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Problembezogenes Handeln als Prinzip politischer Bildung | APuZ 44/1982 | bpb.de

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APuZ 44/1982 Problembezogenes Handeln als Prinzip politischer Bildung Aktuelle Anmerkungen zur Misere politischer Bildung in der Bundesrepublik Kontinuität und Neuorientierung in den Social Studies der USA

Problembezogenes Handeln als Prinzip politischer Bildung

Hans-Joachim Lißmann

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag plädiert dafür, die Diskussion um Ziele, Inhalte und Methoden der politischen Bildung sowohl . theoriegeleitet wie praxisorientiert zu führen. Es wird dabei ein Konzept zur Gestaltung des politischen Unterrichts vorgestellt, das an jenen Spuren ansetzt, welche die alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit Familie, Arbeitswelt, Schule, Massenmedien und Öffentlichkeit bei Jugendlichen hinterlassen haben. Diese Spuren sind Ausgangspunkt eines Unterrichts, der sich im problembearbeitenden Handeln vollzieht. Seine Anlage erfährt — wie an einem Fallbeispiel gezeigt wird — systematisch Anstöße und Orientierungshilfen aus einem theoretischen Modell zur Handlungsforschung, das Harald Wohlrapp 1979 vorgelegt hat. Die Verknüpfung einer fortgeschrittenen wissenschaftstheoretischen Position wie die der dialektischen Handlungstheorie mit der Analyse und Planung von Lehrer-und Schülerhandeln im politischen Unterricht erweist, daß Wohlrapps Theorie-Modell eine leistungsfähige Hilfe sein kann, einen Unterricht zu gestalten, der Jugendlichen Anstöße zur Erkundung ihrer selbst und ihres sozialen Umfelds gibt. Dieses Modell wird zunächst systematisch vorgestellt und in einem weiteren Schritt zur Rekonstruktion eines Projekts zur Spurensicherung für die Zeitgeschichte (die Fernsehserie „Holocaust") durch Jugendliche herangezogen. Dabei werden Konturen eines Unterrichts sichtbar, der Jugendlichen hilft, sich Probleme ihrer Lebenswelt darstellbar zu machen, zu erklären und in gemeinsamem Handeln zu bearbeiten.

Anstöße und Orientierungshilfen einer Handlungstheorie für den politischen Unterricht

Darstellung I: Erklärung und Kritik Darstellung II: Vorstellung Forschung I: Das Handeln Forschung II: Die Auswertung

Im folgenden Beitrag wird dafür plädiert, die Diskussion um Ziele, Inhalte und Methoden der politischen Bildung in besonderer Weise theoriegeleitet und praxisorientiert zu führen. Es wird dabei ein Konzept zur Gestaltung des politischen Unterrichts vorgestellt, das an jenen Spuren ansetzt, die alltägliche Erfahrungen Jugendlicher im Umgang mit Familie, Arbeitswelt, Schule, Massenmedien und Öffentlichkeit bei ihnen hinterlassen haben. Diese Spuren sind Ausgangspunkt eines Unterrichts, der sich im problembearbeitenden Handeln vollzieht. Seine Anlage erfährt — wie an einem Fallbeispiel gezeigt wird — systematisch Anstöße und Orientierungshilfen aus einem theoretischen Modell zur Handlungsforschung, das Harald Wohlrapp 1979 vorgelegt hat.

Die Verknüpfung einer fortgeschrittenen wissenschaftstheoretischen Position wie die der dialektischen Handlungstheorie mit der Analyse und Planung von Lehrer-und Schülerhandeln im politischen Unterricht erweist, daß

Überlegungen zu einer dialektischen Handlungstheorie

Wohlrapp hat mit dem von ihm vorgestellten Modell „Handlungsforschung" den Versuch gemacht, den Idealtypus bewußten, problem-bearbeitenden Handelns systematisch zu beschreiben und zu erklären. Das Modell wird dabei so dargestellt, daß es als eine theoretische Folie verfügbar wird, mit der man Handlungen u. a. auch im politischen Unterricht auf ihren Ort in größeren Handlungseinheiten und auf den Grad der Bewußtheit von Handlung und Problembezug hin betrachten kann.

Wohlrapps Theorie-Modell eine leistungsfähige Hilfe sein kann, einen Unterricht zu gestalten, der Jugendlichen Anstöße zur Erkundung ihrer selbst und ihres sozialen Umfelds gibt. Dieses Modell wird zunächst systematisch vorgestellt und in einem weiteren Schritt zur Rekonstruktion eines Projekts zur Spuren-sicherung für die Zeitgeschichte durch Jugendliche herangezogen. Dabei werden Konturen eines Unterrichts sichtbar, der Jugendlichen hilft, sich gesellschaftlich relevante Probleme ihrer Lebenswelt darstellbar zu machen, zu erklären und in gemeinsamem Handeln zu bearbeiten. Solcher Unterricht zeichnet sich dadurch aus, daß sozialwissenschaftliche Expertise ihn als Anleitung zum Handeln von Schülern und Lehrern in einem ganzheitlichen Erfahrungszusammenhang bestimmt. Die Erfahrungen problem-und interesseorientierten Handelns lassen dabei sogar Neigungen zu sozialen Ressentiments bearbeiten, die, unbearbeitet geblieben, bewußtes politisches Handeln behindern.

Dabei beschreibt Wohlrapp Anforderungen an einen sozialwissenschaftlich orientierten, experimentell gestalteten politischen Unterricht, wenn er das Verhältnis von Erkennen und Handeln zum Gegenstand von Überlegungen zu einer dialektischen Handlungstheorie macht. Diese Möglichkeit zieht er, im Zusammenhang mit pädagogischer Handlungsforschung, folgendermaßen in Betracht: Bei „Schulversuchen arbeiten die Handlungsforscher mit Lehrern zusammen, denen daran liegt, Schulkinder nicht einfach an die Erfordernisse der Gesellschaft wie sie jetzt ist, anzupassen, sondern sie zu mündigen Menschen heranzubilden ... Hier besteht die Arbeit darin, daß die schulischen und außerschulischen ... Interaktionen analysiert werden im Hinblick auf Variationsmöglichkeiten, die zu einer Verbesserung von Chancengleichheit und Mündigkeit führen."

Mit dem Verhältnis zwischen Erkennen und Handeln thematisiert Wohlrapp das Theorie-Praxis-Problem und führt einen neuen Vorschlag zu seiner Interpretation in die sozialwissenschaftliche Diskussion ein. Der Vorschlag besteht darin, daß Handeln in Situationen zugleich als Akt des Bewußtwerdens von Problemen und als Versuch zur Verbesserung von Situationen aufgefaßt werden sollte, in die im weitesten Sinne schwierige Verhältnisse eingeschrieben sind. Der „Anfang" von Handeln und Erkennen sind also Widersprüche, die sich den Betroffenen „aufdrängen", d. h. als Situationselemente wahrgenommen werden, gegen die etwas unternommen werden sollte.

Allgemein bedeutet ein Problem für Wohlrapp „eine Einschränkung von Handlungsmöglich, keiten, eine Störung, Behinderung oder Ver unmöglichung dessen, was man sonst tun würde" Problematische Strukturen faßt er allge. mein „als ein Verhältnis zwischen der Situation, den beteiligten Menschen und ihrem Wollen und Wissen" Daraus geht hervor, daß es von den Intentionen, Situationsdefini. tionen und Selbsteinschätzungen der Betroffe. nen abhängt, was als Problem erfahren wird und worin diese Problemerfahrung besteht. Es kann also durchaus in . einundderselben'Situation kontroverse Auffassungen dazu geben, was ein Problem sei. Genau diese Situation der Erfahrung eines Problems ist für Wohlrapp der systematische Ausgangspunkt seiner Konzeption dialektischen Handelns. Die allgemeine Struktur dieses Handelns rekonstruiert er systematisch in einem vierphasigen Handlungszyklus.

Exkurs: Jugendarbeitslosigkeit und politische Bildung

Bevor ich diesen Handlungszyklus im einzelnen beschreibe, soll hier an Aufgaben politischer Bildung erinnert werden, die im Kontext von Jugendarbeitslosigkeit gegeben sind. Der Exkurs über diese Aufgaben politischer Bildung soll dazu anregen, Wohlrapps eher abstrakte Vorüberlegungen zu einem Modell „Handlungsforschung" kontinuierlich mit der Frage zu belegen, was daraus für die Analyse und Planung von politischem Unterricht als institutionell organisiertem Handeln zu lernen sei.

Auf einen Ausbildungsoder einen Arbeitsplatz warten zu müssen, gehört heute für viele Jugendliche, insbesondere für Haupt-und Sonderschüler, nach dem Ende der Schulzeit zu den Erfahrungen, die ihren Alltag ausmachen. Die Tatsache, daß ihnen das Handeln in einem zentralen Bereich des Lebens für eine bestimmte Zeit unmöglich ist, bleibt, ebenso wie die Art und Weise, wie ihnen dieser Tatbestand aufgezwungen wird, nicht ohne Konsequenzen für ihre Einstellungen zu Politik und Gesellschaft und ihre Vorstellungen davon, wie sie ihre mittel-und langfristigen Lebensperspektiven gestalten sollten. Empirische Untersuchungen weisen darauf hin, daß

Jugendliche in der Situation von Arbeitslosigkeit ihre Interessen und Bedürfnisse fast ausschließlich in subkulturelle Gruppen verschieben und'dabei eine Anfälligkeit für Gruppen zeigen, die einer „Starke-Mann'-Ideologie und der Akzeptanz von Gewalt als einem Mittel zur Lösung sozialer Probleme huldigen Wir betrachten eine solche Präferenz als Ausdruck normativer Desorientierung, emotionaler Labilität und einer eingeschränkten sozialen Handlungskompetenz.

Den Widerspruch zwischen dem Bildungsauftrag, der einem Ideal der Selbst-, Sachund Sozialkompetenz eines mündigen, demokratischen Bürgers folgt, und den eben benannten Bewußtseinsstrukturen gilt es zu bearbeiten, und zwar mit dem Ziel, stabile Orientierungen aufzubauen und ihnen damit zu ermöglichen, politische Handlungskompetenz zu entwikkeln. Bei der Realisierung dieses Ziels kommt der Methodik des Handelns eine wesentliche Bedeutung zu. In die Formen des Handelns, mit dem Probleme bearbeitet werden, muß die Zwecksetzung eingeschrieben werden, die Schule im allgemeinen und politischer Unterricht im besonderen in unserer demokratisch verfaßten Gesellschaft haben: Sie sollen zu selbstständigem und kritischem Denken, zu " intellektueller Beweglichkeit, kultureller Aufgeschlossenheit, Ausdauer, Leistungsfreude, Sachlichkeit, Kooperationsfähigkeit, sozialer Sensibilität, Verantwortungsbewußtsein und zur Fähigkeit zur Selbstverantwortung" erziehen. Diese wiederum sind als Gegeninstanzen gegenüber den Versuchungen totalitärer Systeme zu verstehen und sollten durch einen politischen Unterricht gekräftigt werden, der an den Spuren ansetzt, die Schule, Arbeitswelt,'Familie und Öffentlichkeit in den Alltagserfahrungen der Jugendlichen hinterlassen haben. Das bedeutet ernst zu nehmen, daß sich insbesondere arbeitslose Jugendliche von der Gesellschaft nicht als Subjekte ihres Handelns anerkannt sehen.

Ein Unterricht aber, der „letzlich die politisch-soziale Handlungsfähigkeit der Schüler vergrößern soll" muß in einer Schule, „in der sich Handeln sonst nur als Lernhandeln abspielt, Möglichkeiten für Handeln bewußt herstellen und in den Unterricht einbeziehen" Er hat zur Voraussetzung, daß die Schüler als Subjekte und nicht als Objekte pädagogischen Handelns begriffen werden. Das hat aber erhebliche Konsequenzen für die inhaltliche Struktur und das methodische Arrangement eines Unterrichts, das heißt für die Modalitäten, nach denen handelnd unterrichtet wird. Denn:..... methodisch ist an den Lebenserfahrungen, Bedürfnissen und Interessen" der Kinder und Jugendlichen anzuknüpfen sind die Erfahrungsmöglichkeiten der Jugendlichen, ihr Alltagsbewußtsein, ihre soziale Herkunft als Kontext zu erkennen, auf den sich pädagogisches Handeln bezieht

Bewußtes Handeln als Form der Problembearbeitung

Im Wohlrappschen Handlungsmodell folgt dem Auftreten eines Problems eine erste Phase der Bearbeitung. In ihr versuchen die Betroffenen sich das Problem als solches zu erklären und sein Auftreten zu begründen. Dabei wird bevorzugt an jenen Strukturen der problematischen Situation angesetzt, die in ihrer Wahrnehmung und Erinnerung bereits repräsentiert sind. Elemente der Situation, die dabei zunächst unerklärlich bleiben, markieren das Problem als eineh „Widerspruch", der zwischen Teilen ein und derselben sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation besteht. Wohlrapp geht bei seinen Überlegungen zu einer Theorie bewußten Handelns davon aus, daß ein solcher Widerspruch selbst auf Erklärung drängt und so die Kritik der Situation in diese erste Phase der Darstellung eines Problems einschließt. Kritik versteht sich dabei als engagierte Thematisierung eines Problems und der in ihm gefaßten widersprüchlichen Form einer sozialen Situation.

Da unter den Betroffenen in dieser Phase zwar Einigkeit darüber besteht, daß ein Problem als eine „Einschränkung" oder „Störung" von Handlungszusammenhängen gegeben ist, dieses aber in der Regel unterschiedlich gedeutet werden kann, sieht Wohlrapp in den Aspekten „Erklärung" und „Kritik" zwei miteinander korrespondierende Anstöße zum Fortschritt im bewußten Handeln zusammengebunden: über gegebenenfalls wiederholte situativ-konkrete Rekonstruktionen des Problems und seine theoretische Kritik drängen die Betroffenen auf eine Überwindung der gemeinsam ausgemachten Schwierigkeiten.

In der zweiten Phase des Handlungsmodells werden auf das Ziel der Problemüberwindung hin Handlungsentwürfe konzipiert. In einem Argumentationsgeflecht werden Konsequenzen aus der Kritik des Problems, wie sie in der vorhergehenden Phase geübt wurde, gezogen, in dem Lösungsmöglichkeiten für das beschriebene Problem vorgestellt und begründet werden. Der widersprüchliche Charakter einer Problemsituation wird sich in einander widerstreitenden Positionen unter den Betroffenen wiederfinden, die ihren Grund in unterschiedlichen Erklärungen für eine gemeinsam als Problem erkannte Schwierigkeit, Störung oder Einschränkung haben. Für diese Phase bewußten Handelns ist es notwendig, daß im Gespräch konsistente und argumentativ bewährte Problemfassungen herausgearbeitet werden können und sich eine Kontroverse darauf konzentriert, welche Handlungen zur Lösung des Problems unternommen werden sollten und wie diese zu begründen sind. Eine so gerichtete Argumentation läßt sich als „theoretisches Handeln" begreifen.

Von „theoretischem Handeln? und „praktischem Argumentieren"

Mit der systematischen Struktur derartiger Argumentationen werde ich mich nun etwas näher befassen. Die Rezeption der Wohlrappsehen Argumentationstheorie vermag über einige ihrer Grundbegriffe ein handlungstheoretisch geleitetes Verständnis für Problemsituationen und dabei einen politischen Unterricht eröffnen und begründen, der an den Problemen und Interessen von Jugendlichen ansetzt und sie diese gemeinsam handelnd bearbeiten läßt.

Argumentieren impliziert zunächst die Einigung aller Teilnehmer darüber, daß eine Schwierigkeit vorhanden ist, die nicht fortbestehen soll. Argumentieren ist also eine . Auseinandersetzung zwischen kontroversen Positionen in Richtung auf Überwindung der Widersprüche. Argumentieren ist damit nichts weiter als der bewußte Aspekt des Handelns ..., der sich aber durch immer verbindlichere Zeichenhandlungen hindurch als ein besonderer Teil der Auseinandersetzung abgehoben hat“ -Was meint in diesem Zusammenhang der Begriff „Überwindung der Widersprüche"? Mit ihm wird der Prozeß gekennzeichnet, in dem theoretisch handelnd versucht wird, ein Problem zu überwinden. Dazu wird auf Ergebnisse der Phasen „Erklärung" und „Kritik eines Problems" durch seine Darstellung zurückgegriffen. Daraus sollen jedoch nicht „formallogisch" Handlungsentwürfe abgeleitet werden, sondern zukunftsbezogene Argumentationen sollen auch mit notwendigerweise unzulänglichen Analogien, Hypothesen und Vergleichen arbeiten.

Es fließen bei solchen praxisbezogenen Kontroversen also auch Aspekte in die Argumentation ein, die spontan und intuitiv sind. Die Zukunftsoffenheit „praktischen Argumentierens" kommt darin zum Ausdruck. Für den Begriff „Überwindung der Widersprüche" heißt das, daß er nur die allgemeine Richtung anzugeben sucht, in die sich die Argumentation bewegen soll. So soll der Argumentationsprozeß vor allem zu einer vorläufigen und relativen Gewißheit über die Möglichkeiten der Handlungsentwürfe zur Überwindung der Widersprüche führen.

Nun bleibt noch zu klären, welche Bedeutung den Begriffen der „Position" und der „Kontroverse" zukommt. Wohlrapp versteht die Kontroverse als Ausgangspunkt jeder Argumentation. Zielpunkt kontroverser Argumentation zwischen widersprüchlichen Positionen ist das Auffinden der „unvereinbaren Thesen,... die die Kontroverse genau ausdrücken" Dabei lassen sich in einem Zyklus folgende Formen und Phasen des Argumentierens rekonstruieren: ,, a) Das Verstehen des vorigen Arguments, das Erkennen seiner Voraussetzungen und Konsequenzen, also dessen, wie es sich aus der bisherigen Position ergibt.

b) Die Kritik des Arguments bzw.der Position, zu der es gehört, auf Beschränkungen hin (auf Unvollständigkeit oder Widersprüchlichkeit) c) Das Vorbringen eines Gesichtspunktes, mit dem die Sache, die Kontroverse, das, was man anstrebt oder als allgemein anstrebungswürdig fordert..., dergestalt re-präsentiert’ wird, daß die Beschränkung überwunden ist.

d) In diesem neuen Gesichtspunkt wird die eigene'Position an der Gegenposition konkretisiert, soll heißen erweitert, und in den Teilen, die es nötig haben, neu verstanden." Diese Phasen-Folge des Argumentierens bringt die verschiedenen Verständnisweisen für eine Problemlage in einen produktiven Zusammenhang, der die Betroffenen neue Problemschichten eines Handlungszusammenhangs erschließen läßt.

Zurück zum Handlungszyklus: Wir befinden uns noch in der Phase der „Darstellung II" des Zyklus', in der es um eine Vorstellung von Lösungen eines Problems und um die Begründung dieser Lösungen geht. Die Basis dafür waren die Erklärungen und Kritiken des Problems aus der Phase „Darstellung I“. Zu welchen Ergebnissen führt nun die Phase „Darstellung II"? Zunächst sind begründete, weil argumentativ bewährte Handlungsentwürfe vorhanden, welche die theoretische Darstellung des Anspruchs repräsentieren, die handlungsauslösende Schwierigkeit zu bewältigen. Diese Handlungsentwürfe stehen auf der glei-

chentheoretischen Stufe wie die Problemstellungen und Situationsmodelle. Das Ziel der Handlungsentwürfe ist, durch ihre Realisierung Handlungsstrukturen zu ändern, die die jeweiligen Positionen für problemkonstitutiv halten. Am Schluß der! zweiten Phase müssen sich die Vertreter der kontroversen Positionen auf zu realisierende Handlungsentwürfe einigen.

Damit vollzieht sich „theoretisches Handeln" in der „Darstellung II" soweit, daß nun mit begründeten Handlungsentwürfen an das praktisch-historische Handeln herangegangen werden kann. Diese „eigentliche" Handlungsphase nennt Wohlrapp „Forschung I". Sie ist folgendermaßen gekennzeichnet: „Die in der Vorstellung formulierten Ergänzungen der Situation werden im Handeln zur Wirklichkeit gebracht. Das Handeln ist so die Verlängerung der Darstellung in das Werden der Situation hinein, soweit man mit seiner Tätigkeit daran beteiligt ist.“

Bei der Explikation dieser Phase sollen zugleich die verschiedenen Bedeutungsvarianten des Handlungsbegriffs mit erläutert werden. Zunächst geht Wohlrapp davon aus, daß in der Handlungsphase mehr geschieht als nur die Aktualisierung der vorbedachten Handlungsentwürfe: Im Handeln setzt sich nämlich das Subjekt zugleich mit der konkreten Wirklichkeit, wie sie sich ihm darstellt, auseinander und mit den vorgängigen theoretischen Gedanken. Das bedeutet, daß die Handelnden nicht nur (wie beim Argumentieren) unter Begründungszwang stehen, sondern jetzt kommt für sie gleichzeitig der jeweils konkrete Entscheidungszwang für ganz bestimmte Handlungen hinzu, der jedem praktisch-kommunikativen Handeln eigen ist. Im praktischen Handeln ist jedoch auch, aufgrund der vorhergegangenen Phasen, Theorie anwesend. Sie strukturiert die Aufmerksamkeit der Handelnden, indem vorüberlegte Deutungsmuster aktualisiert werden. Die theoriegeleitete Aufmerksamkeit soll den praktisch Handelnden dazu verhelfen, das durchzusetzen, was sie für die Überwindung eines Problems halten. (Insofern genau dies geschieht, ist Handeln auch . praktisches Argumentieren“

Der Vorteil theoriegeleiteter Aufmerksamkeit liegt nun darin, daß die Akteure dadurch überhaupt erst explizit etwas erkennen (genauer: etwas „erfahren") können und entsprechend gezielt zu handeln imstande sind. Der Nachteil ist allerdings der, daß man durch diese theoretische Ausrichtung auch vieles an der Situation nicht erkennt, was eventuell problemrelevant ist; insoweit dies zutrifft, war die vorherige theoretische Arbeit mangelhaft. Das zeigt sich spätestens in der Phase der Auswertung. Eine zweite Art der Anwesenheit von Theorie im Handeln sind die expliziten Handlungsentwürfe. Sie stellen eine Vermittlung von Vorüberlegungen und Voreinstellungen mit der Wirklichkeit dar. Dabei gilt, „daß der Übergang von der Theorie zum Handeln nicht einfach ein Anwenden oder Ausführen ist. Zwar hat... das Handeln, insofern wir es konzipieren, diesen Aspekt, aber im wirklichen Tun kann man kaum umsichtig genug sein." Es passiert also im praktischen Handeln immer mehr und anderes als das Vorbedachte und Gewollte. Insofern ist jedem praktischen Handeln eine (latente) innovative Kraft eigen, die sowohl auf die Theorie als auch auf das Handeln selbst zurückwirkt.

An dieser Stelle bezeichnet Wohlrapp handlungstheoretisch begründet Möglichkeiten für den politischen Unterricht, daß Schüler in sozialen Experimenten sich forschend der Problemlösung nähern. Aus seiner theoriegeleiteten Perspektive kann pädagogisches Tun von Lehrern und Schülern also als forschendes Handeln interpretiert werden. Seine Perspektive lädt gleichzeitig dazu ein, die Bedeutung der Voreinstellungen der Beteiligten für das Experiment und seinen Verlauf zu bemessen.

Diese Phase der rekonstruktiven Handlungsdeutung nennt Wohlrapp „Forschung II: Auswertung" In ihr geht es darum, das Getane als Handeln in einer problemgeladenen Situation zu bestimmen. Kurz: „Die vierte Phase des Zyklus ist die Auswertung der veränderten Si-tuation auf das hin, was erreicht worden ist.“ Dieser Abschnitt der Rekonstruktion von Handlungsstrukturen kann nicht positionsunspezifisch in einer objektiven Analyse bewältigt werden. Es ist eher anzunehmen, daß bei der Analyse und Beurteilung ähnliche Kontroversen auftreten werden wie in der Phase der „Darstellung I“: „Thema dieser Argumentation sind Beschreibungen der Handlungen und ihrer Folgen als Konkretionen der dem Handeln systematisch voraufgegangenen Darstellung. Anders ausgedrückt: Die Argumentation geht darum, in welcher Beschreibung die Handlungen in die Darstellung eingefügt werden sollen."

Dabei ist anzunehmen, daß in der Kontroverse Handlungsbeschreibungen positionsspezifisch und positionsmodifizierend ausfallen werden. Jede Seite wird versuchen, möglichst viel von den unstrittigen Ergebnissen für sich zu reklamieren und in ihre Position „einzubauen". Weiterhin werden in dieser neuen Argu. mentationssituatiön die verschiedenen Ausgangsthesen gestärkt, modifiziert und auf den „neuesten Stand" gebracht. Thema der Rekonstruktion in der Auswertungsphase sind demnach nicht nur die Handlungen der Phase „Forschung I", sondern auch die theoretischen Bemühungen von „Darstellung I: Erklärung und Kritik", und von „Darstellung II : Vorstellung und Begründung".

Lernen — ein Fortschreiten in Handlungszyklen

In der Darstellung der nun veränderten Situation spezifizieren sich die verschiedenen Positionen neu. Wird diese Situation ebenfalls als problemgeladene erfahren, so beginnt eine Kontroverse darüber, ob die Problemverschiebung progressiv sei, sowohl im Sinne der Betroffenen als auch bezüglich des bisherigen Handelns. Mit dieser neuen Kontroverse treten die Akteure bereits in einen neuen Zyklus bewußten Handelns ein, welcher, systematisch betrachtet, die gleiche Struktur hat wie der gesamte zuvor beschriebene Zyklus.

Mit der theoretischen Explikation dieser zyklischen Struktur und den darin enthaltenen handlungsund argumentationstheoretischen Implikationen meint Wohlrapp geklärt zu haben, wie beim bewußten, problembezogenen Handeln Erkennen, Argumentieren und Handeln notwendig ineinander greifen. Er zeigt dabei, daß praktisches Tun, soll es zu bewußtem Handeln sich entfalten, von Theorie umschlossen sein muß.

Wohlrapp läßt umrißhaft bei seinen Bemühungen eine Theorie dialektischen Handelns erkennbar werden, die, auf die politische Bildung gewendet, einen Idealtypus bewußten, problembezogenen Handelns bezeichnet. Unter welchen Bedingungen dieser innerhalb und außerhalb von Schule Wirklichkeit werden kann, soll bei der Betrachtung des nun beschriebenen Fallbeispiels erörtert werden. Dabei erfährt die systematische Darstellung des Zyklus insofern notwendige Relativierungen, als seine idealtypische Form, wie sie im Modell „Handlungsforschung" gegeben ist, mit der Beschreibung unterrichtlicher Wirklichkeit zusammen gelesen werden kann. Dabei erweist sich Wohlrapp's Begriff von Handeln als theoretische Möglichkeit, latente Innovationschancen jenseits des nur Pläne ausführenden pädagogischen Handelns zu erkennen und (eventuell) zu realisieren.

„Handlungsforschung" — eine Anleitung zur Rekonstruktion und Konstruktion von Vorhaben zur politischen Bildung

Wir gehen davon aus, daß sich politische Bildung am wirkungsvollsten vollzieht, wenn sie als problembearbeitendes Handeln organisiert werden kann. In dieser Annahme sehen wir uns auch durch Leon Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz bestärkt. Sie hält aus lerntheoretischer Sicht Erklärungen dafür bereit, warum sich widersprechende Verständnisse eines Problems bedeutsam dafür sind, daß sich Menschen um ein neues Modell zur Erklärung einer Situation bemühen und dabei diese und sich verändern In diesem Sinne sollte politischer Unterricht Kinder und Jugendliche sich zunehmend in dem „gesellschaftliche(n) Kräftespiel (handelnd erfahren lassen),... das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat“ Adorno hat das gesellschaftliche Kräftespiel als einen Gegenstand des Lehrens bezeichnet und dafür plädiert, daß sich politischer Unterricht in Soziologie verwandeln müsse

Die Diskussionen in den letzten fünfzehn Jahren um die Pragmatik sozialwissenschaftlicher Theorie veranlassen uns, Adornos Plädoyer dahingehend zu erweitern, daß im politischen Unterricht die Soziologie als eine Handlungsweise praxisrelevant werde, „durch die die Gesellschaft, als Subjekt unterstellt, sich ihre'Beschränkungen und Widersprüche bewußt macht, so daß Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden, die zu ergreifen aus dem zunächst nur unterstellten Subjekt mehr und mehr ein tatsächlich denkendes und handelndes Subjekt machen können"

Insofern der Jugendliche und Heranwachsende bewußtwerdender Teil von Unterricht als einer Einrichtung der Gesellschaft ist, erfährt er, daß Handeln mehr ist als das Aktualisieren von Schemata. Denn Anwesenheit von Soziologie im politischen Untericht meint nicht einfach das Anwenden des Wissens einer Theorie. Vielmehr ist sozialwissenschaftliche Expertise dann in einem Unterricht anwesend, wenn ein theoretischer Ansatz sich als handlungsleitend erweist.

Daß dies möglich ist, macht beispielhaft die Rekonstruktion eines Unterrichtsmodells deutlich, das Antwort der politischen Bildung auf Fragen war, die vom Medienereignis „Holocaust" als Probleme unserer Gesellschaft vergegenwärtigt worden waren. Harald Wohlrapps Modell erweist sich dabei gleichzeitig als eine Anleitung zur unterrichtlichen Selbst-reflexionund läßt Aufmerksamkeitsrichtungen für eine problemorientierte Analyse unterrichtlichen Handelns deutlich werden. Es sind nämlich nicht nur thematische Widersprüche — unterschiedliche Verständnisweisen von Zeitzeugen für Formen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft z. B. —, die Schüler zu eigenem Handeln im Unterricht bewegen, sondern ein Mangel an Problemlösungskapazität der Schüler selbst — Defizite im Wissen um den Alltag im Nationalsozialismus — tritt als Widerspruch in der Schul-und Unterrichtssituation hinzu. Wohlrapps Überlegungen zu einer Theorie sozialen Handelns bestimmen folglich den politischen Unterricht als Handlungsgeschehen nicht nur mit einem thematischen Problembezug, sondern auch mit einem situativen Problembezug.

Betrachtet man die Motivierung zu problembezogener Selbsttätigkeit als ein zentrales Kriterium gelungenen Unterrichts, so hat der Lehrer in der Analyse und in der Planung von Unterricht handlungsprovozierende wie handlungshemmende Faktoren auf beiden Ebenen und ihr Verhältnis zueinander zu bedenken. Insofern kann der oben dargestellte dialektische Handlungsbegriff wie das aus ihm entfaltete Modell selbstforschenden Handelns als Anstoß und Orientierungshilfe insbesondere zur Weiterentwicklung der Methodik des politischen Unterrichts gewertet werden.

Exkurs: Eine Fernsehserie zur Zeitgeschichte als handlungsprovozierendes Medienereignis

In einer Studie, die von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert wurde, haben wir die Reaktionen Jugendlicher auf die Fernsehserie „Holocaust" untersucht. Neben eher affirmativ rezipierenden Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren haben wir dabei Arbeiten von Angehörigen der gleichen Altersgruppe kennengelernt, an deren Anfang thematische und situative Probleme — wie die oben beschriebenen — standen. Sie veranlaßten sie, auch gegen Widerstand aus Teilen der Bevölkerung, die historische Wirklichkeit des Lebens und Leidens jüdischer Mitbürger unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu rekonstruieren und über die Ergebnisse ihrer Arbeit Öffentlichkeit herzustellen. Inwieweit es Sinn macht, den Versuch einer dialektischen Handlungstheorie für den politischen

Unterricht zu nutzen, machen die Arbeitsergebnisse und das Lernklima deutlich, die die Gruppen sich erarbeiteten. Sie werden im folgenden Szenario charakterisiert:

Ort, Zeit und Personen der Handlung: Gesamtschule in Altenkirchen/Westerwald, April 1979, 15 Jugendliche im Alter von 15 bis 18 Jahren, Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft „Spurensicherung in Hadamar“;

Auf einem Couchtisch: Fotos, Faksimile von Dokumenten aus dem Stadtarchiv, Tonbandprotokolle, Video-Monitor;

Vorhaben: Redaktionskonferenz der Arbeitsgruppe für eine Video-Produktion;

Eine Arbeitsgruppe zieht Bilanz: Die Jugendlichen diskutieren Leitfäden für Interviews mit Suchtkranken, die in der Klinik in Hadamar untergebracht sind. Die Auswahl dieser Zielgruppe ist ebenso wie die der Fragen an sie ein Ergebnis des Projekts, an dem sie arbeiten, nachdem sie gemeinsam die Fernsehserie „Holocaust" gesehen und sich im nahen Hadamar auf die Suche nach Spuren der im Film angesprochenen Opfer gemacht hatten.

Recherchen im Stadtarchiv hatten Aufschluß über den Umfang des planvollen Massenmords an jüdischen Mitbürgern wie an Behinderten ergeben. Die Suche nach Augenzeugenberichten an Straßenecken und in Wirtshäusern führte zu einer weitreichenden Erfahrung: Die Jugendlichen wurden darauf aufmerksam, daß Fragen nach der Schuld und Mitschuld jüdischer Familien und behinderter Mitbürger mit Formen der Rationalisierung und Schuldabwehr beantwortet werden. Vor allem aber stießen sie auf eine fortbestehende Tradition von Aggressivität gegenüber Minderheiten. Damals wie heute werden Kranke und Behinderte ausgegrenzt, werden Fremde zum Projektionsschirm für Aggressionen.

Die Jugendlichen beschließen, für sich und ihre Gesprächspartner einen Film über die Situation der Suchtkranken herzustellen.

Die Fernsehserie „Holocaust" mit ihrer fiktiven Geschichte zweier Familien als Repräsentanten der Täter, Opfer und Mitläufer in einer Gewaltherrschaft war zunächst Anlaß, Empfindsamkeit gegenüber den Opfern und Abscheu gegenüber den Tätern zu entwickeln. Als handlungsprovozierende Störungen in ihrer sozialen Wirklichkeit erwies sich zum einen der Hinweis in der Serie, daß das vierzig Kilometer entfernte Hadamar ein Schauplatz verbrecherischer Politik im Nationalsozialismus gewesen war, zum anderen die Erfahrung, daß ihr bisheriges Wissen um das Euthanasieprogramm im NS-System eher den Charakter einer Sammlung von Andeutungen hatte. In einer ersten Reaktion, die eher medienkritisch gerichtet war, stellten sie sich vor allem die Frage, inwieweit ein Fernsehspiel die menschliche Katastrophe des Massenmordes realitätsgerecht darstellen könne. Der eigene Erfahrungsschatz sowie ihr Vorstellungsvermögen reichte für eine Antwort auf diese Frage nicht hin; die Suche nach einer Lösung wurde zum Problem. Das bedeutete gleichzeitig für diese Jugendlichen, die Kritik nicht nur auf das eigene Wissen zu konzentrieren, sondern auch die Formen in die Kritik einzubeziehen, in denen sie sich Wissensorientierungen bislang angeeignet hatten. Diese Problemstellung als Folge einer Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Serie führte zu der Einsicht, daß zweckmäßigerweise Grenzen des Lernorts Schule da zu überschreiten seien, wo in seinem Rahmen Fragen nicht zu beantworten sind und zu vermuten ist, daß andere Quellen gesucht werden müssen. Auf die Suche nach ihnen begaben sie sich mit Mikrofon und Videokamera und betrachteten Straßenecken und Wirtshäuser in Hadamar als mögliche Lernorte.

In einer Feldstudie begannen Schüler im Alter von 15 bis 18 Jahren im nahen Hadamar nach Spuren ehemals ortsansässiger jüdischer Familien zu suchen. Nach mehreren Anläufen in Behörden verlagerte sich das Interesse auf die Frage nach dem Geschehen in der Anstalt Hadamar und ihrer Bedeutung im Euthanasie-Programm des NS-Regimes. In Gesprächen auf der Straße und im Wirtshaus wurden sie auf Formen der . Rationalisierung’ der Verbrechen und der Schuldabwehr aufmerksam gemacht. So erhielten sie im Gespräch am Stammtisch in Hadamar auf die Frage nach den Verantwortlichkeiten für das Euthanasie-Programm Antworten wie: „Das geschah im Interesse der Behinderten. Die hätten sowieso nur eine unglückliche Zukunft gehabt. Die lagen der Gemeinschaft doch nur auf der Tasche.“ „Die Vernichtung lebensunwerten Lebens wurde von Hitler befohlen. Selbst die Krankenpfleger (die die Todesspritzen verabreichten) konnten sich nicht auflehnen. Andernfalls wären sie Gefahr gelaufen, selbst umgebracht zu werden."

Auf der anderen Seite trafen sie im gleichen Kontext auf Zeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus in Hadamar, die vom öffentlichen Widerspruch einzelner Pfarrer gegen das Vernichtungsprogramm erzählten und berichteten, wie einzelne ihren jüdischen Mitbürgern halfen, die vom NS-Staat aufgezwungene materielle Not zu überleben.

Bedeutungsvoller für den weiteren Verlauf des Projekts war aber der in den Interviews offenkundig werdende Tatbestand, daß Behinderte damals wie heute als Fremde aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Die Schüler bargen in solchen Gesprächssituationen reichlich empirisches Material, das von einem Nachleben des Nationalsozialismus in der Gegenwart zeugt. Die Sprache, die ihre Gesprächspartner im Umgang mit Behinderten fanden, erwies sich als von derselben menschenverachtenden Gewalt, die sie in der Fernsehserie bei den Tätern beobachtet hatten. So wurden die Suchtkranken, die heute in der Klinik in Hadamar untergebracht sind, u. a. als „Pestbeule am Volkskörper" bezeichnet, die „ausgemerzt werden“ müsse. In ihrem sozialen Experiment erfuhren die Jugendlichen aber auch, daß sie selber dazu neigten, die in der Anstalt lebenden Suchtkranken zu stigmatisieren und auszugrenzen. Die Spuren psychischer Regression im eigenen Be-wußtsein, auf die sie stießen, veranlaßten sie, die Menschen entdecken zu wollen, die in ihrer Vorstellung unkenntlich gemacht waren. Im Umgang mit ihren ersten Gesprächspartnern vollzog sich in diesem Zusammenhang ein Erkenntnisprozeß, dessen Ergebnis eine Schülerin so zusammenfaßte: „Für das, was vor vierzig Jahren geschehen ist, kann man die ältere Generation nicht generell verantwortlich machen, aber uns kann man für Gegenwärtiges verantwortlich machen."

Diese Einsicht war nicht Endpunkt eines Lernprozesses, sie war vielmehr Durchgangsstation auf dem Weg zu weiteren eigenen Initiativen, die in der Produktion eines informativen Filmes über Lage und Probleme der Sucht-kranken zusammenliefen. Mit den Mitteln des Mediums, mit dem sie sich ihre Umgebung zugeeignet hatten, gingen sie daran, einen ersten Film einer Reihe zu produzieren, mit der sie Minderheiten unseres Volkes der Mehrheit vorstellen wollen.

Ein Versuch zur Modellbildung: Anstöße und Orientierungshilfen eines Mediums

Die Situationen eines politischen Unterrichts in den Begriffen eines Modells zu fassen, soll in erster Linie die Verknüpfungsregeln zugreifbar werden lassen, die pädagogisches Handeln erfolgreich machen. Wohlrapps Konzept einer dialektischen Handlungstheorie dazu heranzuziehen, ist, wie wir gezeigt haben, vor allem darin begründet, daß er die Phasen der Aneignung einer Problemsituation mit dem Ziel verbunden hat, zu verdeutlichen, wie emanzipatorisches Lernen sich vollzieht. Es zeigt sich dabei, wie die einzelnen Schritte dieses Prozesses auseinander hervorgehen. Das Modell erlaubt, die Entwicklung nachzuzeichnen, in deren Verlauf ein einzelner oder eine Gruppe unbegriffene Zwänge einer Gesellschaft bearbeiten. Um dieses Modell für eine Unterrichtsanalyse wie für die Planung vergleichbarer Projekte handhaben zu können, fasse ich es in der folgenden Skizze zusammen:

Ein Vergleich der Kurzbeschreibung des Altenkirchener Projekts mit diesem Modell zeigt, daß die vom Fernsehspiel „Holocaust" und dessen Rezeption geschaffene Problem-lage forschendes Handeln provozierte, ja, daß Inhalt und Dramaturgie der Serie Orientierungshilfen für einen Prozeß der „Spurensicherung" als politischer Selbstbewußtwerdung enthielten. Wir wollen dies an , lernstrategisch'bedeutsamen Situationen des Altenkirchener Projekts verdeutlichen:

Zunächst provozieren Serie und Vorberichterstattung in den Medien bei den Schülern die Erfahrung, daß ihnen kaum oder nur andeutungsweise Informationen darüber zugegan~ gen waren, was sich vierzig Kilometer von ihrem Heimatort entfernt in der Zeit des Nationalsozialismus in Hadamar im Rahmen des Euthanasieprogramms abgespielt hatte.

Daneben erwies sich das bislang in der Schule vermittelte Wissen als in dieser Situation kaum verwendbar.

Beide Erfahrungen, miteinander in einem Akt der Problemdarstellung und -interpretation vermittelt, ließen auf dem Hintergrund der durch die Serie offenkundig gemachten Widersprüche zwischen konventionellem Wert-system und politischem Alltag im Nationalsozialismus einen eingeschränkten Informationsstand als eine Fessel erfahren, die die Jugendlichen in ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Zugleich haben sie den entfesselnden Charakter dieses Tatbestandes handelnd-erkannt: Die Widersprüchlichkeit zwischen eingeschränkter Information aus der Schule und neuen Informationen via Serie provoziert bei ihnen Handlungsentwürfe und forschendes Handeln: Sie sind motiviert, sich selbständig neue Informationsquellen zu erschließen. Wohlrapp sieht in diesem Moment ein Charakteristikum der zweiten Phase zunehmenden Selbstbewußtwerdens eines Subjekts

Handeln vor Ort als Tätigwerden wird für die Jugendlichen zu einem Teil des Argumentationsprozesses, in dem sie sich ihre Problem-lage erklären. Auf den Stufen I und II der Darstellung der Problemsituation haben sie „theoretisch gehandelt", jetzt argumentieren sie praktisch.

Einem Handeln, das forschend Widersprüche bearbeitet, kommt demnach im Prozeß der Selbstbewußtwerdung eine integrierende und das Problem progressiv verschiebende Funktion zu. Diese Funktion kann es erfüllen, weil es die in der Vorstellung formulierten Handlungsentwürfe im Handeln zur Wirklichkeit bringt.

Das hat Konsequenzen nicht nur für die Beziehungen innerhalb des sozialen Systems, in dem die Akteure leben, etwa im Umgang mit Angehörigen der Augenzeugen-Generation, sondern es spiegelt sich auch in der Struktur des Unterrichts. So organisiert die Altenkirchner Schülergruppe zunehmend ihre Arbeiten und deren Auswertung selbst — ein Zeichen der Subjektwerdung im Unterricht Für ihr Selbstverständnis, ihr Verständnis von Offentlichkeit und den Umgang mit Angehörigen der Augenzeugen-Generation bringt das forschende Handeln in Interviews formtranszendente Handlungsperspektiven: Die Schüler aus Altenkirchen, die begonnen hatten, die Spuren jüdischer Familien in Hadamar nachzuzeichnen, stoßen bei ihren Recherchen -wie bereits dargestellt — auf Problemschich. ten, die sie im stärkerem Maße betreffen: Sie entdecken eine fortbestehende Aggressivität gegenüber Fremden, Kranken und Behinderten und stellen bei der Auswertung der Interviews fest, daß sie selbst — in Sprache und Gefühl — dazu neigen, insbesondere Sucht-kranke auszugrenzen. Das aber bedeutet, daß die Auswertung der Phase III einen beachtenswerten Sprung im Prozeß der Bewußtwer. düng hervorbringt: Das forschende Handeln und seine Zielsetzungen werden durch die Assoziation und Reflexion des eigenen Verhaltens neu bestimmt, die Problemsituation neu gefaßt.

Diese Tatsache, daß sie in ihrem Bewußtsein und Verhalten jene psychische Regression aufspüren können, die die Äußerungen von Angehörigen der älteren Generation bestimmt, provoziert zum einen, daß sie ihr Verhältnis zu ihnen neu fassen — noch einmal das Zitat: „Für das, was vor vierzig Jahren geschehen ist, kann man die ältere Generation nicht generell verantwortlich machen, aber uns kann man für Gegenwärtiges verantwortlich machen."

Zugleich wollen sie aber ihre Kritik an der passiv-hinnehmenden Haltung der älteren Generation in der weiteren Perspektive des Projekts aufrechterhalten. Entsprechend nehmen sie sich für das Projekt vor, sich und ihre Gesprächspartner durch Interviews mit den Suchtkranken über deren Lage aufzuklären.

Das Verfahren der Feldstudie, einen Widerspruch handelnd zu bearbeiten, wird auch in der neuen Problemlage genutzt — offenbar ist dazu eine (relativ stabile) Kompetenz entwik-kelt worden; das neue Bewußtsein von Öffentlichkeit erweist sich so stark, daß die Gruppe entschlossen ist, ihre Beziehungen zu den Suchtkranken als einer Randgruppe umzuprägen.

So folgt der Auswertung des ersten Zyklus ein neuer, der eine qualitative Veränderung ihrer Problemlage signalisiert. Beim Versuch, widersprüchliches Verhalten gegenüber Sucht-kranken zu erklären, erkennen sie, daß dies kein individuelles Problem ist, sondern eines, das die gesamte Bevölkerung betrifft. Sie beB schließen, einen Film über die Situation der Suchtkranken in Hadamar zu drehen und somit aktiv in das Bewußtsein der Öffentlichkeit einzugreifen.

Dieser Handlungsentwurf zeigt an, daß sich der Umgang der Gruppe mit den Medien während des Versuches grundlegend geändert hat: Standen sie zu Beginn des Vorhabens der Serie „Holocaust" zunächst wie anderen Medienprodukten primär als Konsumenten gegenüber, so gehen sie nun aktiv mit dem Medium um.

Die unterrichtliche Bedeutung des oben dargelegten dialektischen Handlungsbegriffs ist aber nicht nur auf den Entwurf von Projekten zu beschränken. Er impliziert — wie wir über die Dimension des situativen Problembezugs angedeutet haben — auch Anleitungen zur Selbstreflexion des Unterrichts durch Schüler und Lehrer. Soziale Probleme in einer Klasse, die sich alltäglich zeigen, wenn Schüler sich dem Unterricht verweigern, stellen als Störungen die Herausforderung an Lehrer und Schüler dar, kollektiv aktuelle Problemsituationen zu rekonstruieren. Anleitungen dazu können für die Schüler ein Einstieg ins bewußte und begründete unterrichtliche Handeln sein.

Rekonstruktion, Kritik und praktische Änderung sollten als zentrale Kategorien des Handlungsmodells dem „Unterricht über Unterricht“ Struktur geben und Erfahrungsfortschritte ermöglichen, so daß die anfänglichen sozialen Probleme das Handeln nicht mehr behindern können. Problembezogenes Handeln, das Alltagserfahrungen der Jugendlichen zu Ausgangspunkten von Unterricht macht, erweist sich als ein tragendes Prinzip für Innovation im Unterrichts-und Bildungsgeschehen. Zugleich zeigt die Diskussion des Modells im Blick auf einen neuen Ansatz für den politischen Unterricht, wie nahe sozialwissenschaftliche Theorie erziehungswissenschaftlich fundierten Konzepten wie dem des „Unterricht über Unterricht“ sein kann.

Für die Weiterentwicklung der Didaktik und Methodik der politischen Bildung bedeutet dies, daß sie sich, stärker als bisher, von der Theoriebildung in den Sozial-und Erziehungswissenschaften anregen lassen sollte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. H. Wohlrapp, Handlungsforschung, in: Mittelstraß (Hrsg.), Methodenprobleme der Wissenschaften im gesellschaftlichen Handeln, Frankfurt 1979.

  2. Ebenda, S. 136.

  3. Ebenda, S. 141.

  4. Ebenda, S. 142.

  5. H. Treinen, Arbeitslose Jugendliche — Hilfe von dem „starken Mann“, in: Arbeitnehmer, 1979 27(9) S. 326— 328.

  6. E. Stein, Allgemeine Grundlegung der Hessischen Rahmenrichtlinien (hektogr. Manuskript) 1979, S. 8.

  7. Hess. Kultusminister, Entwurf: Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre, Sekundarstufe 1 (hektogr. Manuskript), S. 390.

  8. Ebenda.

  9. E. Stein, a. a. O„ S. 11.

  10. Eine Anleitung zur Lebensweltanalyse bei Jugendlichen findet sich bei: D. Baacke, Die 13— 18jährigen, München 1976.

  11. Wohlrapp, a. a. O., S. 199.

  12. Ebenda, S. 200.

  13. Ebenda, S. 201.

  14. Ebenda, S. 154.

  15. Ebenda, S. 156.

  16. Ebenda, S. 157.

  17. Ebenda, S. 159.

  18. Ebenda.

  19. Ebenda.

  20. L. Festinger, Theory of Cognitiv Dissonance, New York 1957.

  21. T. W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt 1975*. S. 104.

  22. Ebenda.

  23. Wohlrapp, a. a. O., S. 146.

  24. Ebenda, S. 154.

  25. Ebenda.

  26. T. Heinze, Unterricht als soziale Situation, München 1976.

Weitere Inhalte

Hans-Joachim Lißmann, Dr. phil., geb. 1944; Akad. Oberrat an der J. W. Goethe-Universität, Fachbereich Erziehungswissenschaften; Arbeitsschwerpunkte: Methodologie der Unterrichtsforschung, Methodik der politischen Bildung. 1967— 1970 Lehrer; 1970— 1975 Zweitstudium der Politikwissenschaften, Erziehungswissenschaften, Neueren Geschichte und Ev. Theologie; von 1971— 1974 Wiss. Mitarbeiter an der Hess. Stiftung Friedens-und Konfliktforschung. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Hans Nicklas/Änne Ostermann) Vorurteile und stereotype Muster in Schulbüchern, in: Anita Karsten (Hrsg.), Vorurteil, Darmstadt 1978; Zielprojektion „Frieden" — Schulgeschichtsbücher als Medien einer Erziehung zum Frieden, in: Horst Schallenberger/Gerd Stein, Zur Sache Schulbuch, Bd. 7, Kastellaum 1978; Bruchstellen im Wertsystem: Jugendliche und Nationalsozialismus, in: medium 1/81; „Holocaust" als Medium politischer Bildung, in: b: e 3/81; Beispiele für Unterrichtsforschung im politischen Unterricht, in: Volker Nitzsche/Fritz Sandmann, Neue Ansätze zur Methodik des politischen Unterrichts, Stuttgart 1982.