I.
DieAbschnitte I, II, VIund VIIder vorliegenden Abhandlung sind Auszüge aus dem Vorwort, der Einleitung, dem Kapitel „Ergebnisse" und dem Schlußkapitel meines im Herbst 1982 im Verlag C. F. Müller, Heidelberg, erscheinenden Buches„NS-Verbre-chen vor Gericht — Versuch einer Vergangenheitsbewältigung". Die Abschnitte III bis Venthalten unter Verzicht aul die Erörterung rechtlicher Probleme (z. B.der Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag und zwischen Täterschalt und Beihille) nur stichwortartig Informationen über die Entwicklung der Stralverfolgung von NS-Verbrechen und die damit verbundenen Schwierigkeiten. In dem genannten Buch nimmt diese Darstellung einen Raum von mehr als 200 Seiten ein. „Ich habe hier bloß ein Amt und keine Meinung" läßt Schiller den schwedischen General Wrangel zu Wallenstein sagen. Bei der Lektüre der von mir um die Jahreswende 1978/79 auf dem Höhepunkt der öffentlichen Diskussion um die Frage der Aufhebung der Verjährung für Verbrechen des Mordes vorgelegten, kurz gefaßten Dokumentation „Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945 — 1978“ mögen manche an dieses Wort gedacht haben, wenn sie dort vergeblich nach einer deutlichen persönlichen Stellungnahme gesucht haben sollten.
Nach mehr als 18jähriger beruflicher Tätigkeit auf dem Gebiet der Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen hatte ich damals und habe ich heute dazu sehr wohl eine Meinung und ich hatte diese bei meinen Anhörungen durch den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages und auch anläßlich von Presse-Interviews unmißverständlich zum Ausdruck gebracht. Damals, zu Beginn des Jahres 1979, kam es jedoch in erster Linie darauf an, rechtzeitig vor der Entscheidung des Deutschen Bundestages Informationsmaterial vorzulegen, das alle für die Entwicklung und den Stand der Strafverfolgung der NS-Verbrechen wesentlichen Gesichtspunkte enthielt, dabei aber doch so knapp gefaßt war, daß auch der vielbeschäftigte, mit dem Problemkreis nicht unmittelbar befaßte potentielle Leser nicht davor zurückschreckte, einen Blick hineinzuwerfen.
Damals ebenso wie heute war und bin ich davon überzeugt, daß die Entscheidung über Beibehaltung oder Aufhebung der Verjährung für Mordverbrechen nicht die praktischen Auswirkungen auf die Anzahl der letztlich noch zur rechtskräftigen Verurteilung kommenden Fälle von NS-Verbrechen haben würde, wie dies manche davon offenbar erwarteten. Den Ausschlag für oder gegen die Verjährung konnten daher nur die schwerwiegenden rechtspolitischen Gesichtspunkte geben, die — mit unterschiedlichen Vorzeichen — sowohl von den Befürwortern wie von den Gegnern mit spürbarer innerer Anteilnahme und großem Verantwortungsbewußtsein vorgetragen wurden.
Mit einer weitgehend wertungsfreien Darstellung der Fakten hoffte ich einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion zu leisten, darüber hinaus den politisch Verantwortlichen eine Informationshilfe zu geben und gleichzeitig den Eindruck zu vermeiden, als wollte ich durch eine engagierte persönliche Stellungnahme mit allen Mitteln, vielleicht sogar — wie mir schon gelegentlich unterstellt wurde — aus eigensüchtigen Motiven, den Fortbestand der von mir geleiteten Dienststelle sichern. Nachdem im Sommer 1979 durch das Votum des Deutschen Bundestages für eine Aufhebung der Mordverjährung die Entscheidung gefallen ist und außerdem zu einer Zeit, in der sich — ob man es nun wahrhaben will oder nicht — die Möglichkeiten und Erfolgschancen einer Strafverfolgung von NS-Verbrechen ihrem Ende zuneigen, wird man mir heute, so hoffe ich, Motive dieser Art nicht mehr unterstellen wollen.
II.
Es ist noch zu früh, eine zahlenmäßige Abschlußbilanz der Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen zu ziehen. Eine Reihe von Strafverfahren ist derzeit noch im Gange; einige davon werden mit Sicherheit noch folgen. Das Gesamtbild dessen, was die Justiz der Bundesrepublik Deutschland auf diesem Gebiet zu leisten vermochte, werden die künftigen Prozesse jedoch gewiß nicht mehr beeinflußen können. Unter diesen Umständen erscheint es vertretbar, schon heute eine vorläufige Gesamtbetrachtung zu wagen. Wollte man damit warten, bis auch der letzte denkbare NS-Prozeß mit einer rechtskräftigen Entscheidung abgeschlossen sein würde, so riskierte man, daß von denen, die das „Tausendjährige Reich" selbst erlebt und erlitten hatten, nur wenige noch vorhanden sein würden, die den in völlig anderen Verhältnissen aufgewachsenen jungen Menschen unmittelbar auf die Frage antworten könnten, wie das denn eigentlich damals war.
Infolge des „Gleichgewichts des Schreckens" leben wir in einem Zeitabschnitt, der schon heute als die zweitlängste Friedensepoche in der bisherigen Geschichte Mitteleuropas gilt. Zwölf Jahre, drei Monate und acht Tage hatte das „Tausendjährige Reich" der Nationalsozialisten gedauert. Mehr als dreimal soviel Zeit ist inzwischen seit seinem Zusammenbruch vergangen. Wer zum Zeitpunkt der sogenannten „Machtübernahme" durch Adolf Hitler gerade volljährig geworden war, steht heute als über 70jähriger an der Schwelle des Greisenalters; wer zu Beginn des Zweiten Weltkrieges als 20jähriger zur Wehrmacht einberufen worden oder aus welchen Gründen auch immer in die SS oder Polizei eingetreten war, befindet sich heute nahezu im Rentenalter. Etwa 50 % der heute, im Jahre 1982, in der Bundesrepublik lebenden Deutschen sind erst nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes geboren; weitere etwa 15 % gingen bei Kriegsende noch zur Schule, das heißt, nahezu zwei Drittel der heutigen deutschen Bevölkerung kennen die NS-Zeit nur noch vom Hörensagen.
Ist angesichts dieser Umstände das, was zwischen 1933 und 1945 geschah, heute im weitesten Sinne noch Gegenwart? Wohl kaum.
Ebensowenig aber ist es Vergangenheit, die nun abgeschlossen ist und endlich aus der öffentlichen Diskussion weg in die Geschichtsbücher verbannt oder besser noch möglichst rasch ganz vergessen werden könnte. Zwar nicht im streng wissenschaftlichen, doch aber im menschlichen Erlebnisbereich steht zwisehen Gegenwart und Vergangenheit das, was man neuerdings mit einem Schlagwort die „unbewältigte Vergangenheit" nennt, ein Zeitabschnitt, der, obgleich schon lange Jahre zurückliegend, ständig und in jedem Augenblick — ob nun gewollt oder ungewollt — in die Gegenwart unmittelbar hineinwirkt.
Die Frage, was im weitesten Sinne noch gegenwartsbestimmend und was schon „bewältigte“ Vergangenheit ist, kann von einem einzelnen, einer Gruppe oder auch einer ganzen Nation nur individuell beantwortet werden. Man wird zurückliegende, das Leben eines einzelnen oder einer Gemeinschaft tiefgreifend beeinflussende Vorgänge nur dann als bewältigt gelten lassen dürfen, wenn man sich gedanklich und seelisch damit auseinandergesetzt, nach ehrlicher und vorbehaltloser Abwägung aller Umstände, gemessen an allgemein gültigen sittlichen Normen, eine Entscheidung über den Wert oder Unwert des damaligen Geschehens getroffen und daraus für sein zukünftiges Verhalten Lehren gezogen hat.
Notwendige Voraussetzung dafür ist jedoch die Kenntnis dessen, was geschehen ist. Man kann nun einmal aus der Geschichte nicht lernen, wenn man die Geschichte nicht kennt. Die Voreingenommenheit eines Teils der deutschen Bevölkerung gegen eine offene Diskussion der unter dem Einfluß des NS-Regimes begangenen Verbrechen beruht oft auf der Unkenntnis, mehr aber noch auf dem Nicht-Kennen-Wollen der damaligen Ereignisse. Bei den Zeitgenossen der Hitler-Diktatur mag das irrationale Widerstreben gegen jede irgendwie geartete Beschäftigung mit den schrecklichen Vorgängen jener Zeit, dieses oft deutlich erkennbare Streben nach Verdrängung, damit begründet sein, daß eine solche gedankliche Auseinandersetzung — und dies nicht selten gerade bei solchen, die seinerzeit selbst am wenigstens mit diesen Dingen zu tun hatten — bei ehrlicher Gewissenserfor-B schung zwangsläufig zu den meist keineswegs einfach zu beantwortenden Fragen hinführt: Was habe ich damals davon gewußt? Was wenigstens geahnt? Was hätte ich den Umständen nach erkennen müssen? Und schließlich: Hätte ich vielleicht doch noch selbst etwas dagegen tun können?
Manche mögen sich bei einem solchen Nachdenken möglicherweise dessen bewußt werden, daß man 1933 unmittelbar nach der soge-nannten „Machtübernahme", als das NS-Regime noch keineswegs fest im Sattel saß, dazu geschwiegen hat, als zunächst Kommunisten, dann Sozialdemokraten und schließlich auch Funktionäre bürgerlicher Parteien festgenommen, ohne Gerichtsurteil in Lager gesperrt und dort gequält worden waren. Man hatte auch zu den Aktionen gegen die Juden geschwiegen. Schließlich war man ja selbst weder Kommunist, noch Sozialdemokrat, Funktionär einer antinazistischen Partei oder gar ein Jude.
Junge Menschen, denen sich naturgemäß solche Fragen auf ihre Person bezogen nicht stellen können, sind einer gedanklichen Beschäftigung mit der NS-Zeit oft deswegen überdrüssig, weil ihnen — wie der Verfasser bei Diskussionen mit Schülern mehrfach zu hören bekam — diese in der Regel in einer generalisierenden, mehr theoretischen, politisch-wissenschaftlichen Form ohne individuelle Leitbilder angeboten wurde, in einer Form also, die ihre Aufnahmefähigkeit zu dieser Zeit noch überforderte und deshalb ihre Aufnahmebereitschaft dafür häufig auf Dauer herabsetzte. Bei Gesprächen mit Augenzeugen und bei der Konfrontation mit konkreten Einzel-schicksalen zeigten sie sich dagegen aufgeschlossen und interessiert. Als Parallele dazu mag gelten, daß die Behandlung des Kriegsgeschehens im Geschichtsunterricht gelegentlich ebenfalls eher Langeweile hervorruft, während die Schilderung einzelner Kriegserlebnisse — und sei es auch nur in der primitiven, marktschreierischen Form der sogenannten „Landser-Hefte" — begeistert aufgenommen wird.
Voraussetzung für eine Bewältigung jener Vergangenheit ist aber nicht nur die Kenntnis des Geschehens, sondern auch die Erkenntnis und Differenzierung von Ursache und Wirkung, und dies auch dort, wo es möglicherweise weh tut. Man sollte beispielsweise versuchen, sich klar zu werden über die Zusammenhänge zwischen dem sogenannten „Bromberger Blutsonntag", wo in den ersten Kriegstagen mehrere tausend Deutsche in Westpreußen von Polen ermordet worden waren, und dem damals schon viele Monate vorhergehenden, von Berlin bewußt und systematisch bis zum Siedepunkt angeheizten Volkstumskampf. Bei dem Gedanken an die heute sinnlos und verbrecherisch erscheinende Zerstörung Dresdens durch amerikanische und britische Bomben im Februar 1945 sollte man nicht vergessen, daß „coventrieren" eine schon 1940 entstandene deutsche Wortschöpfung war und daß die vielgepriesenen, seit 1944 verwendeten deutschen Raketenwaffen, die mangels Zielgenauigkeit gar nicht allein auf militärische Ziele gerichtet werden konnten und eine rechtzeitige Vorwarnung der Zivilbevölkerung weitgehend unmöglich machten, als reine Terrorinstrumente eingesetzt wurden. Niemand wird außerdem verlangen können, daß die bei der Besetzung der ostdeutschen Gebiete durch sowjetische Soldaten begangenen zahllosen Morde und Vergewaltigungen vergessen werden sollten. Man möge dabei aber auch daran denken, daß dem auf deutscher Seite der Befehl „Verbrannte Erde" vorausgegangen war, der anordnete, daß die deutschen Truppen bei ihrem Rückzug aus dem Feindesland ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nichts als eine Wüste hinterlassen sollten, und daß dann die sowjetischen Truppen, bevor sie deutschen Boden erreicht hatten, Hunderte oder gar Tausende von Kilometern durch dieses ihr geschundenes und oft sinnlos verwüstetes Land gezogen waren.
Mit einem solchen Hinweis sollen die Gewalt-taten der anderen Seite keineswegs beschönigt, entschuldigt oder gar gerechtfertigt werden. Meist gedankenlos, gelegentlich aber auch geflissentlich übersieht man aber die Tatsache, daß es sich — von Exzeßtaten einzelner abgesehen — bei den als NS-Verbrechen bezeichneten Mordtaten um eiskalt geplanten, unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden bürokratischen und technischen Mittel vollzogenen Massenmord handelte, ausgeführt in der Regel von Leuten, die zu ihren Opfern in keinerlei Beziehung standen und von diesen oder deren Landsleuten bis dahin selbst nicht die geringste Schädigung oder Beeinträchtigung erfahren hatten. Die Verbrechen der anderen Seite stellen sich dagegen fast immer dar als im Überschwang der Emotionen begangene spontane Racheakte einer jahrelang unterdrückten, entrechteten und als Menschen zweiter Klasse behandelten Bevölkerung. Die auf deutscher Seite seinerzeit von den Gewalt-taten unmittelbar Betroffenen mögen unter dem Eindruck der ihnen zugefügten Leiden eine solche Unterscheidung verständlicherweise auch heute noch für bedeutungslos halten. Sie macht jedoch die beiden Erscheinungsformen der Verbrechen weder vergleichbar noch aufrechenbar.
Daß die an der deutschen Zivilbevölkerung kurz vor und nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges begangenen Gewalttaten zwar — soweit es der Verfasser überblicken kann — nicht gerichtlich geahndet wurden, ja daß nicht einmal ein Versuch in dieser Richtung unternommen wurde, ist unbefriedigend und zu bedauern; daß diese Verbrechen (mit Ausnahme von polnischer Seite) im wesentlichen doch auch nicht bestritten werden, sollte bis zu einem gewissen Grad positiv registriert werden. Die Tatsache, daß „Lamsdorf", der Name eines Lagers, in dem unter polnischer Herrschaft Tausende von Deutschen ums Leben kamen, heute noch immer bei offiziellen polnischen Stellen als Reizwort gilt, und daß man sich auf Konferenzen darum streitet, ob die seit Jahrhunderten in Schlesien, Pommern und Ostpreußen ansässig gewesenen Deutschen nach dem Kriege „vertrieben" oder „umgesiedelt" bzw. „ausgesiedelt" wurden, mag nicht zuletzt in der Unsicherheit begründet sein, daß man — wie die jüngsten Ereignisse dort zeigen — mit einer eng im christlichen Glauben verhafteten Bevölkerung im materialistischen, von Grund auf religionsfeindlichen östlichen Lager keinen soliden Standort finden konnte, daß man aber andererseits Moskauer Direktiven folgend auf westlicher Seite oder auch nur zwischen beiden Positionen einen solchen nicht finden durfte. Man hat offensichtlich — um bei der Metapher zu bleiben — auch dort die Vergangenheit noch nicht bewältigt.
Ganz außerhalb jeder Betrachtungsweise von Abwägung oder Aufrechnung steht der Massenmord an den Juden — und Entsprechendes gilt für die Zigeuner —, gleich welcher Nationalität. Ihre einzige „Schuld" nach den Wertvorstellungen der nationalsozialisti.sehen Machthaber war es, von jüdischen Müttern geboren worden zu sein. Die Argumentation der Apologeten, ein führender jüdischer Funktionär habe zu irgendeinem Zeitpunkt den Deutschen —wohl besser gesagt: den Nationalsozialisten — „den Krieg erklärt", muß ins Lächerliche abgleiten, wirft man auch nur einen Blick in Hitlers 1925 entstandenes Buch „Mein Kampf", aus dem auch dem oberflächlichsten Leser deutlich erkennbar werden müßte, wer eigentlich wem schon zu welchem Zeitpunkt einen gnadenlosen Kampf bis hin zur Vernichtung angesagt hat. Es kommt dabei nicht darauf an, ob es nun sechs, vielleicht nur vier, möglicherweise aber auch sechseinhalb Millionen waren, die in den Gaskammern, unter den Schüssen der Exekutionskommandos oder auf Grund der unmenschlichen Verhältnisse in den Konzentrationslagern und Zwangsarbeitslagern ihr Leben verloren. Weder ist es die Aufgabe der Justiz noch hat sie dazu die Möglichkeit, genaue Zahlen zu liefern. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse zeigen jedenfalls, daß es sich mit Sicherheit um mehrere Millionen und nicht etwa nur um einige Hunderttausend gehandelt hat. Man sollte sich mit jenen, die den Holocaust als solchen leugnen, weil sich dank der insoweit exzellenten Verschleierungstaktik des NS-Regimes die Zahl der Opfer bisher noch nicht annähernd präzise feststellen ließ, nicht in größere Diskussionen einlassen. Mit der Art ihrer Argumentation führen sie sich in den Augen jedes verständigen und anständigen Menschen selbst ab absurdum. Vielmehr sollte man die Zeugnisse derer, die dabei gewesen sind, der Öffentlichkeit in jeder geeigneten Form zugänglich machen, um damit ein Bild von der „Qualität" und letztlich auch der Quantität des damaligen Grauens zu vermitteln. Auf diesem Gebiet vermag die Justiz heute und wohl auch noch in Zukunft einiges zu leisten. Wer aber nun glaubt, mit einer solchen ständigen Rückbesinnung würde man sich selbst den Blick in die Zukunft verstellen und den Interessen der Deutschen im In-und Ausland schaden, der verkennt völlig, daß es keineswegs eines Anstoßes von deutscher Seite bedarf, um andere daran zu erinnern, was 1933 bis 1945 in Europa geschah. Es lohnt sich auch einmal darüber nachzudenken, ob nicht das im Ausland hier und da zu beobachtende besondere Interesse, die Erinnerung an diese Dinge wachzuhalten, vielleicht wesentlich geringer wäre, wenn es nicht andererseits Leute gäbe, die alles daransetzen, um jene Verbrechen zu leugnen, zu verniedlichen, zu entschuldigen oder gar zu rechtfertigen. Man kann es gerade den Juden und Zigeunern am allerwenigsten verübeln, wenn sie sich energisch dagegen wehren, das Andenken ihrer durch das NS-Regime schuldlos in den Tod getriebenen Familienangehörigen und Glaubensgenossen in solcher Weise verunglimpfen zu lassen und sie, wie es einmal zutreffend ausgedrückt wurde, so ein zweites Mal zu ermorden. Man darf im übrigen sicher sein, daß sich das Ausland ganz von selbst und ohne jeden mittelbaren oder unmittelbaren Anstoß deutscherseits immer dann an die Untaten der Nationalsozialisten erinnern wird, wenn man dies dort, aus welchen Gründen auch immer — seien sie nun respektabel oder nicht — für opportun hält.
Die heute noch vielfach festzustellende Ablehnung der Strafverfolgung der NS-Verbrechen ist bei denen, die außer dem von ihnen offensichtlich mißverstandenen und regelmäßig im falschen Zusammenhang gebrauchten Schlagwort von der Unteilbarkeit des Rechts keinen anderen Grund für ihre Haltung zu nennen wissen als ihren Patriotismus, schwerlich anders als eine Überkompensierung einer Art von Minderwertigkeitskomplex zu verstehen. Sie glauben als Deutsche an Wertschätzung zu verlieren, wenn sie offenkundige Ver1 brechen der Vergangenheit eingestehen. Es entstehen so — wie Peter Noll es einmal formulierte — „neue aggressive Versuche, kollektives Selbstbewußtsein durch irrationale Identifikation mit einer künstlich berichtigten Geschichte herzustellen''. Nicht die NS-Prozesse sind es, die dem deutschen Ansehen in der Welt Abbruch getan haben und noch tun; dies haben vielmehr allein die diesen Prozessen zugrunde liegenden Verbrechen besorgt. Wer die NS-Prozesse aus Patriotismus ablehnt, zeigt nur, wie unterentwickelt sein Patriotismus im Grunde ist.
Man ist bei uns darangegangen, den durch das NS-Regime verursachten Schmutz aus dem deutschen Nest zu entfernen. Immerhin hat sich die deutsche Justiz mit der Strafverfolgung der nationalsozialistischen Verbrechen eine Aufgabe gestellt, wie sie staatliche Organe noch nie und nirgends zu lösen versucht haben. Mancherlei materiellen, personellen und zeitweilig auch politischen Schwierigkeiten zum Trotz, gegen das Widerstreben eines Teils der Gesellschaft und schließlich ausgestattet mit einem aus dem Jahre 1871 stammenden Gesetz, in dessen Vorstellungswelt das administrative Verbrechen, der staatlich befohlene Massenmord, noch keinen Platz hatte, demgemäß vielmehr der Einzelmord den Gipfel der Verbrechensskala bildete, das andererseits aber gerade durch seine ungebrochene Fortgeltung über verschiedene Herrschaftssysteme hinweg die Kontinuität des Rechts manifestiert — mit diesem Gesetz hat die deutsche Justiz den Versuch gemacht, auf dem ihr durch die verfassungsmäßige Ordnung zugewiesenen Gebiet der Ahndung individueller Schuld zur Bewältigung der Vergangenheit beizutragen. Niemand konnte ihr aus eigener Erfahrung sagen, wie man dies unter den gegebenen Umständen und unter Beachtung aller unverzichtbaren rechtsstaatlichen und humanitären Grundsätze anders und vor allem besser hätte machen sollen.
III.
Im Jahre 1943 hatten sich die Alliierten dafür entschieden, nach Beendigung des Krieges die Beseitigung des Nationalsozialismus und die Bestrafung seiner Machthaber und Funktionäre in eigene Regie zu nehmen. Mit dem „Londoner Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse" vom 8. August 1945 und dem im wesentlichen inhaltsgleichen Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 betreffend die „Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben", glaubte man geeignete rechtliche Mittel zur Erreichung dieses Zwecks gefunden zu haben. .
In dem vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg geführten, mehr als zehn Monate dauernden Prozeß hatten sich 22 Spitzenfunktionäre des NS-Regimes zu verantworten. Zwölf von ihnen wurden zum Tode, sieben zu lebenslangen oder langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. In drei Fällen erging ein Freispruch. Der ursprüngliche Plan der Alliierten, wonach noch weitere Prozesse vor dem Internationalen Militärgerichtshof folgen sollten, wurde fallengelassen. Die Aburteilung weiterer führender NS-Funktionäre sollte durch die Gerichte der einzelnen Besatzungsmächte jeweils in deren Besatzungszone erfolgen.
Vor dem amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg wurden in zwölf großen Prozessen — u. a. gegen ehemalige Führer der Einsatzgruppen und Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD, gegen eine Reihe von Generälen, Medizinern, hochrangigen politischen Funktionären, Juristen und Wirtschaftsführern — insgesamt 184 Personen angeklagt. Davon wurden 24 zum Tode und 118 zu lebenslangen oder langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Weitere Prozesse vor amerikanischen Militärgerichten fanden in Dachau, Darmstadt und Ludwigsburg statt. Insgesamt wurden — soweit dies durch die Justizbehörden der Bundesrepublik Deutschland festgestellt werden konnte — vor amerikanischen Militärgerichten gegen 1 941 Personen Prozesse geführt; 1517 von ihnen wurden verurteilt, davon 324 zum Tode, 247 zu lebenslanger und 946 zu zeitiger Freiheitsstrafe.
Britische Militärgerichte verurteilten von 1 085 angeklagten Personen 240 zum Tode.
Vor französischen Militärgerichten in Deutschland wurden gegen 2 107 Personen Strafverfahren geführt. 104 wurden zum Tode verurteilt. Außerdem ergingen durch Militär-gerichte in Frankreich und Französisch-Nordafrika Strafurteile gegen wenigstens 1918 deutsche Staatsangehörige. Hinzu kommen noch 956 Fälle von Abwesenheitsurteilen, die von französischen Militärgerichten in Frankreich gegen Deutsche ausgesprochen wurden.
Weiter wurden nach vorliegenden Informationen verurteilt:
in Belgien 75 Angeklagte, davon 10 zum Tode;
in Dänemark 80 Angeklagte, davon 4 zum Tode;
in Luxemburg 68 Angeklagte, davon 15 zum Tode;
in den Nieder-204 Angeklagte, landen davon 19 zum Tode;
in Norwegen 80 Angeklagte, davon 16 zum Tode;
In Polen ergingen laut einer polnischen Pressemeldung gegen insgesamt 5 358 Personen deutscher Nationalität Strafurteile wegen NS-Verbrechen. Unbekannt geblieben ist bisher die Zahl der von sowjetischen, tschechischen und jugoslawischen Gerichten verurteilten Deutschen. Man schätzt heute, daß seit 1945 insgesamt etwa 50 000 Deutsche von Gerichten ausländischer Staaten wegen ihrer Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu Strafe verurteilt wurden.
Nahezu alle, die von den Gerichten der Alliierten zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren oder bei denen die ursprünglich verhängte Todesstrafe später in eine Freiheitsstrafe umgewandelt worden war, wurden nach einigen Jahren begnadigt; sie befanden sich — dem Zugriff deutscher Strafverfolgungsorgane weitgehend entzogen — Mitte der fünfziger Jahre wieder in Freiheit.
IV.
Deutsche Gerichte und Staatsanwaltschaften nahmen im Spätsommer 1945 und im Laufe des Jahres 1946 ihre bei Kriegsende unterbrochene Tätigkeit wieder auf. Alliierte Skepsis sorgte zunächst dafür, daß sich die von deutschen Justizorganen betriebene Strafverfolgung ausschließlich auf solche Delikte zu beschränken hatte, die von Deutschen an Deutschen oder an Staatenlosen begangen worden waren. Das bedeutete, daß man sich deutscherseits nicht mit der Ahndung der zahlreichen Straftaten befassen durfte, die in den während des Krieges von der deutschen Wehrmacht besetzten Ländern oder in Konzentrationslagern an Ausländern begangen worden waren. Es kam eine große Zahl von Strafprozessen in Gang, die zumeist Vorgänge im Zusammenhang mit dem sogenannten „Röhm-Putsch" im Jahre 1934, Ereignisse um die berüchtigte „Reichs-Kristallnacht" im November 1938, ferner Einzeltaten in Konzentrationslagern, die Tötung von Geisteskranken in „Euthanasie“ -Anstalten, Denunziationen und als deren Folge Freiheitsberaubungen zum Gegenstand hatten; mehrere betrafen auch die Tätigkeit ehemaliger „Standgerichte" unmittelbar vor Kriegsende.
Durch Verordnungen der Besatzungsmächte wurde — unterschiedlich in den einzelnen Besatzungszonen — der Zuständigkeitsbereich deutscher Gerichte bis zum Jahre 1950 nach und nach erweitert. Formell fielen die letzten Schranken erst durch den sogenannten Überleitungsvertrag vom 30. März 1955
In den Jahren 1948/49 erreichte die Zahl der von deutschen Strafverfolgungsbehörden wegen NS-Verbrechen geführten Prozesse einen Höchststand Sie ging Anfang der fünfziger Jahre — teils begründet durch den Eintritt der Verjährung weniger schwerwiegender Delikte — mehr und mehr zurück.
Die meisten der bis zu diesem Zeitpunkt eingeleiteten Verfahren waren aufgrund von An-zeigen aus dem Kreis der Geschädigten in Gang gekommen. Inzwischen war der größte Teil der Zwangsverschleppten und der ausländischen Konzentrationslagerhäftlinge wieder in deren Heimatländer zurückgekehrt oder nach Übersee ausgewandert. In Deutschland war man nach der im Sommer 1948 erfolgten Währungsreform durch den Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz voll in Anspruch genommen. Die Zahl der Anzeigen ging zurück. Scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten bei der Beschaffung ausreichender Beweismittel, der Mangel an zeitgeschichtlichem Wissen, gelegentlich aber auch unzureichendes Engagement ließen manches bereits laufende Ermittlungsverfahren scheitern. Wohl wußten oder wähnten doch einzelne, daß schwere Verbrechen aus der NS-Zeit ungeahndet geblieben waren. Das Fehlen einer erkennbaren sachlich oder örtlich begründeten gesetzlichen Zuständigkeit stand jedoch zumeist der Einleitung neuer Verfahren im Wege. Verantwortliche Politiker glaubten — vermutlich nicht zuletzt in begründeter Sorge um ihre Popularität — auf Maßnahmen zur Ermöglichung einer systematischen, über Zuständigkeitsschranken hinausreichenden Aufklärung der NS-Verbrechen verzichten zu können.
In weiten Kreisen der Bevölkerung war man der Auffassung, die NS-Verbrecher, die den Krieg überlebt hätten und denen es nicht gelungen sei, im Ausland unterzutauchen, seien inzwischen aufgestöbert und von den Gerichten der Siegermächte oder den deutschen Justizorganen und Entnazifizierungsbehörden zur Verantwortung gezogen. Der Abschluß der Entnazifizierungsmaßnahmen, die Begnadigung der von den Besatzungsgerichten Verurteilten, die Wiedereinsetzung zahlreicher bis dahin wegen ihrer „NS-Vergangenheit" suspendierter Beamter aufgrund des sogenannten „ 131er-Gesetzes“ und nicht zuletzt wohl auch die Bemühungen um eine deutsche Wiederaufrüstung wurden als Anzeichen dafür gedeutet, daß sich das von vielen als leidig empfundene Kapitel der Verfolgung von NS-Ver-brechen seinem Abschluß näherte. Zahlreiche bisher nicht entdeckte, kriminell schwerst Belastete begannen bereits aufzuatmen.
Da begann sich Mitte der fünfziger Jahre das Blatt zu wenden: Eine Kette von Zufällen, begünstigt durch das unbekümmerte Auftreten eines ehemaligen hohen SS-Funktionärs, hatte im Jahre 1956 umfangreiche Untersuchungen ausgelöst. Sie führten schließlich zu dem inzwischen weithin bekannten „Ulmer-Einsatzkommando-Prozeß". Zehn Angeklagte, darunter mehrere SS-Führer, die das Entnazifizierungsverfahren im wesentlichen unbehelligt durchlaufen hatten, wurden im Sommer 1958 vom Schwurgericht in Ulm wegen der Beteiligung an der Ermordung mehrerer Tausend Juden im deutsch-litauischen Grenzgebiet zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Mit einem Schlag wurde der Öffentlichkeit vor Augen geführt, welche schwerwiegenden Verbrechen bis dahin nicht verfolgt worden waren. Die Justiz reagierte nunmehr unverzüglich. Angesichts der Tatsache, daß die für die örtlichen Staatsanwaltschaften und Gerichte bindenden Zuständigkeitsregeln der Strafprozeßordnung einer umfassenden und systematischen Aufklärung der Verbrechen hinderlich waren, beschloß die Konferenz der Justizminister und -Senatoren der deutschen Bundesländer im Herbst 1958 die Errichtung einer „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“.
Die Dienststelle begann ihre Tätigkeit wenige Wochen später am 1. Dezember 1958 in Ludwigsburg bei Stuttgart. Ihr ist die Aufgabe gestellt worden, alle erreichbaren einschlägigen Unterlagen (zunächst) über die außerhalb des heutigen Gebietes der Bundesrepublik Deutschland begangenen NS-Verbrechen — nicht dagegen über echte Kriegsverbrechen — zu sammeln, zu sichten, Tatkomplexe herauszuarbeiten und voneinander abzugrenzen; Tatverdächtige festzustellen und deren Aufenthalt zu ermitteln. Sodann sind die Vorgänge zur Einleitung von Ermittlungsverfahren an die jeweils für den Wohnsitz der Haupt-beschuldigten zuständigen Staatsanwaltschaften abzugeben. Darüber hinaus hat die Dienststelle den Auftrag erhalten, durch sachgerechte Verteilung der anfallenden Informationen die bei den Staatsanwaltschaften anhängigen Verfahren zu koordinieren.
In den Jahren 1959 bis 1964 waren der Zentralen Stelle durchschnittlich sieben bis zehn Staatsanwälte und etwa fünfzehn Bürokräfte zugeteilt, eine — wie später deutlich erkennbar wurde — völlig unzureichende Besetzung, gemessen an dem Umfang der Aufgabe. Alle praktischen Voraussetzungen für eine erfolg, versprechende Tätigkeit mußten erst erarbeitet werden. Es gab keine vergleichbare Einrichtung, deren Erfahrungen man sich hätte zunutze machen können. Trotz dieser ungünstigen Umstände gelang es schnell, eine größere Zahl aufsehenerregender Verfahren in Gang zu bringen. Man konnte zu dieser Zeit gewissermaßen aus dem vollen schöpfen. Im Frühjahr 1960 verjährten die bis zum Kriegsende begangenen NS-Verbrechen des Totschlags Bei weniger schwerwiegenden Straftaten war die Verjährung schon 1950 beziehungsweise 1955 eingetreten. Nur Mord war noch verfolgbar. Gleichwohl stieg infolge der nunmehr weitgehend systematischen Aufklärungsarbeit die Zahl der anhängigen Verfahren weiter an. Von den westlichen Staaten wurden schon ab 1960 einschlägige Dokumente in großer Zahl zur Verfügung gestellt oder es wurde deutschen Ermittlungsbeamten an Ort und Stelle die Auswertung von Archiv-material gestattet. In hohem Maße nachteilig wirkte sich jedoch die Tatsache aus, daß, bedingt durch die politischen Verhältnisse, den Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland seitens der Bundesregierung nicht erlaubt wurde, sich auch an die kommunistisch regierten Staaten Osteuropas mit der Bitte um Überlassung des dort befindlichen oder dort vermuteten urkundlichen Beweismaterials zu wenden.
Erst Ende 1964, d. h. wenige Monate vor der nach dem damals geltenden Gesetz im Mai 1965 drohenden Verjährung der Mordtaten aus der NS-Zeit, wurde — ausgelöst durch einen entsprechenden Beschluß des Deutschen Bundestages — den Strafverfolgungsbehörden dieser Weg eröffnet. Am 25. März 1965 beschloß der Deutsche Bundestag ein Gesetz, das den Zeitpunkt des Beginns der 20jährigen Verjährungsfrist für Mord aus der NS-Zeit auf den 1. Januar 1950 festsetzte und damit den Eintritt der Verjährung solcher Verbrechen auf den 31. Dezember 1969 hinausschob.
Durch eine Erweiterung der Zuständigkeit der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen auf die Aufklärung praktisch sämtlicher, d. h. auch der im Inland begangenen NS-Verbrechen und damit verbunden einer personellen Verstärkung dieser Dienststelle auf insgesamt 121 Mitarbeiter, davon 48 Staatsanwälte und Richter, und eine entsprechende Verstärkung der bei den Staatsanwaltschaften auf diesem Gebiet tätigen Sachbearbeiter glaubte man ausreichend Vorsorge getroffen zu haben, daß bis zum Jahresende 1969 alle NS-Verbrechen soweit aufgeklärt und die dafür Verantwortlichen gefunden werden könnten, so daß der Eintritt der Verjährung verhindert und die gerichtliche Ahndung dieser Straftaten gewährleistet werden könnte.
Die bei der Auswertung vor allem polnischen, aber auch tschechoslowakischen und schließlich sowjetischen Archivmaterials aufgefundenen Dokumente bewirkten aber in den folgenden Jahren nicht nur die Einleitung einer großen Zahl neuer Ermittlungs-und Strafverfahren; sie führten vielmehr auch zu der Erkenntnis, daß es bis Ende des Jahres 1969 nicht möglich sein werde, alle bis dahin bekanntgewordenen Fälle soweit aufzuklären, daß eine Unterbrechung der Verjährung möglich und dadurch die weitere Strafverfolgung gesichert werden könnte.
Im Jahre 1969 hatte sich deshalb der Deutsche Bundestag erneut mit der Frage der Verjährung der NS-Verbrechen zu beschäftigend Wie schon im Jahre 1965 konnte man sich aber auch diesmal noch nicht dazu entschließen, die Verjährung für solche Verbrechen gänzlich aufzuheben. Durch eine Verlängerung der Verjährungsfrist generell für Mord von bisher zwanzig auf nunmehr dreißig Jahre wurde — zunächst — erreicht, daß die weitere Strafverfolgung bis zum 31. Dezember 1979 ermöglicht wurde.
In der Zwischenzeit hatte durch eine am 1. Oktober 1968 erfolgte Änderung einer die Bestrafung der Beihilfe regelnde Bestimmung des Strafgesetzbuches — § 50 Abs. 2 StGB — bewirkt, daß ein Teil jener, deren Tatbeitrag als Beihilfe zum Mord zu bewerten war, strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden konnten. Diese Folge, die von den Urhebern der Gesetzesänderung — wie später nachdrücklich versichert wurde — bei der Beratung nicht erkannt und auch nicht gewollt war, begünstigte vor allem einen Teil der sogenannten Schreibtischtäter, denen nicht nachzuweisen war, daß sie aus eigenen niedrigen Beweggründen (z. B. Rassenhaß) gehandelt hatten oder daß ihnen die Grausamkeit der Tatausführung bekannt war.
Der Zufluß von Beweismaterial vor allem aus den östlichen Staaten, der auch in den Jahren nach 1970 praktisch unvermindert anhielt, führte dazu, daß zwischen 1970 und 1979 von den Staatsanwaltschaften der Bundesrepublik Deutschland im Durchschnitt jährlich rund 400 neue Ermittlungsverfahren einzuleiten waren.
1979, als sich die Frage nach der Verjährung der NS-Verbrechen erneut stellte, beschloß der Deutsche Bundestag nunmehr, die Verjährung für Mord generell aufzuheben.
Noch heute, im Herbst 1982, wird den deutschen Strafverfolgungsbehörden vor allem aus Polen laufend neues Beweismaterial übersandt, das Hinweise auf bisher weitgehend noch unbekannt gebliebene Tötungsverbrechen aus der NS-Zeit enthält.
V.
Schon Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre, als man in der Bundesrepublik Deutschland nach nahezu einem Jahrzehnt der Stagnation auf diesem Gebiet schließlich mit einer systematischen Aufklärung und Strafverfolgung der NS-Verbrechen begann, sahen sich die damit befaßten Institutionen veranlaßt, auf die unbestreitbaren Schwierigkeiten hinzuweisen, die sich daraus ergaben, daß die zu verfolgenden Straftaten seinerzeit schon mehr als fünfzehn Jahre zurücklagen. Der durch den Zeitablauf bedingte Ausfall von Beschuldigten und Zeugen, deren oft schwindendes Erinnerungsvermögen, der Mangel an urkundlichem Beweismaterial waren schon damals durchaus ernst zu nehmende Argumente, wenn es um die Beantwortung der Frage nach der Ursache der vielen unbefriedigend erscheinenden Ergebnisse der NS-Prozesse ging. Heute, oft mehr als vierzig Jahre nach jenen schrecklichen Verbrechen, wird deutlich, daß nunmehr die Gerichte in nahezu jedem NS-Prozeß an die Grenze dessen stoßen, was die Justiz auf diesem Gebiet unter Beachtung unverzichtbarer rechtsstaatlicher Grundsätze zu leisten vermag.
Wohl läßt sich einwenden, daß doch das zur Verfügung stehende urkundliche Beweismaterial in den vergangenen zwanzig Jahren quantitativ erheblich zugenommen hat. Dies führte in der Regel jedoch lediglich dazu, daß der äußere Ablauf des Geschehens und der Kreis der daran beteiligten Personen heute leichter festzustellen ist. Nur in seltenen Fällen enthalten solche Dokumente aber auch ausreichende Informationen darüber, in welcher Weise eine bestimmte Einzelperson, nämlich gerade jener heute noch greifbare Beschuldigte oder Angeklagte, an einer Straftat mitgewirkt hat. Auf das bekanntermaßen unzuverlässigste aller Beweismittel, den Zeugen, kann deshalb kaum jemals verzichtet werden.
Die Tatsache, daß sich die nationalsozialistischen Mordtaten vielfach hinter den Mauern und Stacheldrähten der Ghettos, der Konzentrations-und Vernichtungslager oder an abgelegenen, vor dem Zugang Unbeteiligter abgeschirmten Orten im Osten ereignet haben, bewirkt, daß es in den meisten dieser Prozesse kaum „neutrale" Zeugen gibt. Nahezu alle in solchen Verfahren auftretenden Zeugen standen zur Tatzeit entweder auf der Seite der Opfer oder waren mit den Beschuldigten in irgendeiner Weise — und sei es nur durch die gleiche Uniform — verbunden. Die den Beschuldigten näherstehenden Zeugen haben nicht selten die hier zu untersuchenden Vorgänge aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Andere bestreiten, beschönigen oder verniedlichen das Geschehen, um sich nicht durch eine ungeschminkte, wahrheitsgemäße Aussage selbst — zumindest moralisch — belasten zu müssen. Den Zeugen aus dem Kreis der Opfer die im Laufe ihrer Verfolgungszeit oftmals zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gleichartige Erlebnisse hatten, bereitet es heute oft Schwierigkeiten, einzelne Geschehnisse zeitlich und örtlich zutreffend einzuordnen und mit den richtigen Personen in Zusammenhang zu bringen. Viele von ihnen haben im Laufe der Zeit immer wieder mit ihren damaligen Leidensgenossen über ihre Erlebnisse gesprochen. Die Folge davon ist, daß sich bei manchem — für ihn selbst nicht mehr erkennbar — Erlebtes und nur Gehörtes unentwirrbar vermengen. Wohl gilt dies weniger für den Kern des jeweiligen Geschehens, öfter jedoch für Details, die zur Tatzeit für den Zeugen belanglos, heute in bezug auf den Tatbeitrag eines bestimmten Angeklagten aber von prozeßentscheidender Bedeutung sein können.
Die Zahl der den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten zur Verfügung stehenden Zeugen nahm im Laufe der Jahre immer mehr ab, sei es, daß diese durch Krankheit oder Tod ausfielen oder daß — vor allem soweit es sich um ausländische Zeugen aus dem Kreis der Opfer handelte — ihre Aussagebereitschaft schwand. Von den Letztgenannten erklärten viele, sie seien nicht gewillt, ihr nach langen Jahren mühsam erlangtes seelisches Gleichgewicht durch eine erneute, zwangsläufig ins Detail gehende Konfrontation mit jenen schrecklichen Ereignissen stören zu lassen. Die im Vergleich zu Strafverfahren anderer Art von Anfang an schon schwierige Beweis-lage in den NS-Prozessen hat sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit fortschreitender Zeit weiter verschlechtert. Immer häufiger hängt es von Zufällen ab, ob es möglich ist, einem Tatverdächtigen seine Mitwirkung an einem NS-Verbrechen mit der zur Verurteilung notwendigen Sicherheit nachzuweisen.
Auf eine in der Praxis ausschließlich in NS-Prozessen auftretende Frage sei noch besonders hingewiesen: Es gab in der Vergangenheit kaum ein Verfahren dieser Art, in dem die Angeklagten nicht geltend gemacht hätten, sie hätten nur unter dem Druck einer unausweichlichen Notstandslage an den verbrecherischen Handlungen teilgenommen. Seit dem Prozeß vor dem Internationalen Militärge-B richtshof in Nürnberg in den Jahren 1945/46 haben sich in den NS-Prozessen die Verteidiger der Angeklagten vergeblich bemüht, den Gerichten auch nur einen einzigen Fall zu präsentieren, in dem die Nichtausführung eines verbrecherischen Befehls für den Befehlsverweigerer eine Schädigung an Leib und Leben nach sich gezogen hätte. Andererseits wurden zahlreiche Fälle nachgewiesen, in denen eine solche Befehlsverweigerung keine beachtenswerten nachteiligen Folgen hatte. Ungeachtet dessen ist aber die Behauptung vieler Tatbeteiligter nicht zu widerlegen, sie seien aufgrund verschiedener Umstände — vor allem veranlaßt durch das Verhalten ihrer Vorgesetzten — seinerzeit davon überzeugt gewe-sen, sich im Falle der Nichtausführung auch eines als verbrecherisch erkannten Befehls einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben auszusetzen. Eine solche unverschuldet irrtümlich angenommene Notstandslage gilt als Schuldausschließungsgrund und befreit den Betroffenen von Strafe. Die Folge davon ist, daß oft von einer größeren Zahl noch lebender Angehöriger einer an NS-Verbrechen beteiligten Dienststelle oder Einheit nur noch wenige vor Gericht gestellt werden konnten. Es waren dies jene, deren einverständlicher Eifer bei der Ausführung der Tat ihre Schutzbehauptung widerlegte, sie hätten nur unter einem ihnen unausweichlich erscheinenden Befehlsdruck gehandelt.
VI.
Nach einer im Bundesministerium der Justiz erstellten Statistik, der die jährlichen Berichte der Landesjustizverwaltungen zugrunde lagen, wurden von den deutschen Staatsanwaltschaften auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1981 gegen insgesamt 87 765 namentlich genannten Personen Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Täterschaft oder der Teilnahme an nationalsozialistischen Straftaten oder Kriegsverbrechen eingeleitet. Bei dem weitaus größten Teil davon war zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens nicht bekannt, ob sie noch lebten und wo sie sich gegebenenfalls aufhielten.
6 456 Angeklagte wurden ausweislich der genannten Statistik bis zum Ende des Jahres 1981 rechtskräftig zu Strafe verurteilt, davon 12 zum Tode (vor der mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erfolgten Abschaffung der Todesstrafe), 158 zu lebenslanger, 6 171 zu zeitiger Freiheitsstrafe und 114 zu Geldstrafe; gegen einen Angeklagten wurde eine Maßnahme nach dem Jugendgerichtsgesetz angeordnet. Tatsächlich dürften die Verurteilungszahlen geringfügig höher sein. Aufgrund der Ergebnisse der Forschungsarbeiten von Ulrich Dieter Oppitz muß davon ausgegangen werden, daß die Meldungen der Landesjustizver-waltungen über die zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 31. Dezember 1964 erfolgten Verurteilungen, die dem Bericht des Bundesministers der Justiz an den Präsidenten des Deutschen Bundestages vom 26. Februar 1965 zugrundelagen, nicht vollständig waren. Bei Berücksichtigung der von Oppitz nach Auswertung aller erreichbaren einschlägigen Akten getroffenen Feststellungen beträgt die Zahl der rechtskräftigen Todesurteile nicht 12, sondern 14; die Zahl der bis zum 31. Dezember 1981 ergangenen rechtskräftigen Verurteilungen zu lebenslanger Freiheitsstrafe erhöht sich auf 168.
In wenigstens 590 Fällen erfolgte die Verurteilung nach 1956, das heißt zu einer Zeit, als wegen der inzwischen für minderschwere Strafen eingetretenen Verjährung nur noch Tötungsdelikte verfolgt werden konnten.
Gegen 79 638 Personen endeten die Verfahren nicht mit einer Verurteilung. Die Gründe dafür sind, — daß in den Fällen, in denen zunächst personalstarke Dienststellen und Polizei-oder SS-Einheiten Mann für Mann überprüft wurden, gegen Tausende von Beschuldigten die Ermittlung mangels hinreichenden Tatverdachts oder wegen erwiesener Unschuld eingestellt werden mußten;
— daß der Verbleib eines großen Teils der Tat-verdächtigen nicht ermittelt werden konnte; — daß Tausende den Krieg oder die Kriegsgefangenschaft nicht überlebt haben, in der Zeit nach dem Krieg verstorben sind, von alliierten Gerichten zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden, während des Laufes der Verfahren verstorben sind oder Selbstmord begangen hatten;
— daß mehrere Tausend durch alliierte Besatzungsgerichte oder durch ausländische Gerichte bereits verurteilt oder außer Verfolgung gesetzt worden waren und daß ein großer Teil von ihnen wegen der Bestimmungen des soge-nannten Überleitungsvertrages nicht mehr von deutschen Gerichten wegen derselben Tat strafrechtlich verfolgt werden durfte;
— daßviele in den Jahren nach dem Krieg sich in südamerikanische oder arabische Länder abgesetzt haben und dort untergetaucht sind bzw. von diesen Ländern nicht an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert wurden;
— daß gegen eine Reihe der Beschuldigten wegen amtsärztlich festgestellter alters-oder krankheitsbedingter Gebrechlichkeit die Verfahren nicht mehr durchgeführt werden konnten;
— daß nach dem Ergebnis umfangreicher Untersuchungen die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gegen konkret Beschuldigte mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt, beziehungsweise nach Abschluß der gerichtlichen Voruntersuchung die Angeschuldigten außer Verfolgung gesetzt werden mußten;
— daß zahlreiche Angeklagte mangels ausreichenden Beweises von den Gerichten freigesprochen werden mußten.
Am 1. Januar 1982 wurden von Gerichten und Staatsanwaltschaften in der Bundesrepublik Deutschland noch gegen 1 671 Personen Ermittlungs-und Strafverfahren wegen Verdachts der Beteiligung an NS-Verbrechen geführt. Es handelt sich dabei um die Fälle, in denen entweder Ermittlungen noch liefen, Anklage erhoben oder die Hauptverhandlung zur Zeit im Gang war oder in denen ein bereits ergangenes Urteil noch nicht rechtskräftig geworden war.
Die Aussichten, daß die in letzter Zeit neu eingeleiteten Verfahren zur Verurteilung der Täter führen werden, schwinden angesichts der ständig wachsenden Ermittlungs-und Beweis-schwierigkeiten und der auch unter günstigen Voraussetzungen nur schwer abzukürzenden Verfahrensdauer immer mehr.
Wohl dürfte es auch weiterhin in vielen Fällen noch möglich sein, den äußeren Ablauf einzelner Ereignisse bis ins Detail festzustellen. Einer Ahndung individueller Schuld steht jedoch die fortschreitende Zeit mehr und mehr entgegen.
VII.
Aufgabe der Strafjustiz ist es, die schuldhafte Verletzung strafrechtlicher Normen zu ahnden. Dabei haben sich die Gerichte am Gesetz, daneben aber auch an den von der Gesellschaft anerkannten Strafzwecken zu orientieren. Als solche gelten — von Fall zu Fall mit unterschiedlicher Gewichtung — Resozialisierung, Besserung und Erziehung, Sühne, Vergeltung, Spezialprävention und schließlich auch der von vielen heute als wirkungslos abgetane Strafzweck der Generalpräventation.
Es bedarf keiner weiteren Ausführung dazu, daß in NS-Prozessen in Anbetracht der Lebensumstände und des Alters der Angeklagten die Strafzwecke der Resozialisierung, Besserung, Erziehung sowie der Spezialprävention, d. h.der Abschreckung des einzelnen Täters vor der Begehung weiterer Straftaten, nicht mehr greifen. Immer wieder kann man deshalb lesen, daß Sühne und Vergeltung bei NS-Verbrechen allein noch als Strafzwecke in Betracht kommen. Anerkennt man aber, daß Sühne — aus der theologischen Begriffswelt stammend und letztendlich gerichtet auf die Versöhnung des Straftäters mit der Gesellschaft — auf der Seite der Verurteilten eine Sühnebereitschaft, d. h. eine — wie Heinrich Beckmann es formulierte — „auf Versöhnung gerichtete freiwillige sittliche Leistung des Sühnenden“ voraussetzt, so wird man Zweifel haben dürfen, ob dieser Strafzweck den ihm zugesprochenen Vorrang haben kann angesichts der Tatsache, daß sich heute die in den NS-Prozessen Verurteilten eher als eine Art Prügelknaben der Nation denn als zurecht Bestrafte fühlen. Gegen die Vergeltung läßt sich einwenden, daß sie als Strafzweck — wenn überhaupt — wohl dann zu bejahen ist, wenn in der verhängten Strafe noch ein Äquivalent zu dem Unrechtsgehalt der Tat gesehen werden darf. In NS-Prozessen, in denen in der Regel jede Strafe — selbst dann, wenn sie auf lebenslangen Freiheitsentzug lautet — im Vergleich zu dem Ausmaß des von den Tätern ihren Opfern zugefügten Unrechts nur noch symbolhaft erscheinen kann, seien auch Einwendungen gegen die Bedeutung dieses Strafzwecks erlaubt.
Es bleibt der Strafzweck der Generalprävention, d. h. die durch die Bestrafung der Täter bewirkte Abschreckung der Allgemeinheit vor der Begehung ähnlicher Straftaten. Zieht man, wie viele das heute tun, die Wirksamkeit der Generalpräventation überhaupt in Zweifel, so hat man, wie es zunächst erscheint, nichts mehr, womit die Justiz einen effektiven Beitrag zur Bewältigung der Vergangenheit leisten könnte, sieht man einmal von der gefährlichen Vorstellung ab, mit jeder Verurteilung eines NS-Verbrechers sei ein Stück Vergangenheit bewältigt und könne gewissermaßen ad acta gelegt werden.
Der Verfasser hält in NS-Verfahren die Generalprävention, und zwar die Generalprävention im weitesten Sinne, für den wichtigsten, wenn nicht in vielen Fällen sogar für den einzigen anzuerkennenden Strafzweck. Zunächst geht es dabei nicht darum, die Schuld eines einzelnen festzustellen, um dann mit ausgestrecktem Finger auf ihn zu deuten, gleich dem Pharisäer, der betete: „Lieber Gott, ich danke dir, daß ich nicht so bin wie jener Zöllner dort." Schon gar nicht kann es darum gehen, jungen Menschen einzureden, ihre Väter seien Verbrecher gewesen, was jene, abgesehen von einer kleinen Minderheit, gewiß auch nicht waren. Wohl aber kann man durch eine Verurteilung in einem NS-Prozeß, wie überhaupt durch den Prozeß als solchen, der Allgemeinheit klar machen, daß ein gegen das Strafgesetz verstoßendes Handeln auch dann ein Verbrechen bleibt, wenn es von einer pervertierten Staatsführung geduldet, gebilligt, gewünscht oder sogar befohlen wurde, und daß die Berufung auf eine solche Anordnung der Obrigkeit nicht von der Strafe befreit. Das durch Strafverfahren dieser Art geweckte Bewußtsein, daß schließlich jeder für sein individuelles Handeln selbst einzustehen hat, erscheint geeignet, Verantwortungsgefühl und Zivilcourage zu fördern.
In dem Urteil eines Schwurgerichts heißt es dazu: „Durch eine strafrechtliche Ahndung auch staatlich angeordneter Verbrechen wird das Vertrauen der Bürger in den Bestand und das Funktionieren der Rechtsordnung gestärkt und ihre Rechtstreue gefördert; Machthaber, die Unrecht planen, sollen es schwer haben, willfährige Helfer zu finden. Das Bewußtsein, bei einem Machtwechsel, der nie ausgeschlossen werden kann, für begangenes Unrecht zur Rechenschaft gezogen werden zu können, wird vielleicht manchen abhalten, allzu bereitwillig an Unrechtstaten mitzuwirken."
Etwas anderes kommt hinzu: Bei den nationalsozialistischen Straftaten handelt es sich um eine neuartige, bis dahin weitgehend unbekannte Form des administrativen Verbrechens, bei dem der Tatbeitrag des einzelnen scheinbar in den Hintergrund tritt. Die in den NS-Prozessen durch die Gerichte zu treffenden Schuldfeststellungen lassen die Rollenverteilung zwischen Staat und Individuum sichtbar werden. Herbert Jäger schreibt dazu: „Der Erkenntniswert solcher Prozesse — wie überhaupt jede strafrechtlich-kriminologische Betrachtung historischer Vorgänge — scheint mir gerade darin zu bestehen, daß sie Geschichte individualisieren, d. h. jenen Punkt markieren, in dem sich die Weltgeschichte mit einer persönlichen Lebensgeschichte trifft und historische und individuelle Kausalität, Zeitgeschichte und Kriminologie zu einer Einheit verschmelzen. Auf diese Weise tragen die Prozesse dazu bei, die optische Täuschung, es handle sich bei solchen Verbrechen um ein transpersonales Geschehen, in das der einzelne nur als bedeutungsloses Partikel hinein-gerissen wurde, rückgängig zu machen und die individuelle Verantwortlichkeit für Teil-vorgänge zu fixieren. Gewiß hat kein Einzeltäter die Massenvernichtung zu verantworten: er hat sie weder ausgelöst noch konnte er sie beenden. Die mikroskopische Analyse des Einzelverhaltens, zu der das Strafrecht zwingt, weil nur die individuelle Tat als Verbrechen aburteilbar ist, hat jedoch eine personale Dimension dieses Kollektivunrechts sichtbar gemacht, die durch eine anonyme, historischen Gesamtprozessen geltende Geschichtsbetrachtung allzu leicht verdeckt wird. Im Grunde ist erst durch die Prozesse erkennbar geworden, daß — ebensowenig wie Kriege . Stahlgewitter'sind — auch kollektiver Terror nicht einfach eine Naturkatastrophe ist, sondern daß er ein Mosaik bildet aus unterschiedlichsten, oft von persönlichen Tatantrieben mitgesteuerten verbrecherischen Einzelak-ten."
Die NS-Prozesse bieten die Möglichkeit, anhand konkreter Einzelfälle die Ursachen der Verstrickung und die Einwirkung eines totalitären Systems nationalsozialistischer Prägung auf den Menschen vor Augen zu führen — eines Systems, in dem im Gegensatz zur Demokratie die gesamte Staatsmacht in der Hand einer Person oder einer Gruppe liegt, deren Ziel es ist, zur Erhaltung und Festigung der Macht die Freiheit des Individuums abzuschaffen und nach dem Motto „Du bist nichts, dein Volk ist alles" den einzelnen — sowohl den systemkonform Handelnden wie auch den Leidenden — zum bloßen Objekt zu degradieren. Auch in der Vermittlung solcher Erkenntnisse darf ein Abschreckungseffekt der NS-Prozesse gesehen werden, ohne daß es dabei wesentlich auf die Höhe der erkannten Strafe oder die Frage, ob überhaupt eine Verurteilung erfolgt, ankommt, so bedeutungsvoll dies in anderem Zusammenhang auch sein mag. Die Strafjustiz hat gewiß nicht die Aufgabe, Geschichtsforschung zu treiben oder zeitgeschichtliche Dokumentation zu liefern. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungsweise steht primär nicht ein historisches Ereignis, sondern der Mensch, dem vorgeworfen wird, sich gegen die Gesetze vergangen zu haben. Die Aufklärung und Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen brachte es aber nun einmal mit sich, daß Zehntausende von Zeugen und Tat-* beteiligten, deren Identität und Aufenthalt oft nur mit Mühe und unter Einschaltung des gesamten Polizeiapparates festgestellt werden konnten, vernommen und ihre Bekundungen schriftlich festgehalten wurden. Die umfangreichen Untersuchungen waren nicht nur erforderlich, um das unmittelbare Tatgeschehen selbst, sondern auch um die für die Beurteilung des Ausmaßes individueller Schuld maßgebenden, wenn auch im weitesten Umfeld der Tat zu suchenden Umstände erkennbar machen.
Gelegentlich warnen Historiker — und dies sicher mit Recht — davor, historische Vorgänge allein auf Grund der Ergebnisse strafrechtlicher Ermittlungen zu beurteilen. Einige von ihnen glauben, darauf hinweisen zu müssen, daß die in Ermittlungs-und Strafverfahren gemachten Aussagen deshalb mit größter Vorsicht aufzunehmen seien, weil diese nicht aus freiem Entschluß und oft wohl auch mit einer, wenn auch kaum erkennbaren, Tendenz der Entlastung oder Belastung der eigenen oder einer anderen Person gemacht worden seien. Dem ist entgegenzuhalten, daß es sich gerade in den Strafverfahren häufig gezeigt hat, was es mit den freiwilligen und außerhalb jeder strafprozessualer Untersuchungen erstellten und nicht selten auch veröffentlichten Erlebnisberichten, gleichgültig ob es sich um Verfolgungs-, Kriegs-oder Vertreibungserlebnisse handelt, tatsächlich auf sich hat, d. h. was davon als unbestreitbares Kerngeschehen blieb, wenn Kriminalbeamte, Staatsanwälte, Untersuchungsrichter und schließlich Gerichte daran gingen, diese Punkt für Punkt auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen.
Es kann gleichwohl kein Zweifel darüber bestehen, daß die wissenschaftliche Durchdringung zeitgeschichtlicher Vorgänge in erster Linie Sache der Historiker ist. Ebensowenig kann es jedoch zweifelhaft sein, daß erst die Strafjustiz gerade auf dem Gebiet der Ahndung nationalsozialistischer Straftaten den Historikern einen Großteil des Materials liefern konnte, auf denen deren Forschungsergebnisse letztlich beruhen. Martin Broszat schrieb dazu: „Was deutsche Justiz und Jurisprudenz bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen an faktischer Aufklärung und begrifflicher Erfassung des NS-Unrechtsregimes leisteten, war möglicherweise von größerer Be-B deutung als die individuellen Strafen, die Gerichte verhängten oder nicht verhängten."
Der Historiker fragt nach den objektiven Ursachen eines Geschehens, der Jurist nach subjektivem, menschlichem Verschulden. Mit ihren Antworten können beide die Bewußtseinsbildung fördern und damit einen wesentlichen Beitrag zur wohlverstandenen Bewältigung der Vergangenheit leisten. Einen Beitrag nur, denn weder die Justiz noch die Zeitgeschichtsforschung und auch nicht beide zusammen können es allein erreichen, daß man eines Tages von der „bewältigten Vergangenheit" wird sprechen können. Es bedarf dazu vielmehr des Zusammenwirkens aller demokratischen gesellschaftlichen Gruppen und Einrichtungen. Die Justiz kann Anstöße geben, und sie hat dies — wenn auch spät und gegen mancherlei Widerstände — mit ihren Mitteln getan. Sie hat versucht, der Allgemeinheit sichtbar zu machen, daß Begriffe wie Rechtsstaatlichkeit und Rechtsbewußtsein zu bloßen Worthülsen degradiert werden, wenn sich der Staat über allgemein verbindliche sittliche Wertvorstellungen, unter denen die Achtung vor dem menschlichen Leben den ersten Rang einnimmt, hinwegsetzt.
Vieles hatte man sich vorgenommen. Vieles wurde nicht geschafft. Aber es wurden Zeichen gesetzt. Ein Versuch nur — immerhin ein Versuch!