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Aktuelle Anmerkungen zur Misere politischer Bildung in der Bundesrepublik | APuZ 44/1982 | bpb.de

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APuZ 44/1982 Problembezogenes Handeln als Prinzip politischer Bildung Aktuelle Anmerkungen zur Misere politischer Bildung in der Bundesrepublik Kontinuität und Neuorientierung in den Social Studies der USA

Aktuelle Anmerkungen zur Misere politischer Bildung in der Bundesrepublik

Hartmut Wasser

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Klagen über den Zustand und die Wirkung der politischen Bildung in der Bundesrepublik halten an. Von der ursprünglichen Idee einer sowohl als Unterrichtsfach, als Unterrichts-prinzip wie auch als Lebensprinzip konzipierten politischen Bildung ist in der bürokratischen Umsetzung wie in der schulischen Wirklichkeit wenig übriggeblieben. Politische Bildung zerreibt sich im Spannungsfeld überhöhter Erwartungen und unproportionierter Frustrationen. Der Politikunterricht leidet an eklatanter Unterbewertung im schulischen Fächerkanon, an konzeptionellen Unzulänglichkeiten, ständigen Lehrplanrevisionen und politischen Klimaveränderungen, überdies gefährdet leichtfertiger Umgang mit unseren Verfassungsinstitutionen oder demokratischen Überzeugungen, nicht nur in Wahlkämpfen gelegentlich auch von „etablierten" Parteien und Politikern betrieben, mühsam erzielte Ergebnisse einer politischen Bildung, der es um die Weckung kritischer Loyalität zum bundesrepublikanischen Gemeinwesen zu tun ist. Eine Dokumentation verdeutlicht am Beispiel der curricularen Entwicklung im politischen Bildungsbereich der Hauptschulen Baden-Württembergs die Tendenzen einer Entpolitisierung des Politikunterrichts, die der vorangegangene Beitrag kritisiert.

Anhaltende Klagen aller einschlägig Engagierten und Betroffenen — Klagen also von Lehrern, Eltern, Schülern, Politikern, die Liste läßt sich verlängern — schließen jeden Zweifel aus: Es steht derzeit schlecht um das Geschäft der politischen Bildung, über den Daumen gepeilt wohl in allen Bundesländern und Schulgattungen.

Der Schluß vom „derzeit" auf das „zuvor" ginge in die Irre, falls er den gegenwärtigen Zustand als defiziente Ausnahme einer andersgearteten Regel interpretierte: Empirische Untersuchungen zur Wirksamkeit politischer Bildung, in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrfach durchgeführt, haben schlichtweg schokkierende Unzulänglichkeiten als kontinuierlichen Begleiter diesbezüglicher Erziehungsbemühungen ausgewiesen. Vor keinem anderen unterrichtlichen Ansinnen, die Sexualkunde vielleicht ausgenommen, bekreuzigen sich Lehrer ähnlich heftig wie vor dem Schulfach „Politik", das unter vielfältigen Bezeichnungen, mal als Gemeinschafts-oder Staatsbürgerkunde, mal als Sozial-oder Weltkunde (der Etiketten-Phantasie waren in diesem Falle keine Grenzen gesteckt) durch unsere Bildungsinstitutionen geistert; kein anderen Fach stößt bei einer Überzahl von Schülern auf solch unverhohlenes Desinteresse, solch deutlich manifestierte Geringschätzung.

Die ursprüngliche Konzeption der politischen Bildung

Hauptschule Alter Lehrplan Seit 1979 gültiger Lehrplan

Dabei ist unserem Kind in der Wiege eine durchaus verheißungsvolle Zukunft gesungen worden. Die Kontrollrats-Anweisung Nr. 54: „Es sollen alle Schulen größtes Gewicht auf die Erziehung zu staatsbürgerlicher Verantwortung und demokratischer Lebensweise legen und Lehrpläne, Schulbücher, Lehrund Lernmittel und die Organisation der Schule selbst auf diesen Zweck ausrichten'', im Geiste der Erziehungstheorie eines John Dewey abgefaßt, mochte begründete Hoffnungen wecken, der „re-education" -Elan der Siegermächte in der unmittelbaren Nachkriegszeit sie bekräftigen. Hatte das Erlebnis des braunen Totalitarismus nicht auch viele Deutsche für die Einsicht aufgeschlossen, es hänge das Gelingen einer demokratischen Staats-und Gesellschaftsordnung im Massen-und Manipulationszeitalter unter anderem von einer tiefen-wirksamen politischen Erziehung ab? /Die Grundsätze zur politischen Bildung, von der Ständigen Konferenz der Kultusminister am 15. Juni 1950 statuiert, schienen im Verein mit den Empfehlungen der westdeutschen Rektorenkonferenz für die politische Bildung und Erziehung an den Universitäten und Hochschulen vom 6. Januar 1954 der Forderung zu genügen, die zweite deutsche Demokratie auch im politischen Bewußtsein ihrer Bürger zu verankern, Verfassungsrecht mit Verfassungswirklichkeit durch adäquates politisches Engagement, durch sachgerechte, schulisch geübte Partizipation der Beherrschten zu versöhnen. Urteilskraft, Entscheidungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft in politi-cis sollten nach dem Willen der Kultusminister gleichermaßen erzeugt werden, politische Bildung als Unterrichtsfach die kognitiven Bedingungen des demokratischen Stabilisierungsprozesses befördern, als Unterrichtsprinzip das Fach in der Weise stützen, daß benachbarte Disziplinen, wo immer möglich, politische Bezüge ihrer Bildungsgehalte sichtbar machen, als Lebensprinzip schließlich die überkommene autoritär-obrigkeitliche Standesschule in Richtung auf ein genossenschaftlich-freiheitlich organisiertes Bildungssystem, Übungsfeld zur Entwicklung demokratischer Verhaltensweisen, modifizieren.

Die Konzeption in der schulischen Wirklichkeit

Hauptschule Alter Lehrplan Neuer Lehrplan

Die Beschlüsse der professionellen Bildungsmanager haben mancherlei in Bewegung gesetzt — Lehrpläne hervorgebracht, die freilich letzthin in immer kürzeren Intervallen revidiert werden, die Lehrerbildung durch neue Studiengänge ergänzt und verändert, der Lehrund Lernmittelindustrie einen konsum-freudigen Markt beschert und anderes mehr —, jedoch eben nicht jene hoffnungsvoll verkündeten Wirkungen gezeitigt Daß die tri-adische Ausformung der politischen Bildung von gutem Willen, aber schwach entwickeltem Realitätssinn zeugte, ist frühzeitig deutlich geworden. Als Unterrichtsprinzip hat sie eine besonders eigenartige Rolle gespielt: Zunächst von Schulverwaltungen und Pädagogen mancherorten als trojanisches Pferd befehdet, als Einbruchsstelle einer ideologieverdächtigen „Politisierung" der Schule denunziert, hat seine Harmlosigkeit bald Gegner zu Befürwortern avancieren lassen, die nun die Etablierung des Unterrichtsfaches Politik mit dem Einwurf des „doppelt gemoppelt" zu . verhindern suchten. Dabei sind freilich mögliche politische Impulse von einem bildungshumanistisch orientierten Deutsch-oder Geschichtsunterricht neutralisiert und in eine allgemein-ethische Grundhaltung verformt, oder dort, wo sie denn endlich eingelöst wurden, im Religionsunterricht, etwa von „progressiven" Theologen unserer Zeit, zum Vehikel menschheitsbeglückender Visionen gut-meinender Dilettanten degradiert worden.

Die Auswertung primär nichtpolitischer Unterrichtsstoffe im Geiste jenes vielbeschwore-nen Prinzips verlangt eine spezifische Denkzucht und zureichende Einblicke in die Komplexität unserer politisch-sozialen Umwelt, wie sie nur eine fachwissenschaftliche Ausbildüng vermitteln kann; an diesem Sachverhalt sind noch so gut gemeinte Bemühungen in dieser Richtung aufgelaufen.

Der zarte Keim von 1950, politische Bildung im Sinne Deweys oder der autochthon-reformpädagogischen Bewegung in Deutschland als Lebensprinzip der Schule zu verstehen, hat mancherlei Initiativen zum Trotz auch nicht so recht gedeihen wollen. Die „reglementierte“ und „verwaltete" Schule ist die Regel selbst dort geblieben, wo demokratischere Organisationsformen erprobt, wo partizipationsgerechtere Umgangsformen zwischen Eltern, Lehrern, Schulverwaltungen und Schülern gesucht wurden; „nicht (bloß, d. Verf.), weil die bösen Behörden alles ihren vereinheitlichenden Ordnungen unterwerfen, alles verwaltbar machen wollen, sondern weil die Veränderer selbst keinen Schritt ohne rechtliche, finanzielle und wissenschaftliche (Ver) Sicherung mehr zu gehen wagen und das Neue darum meist sorgfältiger reguliert und vollständiger registriert ist als das Alte“ Wie auch immer, der Geist der Partnerschaft, von Friedrich Oetinger (alias Theodor Wilhelm) als Bedingung und Ziel politischer Bildung beschworen, hat ebensowenig Wurzeln geschlagen wie gut gemeinte Absichten, die Schule zum Übungsfeld demokratischer Verhaltens-und Aktionsweisen umzufunktionieren.

Politikunterricht zwischen Utopie und Frustration

Gemeinschaftskunde/Wirtschaftslehre Hauptschule, Klasse 5

(Lehrplanheft 6/1981, S. 44f.)

Bleibt die Suche nach Gründen für die offenkundige Ineffizienz des eigentlichen Politik-unterrichts, die etwas weitere Wege gehen muß. Schicken wir einen Umstand voraus, der die pölitischen Bildungsintentionen von allem Anfang an belastete: die Überschätzung nämlich ihrer Möglichkeiten in der Gesellschaft — Teil jener Utopie, unter der die Schule insgesamt in einem Augenblick zu leiden hat, da andere „Sozialisationsinstanzen" offenbar vor ihrer Aufgabe versagen. Wann immer Heranwachsende vom Pfad der offiziellen Tugend, vom „Konsens der Demokraten", von der mehr-heitsfähig interpretierten Auslegung unserer Verfassung oder der „Freiheitlich-demokratischen Grundordnung" abwichen, wann immer sie sich extremen Gruppen und Aktivitäten auslieferten, blinkten in den Herrschaftszentralen rote Warnlichter auf und setzten den ewig gleichen Mechanismus in Gang: den Ruf nach verstärkter politischer Bildung.

Als Ende der fünfziger Jahre Hakenkreuz-schmierereien und antisemitische Äußerungen die Republik verunsicherten, novellierten einige Landtage in hektischer Eile Lehrerbildungsgesetze: Künftig sollte kein angehender Pädagoge mehr in die Schule entlassen werden, der nicht (in zwei-oder vierstündigen Pflichtseminaren!) politikkundlichen Unterricht erhalten hatte und damit der geforderten Forcierung politischer Bildung dienen konnte. Als zu Beginn der siebziger Jahre die Zahl der Wehrdienstverweigerer sprunghaft anstieg, glaubten Kultusverwaltungen, durch Erlasse die verstärkte „Berücksichtigung der Landesverteidigung im Schulunterricht" erzwingen und so dem kritisierten Trend entgegensteuern zu können; und just in diesem Augenblick _ die Wehrunwilligkeit schwillt neuerlich an _ sucht etwa der baden-württembergische Kultusminister Mayer-Vorfelder als Vorreiter der KMK den Schulen par ordre de mufti einmal mehr die Verantwortung für die Erzeugung staatsbürgerlicher Opferbereitschaft zu-zuspielen und möchte gar die Themen „Bundeswehr" bzw. „Verteidigung" für die Lehrer-bildung und Lehrerprüfung verbindlich festschreiben. Derselbe Mechanismus ist auch mit umgekehrten Vorzeichen zu beobachten: Wo sich Abhilfe nicht, schon gar nicht rasch, einstellen wollte (und will), wo APO und die alternative Szene für anhaltende politisch-gesellschaftliche Unruhe sorg(t) en, waren und sind Politiker nebst anderen Zeitgenossen rasch mit dem Vorwurf bei der Hand, die politische Bildung habe (wieder einmal) versagt, mehr noch, das „Heer der Politologen und Soziologen" in Hochschulen, Schulen und anderswo habe mit Konflikttheorien, marxistischen Gesellschaftsutopien,Demokratisierungspostulaten und Emanzipationsparolen an den Grundfesten unserer Verfassungsordnung gerüttelt und bei den Heranwachsenden eine Haltung zynisch-selbstsicherer Distanz zum Gemeinwesen kultiviert.

Das Wechselbad zwischen überhöhten Erwartungen und gleichermaßen unproportionierten Frustrationen ist der politischen Erziehung nicht eben gut bekommen; dieser Sachverhalt wird uns zum Schluß nochmals beschäftigen.

Der Politikunterricht als schulisches Aschenbrödel

Gemeinschaftskunde/Wirtschaftslehre

Hauptschule, klasse 5

(Lehrplanheft 6/1981, S. 49f.)

Wenden wir uns den schul-und fachspezifischen Gründen zu, welche die zu recht konstatierte Ineffizienz des Politikunterrichts mindestens teilweise erklären, wobei gelegentliche Verallgemeinerung den Preis der Deutlichkeit markiert.

Immer noch gebricht es dem Politikunterricht an jener selbstverständlichen Anerkennung im schulischen Fächerkanon, die als conditio sine qua non jeglicher Wirksamkeit gelten darf. Erst kürzlich hat der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Clemens Christians, bewegte Klage geführt, daß in Nordrhein-Westfalen die Zahl der in der gymnasialen Unterstufe zu erlernenden englischen Vokabeln von 4 300 auf 3 000 reduziert wurde, „ein Beispiel, wie die Anforderungen in einem zentralen Bereich ... zugunsten neuer Fächer, zum Beispiel Politik (sic!), herabgesetzt werden müssen"; der Mann sprach vielen Pädagogen aus dem Herzen. Die Unterbewertung dieser „Politik" wurzelt gleichermaßen in Unkenntnis und Besorgnis. In jener Unkenntnis, die die Sozialwissenschaften insgesamt als Modetorheit disqualifiziert und schlichtweg verkennt, daß die Beschäftigung mit der Politeia, dem bonum commune und den res gerendae in altehrwürdigsten Wissenschaftstraditionen des Abendlandes ankert und sich ihre schulische Variante mindestens einer langen angelsächsischen Übung verpflichtet weiß; wobei, vergessen wir es nicht, gelegentlich solche Ignoranz auch vorgetäuscht und zum Schutzschild des ehernen Fächeregoismus wird.

Aus Besorgnis resultiere die eklatante Unterbewertung zum anderen, sagten wir, aus der Besorgnis, es dringe mit der Behandlung politischer Aktualität Parteilichkeit in den „neutralen" Raum der Erziehung ein und gefährde den ideologischen Konsens der Schule, der auf der apolitischen Bildungstradition in Deutschland basiert. Die Aschenbrödel-Rolle der politischen Erziehung im Fächerkanon unserer Bildungsanstalten ist somit gleichsam zementiert; und ungerügt reichern sie jene Autodidakten, die sich noch immer zahlreich in ihr tummeln, mit so brisanten Themen wie der Gestaltung der Klassenparty oder des Schullandheimaufenthaltes an, da doch das Fach auch Kommunikationsfähigkeit und soziales Verhalten einüben soll; oder mißbrauchen sie zur Aufarbeitung des unbewältigten Geschichts-und Erdkundestoffes.

Freilich kommt den bisherigen Realisationsformen der politischen Bildung selber ein gerüttelt Maß an Schuld bei der Fixierung sol17 eher Vorurteile zu. Wo bis in die sechziger Jahre hinein im wesentlichen Autodidakten Politikunterricht erteilten, die fehlenden Sachverstand entweder mit pädagogischen Vereinfachungen, mit „Weltbildern" überspielten, welche die Komplexität unserer politisch-sozialen Existenz verfehlten oder einem unverbindlichen Eklektizismus huldigten („Wir lesen heute wieder gemeinsam die Tageszeitung! ”), trübte später der Streit um die hessischen und nordrhein-westfälischen Rahmen-richtlinien das Bild des Faches in Schule und Gesellschaft ein: Das emanzipatorische „Interesse" der Jugendlichen, ihr Streben nach Selbstverwirklichung auch im politisch-sozialen Bereich, sollte fürderhin den Politikunterricht strukturieren, die klassenmäßige „Konflikthaftigkeit" als Wurzel alles Politischen und folgerichtig die Erzeugung von „Konfliktfähigkeit“ im Mittelpunkt des erzieherischen Bemühens stehen, weil allein so grundlegende Veränderungen des defizitären „Systems” zu gewährleisten seien.

Und schließlich hat die technokratische Revolutionierung der Stoffpläne durch „curriculare" Vorgaben, mit deutscher Gründlichkeit von Kultusverwaltungen, Hochschulpädagogen und Schuldidaktikern letzthin in Szene gesetzt, die Konsolidierung des Faches vereitelt, jener Lernzielüberschwang und formalisierte Planungswahn, der Politik zum Spielmaterial pädagogischer Berechnung degradiert und ins Korsett curricularer Zielvorgaben zwängt. Freilich darf manches schon wieder getrost als Makulatur gelten, was Lehrplankommissionen und Kultusverwaltungen erst kürzlich dekretierten. Augenblicklich rücken „Entrümpelungs" -Experten der „Theorielastigkeit" der Curricula zu Leibe und demonstrieren dabei „Mut zur Lücke". Ob aber dieser „Mut zur Lükke” nicht bloß als vornehme Drapierung jenes Trends herhalten muß, der die Reduktion politischer Lerninhalte im Fache „Politik" beabsichtigt? Die Frage rückt eine weitere Hypothek ins Blickfeld, die auf dem Geschäft politischer Bildung lastet — die der unzureichenden Unterstützung durch Politiker und jene Schulbürokraten, die vor allem in den Ländern herrschaftliche Impulse verstärkt weitergeben, wo sich über viele Jahre hinweg die Machtverhältnisse verkrustet haben. Sicher kreiden sie der politischen Bildung zu Recht Mitschuld an, wenn jugendlicher Extremismus den „Konsens der Demokraten" aufkündigt oder (bloß vordergründig unpolitisches) Vandalentum samstagnachmittäglicher Fußballfans künftiges

Ungemach signalisiert. Bloß: Warum zementieren sie de facto die Aschenbrödel-Rolle der schulischen „Politik" und schreiben damit ihre Unwirksamkeit fest? Ich höre den entrüsteten Aufschrei: Man habe dem Fach doch da und dort, im S I-und S II-Bereich Stunden zuge-schlagen (und so den unhaltbaren Zustand beseitigt, daß mangels kontinuierlichen Politik-unterrichts Lehrer der Oberstufe gezwungen waren, schlichtweg den Mittelstufen-Stoff wiederzukäuen!); man habe doch durch neue Lehrplanvorgaben dem Fach wesentliche Aufgaben und damit erhöhte Bedeutung zugewiesen.

Als Beweis für solches Engagement muß etwa das vor kurzem in Baden-Württembergs Hauptschulen installierte Superfach Gemeinschaftskunde/Wirtschaftslehre herhalten, in Klasse 9 gar mit drei Wochenstunden ausgestattet. Doch eben dieses Beispiel entlarvt den Krokodilstränen-Charakter der amtlich-politischen Entrüstung. Die Lehrplan-Forderung, es sollten womöglich „die Unterrichtsziele und Inhalte der beiden Fachbereiche Gemeinschaftskunde und Wirtschaftslehre integriert oder koordiniert werden", wird praktisch durch den Hinweis wieder aufgehoben, es seien in Klasse 9 für die Gemeinschaftskunde eine, für Wirtschaftslehre aber zwei Stünden einzuplanen; was anders auch gar nicht möglich ist, da weit und breit kein praktikabler Ausbildungsgang in Sicht ist, der zwei Wissenschaftsdisziplinen mit unterschiedlichen Fragestellungen, Erkenntnisinteressen und Forschungsmethoden zum schulisch geforderten Retortenprodukt zusammenzwänge. Was aber schwerer wiegt: Von einer Ausweitung der unterrichtlichen Beschäftigung mit dem Phänomen der Politik kann keinesfalls die Rede sein; intendiert ist im günstigeren Falle die Angliederung wirtschaftlicher (oder sozialer, oder rechtskundlicher) Stoffe an den Politik-unterricht, im ungünstigeren Falle die bloße Entpolitisierung des Faches.

Manche der neu erstellten Lehrpläne nähren den stets gehegten Verdacht, es sei politische Bildung gar kein richtiges Unterrichtsfach, sondern allenfalls ein Gemischtwarenladen, eine Addition disparater Wissensstoffe, ein „Phänomen", das eher zur „fächerübergreifenden Verkehrserziehung" beitragen als genuin politische Einsichten erzeugen kann. Der Dilettantismus scheint über kurz oder lang vollends die Oberhand zu gewinnen, der den Politikunterricht schon in der Vergangenheit zum Alptraum von Eltern, Lehrern und Schülern degradiert hat. Daß die Kenntnis beruflicher, wirtschaftlicher oder rechtlicher Sachverhalte unserer sozialen Existenz ein Desideratum sei, wird vernünftigerweise niemand bestreiten. Sicher kann aber die Multifunktionalität eines Super-faches „Politik", wie sie sich derzeit abzuzeichnen beginnt, nicht die angemessene Lösung für die mit solchen gesellschaftlichen Forderungen an unser Bildungssystem herangetragenen Probleme sein; und zwar um so weniger, als bislang keinesfalls der politikwissenschaftliche Sachverstand die Rahmenrichtlinien für die Eingliederung wirtschaftlicher oder anderer Stoffe in den Politikunterricht definiert.

Der Politikunterricht im Spannungsfeld der Politik

Die schon konstatierte Eigentümlichkeit politischer Bildung, stärker als andere Schuldisziplinen der stetigen Wechselwirkung mit aktuellen politischen Befindlichkeiten ausgeliefert zu sein, erweist sich augenblicklich als gravierender Nachteil. Wo sich die „Tendenzwende" des politischen Klimas in der Bildungspolitik mancher CDU-regierten Länder als „Mut zur Erziehung" im Kampf gegen die „Politisierung der Schule" darstellt, gedeihen Lernziel-Kataloge und „Reform" -Pläne in bezug auf den Politikunterricht, deren Absicht mit „Entpolitisierung" oder, ganz recht, mit „Re-Ideologisie-rung” zu umschreiben, ihr kein Unrecht antut. „Nicht die Vermittlung von . Konflikttheorien', sondern objektive Geschichtsvermittlung" sei notwendig, „um den jungen Menschen in ihrem Gemeinschaftsbedürfnis entgegenzukommen, damit sie sich stärker als bisher an der Schicksals-und Überzeugungsgemeinschaft ihres Volkes orientieren", schreibt beispielsweise Edmund Stoiber und fährt fort: „Bei verständnisvoller Auseinandersetzung ist es besonders in der Familie und in der Schule möglich, ein attraktives . Bild von der Gesellschaft der Zukunft'zu vermitteln, hier ist es möglich, . Sachzwänge'verständlich zu vermitteln und das Interesse zur Teilnahme an der politischen Willensbildung zu fördern". Ob die dringlich gebotene Diskussion über ein erfolgsversprechendes Krisen-Management zugunsten der politischen Bildung hier dem CSU-Generalsekretär nicht zu leicht von der Hand geht? Ob Kultusminister Mayer-Vorfelder der vielbeklagten Misere mit jenem jüngst vor dem Landesverband der baden-württembergischen CDU entwickelten Konzept gerecht werden kann, das auf die Reduktion politischer Erziehung in Unter-und Oberklassen abzielt und dies mit dem Postulat der Landes-verfassung rechtfertigt, es sei die Jugend zu erziehen „in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste christlicher Nächstenliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat...", dabei aber vergißt, daß Artikel 21 der gleichen Landesverfassung dazu aufruft, „die Jugend in den Schulen zu freien und verantwortungsfreudigen Bürgern zu erziehen ..", weshalb „in allen Schulen Gemeinschaftskunde ordentliches Lehrfach ist“? Kann man den „freien und verantwortungsfreudigen" Bürger erziehen, wenn man die Auseinandersetzung mit dem Politischen ins Gefühls-und Gesinnungshafte auflöst?

Seit den Tagen der Antike gilt die analytische Beschäftigung mit dem eigenen Herrschaftssystem samt kritisch wertendem Vergleich mit anderen Ordnungsmodellen, gilt die problembewußte Auseinandersetzung mit den res gerendae als vornehmste Beschäftigung des Menschen, des zoon politikon; in solchem Bemühen, das die Aufgabe der politischen Bildung zureichend umschreibt, mangelnde Loyalität zum Gemeinwesen zu diagnostizieren, ist widersinnig. Wie wollen Politiker künftig, wenn die Verwaltung des Mangels unpopuläre Entscheidungen diktieren wird, mit staatsbürgerlicher Einsicht rechnen, wie in außen-und innenpolitischen Krisenzeiten gesellschaftliche Unterstützung mobilisieren, wenn sie den Politikunterricht durch Entpolitisierung „disziplinieren“? Wenn sie ihm auftragen, bei Heranwachsenden Verfassungsrespekt und Achtung vor den Institutionen zu entwickeln, aber selbst nicht eben pfleglich mit Institutionen umgehen und demjenigen leichtfertig „Verfassungsrespekt" absprechen, der ihre jeweils „linke" oder „rechte" Auslegung des Grundgesetzes nicht teilt? Das unbekümmerte Taktieren der Parteien in der jüngsten Vergangenheit dürfte wieder einmal die Bemühungen vieler Lehrenden konterkariert haben, die demokratische Ordnung der Bundesrepublik im Bewußtsein der Heranwachsenden zu festigen.

Wenn heute überkommene Normen und Werte in der Gesellschaft angezweifelt werden, ist die Schuld bloß partiell der Schule, zum wenigsten dem Politikunterricht anzulasten. Im Gegenteil: Ein recht verstandener Politikunterricht könnte seinen Beitrag zur Ein-19 dämmung der um sich greifenden Irrationalität in öffentlichen Angelegenheiten leisten; ein Politikunterricht, der, auf dem Boden des Grundgesetzes angesiedelt, Schüler zu wahrhaft engagierter Auseinandersetzung mit politischen Macht-und Ordnungsfragen anleitete, zum differenzierten Nachdenken über politischeGegenwertsundZukunftsprobleme. Solchem Politik-Unterricht gebricht es derzeit an fast allen Voraussetzungen: an öffentlicher Unterstützung, zureichenden Lehrplänen, ausreichender Stundenzahl und Lehrern, denen das wissenschaftliche Rüstzeug zu Gebote steht, um komplex-ambivalente Sachverhalte für Jugendliche begreifbar zu machen, und jene Courage, (politische) Erziehung auch in einem Augenblick als geistige Auseinandersetzung zu begreifen, wo „Mut zur Erziehung" verlangt wird, der doch nicht selten unkritische Indoktrination meint.

Dokumentation von Lehrplänen

Die folgende Übersicht dokumentiert — exemplarisch am Bereich der Hauptschule in Baden-Württemberg — inwieweit sich das von Politikern vielfältig beschworene Bemühen um eine verstärkte politische Bildung in der Lehrplanentwicklung niedergeschlagen hat und will somit auch zur kritischen Auseinandersetzung mit den streitbaren Thesen Hartmut Wassers herausfordern. Anschließend sollen zwei Lehrplaneinheiten (GK 9. 5.: „Das Leben im geteiltem Deutschland" und WI 9. 3.: „Verbraucher in der Marktwirtschaft") Einsichten in die curricularen Absichten und Zielvorstellungen der gegenwärtig noch gültigen, jedoch bereits schon wieder in Revision befindlichen Lehrplankonzeption ermöglichen

Beim Vergleich der Themenbereiche aus dem alten Lehrplan mit denen aus dem neuen ist zu berücksichtigen, daß der alte Plan ein „Rahmenplan" war und die thematische „Auswahl und Schwerpunktbildung" in den Bereich der pädagogischen Verantwortung des Lehrers fiel. Im derzeit gültigen Plan sind dagegen „Ziele und Inhalte" verbindlich vorgeschrieben. Insofern kann deshalb nicht unbedingt Gleiches mit Gleichem verglichen werden. Die Übersicht zeigt, daß durch die Ausweitung und stärkere Gewichtung der „Wirtschaftslehre" das „neue“ Fach „Gemeinschaftskunde/Wirtschaftslehre" stundenplanmäßig ausgeweitet wurde. Ob dadurch freilich die postulierte Intensivierung der politischen Bildung* erreicht wurde, darf füglich bezweifelt werden, wenn man die abgedruckten Lehrplaneinheiten genauer betrachtet. Das relativ unverbundene Nebeneinander von Gemeinschaftskunde und Wirtschaftslehre sowie die Konzeption der Wirtschaftslehre selbst, die sehr stark am Leitbild des zweckrational handelnden Verbrauchers orientiert zu sein scheint haben all jene enttäuscht, die die „Wirtschaftslehre" gern als integralen Bestandteil einer politische Bildung vermittelnden „Gemeinschaftskunde" gesehen hätten.

Die Lehrplaneinheit GK 9. 5. „Das Leben im geteilten Deutschland" verweist — beispielhaft — auf Gefahren, die sich aus dem unvermeidbaren Zwang zur Reduzierung des Stoffes ergeben können. Der sich lediglich auf das Alltagsgeschehen beschränkende Vergleich der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik mit denen in der Deutschen Demokratischen Republik läßt den Hauptschülern die Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten nur als Oberflächendifferenzen erscheinen, ohne daß sie Beziehungen zu den je verschiedenen Wert-und Normvorstellungen oder politischen Ordnungsstrukturen herstellen könnten. Eine Modifizierung dieser Lehrplaneinheit soll im Rahmen der gegenwärtig laufenden Revision der Lehrpläne vorgenommen werden; dabei und bei der Koordinierung der Lehrpläne zwischen Hauptschulen und Berufsschulen sollte jedoch auch überlegt werden, ob die „spiral-curriculare" Entkoppelung von System und Lebenswelt, d. h. ob die Behandlung der unterschiedlichen Lebens-welten von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik im 9. Schuljahr und die Thematisierung der dazu gehörigen normativen Systeme im 2. Ausbil-3 dungsjahr der beruflichen Schulen wirklich sinnvoll ist im Sinne einer politischen Bildung, die einen realen Beitrag zur Entwicklung eines Wertebewußtseins leisten will. Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist auch das Fehlen der politischen Bildung in den Klassen 5 und 6 zu beklagen, da das Herausbilden und Einüben einer freiheitlich-demokratischen Werthaltung kontinuierlichen Förderung bedarf.

Fussnoten

Fußnoten

  1. H. v. Hentig, in: MONAT 4/1981, S. 38.

  2. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/81, S. 31.

  3. Die Dokumentation wurde von Anton Hauler erarbeitet und dem Verfasser freundlicherweise überlassen.

  4. Dazu jüngst: Anton Hauler, Entpolitisierung der politischen Bildung? Zum aktuellen Stand der Lehrplangestaltung in Gemeinschaftskunde/Wirtschaftslehre an Hauptschulen in Baden-Württemberg, in: Gegenwartskunde, 31. Jg., H. 2, 1982, S. 207 ff.

  5. Siehe Lehrplaneinheit WI 9. 3.

Weitere Inhalte

Hartmut Wasser, Dr. phil. habil., geb. 1937; Studium der Politikwissenschaft, Geschichte, Germanistik und Anglistik in Tübingen und München; Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, langjähriger Gastdozent der Stanford University. Veröffentlichungen u. a.: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Porträt einer Weltmacht, Stuttgart 19822; Amerika. Der unbekannte Partner. Materialien und Dokumente zur politisch-sozialen Ordnung der USA, Paderborn 1982; neue Beiträge zu amerikakundlichen und zeitgeschichtlichen Fragen in Zeitschrift für Politik, Merkur, Universitas.