion von Berichten der Kommissionen, die in ihrem Auftrag kontinuierlich zur Aufarbeitung zentraler Fragestellungen eingesetzt wurden, konnten sie über Zielsetzung, inhaltliche und methodische Ausgestaltung entscheidend mitbestimmen. Die Einflußnahme der Verbände soll exemplarisch aufgezeigt und ihr Gewicht in der Auseinandersetzung um den Aufbau des Curriculum verdeutlicht werden. 1916 veröffentlichte die National Education Association im Rahmen ihrer Reformbemühungen um das gesamte Sekundarschulwesen den Kommissionsbericht „The Social Studies in Secondary Education".
Der Begriff Social Studies wurde hier offiziell für ein fächerübergreifend konzipiertes Unterrichtsfach eingeführt, dessen inhaltlicher Aufbau stark auf Geschichte und in geringerem Maße auf staatsbürgerliche Bildungsinhalte und Geographie ausgerichtet war Das Fach sollte sich direkt auf die Organisation und die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und auf den Menschen als Mitglied sozialer Gruppen beziehen, der Unterricht sollte stärker um konkrete Probleme gesellschaftlicher Bedeutung und vitale Schülerinteressen organisiert werden als um sozialwissenschaftliche Disziplinen. Folgerichtig wird vom Geschichtsunterricht gefordert, daß er sich am Schülerinteresse auszurichten und zum Verständnis gegenwärtiger Probleme beizutragen habe. Ziel ist die staatsbürgerliche Erziehung. Die Social Studies wollen zur sozialen Effizienz beitragen und den Schüler zu einem Bürger erziehen, der sich in seiner Gruppe, seiner Gemeinde am Gemeinschaftsleben aktiv beteiligt und in dem Bewußtsein lebt, Mitglied einer Weltgesellschaft zu sein.
Die Reformkommission schuf für das schon Ende des 19. Jahrhunderts verbindlich eingerichtete Fach auch einen organisatorischen Rahmen. So gibt es in den USA ein Grundmuster der Social Studies, das trotz des dezentralen amerikanischen Bildungswesens seit mehr als 65 Jahren in den einzelnen Bundesstaaten eine nicht aufgegebene Orientierung bietet
Das Schulfach Social Studies ist nicht identisch mit den in verschiedenen Ländern der Bundesrepublik eingeführten Fächern Sozial-kunde, Politik oder Gesellschaftslehre. Es umfaßt Inhalte, die der historischen, der geographischen und der sozialwissenschaftlichen Forschung entnommen sind. Die Organisation ist im Regelfall additiv oder kooperativ, in einzelnen Curriculumprojekten integrativ angelegt, und nur für die Primarstufe gibt es Materialien, die durchgängig integrativ konzipiert sind wie Lee F. Anderson: „Windows on Our World“ und Lawrence Senesh: „Our Working World"
Nach der Intention und dem inhaltlichen Aufbau erscheint es zweckmäßig, das Social-Studies-Curriculum mit der deutschen Umschreibung historisch-sozialwissenschaftlicher Unterrichtzu umfassen. Das traditionelle und heute in den Bundesstaaten der USA verbreitete Grundmuster der Social Studies, das für die Kindergarten-und Primarstufe in konzentrischen Kreisen vom Schüler ausgehend, über die nähere und weitere Umwelt in die internationalen und globalen Bezüge führt und in der Sekundarstufe zwischen zwei Zyklen (7—9 und 10—12) unterscheidet, hat seit 1916 eine wenig veränderte Struktur
Analysiert man die Social-Studies-Curricula K-12 der amerikanischen Bundesstaaten, so wird klar, daß die strukturellen Abweichungen von dem 1916 konzipierten Grundmuster unerheblich sind. Das zentrale Ziel des Social-Studies-Curriculum ist unverändert die Erziehung zum verantwortungsbewußten Staatsbürger Über die inhaltliche Bestimmung dieses Begriffes besteht insoweit Konsens, als er Loyalität und zugleich unabhängiges Denken und Handeln dem Staat gegenüber enthält.
Gegenwärtig ist ein Trend zu internationaler Ausweitung des Curriculum ebenso festzu-stellen wie die stärkere Berücksichtigung von Kursen in den systematischen Sozialwissenschaften. Darüber hinaus gibt es in den Schulen eine Reihe neuer Angebote wie Werterziehung, Erziehung für die Zukunft, Umwelterziehung. Sie gewinnen ebenso an Raum, wie die jüngeren Kurse in Verbrauchererziehung, berufsvorbereitende Erziehung und Rechtskunde.
Die großen inhaltlichen Unterschiede in den Social-Studies-Curricula der amerikanischen Bundesstaaten könnten ein Zeichen der Stärke einer Disziplin sein, die innerhalb eines fundierten Orientierungsrahmens aufgrund konzeptionell abgesicherter Spielräume der einzelnen Schule Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet. Das setzt eine sehr qualifizierte Lehrerschaft voraus, die in der Lage ist, das Social-, Studies-Curriculum den Entwicklungen in den Bezugsdisziplinen und den sich verändernden Bedürfnissen der Schüler anzupassen, zugleich aber auch die sich wandelnden Forderungen der Gesellschaft kritisch zu berücksichtigen. Ob sich gegenwärtig ein Prozeß der Reform vollzieht oder das Angebot der achtziger Jahre lediglich eine unkritische Übernahme der 65jährigen Tradition ist, soll im folgenden überprüft werden.
Die Auseinandersetzung um eine Reform des Social-Studies-Curriculum ist so alt wie dessen Etablierung im Fächerkanon der Schule. In den seit 1931 veröffentlichten Jahrbüchern des NCSS für Social-Studies-Lehrer werden Schwächen des Curriculum kritisiert, die zur Forderung nach Veränderungen Anlaß geben, sei es der Mangel an Realitätsnähe, die fehlende Systematik in der Organisation oder die Vorherrschaft der Geschichte in der Gesamt-konzeption Wir könnten uns hier in die achtziger Jahre versetzt sehen und den Eindruck gewinnen, es sei permanent kritisiert, aber nicht reformiert worden. Daß aber eine solche Vermutung trügt, verdeutlicht die Auseinandersetzung um die Neugestaltung der Social Studies von Mitte der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre: Es ist die Phase der New Social Studies (NSS), mit der nach dem Selbstverständnis der beteiligten amerikanischen Experten eine curriculare Revolution für den historisch-sozialwissenschaftlichen Unterricht beginnen sollte Die in der Bundesrepublik bekannten Curricu-lumprojekte aus den USA wurden in dieser Zeit entwickelt. Ihre Rezeption ist, soweit sie von Vertretern der politischen Bildung aus ideologisch verengtem Blickwinkel verbreitet wurde, verkürzt vermittelt worden. Die starke Betonung der Bezugsdisziplinen brachte die amerikanischen Curriculum-Konstrukteure leicht in den Verdacht, die Gesellschaftskritik zugunsten systemstabilisierender Orientierung zu vernachlässigen. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß die NSS eine Reihe von Problemen ungelöst ließen. Aber darauf hat eine inneramerikanische Kritik schon früh aufmerksam gemacht. Wegen der weitreichenden Bedeutung, die diese Bewegung für die qualitative Verbesserung und quantitative Ausweitung der Social-Studies-Forschung hatte, sollen die wichtigsten Ergebnisse analysiert und ihr Stellenwert für die notwendig gewordene Reform der Grundlagen erörtert werden.
Der Geschichtsdidaktiker Edwin Fenton, neben dem Wirtschaftsdidaktiker Lawrence Se-nesh einer der Pioniere der neuen Entwicklung, hat die Ziele der NSS, die der Lernende erreichen soll, auf eine Kurzformel gebracht: — die Entwicklung bestimmter Einstellungen und Wertehaltungen;
— die Handhabung von (Forschungs-) Methoden;
— die Aneignung von Wissen über ausgewählte Inhalte
Hinzu kam ein lernzielorientierter Aufbau des Social-Studies-Curriculum, so daß die Lernerfolge gemessen werden konnten. Eine vom NCSS und Social-Studies-Experten getragene Theoriediskussion hatte das Ziel, das Social-Studies-Curriculum konzeptionell neu zu fundieren Die Auseinandersetzung mit der lerntheoretischen Position Jerome S. Bruners wurde durch Expertenkonferenzen gefördert 1963 veröffentlichte die Zeitschrift So-cial Education ein Themenheft mit dem Titel „Revising the Social Studies"
Ein neuer Schwerpunkt liegt in dem Versuch, die Lernenden an Methoden des Forschens heranzuführen und sie anzuleiten, selbständig sozialwissenschaftliche Inhalte entdecken zu können anstatt Faktenlisten aus Lehrbüchern lediglich memorieren zu müssen. Die Wissensexplosion macht eine Entscheidung zugunsten des Methodenlernens notwendig. In diesem Zusammenhang wird auch versucht, die Struktur der Bezugsdisziplinen zu identifizieren und zu vermitteln. Da diese Ziele mit verschiedenen Inhalten erreicht werden können, wird die Frage nach den Bedürfnissen und Interessen der Schüler, nach dem Gegenwartsbezug, den Einsatzmöglichkeiten der Methoden sozialwissenschaftlicher Disziplinen, nach dem Fundament an Kenntnissen eingebracht, die notwendig sind, um Zeitproblemen begegnen zu können.
Die Unterrichtsmethoden der NSS-Projekte reichen vom Vortrag bis zum entdeckenden Lernen. Ihr sinnvoller Einsatz setzt Kenntnisse über den Lernprozeß bei den Schülern voraus. Die Zielsetzungen und Methoden bzw. Unterrichtsstrategien bedingen eine Vielfalt von Materialien und die Ausstattung mit audio-visuellen Medien.
„Struktur" und „forschendes Lernen" wurden zu Schlüsselbegriffen vieler NSS-Projekte.
Schon vor der Mitte der siebziger Jahre standen die noch laufenden NSS-Projekte nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses der Adressatengruppe. Sie waren von der politischen und sozialen Entwicklung überrollt worden. Die Themen, die nur die Social-Stu-dies-Lehrer und weitere Schülerkreise primär interessierten und zur Arbeit motivierten, werden in der Zeitschrift „Social Education" behandelt: Rassismus und die Beziehungen zwischen den Rassen, Geschichte der Farbigen in den USA, ethnischer und kultureller Pluralismus, Recht und Ordnung, Rechtskunde, Le-bensstil der Jugend und Drogenmißbrauch, Krieg und Frieden, Vietnam, Umweltverschmutzung, Überbevölkerung, Sexismus und Befreiung der Frau, Internationale Erziehung und Erziehung für die Zukunft, Probleme der Städte, Gewaltanwendung, Werteerziehung, berufsorientierte Ausbildung.
Seit der Mitte der sechziger Jahre haben wir in den USA drei konzeptionell unterschiedliche Typen von Social-Studies-Curricula:
— das traditionelle Social-Studies-Curricu-lum von 1916 mit einigen Veränderungen, das im Schulalltag vorherrscht;
— das disziplinorientierte NSS-Curriculum (structure approach) (Fenton, Morrissett, Se-nesh);
— das problemorientierte NSS-Curriculum (problem approach) (Cox, Gordon, Hunt, Hullfish, Massialas, Metcalf, Smith);
(als getrennte Gruppe dieser zweiten Reform-orientierung ist die Harvard Schule: Donald Oliver, Harold Berlak, Fred Newmann, James Shaver zu nennen)
Darüber hinaus gibt es ein Potpourri von Quasi-Reformen Die hervorragende Leistung der disziplin-orientierten NSS war die Klärung des strengen Zusammenhangs von Unterrichtsfach und Bezugsdisziplin. Curricularer Fortschritt kann nur auf dieser Grundlage erreicht werden. Auf der anderen Seite lag in dieser Orientierung zugleich auch die Schwäche der Bewegung, weil sie sich einseitig an der Disziplin ausgerichtet hatte und demgegenüber andere Grundlagen curricularer Bedürfnisse der Schüler nicht in dem gleichen Maße einbezog. Immerhin ist auch dieser Anspruch von ihnen selbst gestellt worden. Die Ausrichtung auf nur eine Bezugsdisziplin, die Überbetonung der Rationalität, die Vernachlässigung der Wertorientierung und der individuellen Unterschiede sowohl bei Schülern als auch bei Lehrern, die Ignoranz gegenüber vorausgehenden progressiven pädagogischen Bewegungen, die „kinderorientiert" bzw. „gesellschaftsorientiert" gearbeitet hatten, sowie die Nichtbeachtung der Tatsache, daß Social-Studies-Curriculum-Reformen eingebunden sind in die politische Kultur des Staates, haben zusammengenommen die Erfolgschäncen der Bewegung reduziert.
Die Ergebnisse der empirischen Erhebung verdeutlichen, daß die Materialien der NSS von den Lehrern nicht in der Größenordnung angenommen wurden, wie es die zur Reform angetretenen Curriculum-Planer erwartet hatten. Trotzdem hat die NSS-Bewegung die Forschung stimuliert, der Disziplin an den Universitäten höheren Respekt verschafft und das Unterrichtsfach im Fächerkanon der Schule gestärkt.
Die Grundlagendiskussion der achtziger Jahre
Die kritische Auseinandersetzung mit dem Social-Studies-Curriculum wird in den USA für den sozialwissenschaftlichen Unterricht seit der Veröffentlichung des Buches „Defining the Social Studies" (1977) und für den historischen Unterricht seit dem Erscheinen der von der Organization of American Historians (OHA) erarbeiteten Bestandsaufnahme „The Status of History in Schools" (1975) intensiv und grundsätzlich in der Fachliteratur geführt. Anlaß für die erneute, breit angelegte __________ » Diskussion waren die Ergebnisse empirischer Feldforschung, in denen die Stellung der Social Studies im Fächerkanon der Schule und die Trendaussagen einer im Auftrag der National Science Foundation erstellten Studie zum Status der naturwissenschaftlichen, mathematischen, politischen Erziehung erfaßt und analysiert wurden Hinzu kamen die Schlußfolgerungen einer Literaturstudie über die Forschungsarbeit der Social Studies für die Jahre 1955— 1975 In Historikerkreisen war der Rückgang in den Einschreibungen Anlaß, sich stärker bei der Geschichtsdidaktik zu engagieren. Die vorherrschende Stimmung läßt sich in einer Reihe von Veröffentlichungen schon an der Sprache ablesen. Es ist die Rede von Identitätskrise, Konfusion, Widersprüchlichkeit, Inkohärenz, Vieldeutigkeit, Anarchie des Social-Studies-Curriculum Der Grund für das starke Engagement in dieser Auseinandersetzung dürfte in der Erkenntnis liegen, daß die NSS-Reformbewegung in der Schule wenig geändert hat. Nur 10—20 % der Lehrer setzen die neu entwickelten Unterrichtsmaterialien ein. Das konventionelle, gebundene Schulbuch beherrscht wieder den Markt und die Schule.
Die Inhalte des in der Schulpraxis verwirklichten Social-Studies-Curriculum sind überwiegend Geschichte, USA-Regierungssystem, Geographie. Es gibt nur wenig interdisziplinären Unterricht. Ein grundlegender Methoden-wechsel ist nicht eingetreten, zumal sich das Geschichtsbuch einengend auswirkt. Von den Schülern wird weiterhin stärker rezeptives Lernen als kreatives Mitarbeiten erwartet.
Die Motivation der Schüler ist gering; sie finden durchgängig den Social-Studies-Unter-richt uninteressant. Affektive Ziele werden weniger angestrebt als kognititve. Inhalte und Unterrichtsorganisation werden im Regelfall mit der Intention eingesetzt, Schüler „autoritätsgläubig" und in dem Bewußtsein zu erziehen, „gewichtige Wahrheiten" über die amerikanische Vergangenheit und das Regierungssystem zu lernen Nach den vorliegenden empirischen Erhebungen und Literaturauswertungen ist festzustellen, daß historisch-sozialwissenschaftlicher Unterricht durch das gebundene Schulbuch zu 80 — 90 % traditionell ausgerichtet ist.
Seit der Mitte der siebziger Jahre gibt es erneut Reformbemühungen. Zunehmend mehr Kurse werden in global education, future education, career education, multiethnic studies, law related education, environmental education angeboten.
Damit werden im Rahmen des Social-Studies-Curriculum gegenwärtige Herausforderungen an die amerikanische Gesellschaft aufgegriffen. Das gilt auch für den Geschichtsunterricht. Die enge Zusammenarbeit zwischen empirisch arbeitenden Historikern, Geschichtstheoretikern und Geschichtsdidaktikern, die in den USA eine gute Tradition hat, sichert ab, daß die Ergebnisse der Geschichtsforschung kurzfristig in den Vermittlungsprozeß einbezogen werden. So sind die gegenwärtigen Großprojekte zum Geschichtsunterricht sozialgeschichtlich und regionalgeschichtlich orientiert
Die historische Bildung arbeitet insbesondere in sozialgeschichtlichen Kursen Probleme der Gesellschaft als Fragestellungen auf: Geschichte der Frauen, Geschichte der schwarzen Bevölkerung, Geschichte der Arbeit und der Freizeit. Der Einsatz der Oral-Hi-story-Methode ermöglicht Zugänge zur Geschichte von bisher in der Forschung vernachlässigten Bevölkerungsschichten und zeigt neue Wege zur Identitätsfindung auf.
Die radikale Frage nach einer grundsätzlichen Revision und umfassend neuen Konstruktion des Social-Studies-Curriculum ist von führenden Vertretern der Disziplin aufgeworfen und ansatzweise erörtert worden. Zu ihnen gehören insbesondere Howard Mehlinger, Irvin Morrissett, Suzanne Helburn, Cleo H. Cherry-holmes, J. Hass, James L. Barth, S. Samuel 'Shermis — Social-Studies-Experten unterschiedlicher Generationen und wissenschaftstheoretischer Positionen. Es geht darum, die Diskrepanz zwischen dem in der Schule angebotenen Social-Studies-Curriculum und der Lebenswelt der heutigen Schülergeneration aufzuheben. Dem Wandel in den sozialen, politischen, ökonomischen Verhältnissen müßte eine grundlegende Änderung des inhaltlichen und organisatorischen Aufbaus folgen. Daher genügt es nach ihrer Einschätzung nicht mehr, an Symptomen zu arbeiten und lediglich Curriculumelemente auszutauschen. Zwar liegt gegenwärtig noch keine Gesamtkonzeption als Alternative zum traditionellen Curriculum vor, aber die von ihnen in die Diskussion eingebrachten Vorschläge sind durchgängig bedenkenswert. Sie setzen bisher überwiegend auf der theoretischen Ebene an. Nur Irving Morrissett hat mit einem Team des SSEC einen Vorschlag entwickelt, der konkrete Hinweise für die Entwicklung eines Schulcurriculum gibt.
Von einer gesellschaftskritischen Position her beurteilen Cleo H. Cherryholmes und Suzanne W. Helburn die Social-Studies-Diskussion Cherryholmes gehört zu dem kleinen Kreis von amerikanischen Social-Studies-Ex-perten, die die kritische Theorie (insbesondere Habermas) aufgearbeitet haben. In den USA spielt diese Position eine untergeordnete Rolle. Gleichwohl könnte ihre radikale Fragestellung nach dem Gesamtzusammenhang von politischer Sozialisation und Schule, nach den Ursachen für die Dominanz des traditionellen Social-Studies-Curriculum und ihre Forderung nach einer Grundlagendiskussion der Curriculumreform unter Einbeziehung gesellschaftlicher Interessenlagen in der jetzt beginnenden Auseinandersetzung hilfreich seih. Beide stimmen darin überein, daß Erziehung zum mündigen Staatsbürger nicht bloße Anpassung an das bestehende Gesellschaftssystem zum Ziel haben darf, sondern zugleich die Befähigung zu kritischer Auseinandersetzung vermitteln muß. Für Cherryholmes beschäftigt sich die Social-Studies-Diskussion zu ausschließlich mit Fragen der praktischen Vermittlung, während beispielsweise Probleme der Inhaltsauswahl zu kurz kommen.
Gesellschaftskritik werde im Social-Studies-Curriculum durchgängig nicht geleistet.
Auch Suzanne Helburn kommt zu dem Schluß, daß der Unterricht in den Social Studies zur Festigung des politischen Status quo und nicht zu gesellschaftlicher Reform führe. Die zentrale Zielsetzung der Erziehung zum mündigen Bürger stehe im Gegensatz zu der in den Schulen praktizierten Sozialisation, die bloße Anpassung an das System suche. Die dringend notwendige Veränderung wird nach Suzanne Helburn schon aus folgenden Gründen nicht kurzfristig erreicht werden:
— Die Verleger sind an großen Marktanteilen interessiert und veröffentlichen daher Schulbücher mit einer Inhaltsauswahl, die des nationalen Konsensus sicher sein kann. Das konventionelle Schulbuch bestimmt weitgehend die Schulpraxis.
— Weite Kreise der Bevölkerung halten sich für zuständig, bei Entscheidungen über das Social-Studies-Curriculum mitzureden. Da sehr viele divergierende Interessengruppen Einfluß zu nehmen versuchen, heben sich diese Kräfte gegenseitig auf, ohne daß Veränderungen initiiert werden können.
— Die Uneinigkeit unter den amerikanischen Social-Studies-Experten über die Grundlagen-fragen der Disziplin führt zu ineffektiven akademischen Disputen, die außerhalb der Zunft als Standortlosigkeit gewertet werden. Andererseits werden zentrale Probleme wie die Frage nach der Inhaltsauwahl nicht diskutiert und weiterhin traditionelle Themen unterrichtet, die die amerikanische Wirklichkeit idealisieren und mystifizieren.
Mit dieser Kritik stimmen in wichtigen Punkten das Ergebnis einer sorgfältigen, von H. Patrick und Sherryl Hawke erarbeiteten Sekun-däranlayse zu Materialien des Social-Studies-Curriculum und die Quintessenz einer von der Journalistin Francis Fitzgerald zuerst als Artikelserie im New Yorker, dann als Buch veröffentlichten Studie über amerikanische Geschichtsbücher überein
Danach bildet das gebundene Schulbuch die Arbeitsgrundlage für den größten Teil des Social-Studies-Unterricht aller Jahrgangsstufen. Seine Qualität entscheidet demnach wesent28) lieh über die Lehr-und Lernerfolge mit. Die Verleger veröffentlichen Schulbücher im Rahmen der Eckdaten des bundesweit anerkannten Social-Studies-Curriculum. Dadurch kommt es zu einem wechselseitigen Stabilisierungseffekt. Innovationen sind nur schwer und allmählich realisierbar. Primäres Ziel der Schulbücher für Primär-wie Sekundarstufe ist die Vermittlung von Faktenwissen, nicht die Befähigung zu analytischem oder kritischem Denken. Das läßt sich beispielsweise bei der Darstellung von politischen Persönlichkeiten, bei der Beurteilung politischer Entscheidungen, der Bewertung von Demokratie und amerikanischer Nation verdeutlichen.
Politische Persönlichkeiten werden durchgängig sehr positiv dargestellt und als wohlwollend, bedeutsam, leutselig charakterisiert. Ein ausgewogeneres Bild wird erst in Schulbüchern für ältere Jahrgänge gezeichnet Kritische Texte finden allerdings eher in Schulen für Kinder der Mittelklasse als für Arbeiter-kinder Eingang. Durchgängig bleiben politische, wirtschaftliche, soziale Kontroversen und Problemfelder ausgespart, Klassenunterschiede, Konflikte zwischen Individuen und Gruppen werden im Regelfall nicht dargestellt. Statt dessen zeigen die Schulbücher Harmonie, soziale Stabilität und gesellschaftlichen Konsens auf. Das konventionelle Schulbuch vermittelt Informationen über nichtkon-troverse Themen. Dadurch wird es bei breiten Abnehmerkreisen akzeptabel und verkauf-bar.
H. Mehlinger sieht zwei Problemfelder, deren Aufarbeitung für ihn Priorität haben die inhaltliche und organisatorische Struktur des Social-Studies-Curriculum sowie die Verantwortung des Social-Studies-Curriculum für die Vermittlung der amerikanischen Werte an die Schüler. Dabei ist dem Wandel, der sich in der amerikanischen Gesellschaft, in der politischen Kultur, in den eingesetzten Technologien vollzogen hat, ebenso Rechnung zu tragen wie den veränderten internationalen Aufgaben, die die USA für die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts übernommen haben. In engem Zusammenhang damit steht die Frage nach der Wertorientierung der amerikanischen Gesellschaft. Das Social-Studies-Curri-culum muß dieses zentrale Problem aufgreifen und Antworten zu geben versuchen, sonst läuft es Gefahr, seine Legitimation zu verlieren. Da das bis heute vorherrschende traditionelle Social-Studies-Curriculum weitgehend Ergebnis von Kommissionsarbeit ist, die auf Bundesebene eingesetzt war, sieht H. Mehlinger eine Chance für eine so tiefgreifende und weitreichende Veränderung, wie er sie skizziert, nur in der erneuten Berufung einer Kommission, die wiederum auf Bundesebene eingesetzt wird und in der die divergierenden Interessengruppen, Verbände und Organisationen entsprechend der pluralistisch gegliederten amerikanischen Gesellschaft vertreten sind. Das sei ein Weg, die Social Studies vor dem endgültigen Niedergang zu bewahren. Dieser auf den common sense ausgerichtete Vorschlag kann ein hohes Maß an Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. Ob er realisierbar ist, bleibt offen. Inzwischen hat allerdings das NCSS zu Hearings über dieses Thema aufgerufen und damit möglicherweise einen Anfang in der geforderten Richtung gesetzt
Im Rahmen des Forschungsprojektes SPAN (= Social Studies Priorities and Needs) entwickelten Irving Morrissett und seine Mitarbeiter Sherryl Hawke und Douglas P. Superka auf der Grundlage einer breit angelegten Analyse der gegenwärtigen Situation der Social Studies einen Vorschlag zur Revision des Curriculum. Mit einer Aufsatzserie in der Zeitschrift Social Education (1980) und Vorträgen auf den Annual Meetings des NCSS (1980 und 1981) eröffneten sie die Diskussion über ihre Konzeption Das Ergebnis ihrer Bestandsaufnahme läßt sich auf folgende Kurzformel bringen: Das sensible Interdependenzgefüge zwischen Schülern, Lehrern, Schule, Social-Studies-Cur-riculum und Öffentlichkeit ist gestört.
Dafür werden vielfältige Gründe aufgeführt: — Gegenüber dem unzureichenden traditionellen Social-Studies-Curriculum gibt es keine durchgreifende erfolgreiche Alternative;
— unter den Social-Studies-Lehrern herrscht Verwirrung hinsichtlich der Ziele und Inhalte des Faches, sodaß sich weder Identität mit der Disziplin noch ein Zusammenhalt untereinander herausbildet;
— die Lehrer können sich infolge organisatorischer etc. Aufgabenstellungen nicht genug auf Lehren und Lernen konzentrieren und vermitteln zu wenig Wissen, Fertigkeiten, Einstellungen; — die Schüler sind an den Social Studies zunehmend geringer interessiert;
— die Öffentlichkeit ist nicht über die Bedeutsamkeit der Social Studies informiert. Unter Berücksichtigung der Störanfälligkeit dieses Geflechtes wechselseitiger Abhängigkeiten entscheiden sich Morrissett und sein Team für das Rollenkonzept als Organisator des Social-Studies-Curriculum. Das soziale Leben der meisten Menschen lasse sich folgenden sieben Hauptrollen zuordnen: Bürger, arbeitender Mensch, Verbraucher, Mitglied einer Familie, Freund, Mitglied verschiedener sozialer Gruppen, Ich-selbst. Daher wird dieses Konzept zur Grundlage des Curriculum gemacht. Dabei geht es nicht darum, die bisherigen Unterrichtsinhalte aufzuheben, sondern von einem neu eingeführten Brennpunkt aus Inhalte zu selektieren und zu organisieren. So lassen sich beispielsweise unter veränderten Fragestellungen multicultural studies, womens studies, future studies, global issues, legaleducation einbeziehen. Rollenübernahme soll sich nicht durch bloße Anpassungsleistungen, sondern in kritischer Auseinandersetzung vollziehen.
Das Ergebnis ihrer Analyse des Status der Social Studies bestätigt frühere empirische Untersuchungen Der von Morrissett und seinem Team gewählte konzeptionelle Zugriff ist pragmatisch. Es werden konkrete Hilfen für die Veränderung des bestehenden Curriculum gegeben, aber auf eine theoretisch fundierte Begründung der Entscheidung für das Konzept der sozialen Rolle verzichtet. Darin liegt die Schwäche des Projektansatzes. Es hätte der Argumentation bedurft, die Tragfähigkeit des Rollenbegriffs als Organisator und Auswahlinstrument zu erweisen.
Statt dessen bleibt offen, ob er andere Auswahlkriterien ablöst oder neben diesen eingesetzt wird. Während er für den Mikro-(indivi-duellen und persönlichen) Bereich nützlich sein könnte, stellt sich die Frage nach der Einsetzbarkeit für die Makro-Ebene und damit zugleich nach der Verwendbarkeit für die Erschließung und Vermittlung der Wirklichkeit der Welt.
Perspektiven
Der zwischen der Mitte der sechziger und siebziger Jahre unternommene Versuch der NSS-Experten, das Social-Studies-Curriculum in kurzer Zeit umfassend zu verändern, konnte nicht gelingen, weil eine Reihe von Rahmenbedingungen ungenügend berücksichtigt worden war:
— der Bruch mit dem traditionellen Curriculum war zu scharf gezogen und zu kurzfristig angesetzt; — der Ausbildungsstand der Lehrer entsprach nicht durchgängig dem hohen Anspruchsniveau, das die Arbeit mit den neuen Materialien voraussetzte. So erreichten die Projekte nicht den Schulalltag;
— die Schulkultur einschließlich der Mitbestimmungsverfahren bei der Einführung neuer Unterrichtsmaterialien waren nicht in die Kalkulation eingegangen; — die Einflußnahme der großen Verbände und die divergierenden und sich bisweilen gegenseitig aufhebenden Interessenlagen waren nicht ausreichend berücksichtigt worden;
— die Diskrepanz zwischen den seit mehr als 60 Jahren in den Schulen eingeführten Materialien und Schulbuchtexten, die unter Soziali-sation bloßes Einjustieren der Jugend in die bestehende Gesellschaft verstehen, und dem neuen Ansatz, zu dem auch die kritische Auseinandersetzung mit dem bestehenden System gehört, war nicht kurzfristig aufzuheben.
Demgegenüber war die Kürzung der öffentlichen Haushalte und die Verengung des Marktes gerade zu dem Zeitpunkt, als die großen NSS-Projekte abgeschlossen wurden, nur ein erschwerender Faktor, der aber nicht etwa den Mißerfolg der gesamten Bemühungen begründete. Gelernt werden mußte auch, daß in einem so dezentralen Bildungssystem, wie es die USA haben, ein fundamentaler Wandel des Social-Studies-Curriculum nicht rasch vollzogen werden kann, sondern eines langsamen Vermittlungsprozesses bedarf. Immerhin gibt es inzwischen auch empirische Untersuchungen, die den Nachweis erbringen, daß in einem Teil der Schulbücher Verbesserungen vorgenommen wurden, die auf die Diskussion der NSS zurückzuführen sind
Die seit dem Scheitern dieses Versuchs einer Curriculumrevision unternommenen Anstrengungen, eine Reform des Social-Studies-Curriculum durchzuführen, sind durch behutsames Vorgehen bestimmt. Es wurden bisher keine Gesamtentwürfe, sondern Elemente eines Curriculum vorgelegt. Wenigstens drei Tendenzen lassen sich unterscheiden: 1. Pragmatische Reformansätze, die das Rollenkonzept zu ihrer Grundlage nehmen Die breite Diskussion aktueller politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, aber auch anthropologischer Probleme und deren Aufarbeitung für den Unterricht in den Fachzeitschriften Social Education, Social Studies , The History Teacher, Phi delta Kappan und zahlreichen Monographien hat das Ziel, den Staatsbürger auf bestimmte Anforderungen seiner Gesellschaft vorzubereiten. Erziehen zum Leben in einer multiethnischen Gesellschaft, zum Weltbürger, zum Bürger mit staatsbürgerlicher und rechtskundlicher Kompetenz hat — wenn auch nur implizit — Einübung in ein bestimmtes Rollenverhalten zum Ziel.
Irving Morrissett und sein SSEC-Team scheinen mit ihrem Projekt SPAN den Versuch unternommen zu haben, diesen Strom unterschiedlichster inhaltlicher Ausrichtungen durch die Einbringung des Konzeptes der sozialen Rolle zu fundieren. Dieser pragmatische Ansatz kann allerdings nicht ausreichen, die divergierenden Positionen zu synthetisieren. So bleibt der Eindruck von Curriculumfragmenten bestehen, die unverbunden nebeneinander stehen und ein Potpourri bilden, wie John D. Haas es formuliert. 2. Reformversuche, die problemorientiert arbeiten Ein zweiter Reformversuch wird von einer Gruppe von Social-Studies-Experten unternommen, die sich anläßlich des Jubiläumsjahres des traditionellen Curriculum (1916— 1981) mit der Frage der Ziele der Social Studies auseinandersetzen. Sie übernehmen Ergebnisse der NSS-Diskussion und wollen sie gelöst von großen Curriculumprojekten in den Unterricht transferiert sehen. Die enge Verzahnung des Unterrichtsfaches mit der Bezugsdisziplin ist für sie ebenso selbstverständlich wie die Anwendung der Methode des forschenden Lernens und die Orientierung des Curriculum an der Disziplin, den Bedürfnissen der Lernenden und den Bewertungen der Gesellschaft. Abgehandelt werden u. a. Einzelthemen wie Partizipation, Erziehung zum Weltbürger, Werteerziehung, multikulturelle Erziehung und die Social Studies. Die Bedeutung dieser Reformversuche liegt darin, daß an bisher erreichten Standards des Social-Studies-Curriculum festgehalten wird. Die Übertragung der Ergebnisse der NSS-Diskussion in die Schulpraxis verbreitert das Fundament, das für eine erfolgreiche Reform bereitet werden muß. 3. Reformen in der historischen Vermittlung, die disziplinorientiert ansetzen, ohne die Bedürfnisse der Lernenden und die Erwartungen der Gesellschaft zu vernachlässigen
Schließlich ist als dritter Versuch, eine Veränderung im Social-Studies-Curriculum vorzunehmen, das Bemühen der Geschichtsdidaktiker zu nennen. Ihre deutliche Orientierung an der Disziplin schafft die Voraussetzungen, kurzfristig neue Forschungsergebnisse und Trends in die Curriculumkonstruktion einzubeziehen. Sie bietet zugleich die Voraussetzung für eine wirksame Kooperation mit den systematischen Sozialwissenschaften. Projekte in der Regional-und Sozialgeschichte, in denen Historiker engagiert arbeiten, versprechen ebenso erfolgreich zu verlaufen wie die Einbeziehung der Ergebnisse jüngerer Forschungsrichtungen in die Curriculumplanung. Die Entwicklung in der Geschichtsdidaktik ist deshalb von besonderem Wert, weil dieses Fach weiterhin den Kern des Curriculum ausmacht und eine Veränderung des gesamten Social-Studies-Curriculum gerade dieses Zentrum einbeziehen muß. Darüber hinaus könnten die in der Geschichtsdidaktik erreichten Standards als Maßstab genommen werden.
Die drei hier beschriebenen Reformversuche sind bisher erste Ansätze. Es fehlt ihnen die theoretische Fundierung eines Gesamtkonzeptes, das zu einer grundsätzlichen Veränderung des in vielen Teilen antiquierten, aber immer noch mehrheitlich anerkannten und realisierten traditionellen Social-Studies-Curriculum führen könnte.
Die Forderung nach basic change wird von vielen Experten vorgetragen. Die vorbereitende Arbeit ist geleistet. Es liegen ausreichende Bestandsaufnahmen und Analysen vor, die den Status und die Situation des Social-Studies-Curriculum beschreiben. Die drei genannten Reformversuche verfügen aber auch über eine Reihe gemeinsam getragener Zielvorstellungen. Aber die Erwartung, ein von breitem Konsensus getragenes Social-Studies-Curriculum konstruieren zu können, das nach Inhalt und Aufbau eine Alternative zum bisher vorherrschenden traditionellen Muster bietet und so die Chance erhöht, dieses abzulösen, kann nur erfüllt werden, wenn es gelingt, auch eine wissenschaftsund gesellschaftstheoretische Fundierung vorzulegen.
Für die Arbeit in der historisch-sozialwissenschaftlichen Bildung der Bundesrepublik ist die Auseinandersetzung um Traditionserhalt und Neuorientierung im amerikanischen Social-Studies-Curriculum ein Modell, das verdeutlicht, in welchen Langzeiträumen und mit welchen Grenzen grundlegende Curriculum-reform machbar ist.
Fragen wir nach den Möglichkeiten, aus der amerikanischen Social-Studies-Diskussion für die Arbeit in der Bundesrepublik zu lernen, so bietet es sich an, den hessischen Versuch in die Überlegungen einzubeziehen, der die Fächer Geschichte, Sozialkunde, Erdkunde im Lernbereich Gesellschaftslehre zusammenfassen will.
Der Ansatz der Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre (HRRG) von 1972/73 verzerrte beispielsweise die Geschichte, da er die Möglichkeiten historischer Fragestellung und Methoden in der Analyse und bei der Vermittlung vernachlässigte, indem er die Komplexität historischer Phänomene, Strukturen, Prozesse in Elemente auflöste und es dem Zufall überließ, ob die Zusammenfügung zustandekam. Da keine Auseinandersetzung um die theoretischen Grundlagen des Integrationsansatzes geführt wurde, konnte auch die notwendige Zielsetzung, Schülern „in Ansätzen Methoden, Fragen und Ergebnisse gegenwärtiger Theoriebildung zugänglich zu machen", nicht gelingen. Die Berücksichtigung der historischen Dimension wurde durch den Arbeitsschwerpunkt Geschichte nicht geleistet.
Innovativ hat sich die Auseinandersetzung um die HRRG insofern ausgewirkt, als nun von einer Reihe interessierter Didaktiker die Möglichkeiten der theoretischen Fundierung eines integrierten Konzeptes diskutiert wurden. Forndran u. a., Schörken, Schröder haben weiterführende Arbeiten veröffentlicht Erst in dieser Auseinandersetzung wurde die amerikanische Diskussion unter der spezifischen Fragestellung nach Grenzen und Möglichkeiten der Integration oder der Kooperation sachlich einbezogen.
Der im Mai 1980 in Hessen vorgelegte Entwurf HRRG war von Mitarbeitern des Hessischen Instituts für Bildungsplanung (HIBS) erstellt und von Experten der zusammengeführten Fächer beraten worden. Die konstruktive Kritik an den HRRG wurde aufgenommen. Die Arbeitsschwerpunkte Geschichte, Sozialkunde, Erdkunde bilden den Kern des Konzeptes. Die deutlich akzentuierte Orientierung an den Wissenschaftsdisziplinen geht von der Annahme aus, „daß die Wissenschaftsdisziplinen die wesentlichen gesellschaftlichen und historisch-politischen Probleme und Lerninhalte benennen sowie Kategorien und Methoden für die Bearbeitung im Unterricht zur Verfügung stellen"
Dabei geht es nicht um die bloße Übertragung fachsystematischer Ansprüche der jeweiligen Disziplin auf die Ebene des Schulfaches. Es ist auch nicht beabsichtigt, die Fachwissenschaften nur in einer Hilfsfunktion einzusetzen. Voraussetzungen für Koordination oder Kooperation ist die Kenntnis der Struktur der zu beteiligenden Disziplinen und die Reduktion der Inhalte und Methoden unter didaktischen Kriterien.
Dadurch wurde der neue Entwurf, im Unterschied zu dem von 1972/73, wissenschaftstheoretisch fundiert. Er hätte die Auseinandersetzung über Möglichkeiten und Grenzen der Koordination des Geschichtsunterrichts und des Politikunterrichts beleben können, wenn er nicht von der Trendwende „zurück zur Einzeldisziplin" überrollt worden wäre.
Aber der mit Zeitverlust und dadurch mit der Minderung von Realisierungschancen verbundene theoretische Irrweg des ersten Entwurfes der HRRG wäre vermeidbar gewesen, wenn die internationale und insbesondere die amerikanische Social-Studies-Curriculum-Diskussion vor dem Versuch, ein innovatives Curriculum Gesellschaftslehre zu entwickeln, zur Kenntnis genommen worden wäre Ein Basiselement des Social-Studies-Curriculum in den USA ist der enge Zusammenhang mit der Bezugsdisziplin. Hier setzen auch die jüngsten Reformbemühungen in den USA wieder an.