Eine gekürzte und erheblich veränderte Fassung dieses Beitrages erscheint in H. 59/1982 der „Vorgänge".
In der Bundestagsdebatte vom 1. Oktober 1982, die der Abstimmung über den konstruktiven Mißtrauensantrag vorausging, befürchtete der FDP-Abgeordnete Gerhart Baum, daß „das Verfahren, das zu der beantragten Abwahl des Bundeskanzlers Helmut Schmidt geführt hat, ... eine tiefgreifende Veränderung der politischen Kultur (Hervorh. v. Verf.) bewirken" kann. Und die FDP-Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher meinte in ihrem leidenschaftlichen Appell: „Zweifellos sind die beiden sich bedingenden Vorgänge (des konstruktiven Mißtrauensvotums, d. Verf.) verfassungskonform! Aber sie haben nach meinem Empfinden das Odium des verletzten demokratischen Anstands. Sie beschädigen quasi die moralisch-sittliche Integrität von Macht-wechseln. Mit beiden sollten wir sehr behutsam umgehen — angesichts unserer immer noch schwach entwickelten politischen Kultur“ (Hervorh. v. Verf.). Eine Deutung, die den CDU-Abgeordneten H. Geißler veranlaßte, von einem „Anschlag auf unsere Verfassung" zu sprechen. — Was ist mit „politischer Kultur" gemeint? Woher kommt dieser Ausdruck, der erst seit kurzem in unserer politischen Sprache geläufig ist, während ihn die Politische Wissenschaft schon länger kennt und — wenn auch hierzulande zögernd — benutzt?
I. Zur Vorgeschichte
Die Sache selbst ist alt, auch als Gegenstand der Wissenschaft. Vergleichsweise neu ist nur der Begriff, sind die mit ihm entstandenen analytischen Konzeptionen, Forschungsarbeiten und -programme. Fehlte auch dieser Begriff, gibt es doch eine Vorstellung von politischer Kultur so lange wie Menschen über Politik reden und schreiben. Daran hat erst kürzlich Gabriel A. Almond zu Recht erinnert Damals wie heute werden gesellschaftliche Großgruppen, seien es ganze Völker (Nationalcharakter) oder die Bewohner bestimmter Regionen, Landschaften und Städte, seien es ethnische Minderheiten, Eliten, Klassen oder bestimmte Altersgruppen nach soziokulturellen Eigenschaften, spezifischen Merkmalen ihres Zusammenlebens unterschieden. Schon die Griechen entwickelten eine Art zyklischer Theorie des politischen Wandels und erklärten den Aufstieg und Verfall politischer Verfassungen mit Hilfe von sozial-psychologi-sehen Begriffen. Almond seihst sieht in Aristoteles’ Konzeption einer Mischverfassung (von oligarchischen und demokratischen Elementen) mit dominierender Mittelklasse einen Vorläufer des von ihm und Sidney Verba geprägten Typs der „Civic Culture' Auch für Machiavelli, Montesquieu oder de Tocqueville — um nur diese Klassiker der vergleichenden politischen Soziologie zu nennen — stellte sich das soziokulturelle bzw. soziopsychische Korrelat politischer Institutionen und Verfassungen als Kernfrage der Stabilität und des Wandels jeder politischen Herrschaftsordnung. Vor allem aber die Mitbegründer der modernen Sozialwissenschaften und ihrer paradigmatischen Interpretationsansätze — Marx, Freud und Max Weber — haben grundlegende und immer wieder anregende theoretische und methodologische Voraussetzungen (auch) für die moderne empirische politische Kulturforschung geschaffen. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, daß bereits Max Weber — wenn auch eher beiläufig — den Ausdruck „politische Kultur" benutzt hat, also lange bevor Almond ihn einführte Schon Marx hatte in seiner materialistischen Geschichtsauffassung und ihrem Kernstück, der Basis-Überbau-These, das komplizierte Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein thematisiert und dabei keineswegs dieses nur aus jenem deduziert, sondern sich auch mit den sozialen Folgen ideologischen Bewußtseins beschäftigt, als Max Weber mit seinen großen vergleichenden Untersuchungen über die „Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalimus" und die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen" nachzuweisen versuchte, daß Wertorientierungen und Ideen die Katalysatoren für den Wandel von ökonomischen Strukturen und politischen Institutionen sein können. Hatte Marx in seinen Frühschriften geschrieben: „Die Idee’ blamierte sich immer, soweit sie von dem . Interesse'unterschieden war", faßte Weber seine Position in die programmatische Formulierung, die ihn durchaus in die Nähe von Marx rückt: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die Weltbilder, welche durch Ideen geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte." Diese Sätze würden auch einer gesellschaftstheoretisch fundierten politischen Kulturforschung gut anstehen. Sie müßte allerdings zunächst ihre vielfältigen konzeptionellen Beschränkungen und normativen Implikationen offenlegen und selbstkritisch thematisieren.
Tatsächlich hat ja diese in den fünfziger Jahren in den USA entstandene Forschungsrichtung nicht nur unzweifelhaft beachtliche Ergebnisse hervorgebracht, ihr sind bis heute auch gewisse Schwächen eigen. Geburtsfehler, die zeithistorische Bedingungen ihrer Entstehung widerspiegeln, und damit natürlich auch die Prämissen und Positionen ihrer Protagonisten. Nach der Zerstörung parlamentarisch-demokratischer Systeme durch den Faschismus in Europa und angesichts der politischen Instabilität in vielen Teilen der Welt wurde die Frage der Stabilität politischer Systeme und der Steuerung ihres Wandels z‘ einem vorrangigen Problem, zumal für die Super-und Interventionsmacht USA. Mit den herkömmlichen, an politischen Institutionen, Rechtssystemen und Verfassungsordnungen orientierten Konzepten und Methoden der Politischen Wissenschaft war aber diesen Problemen nicht beizukommen.
Vor diesem Hintergrund ist die auf einen Vorschlag G. Almonds zurückgehende Einführung des Begriffs „politische Kultur" zu sehen. Er war zunächst nicht viel mehr als ein diffuser Sammelbegriff für politische Orientierungen, Einstellungen, Wertüberzeugungen etc. Sein analytischer Vorzug wurde jedoch darin gesehen, daß er weder mit dem Begriff der allgemeinen Kultur noch mit dem des politischen Systems zusammenfällt. „Politische Kultur" ist gleichsam das subjektive Ambiente des politischen bzw. Herrschaftssystems, wobei man je nach räumlich/zeitlicher Ausdehnung dieses Ambientes bzw. je nach den sozialstrukturellen Merkmalen des kollektiven Trägers von politischer Kultur zwischen — historisch wandelbaren — national-, regional-und großgruppenspezifischen politischen Orientierungen unterscheiden muß.
In der Forschungspraxis hat sich dann rasch — nicht zuletzt unter dem Einfluß der „CivicCulture" -Studie — ein zweidimensionaler Begriff von politischer Kultur durchgesetzt. Diese inzwischen weit verbreitete Operationalisierung unterscheidet kollektive (d. h. aggregierte) politische Orientierungen von Individuen einmal nach verschiedenen Objektbereichen (politisches System als Ganzes, Output-[z. B. Gesetze; Verwaltung], Inputstrukturen ]z. B. Parteien] und Ego) und zum anderen nach der Art der Orientierung (kognitiv, affektiv, bewertend). Im Hinblick auf komparative und kumulative Forschung kann man diesen Rahmen weiter konkretisieren und differenzieren, wie das Kaase kürzlich vorgeschlagen hat
II. Zur Karriere eines umstrittenen Begriffs
Die ersten Ansätze, den Begriff der politischen Kultur hierzulande einzuführen und ihn für die empirische Politikforschung nutzbar zu machen, liegen aber bereits zehn und mehr Jahre zurück Sie fielen in eine Zeit, die — politisch gesehen — im Zeichen von Umbruch und Aufbruch stand. „Mehr Demokratie wagen“ und „Reformen" hießen die Losungen. Eine Zeit, in der die zweite und dritte Politologen-Generation der Nachkriegszeit Anstrengungen unternahm, über eine intensive und kritische Rezeption insbesondere der amerikanischen Politikwissenschaft an die internationale Wissenschaftsentwicklung Anschluß und zugleich ihre eigene Identität zu finden • Doch blieb nicht nur das Konzept der politischen Kultur in der politikwissenschaftlichen Forschung weitgehend folgenlos. Auch der Begriff selbst fand zunächst keinen Eingang in die politische Sprache. Das ist um so erstaunlicher, als ja gerade die Erforschung der Geschichte der deutschen politischen Kultur aufgrund der folgenschweren Verschränkung von politisch-kulturellen Kontinuitätslinien und politischen Zäsuren ein wissenschaftliches Desiderat und eine politisch-moralische Herausforderung ohnegleichen darstellt.
Erst Ende der siebziger Jahre trat hier eine Veränderung ein. „Politische Kultur" wurde nun schnell auch als umgangssprachlicher Ausdruck populär — mit einer systemkriti-sehen und aufklärerischen Stoßrichtung: Die erhoffte gesellschaftliche Demokratisierung war steckengeblieben, ja sie drohte zeitweilig ins Gegenteil umzuschlagen. In kritisch-wertender Absicht beschrieb und analysierte die Neue Linke daher beispielsweise die Radikalenerlaß-Praxis, die Terrorismusbekämpfung, die Ausgrenzung und Kriminalisierung der vielfältigen Protestbewegung als einen (historisch begründeten) Mangel an politischer (und das hieß in diesem Zusammenhang selbstverständlich: demokratischer) Kultur Kaum überraschend, daß diese Ansichten und Analysen kontrovers waren und es wohl auch bleiben. So macht die Linke für den von ihr konstatierten Mangel traditionell wie aktuell die Rechte verantwortlich. Sie kann dabei ohne Zweifel auf ein recht erdrückendes Beweismaterial verweisen, vor allem dann, wenn man auf den „deutschen Sonderweg" und seine Nachwirkungen blickt Demgegenüber warnt die Rechte vor der Gefährdung oder gar schon Zerstörung der politischen Kultur durch die Linke, gerät dabei allerdings leicht in Beweisschwierigkeiten. Gleichwohl stellen politische kulturforscher und die veröffentlichte Meinung in der Bundesrepublik deren politische Kultur — ganz im Sinne der Modell-Deutschland-Ideologie — inzwischen westlichen Vorbildern als gleichwertig, ja als überlegen hin Hier wird sichtbar, daß „Politische Kultur" — wie andere Grundbegriffe unserer politisch-gesellschaftlichen Sprache auch — jenseits aller abstrakten Definition, empirisch-analytischen Operationalisierung und vielleicht universalen Anwendung ein Kampfbegriff ist. Dies wird nur der als Manko oder anstößig empfinden, der bedauert oder bestreitet, daß Politik auch im Streit um politische Begriffe zum Ausdruck kommt.
Daß der Ausdruck „Politische Kultur" erst spät in unsere politische Alltagssprache und gerade durch die Linke Eingang gefunden hat, hängt auch damit zusammen, daß er aus zwei für sich schon recht bedeutungsschweren Begriffen zusammengesetzt ist und unseren Ohren eigentlich fremd klingt. Denn zwischen Politik und Kultur besteht ja in Deutschland ein Spannungsverhältnis, eine Unvereinbarkeit, die ihrerseits in unmittelbarem Zusammenhang mit der so folgenschweren Demokratiefeindschaft gesehen werden muß. Bei uns ist der Kulturbegriff traditionell eingeschränkt und durch die Dichotomien von Kultur und Zivilisation, von Kultur und Alltags-welt sowie von Kultur und Massenkultur geprägt Kultur hat hierzulande bis zum heutigen Tage ihren elitären Zuschnitt nicht verloren. Sie galt lange ausschließlich als Inbegriff geistig-künstlerischer Werte und Tätigkeiten und wird bis heute als etwas Politikfernes verstanden. Die Idealisierung der Kulturtradition, die Stilisierung Deutschlands zur Kulturnation haben der Bourgeoisie Selbstbewußtsein vermittelt und dem imperialistischen Machtanspruch des wilhelminischen Kaiserreichs Legitimation verschafft. Kulturidealismus als Ersatz für eine vom Bürgertum nicht hervorgebrachte politisch-demokratische Kultur.
Andererseits wird Politik hierzulande traditionell weniger der Gesellschaft zugeordnet, sondern vielmehr auf den Bereich von Staat und Regierung eingeschränkt und vor allem institutionell begriffen Kultur-politik — als staatliche Subventionierung der schönen Künste — in dieser Reihenfolge ist die Wortver-bindung von Kultur und Politik geläufig. Aber politische Kultur? Dieser Ausdruck hat in Deutschland einen fremden Klang. Auch deshalb, weil „Politik" — im Gegensatz zum posi-tiv wertbesetzten Kulturbegriff — eher einen negativen Beiklang besitzt. Seit den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft wurde das Poli-tische immer wieder negativ bewertet, das Unpolitische, Geistig-Kulturelle dagegen positiv gesehen. Hier entsteht die Tradition des unpolitischen Deutschen. Ihren Höhepunkt stellt wohl Thomas Mann mit seinen 1918 erschienen gleichnamigen „Betrachtungen .. " dar. Die antidemokratische, antirepublikanische Kritik der militanten Rechten nahm er gleichsam vorweg. Mit seiner großen Rede „Von deutscher Republik" steht derselbe Thomas Mann andererseits für die Möglichkeit einer Wende dieser Tradition. Doch schon in den frühen Weimarer Jahren zeigte sich, daß die demokratisch-republikanischen Kräfte, zumal mit ihrem Hauptträger, der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, gegenüber den sich schnell wieder formierenden Feinden der Republik auf der Rechten zu schwach waren. Der völkisch-nationalistische Kult galt in jenen Jahren viel, republikanische politische Kultur immer weniger. Die Tradition der Unvereinbarkeit von Politik und Kultur steht also in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der so folgenschweren Demokratiefeindschaft in Deutschland — zentrale Elemente der „deutschen Ideologie".
So wird verständlich, daß die Karriere des politischen Kulturbegriffs mit der innenpolitischen Aktualisierung des Demokratieproblems und seiner kritischen Analyse durch die Neue Linke etwa Mitte der siebziger Jahre begann. Dabei hat sich die alltagssprachliche Popularisierung über das traditionelle, inzwischen aber doch abgeschwächte begriffs-und realgeschichtliche Spannungsverhältnis von „Politik" und „Kultur" schnell hinweggesetzt. Ebensowenig konnte der kürzlich zwischen Politologen unterschiedlicher Denktraditionen und Forschungsrichtungen geführte Streit über „Sinn oder Unsinn des Konzepts . Politische Kultur“ an der schlichten Tatsache etwas ändern, daß es gar nicht mehr wegzudiskutieren ist ). Andererseits scheint der Zeitpunkt für die Frage nach seiner forschungspraktischen Bewährung zumindest hierzulande verfrüht. So kommt die teilweise herablassend geführte Diskussion darüber, ob man Begriff und Konzept der „politischen Kultur" nun anwenden soll oder besser nicht, einerseits zu spät und andererseits noch zu früh. Läßt man aber einmal alle Überheblichkeit und allen Übereifer beiseite und reduziert diesen Streit auf seinen sachlichen Kern, dann zeigt sich, daß es vor allem um die Frage geht, ob man an einem engen Begriff von „politischer Kultur" festhalten oder ihn zugunsten eines weiter gefaßten aufgeben soll.
Auf der einen Seite steht der oben skizzierte engere, auf kollektive politische Orientierungen von Individuen bezogene Begriff. Er ist forschungspraktisch vergleichsweise gut handhabbar und dominiert auch in der bisherigen (vorwiegend amerikanischen) empirischen Forschung. Wegen seiner diversen Implikationen, besonders seiner vorgeblichen Wertfreiheit und seiner gesellschaftstheoretischen Kurzsichtigkeit, ist er allerdings auch immer wieder kritisiert worden. Sei es, daß man seine politisch-normativen Prämissen, die Option für die anglo-amerikanische politische Kultur als Wertmaßstab und die systemtheoretisch bedingte Verengung seines Politik-und Demokratiebegriffs auf Gleichgewicht, Integration und Stabilität, kritisiert hat. Sei es, daß ihm psychologischer Reduktionismus, Strukturfeindlichkeit und fehlende historische Dimensionierung vorgeworfen wird
Diesem engen steht ein weiter gefaßter Begriff gegenüber. Er ist fraglos von geringerer Trennschärfe, steht gewiß auch in der Gefahr, zu einem konturenlosen „catch-all" Terminus zu werden, aber er ist von größerer Wirklichkeitsnähe. Politische Orientierungen sind ja kein sozusagen freischwebendes Phänomen, sondern stehen in einem engmaschigen Kontext von sozialstrukturellen, institutioneilen, situativen und sozialisationsgeschichtlichen Faktoren. Ihrerseits beeinflussen Orientierungen politisches Verhalten, aber nicht exklusiv, sondern neben und in Verbindung mit anderen, z. B. situativen Faktoren. Dies legt die analytische Unterscheidung zwischen politischen Orientierungen und politischem Verhalten und ggf. weiteren Differenzierungen und theoretischen Begründungen nahe, aber nicht notwendig den Verzicht auf die Variable politisches Verhalten im Konzept der politischen Kultur überhaupt. Zudem erscheint es sinnvoll, politische Orientierungen über die schon genannten beiden Dimensionen (Art und Objektbereich) hinaus weiter zu differenzieren und zwischen konkreten, aktuellen und vergleichsweise kurzfristigen Orientierungen, die sich auf politische Ereignisse und Akteure etc. beziehen, sowie allgemeinen, grundlegen-den und relativ dauerhaften politischen Wertorientierungen (z. B. sozialistisch, konservativ etc.) andererseits zu unterscheiden
Die Auffassung, daß in jeden sozialwissenschaftlichen Erklärungsansatz, also auch in jedes politische Kultur-Konzept — ob es nun enger öder weiter gefaßt wird —, normative Prämissen eingehen, die vor jeder historisch-empirischen Analyse begründet sein müssen, sollte wohl selbstverständlich sein, ist aber bekanntlich auch fünfzehn Jahre nach Beginn der Diskussion über den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse keineswegs unumstritten. Mit Blick auf die leidvollen Erfahrungen unserer Geschichte gibt es gute Gründe, Selbst-und Mitbestimmung zum Wertmaßstab für die Beurteilung von politischer Kultur in Industriegesellschaften zu machen — mit H. Marcuse, radikaldemokratisch verstanden, umfassende Prämissen. Wie das dem Aggregationsmechanismus der „one man one vote" zeigt, zugrunde liegende Gleichheitsprinzip zeigt, kommt aber auch die vor allem mit Repräsentativumfragen arbeitende politische Kulturforschung keineswegs ohne normative Prämisse aus. Wenn aber kein kulturwissenschaftliches Konzept auf Wertbezüge verzich-ten kann, dann sollte man den Streit über den jeweils und ja keineswegs willkürlich gewählten Wertbezug nicht einfach mit dem Streit über die analytische Fruchtbarkeit des Konzepts vermischen (G. C. Behrmann).
Ich möchte daher dafür plädieren, allen einstweilen noch bestehenden konzeptionellen Mängeln und forschungspraktischen Schwierigkeiten zum Trotz an einem erweiterten, normativ explizit fundierten, systematisch und historisierend auf die gesellschaftliche Totalität von politischer Kultur zielenden Begriff festhalten, was die sozialstrukturelle Differenzierung zwischen verschiedenen/gegensätzlichen politischen Teilkulturen einschließt. Er könnte den Rahmen und das Fundament dafür abgeben, daß sich langfristig die mehr oder minder getrennt und nebeneinander arbeitenden Teilbereiche der politischen Sozialisations-, Wert-, Einstellungsund Verhaltensforschung zu einer sozialwissenschaftlichen Forschungsrichtung von Gewicht integrieren lassen. Unter politischer Kultur in diesem Rahmen wären dann die für eine Gesellschaft insgesamt oder gesellschaftliche Groß-gruppen in einer bestimmten Zeit charakteristischen Anschauungs-und Verhaltensmuster zu verstehen, die einerseits mit den in eine oder mehrere Großgruppe(n) eingebundenen individuellen Lebensgeschichten und Sozialisationsprozessen und andererseits mit der nationalen Ereignisgeschichte und ihren Strukturbedingungen eng verknüpft sind.
Ein weiter gefaßter politischer Kultur-Begriff besteht so gesehen aus mehreren Elementen. Ein darauf aufbauendes Forschungskonzept muß also zahlreiche und auch wechselnde Variablen integrieren, zwischen denen selbst vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen bestehen, die mittels Hypothesen theoretisch begründet werden müssen (z. B. Zusammenhang von Wertorientierungen, Einstellungen, Situation und Verhalten). Politische Kultur als Ganzes genommen, wenn auch in sich strukturiert, kann darüber hinaus je nach Fragestellung und Forschungsinteresse einmal als abhängige und zum andern als unabhängige Variable aufgefaßt und behandelt werden Sie wird als unabhängige Variable benutzt, wenn sich — wie bei Almond und Verba — das Interesse primär auf die Erhaltung von politi-scher Ordnung oder auf die Einleitung von kontrolliertem politischen Wandel richtet. Die Entstehungsbedingungen und Dynamik von politischer Kultur, ihr Prozeßcharakter, werden dabei aber vernachlässigt oder gar nicht beachtet. Politische Kultur wird vielmehr als gegeben angenommen und erhält hier die Qualität und Funktion einer „Stabilitätsreserve" für das Herrschaftssystem. Durch (gegebene!) innere Widersprüche kann politische Kultur aber auch politischen Wandel bzw.den Zusammenbruch eines politischen Systems fördern, so beispielsweise dann, wenn — wie im Fall der Weimarer Republik — zwar eine demokratische Verfassung vorhanden ist, bei ei-nem Großteil der Bevölkerung aber keine entsprechenden Verhaltensdispositionen bestehen. Ein Beispiel, das weitere Fragen aufwirft, wenn man darüber hinaus die über dreißigjährige Entwicklung der politischen Kultur in der Bundesrepublik betrachtet. Ist ein vollständig homogenes Muster von Autoritätsund Demokratievorstellungen oder sind eher heterogene Einstellungsund Verhaltensmuster, eine Mischung von verschiedenen, nebeneinander bestehenden Teil-oder Subkulturen, stabilitätsverbürgend?
Fragt man aber nach den Entstehungsbedingungen und der Entwicklung von politischer Kultur, erhält sie den Status einer abhängigen Variable. Sie fungiert nun nicht als Erklärungskonzept, sondern ist selbst Gegenstand der Erklärung bzw. Beschreibung. Im Mittelpunkt steht dabei die Analyse von Lern-und Sozialisationsprozessen, wobei dem psychologischen Mechanismus der Identifikation, d. h. die Übernahme und Verinnerlichung von realen oder vorgestellten Eigenschaften einer Person (politische Eliten, Führer) oder von Zielen und Eigenschaften einer Gruppe, Organisation (Partei, Bewegung), besondere Bedeutung zukommt. Das Motiv ist bei beiden Identifikationstypen dasselbe: Auf der Grundlage gewisser Ähnlichkeiten bzw. Übereinstimmungen (Nationalität, soziale Herkunft, Bildung, Alter etc.) identifizieren sich Menschen mit einem politischen Führer, einer politischen Organisation, weil sie sich dessen/deren Macht, Ansehen, Ideen etc. anzueignen wünschen.
Daß beide Fragerichtungen und Anwendungen des politischen Kultur-Ansatzes sorgfältig unterschieden werden müssen, aber bei intertemporal bzw. interkulturell vergleichenden Untersuchungen sinnvoll zu einem komplexen Forschungskonzept verknüpft werden können, liegt auf der Hand. Forschungsstrategisch würde dies etwa für eine Darstellung und Analyse der politischen Kultur in Deutschland bedeuten, zunächst die Entstehung und Befestigung spezifischer kollektiver Identifikationsmuster zu rekonstruieren (politische Kultur als abhängige Variable), um sie sodann zur Miterklärung beispielsweise des Zusammenbruchs der Weimarer Republik oder auch einer bestimmten bzw. unterlassenen oder verhinderten Regierungspolitik heranzuziehen Die nachfolgenden Ausführungen können keine Einlösung dieser Strategie sein. Sie sind vielmehr als Illustrationen für die hier skizzierte Konzeption und Vorgehensweise zu lesen.
III. Industrialisierung ohne Demokratisierung Zur Entstehung antidemokratischer Traditionen
Unser politisches Zeitbewußtsein scheint vielfältig gebrochen. Jedenfalls lassen Vergangenheitslast und Zukunftsangst ein Bewußtsein für eine offene, positiv gestaltbare Gegenwart nur schwer entstehen. In eigentümlicher Weise vermischen sich sehr unterschiedliche Strömungen: Perspektivlosigkeit und ostentative Selbstzufriedenheit, Protest und Konformismus, kritisches Interesse an der Geschichte und kommerzialisierte Nostalgie Mehr als dreißig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, fünfzig Jahre nach der soge-nannten Machtergreifung, ist die Last der Vergangenheit (H. Mommsen) kaum abgetragen. Immer wieder holt eine mehr verdrängte als bearbeitete Vergangenheit unsere Gegenwart ein: Die Hitler-Welle, das Preußen-Jahr oder die erst kürzlich wieder einmal geführte Debatte über die Identität des geteilten Deutschland als Nation machen das auf ihre Weise deutlich. Die Zunahme des Rechtsextremismus, der Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen bis heute etc., tun dies auf eine andere. Trauerarbeit (Mitscherlich) an der Geschichte hat hierzulande nur in geringem Maß stattgefunden: Einerseits.
Andererseits hat der in den sechziger Jahren stürmisch einsetzende politische Generationswechsel tradierte bürgerliche Wertordnungen und Verhaltensmuster in Frage gestellt. Trotz einer breiter gewordenen Bürgerinitiativund Protestbewegung ist der Ende der sechziger Jahre von der APO und der Studentenbewegung ausgegangene Versuch einer gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung nicht recht gelungen. Zwischen den . Extremen'Mitte und Rechts sind manche reformpolitischen Ansätze versandet, ist die Neue Linke zerfallen und die Demokratisierung über subkulturelle Inseln kaum hinausgekommen. Es mag umstritten sein, den Radikalenerlaß und seine Anwendung, die Diffamierungskampagnen im Zusammenhang der Terroristenbekämpfung oder die vielfachen Ausgrenzungen von Protestgruppen als Ausdruck einer ungebrochenen Kontinuität vordemokratischer politischer Kultur zu deuten. Beruhigende Bestätigungen dafür, daß wir die Hypothek einer demokratiefeindlichen, bestenfalls demokratie-indifferenten politischen Kultur getilgt hätten, sind sie jedenfalls nicht. So muß, wer die politische Kultur des nahen Deutschland verstehen will, weiter ausholen: Geschichte als Gegenwartsbewältigung
Die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts stürmisch einsetzende Industrialisierung in Deutschland hat nicht nur die Arbeitswelt, die Städte und das Land in kürzester Zeit äußerlich gründlich verändert. Begleitet von erheblicher Bevölkerungszunahme und starker Binnenwanderung, verursacht und begünstigt durch Urbanisierung und Industrialisierung, sind zugleich stabile Anschauungsformen und Verhaltensweisen, jahrhundertelang gültige Glaubenswelten und Lebensordnungen erschüttert oder ganz aufgelöst worden. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges hatte Deutschland wohl den Übergang vom Agrarzum Industriestaat vollzogen, aber nicht den politisch-gesellschaftlichen Wandel vom feudalständischen Obrigkeitsstaat zu einer dem Industriestaat funktional adäquaten, sei es bürgerlich-parlamentarischen, sei es demokra-tisch-sozialistischen Herrschaftsform bewältigt. Das kaiserliche Deutschland fand keine politische Antwort auf die Herausforderung des anbrechenden industriellen Massenzeitalters und seine sozialen Konflikte. Das durch Glaubensspaltung und territorialen Partikula-rismus geschwächte, soziokulturell heterogene Bürgertum hat sich ein parlamentarisch verantwortliches Herrschaftssystem nicht erkämpfen können oder wollen. Auf der anderen Seite blieb in der wilhelminischen Klassengesellschaft die sozialdemokratisch-sozialistische Arbeiterbewegung in ihrem Bemühen um Demokratisierung zwischen „negativer Integration" bzw. kontrollierter Ausgrenzung (Sozialistengesetz und Sozialversicherung) und „revolutionärem Attentismus" (D. Groh), d. h. einer verbal revolutionären, aber politisch abwartenden, pragmatischen Haltung, blokkiert. Dies hat eine demokratisch-politische Kultur nicht entstehen lassen, was wiederum zur Strukturkrise der Weimarer Republik beigetragen hat und schließlich aus der bis dahin größten Krise des Kapitalismus zur Flucht in den Führerstaat führte
Was aber erklärt diese Entwicklung, die sich uns heute vor allem als ein Prozeß der verhinderten Demokratisierung darstellt? Die Schwäche des in sich zerrissenen und von folgenschweren Niederlagen gezeichneten Bürgertums oder die Stärke der konservativen Kräfte? Die mit der Verspätung der Nation verknüpfte Feudalisierung und Militarisierung des Bürgertums oder die Angst vor einer revolutionären Veränderung durch die Arbeiterbewegung? Hat das Besitz-und Bildungsbürgertum im wilhelminischen Deutschland trotz oder gerade wegen seiner gesellschaftlichen Macht auf die politische Macht zumindest partiell verzichtet oder war es vielmehr Bismarck, der es daran gehindert hat, sie allein zu übernehmen? Wie immer man diese Fragen im einzelnen beantworten mag, schwerlich zu bestreiten ist, daß seit den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine klassen-und interessenpolitische Konstellation bestand, die ein über Jahrzehnte dauerhaftes Bündnis zwischen den vorindustriellen Eliten besonders Osteibiens und großen Teilen des vor allem protestantischen Bürgertums ermöglicht hat. Diesem Bündnis der Eliten ist die Kontinuität der Machtstrukturen zuzuschreiben sowie die Befestigung jener demokratiefeindlichen politischen Kultur, die der Weimarer Republik nur zu bald zum Verhängnis werden und der rechtsextremistischen Protestbewegung, der NSDAP, zum Erfolg verhelfen sollte.
Fragt man nach den Inhalten dieser politischen Kultur, dann lassen sich vor allem diese politischen Orientierungen nennen:
1. Der Nationalismus. Er hatte sich schon zu Beginn des Kaiserreichs von einer ursprünglich . linken'zu einer . rechten', illiberalen Ideologie gewandelt, sichtbar im nationalliberalen Bürgertum, während der Zeit der . ersten Reichsgründung'Bismarcks wichtigster Bündnispartner. Dieser illiberale Nationalismus erfuhr im Sozialimperialismus der wilhelminischen Ära seine extreme Übersteigerung und wurde durch das Weltkriegserlebnis und Versailles radikalisiert
2. Die obrigkeitsstaatliche Orientierung, das Vertrauen in die Allmacht und Neutralität staatlicher Bürokratie und Führungskunst. Diese Haltung ist früh im lutherischen Glaubens-und Berufsverständnis vorbereitet und durch das protestantische Landeskirchentum verstärkt worden. Anpassung und Konformismus war das vorherrschende Einstellungsund Verhaltensmuster. In dieser Gesellschaft der bürgerlichen Untertanen hatten politischer Nonkonformismus, Zivilcourage, Kritik, Widerspruch und Konflikt, wenn überhaupt, dann keinen selbstverständlichen Platz. Entweder wurden Spannungen und Gegensätze ignoriert und harmonisiert oder der politische Gegner, unbequeme Minderheiten etc. wurden diffamiert und zu Reichsfeinden gestem-pelt. Das haben die Polen erfahren, die Katholiken und . natürlich'die Sozialdemokraten 3. Die protektionistische Erwartungshaltung insbesondere der sozialen Mittelklassen, die sich durch die Entwicklung zum „organisierten Kapitalismus", aber auch durch das großagra-risch-großindustrielle Machtkartell bedroht sahen und auf staatlichen Schutz, sozialprotektionistische Maßnahmen angewiesen, also vor allem am politichen Output interessiert waren.
4. Der traditionelle, durch die . heroischen'Ereignisse der Reichsgründungskriege erneut aufgewertete Militarismus mit dem hohen gesellschaftlichen Prestige der Militärs und ihrer Werte bzw. Lebensformen wie Befehl/Gehorsam; Disziplin, Ehre, Tapferkeit, Ordnung, Hierarchie etc. bis hin zur Verherrlichung des Krieges und der Militarisierung der Politik und des gesellschaftlichen Lebens über-haupt
5. Die antiaufklärerischen, antiwestlichen, antimodernistischen Einstellungen. Sie waren Ausdruck einer weitreichenden mentalen Verunsicherung, einer vor allem im mittelständischen und kleinbürgerlichen Milieu verbreiteten existentiellen und Identitätsunsicherheit, die mit der großen Krise des Kapitalismus in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren voll aufbrach. Hierher gehört der oft beschriebene Rückzug in die Innerlichkeit, das Privat-Unpolitische, vor allem aber das von Ernst Bloch so eindringlich aufgezeigte Problem der „Ungleichzeitigkeit"
6. In unmittelbarem Zusammenhang damit steht die Krisenideologie des Antisemitismus, die wegen ihres besonderen Charakters und ihrer beispiellosen Folgen eigens genannt werden muß. Aus der jahrhundertealten christlich-religiösen Judenfeindschaft wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem Niedergang des bürgerlichen Liberalismus und mit den durch die Industrialisierung ausgelösten mentalen Verunsicherungen und sozialen Veränderungen sowie unter dem Einfluß sozialdarwinistischer und rassistischer . Lehren'eine völkische Ideologie. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchie sah sich das mittelständische und Kleinbürgertum zwischen dem Großkapital auf der einen und dem in der Republik staatspolitisch zunächst aufgewerteten Proletariat doppelt bedroht. Der Antisemitismus fungierte nun als allgemeine Sündenbocktheorie, die die Übel der Zeit gleichermaßen dem Liberalismus und Kapitalismus, dem Sozialismus und Kommunismus anlastete 7. Der Antimarxismus und Antisozialismus bzw. Antikommunismus. Diese nicht minder militante Ideologie richtete sich gegen die früh schon richtungspolitisch und im Ersten Weltkrieg dann auch organisatorisch gespaltene und dadurch folgenschwer geschwächte Arbeiterbewegung. Die Sozialdemokraten galten im Kaiserreich auch nach Aufhebung des Sozialistengesetzes als „vaterlandslose Gesellen", mit Ausnahme des Ersten Weltkrieges, als das Vaterland sie zunächst für den Kriegs-einsatz benötigte und am Ende schließlich die politische Verantwortung für die Niederlage auf sie abwälzte
Daß solche politischen Orientierungen und Verhaltensmuster entstehen konnten, läßt sich aus der interessen-und machtpolitischen Konstellation der wilhelminischen Klassengesellschaft allein nicht verstehen. Vermittelt und kontrolliert wurden diese Orientierungen in einem richtungsgleich und eng zusammenwirkenden System von Sozialisationsagenturen, von Familie, Kirche, Volksschule, Gymnasium, Universität, Korporationen, Militärdienst und nicht zuletzt dem Reserveoffizierswesen
Vor allem die Schule trat seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend auch in ihrer politischen Funktion hervor. Sie wurde zu einem Machtinstrument der herrschenden Klassen. Einige Autoren gehen soweit zu sagen, daß die Schulpolitik in der Anfangsphase der Industriellen Revolution „nicht ökonomisch, sondern ausschließlich politisch motiviert" ) war. Und selbst dort, wo vor allem die Modernisierungsleistungen preußischer Schulpolitik — wie Steigerung der Einschulungsrate und innerer Ausbau des Schulwesens — gewürdigt werden, wird die „politische Indienstnahme", werden „Erziehung zum preußischen Untertanen, Sozialdisziplinierung und Indoktrination der herrschenden Ideologie“ keineswegs in Abrede gestellt.
Wie immer man auch die konkreten sozialpsychologischen Folgewirkungen solcher Politisierung einschätzt: Die Interpretation, daß hier jene sich später so fatal auswirkende Mentalität „aggressiver Unterwürfigkeit“ (A. Mitscherlich) wurzelt, erscheint kaum abwegig, zumal es mit der schulischen politischen Sozialisation nicht getan war. Der Militärdienst und der Betrieb mit seiner hierarchisch-autoritären Struktur taten ihren Teil dazu. Und erst recht das protestantische Staatskirchentum, die Allianz von Thron und Altar, deren Einfluß in Preußen kaum überschätzt werden kann. Die zukünftigen Eliten in Politik, Bürokratie, Wirtschaft, Militär etc. erhielten auf der Universität, in den Korporationen und nicht zuletzt durch die Ausbildung zum Reserveoffizier den für Führungskader einer bürgerlich-aristokratischen Gesellschaft offenbar unvermeidlichen . Schliff. Die ausgeprägte Herrschaftssymbolik mit ihren nationalen Denkmälern und Feiertagen umgab alles mit dem passenden dekorativen Rahmen. Daß in ihm schließlich auch die Sozialdemokratie Platz fand, wird man selbst mit Blick auf die Nationalisierung der Arbeiterbewegung am Vorabend des Ersten Weltkrieges und das mehrheitliche Verhalten der SPD-Führung 1914/1918 nur unter Vorbehalt sagen können. Eher war es ein . Notsitz', mit allen Unbequemlichkeiten eines solchen.
IV. Zwischen Revolution und Gegenrevolution: Zur Radikalisierung antidemokratischer Traditionen
In einer umfassenden Forschungsstandsanalyse zur politischen Kultur der Weimarer Republik haben Klaus Megerle und Peter Stein-bach kürzlich die Auffassung vertreten, daß „die Republik keineswegs als ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes, weil von der Masse der Bevölkerung abgelehntes Experiment eingeschätzt werden darf Vielmehr komme es darauf an, „Elemente und Veränderungen der inhaltlichen Bestimmungen einer sich im Zeitablauf wandelnden, als Prozeß zu begreifenden politischen Kultur zwischen 1918 (unter Einbeziehung der Vorgeschichte) und 1933 (unter Berücksichtigung der Nachwirkungen bis in die Gegenwart) anzugeben .. ,“ Eine zutreffende Vermutung und eine durchaus sinnvolle Perspektive. Macht es aber Sinn, in der kurzlebigen Weimarer Republik von einer „politischen Kultur der Spätzeit“ zu sprechen, die sich von der der Anfangsjahre wesentlich unterschied? Und welche, über den bloßen Totalitarismus-Vorwurf hinausgehende Einsicht ist gewonnen, wenn man mit Blick auf — in ihrer ideologischen Ausrichtung und sozialen Basis — so unterschiedliche Republikgegner wie die KPD und NSDAP von einem „neuen Wertekonsens" spricht Die Motive und interessenpolitischen Zusammenhänge der Republikfeindschaft sind möglicherweise wichtiger und aufschlußreicher als dieses Faktum selbst.
Die ungelösten Klassenkonflikte des Kaiser-reichs blieben in der Weimarer Republik nicht nur bestehen, sie verschärften sich. Denn mit der Revolution, die ja der neuen Republik ihre Identität hätte geben müssen, mochte sich am Ende niemand identifizieren. Den Kommunisten und der sozialistischen Linken war sie nicht weit genug, der Rechten aber zu weit gegangen, und auch die SPD zog sich in kritischen Situationen lieber auf die ihr seit dem Kaiserreich vertraute Rolle der Opposition zurück. Eine paradoxe, folgenschwere Konstellation: Während diejenigen, die mit der Weimarer Republik „ihren" Staat (geschaffen hatten, zunehmend weniger regieren konnten, aber auch Opposition nicht recht sein wollten, was letztlich auf die so fragwürdige Tolerierungspolitik hinauslief, waren jene, die dem „System" ablehnend oder distanziert gegenüberstanden, immer häufiger in verantwortlichen Positionen zu finden.
Eine historisch-systematische politische Kulturforschung kann sich mit diesem grob skizzierten Hintergrund und generalisierten Befund natürlich nicht begnügen. Schon angesichts einer reichhaltigen, wenngleich noch lückenhaften Forschungsliteratur erscheint es unbedingt sinnvoll, das analytische Konzept der politischen Kultur weiter zu differenzieren, über die verbreitete Unterscheidung von Eliten-und Massenkultur hinaus, wie das jetzt Megerle und Steinbach in mehreren Beiträgen eindrucksvoll vorgeführt haben. Hier ist im einzelnen zu fragen, ob und inwieweit spezifische politische Orientierungen und Verhaltensmuster des Kaiserreichs bzw. politische Teilkulturen bestimmter Trägergruppen und gesellschaftlicher Institutionen (z. B.des Militärs, der Kirchen etc.) unverändert geblieben sind oder sich inhaltlich und funktional zumindest partiell gewandelt haben.
So scheinen neuere Forschungsergebnisse darauf hinzudeuten, daß sich — um hier zumindest zwei Beispiele zu nennen — der Militarismus des kaiserlichen Deutschlands in der Zwischenkriegszeit verändert hat. Jedenfalls ist das lange vorherrschende Paradigma „des extra-konstitutionellen Einflusses militärischer Kräfte in der Politik und der Dominanz militärischer Werthaltungen und Vorstellungen im gesellschaftlichen Bereich" durch neue Konzepte und Fragestellungen abgelöst worden. Fragestellungen, die sich auf den Zusammenhang von Krieg und industriegesellschaftlicher Entwicklung (militärisch-industrieller Komplex) beziehen, auf den Zusammenhang von innergesellschaftlichen Konflikten und paramilitärisch organisierter Gewalt (Freikorps, Parteiarmeen), sowie auf das Verhältnis von Militär und Außenpolitik. Damit sind allerdings ältere Erscheinungsformen, insbesondere des sozialen Militarismus, nicht schon obsolet und für die Forschung nebensächlich geworden. Vielmehr erscheint es sinnvoll und auch im Hinblick auf die politisch-kulturelle Fragmentierung selbst innerhalb von sozialen Klassen bzw. Trägergruppen politischer Teilkulturen fruchtbar, davon auszugehen, daß dem Übergang von einer Agrarzu einer Industriegesellschaft eine andere Erscheinungsform und Funktion des Militarismus entspricht als einer vollentwickelten Industrie-und Klassengesellschaft. Möglicherweise ist dann „die Vielschichtigkeit und Virulenz des Militarismus-Syndroms im Zwischen-kriegs-Deutschland" der Gleichzeitigkeit dieser beiden historisch unterschiedlichen Typen des Militarismus zuzuschreiben.
Ein anderes Beispiel einer für die Herausbildung und Vermittlung der autoritären, demokratiefeindlichen politischen Kultur des wilhelminischen Kaiserreichs zentralen Institution ist die Evangelische Kirche. Zweifellos gab es auch hier Wandlungserscheinungen und vielfältige kircheninterne Gruppenbildungen und -Spannungen. Sie reichten von den religiösen Sozialisten bis hin zu den „Deutschen Christen". Im Ganzen gesehen blieben aber die politischen Orientierungen der Kirche — wie das jetzt Kurt Nowak in einer für die historische politische Kulturforschung beispielhaften Studie ebenso material-reich wie differenziert herausgearbeitet hat — „weitgehend in traditional bestimmten Denkschemata stecken, am eindeutigsten greifbar bei Problembereichen wie Nation, Volk, Staat, Wirtschaft“ Das Leitbild des „christlichen Staates" blieb erhalten, trotz oder gerade wegen des Umbruchs vom evangelischen Staatskirchentum zum laizistischen Staat. Mehr noch: das völkisch-rassistische Element kam hinzu, und keineswegs nur bei den „deutsch-christlichen" Gruppierungen. Die politisch-kulturellen Auswirkungen der „nationalen Demütigung" des verlorenen Ersten Weltkrieges und der „Schmach" des Versailler Vertrages, die subjektiv als Bedrohung empfundenen Revolutionswochen des Winters 1918/19 und späteren Arbeiteraufstände, Inflation, Reparationen und Ruhrgebietsbesetzung, sie machten die nationalistische, völkisch-rassistische Ideologie hier wie anderswo zur eigentlichen Antriebskraft für die reaktionären Gegenbewegungen
Antisemitismus, Antikapitalismus und Antisozialismus traten als weitere Momente der Radikalisierung demokratiefeindlicher Traditionen hinzu. Das trifft in besonderem Maße für die sozialen Mittelklassen, den . alten', vorindustriellen und . neuen'(Beamte, Angestellte) Mittelstand zu. Diese, so folgenschweren . mittelständischen'bzw. kleinbürgerlichen politischen Teilkulturen sind aufgrund älterer, längst „klassischer" soziologischer und sozialpsychologischer Untersuchungen sowie neuer sozialgeschichtlicher Studien wohl am besten erforscht, wenngleich die sozial-strukturell differenzierte Analyse politischer Kultur(en) eine Hauptaufgabe bleibt Traditionelle Dispositionen, sozialisationsgeschichtliche Erfahrungen, die Selbsteinschätzung der sozialen Lage und die Wahrnehmung aktueller Krisen verdichteten sich zu einem Syndrom manifester Orientierungs-und Verhaltensmuster, das große Teile dieser sozialen Mittelklassen geradezu zur Basis einer rechtsextremistischen Protestbewegung prädestinierte. Wohlgemerkt: die NSDAP verdankt dieser Basis ihren schließlichen Erfolg nicht allein, wohl aber ihren Aufstieg, der eine notwendige Voraussetzung dafür war. Denn während vor allem die älteren Arbeiter, die große Mehrzahl der christlichen Arbeiter, ihrem Klassenbewußtsein noch zu einer Zeit treu blieben, als der braune Terror Deutschland überzogen hatte, waren jene Schichten der Arbeitnehmerschaft, die weder ein sozialisationsgeschichtlich gefestigtes Klassen-noch Demokratiebewußtsein hatten, Jugendliche und Studenten, Lehrer, Hochschullehrer und Beamte, Handwerker und Landarbeiter, längst zum Hakenkreuz gelaufen.
Um ein Mißverständnis auszuschließen: Hier wird nicht die Auffassung vertreten, daß der Sieg des Faschismus in Deutschland allein aus einer Massenpsychose bzw. aus dem in weiten Teilen der Bevölkerung latent oder manifest vorhandenen „autoritären" oder „sado-maso-chistischen" Charakter zu begreifen ist, wie sie zunächst von Reich und Fromm und später von Adorno, Mitscherlich u. a. analysiert und beschrieben worden sind. Ohne die bis dahin größte Krise des Kapitalismus, ohne die Bereitschaft und Unterstützung von Großindustrie, Reichswehr und Großgrundbesitz wäre Hitler nicht in den Besitz der politischen Macht gekommen. Ohne die Schwäche der durch ideologische Differenzen, unterschiedliche Interessen und Abhängigkeiten, gravierende Fehleinschätzungen gespaltenen Arbeiterbewegung allerdings ebensowenig.
V. Vom Dritten Reich zur Zweiten Republik: Neuanfang ohne demokratische Traditionen
Welche Richtung aber nahm die politische Kulturentwicklung, genauer: die Entwicklung der fragmentierten politischen Teilkulturen und ihrer Trägergruppen in den dreißiger und vierziger Jahren? Und was kam nach 1945? Vollzog sich nach der militärischen Niederlage des deutschen Faschismus, die immer noch eher als „Zusammenbruch“ denn als „Befreiung" wahrgenommen wird, ein Wandel, eine schrittweise Erneuerung, d. h. Demokratisierung unserer politischen Kultur? Die empirische politische Kulturforschung nimmt dies — vor allem gestützt auf die seit Jahrzehnten durchgeführte Bevölkerungsbefragungen — weit überwiegend als gegeben an Aber Zweifel sind zulässig. Immerhin finden sie in der gesellschaftspolitischen Entwicklung der siebziger und achtziger Jahre reichliche Nahrung.
Der historischen Wahrheit kommt man wohl näher, wenn man davon ausgeht, daß sich die Bevölkerung nach 1945 zunächst nicht sehr viel anders orientierte und verhielt, als sie es zuvor gelernt und getan hatte. Bei einem nun eher noch forcierten Rückzug in das Privat-Unpolitische stand der Alltag im Zeichen von Arbeit und Wiederaufbau, Konsum und Zerstreuung. Aber dies alles, eine staats-und poli-tikabgewandte, gleichsam ideologiefreie Sphäre, einen seit den Weimarer Jahren weiterwirkenden Amerikanismus, der das Alltagsleben und die Massenkultur stark beeinflußte, gab es ja auch im Nazi-Deutschland, vor allem in den dreißiger Jahren, wie das jetzt Hans Dieter Schäfer in seinem material-und aufschlußreichen Essay „Das gespaltene Bewußtsein“ dargestellt und anhand eines reichhaltigen Materials aus Tageszeitungen, Illustrierten, Briefen, Tagebüchern und den spät zugänglich gewordenen „Deutschland-Berichten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ belegt hat
Der Alltagsgeschichte des Faschismus in Deutschland kommt für die Bestimmung und Analyse der politischen Kultur(en) unterm Hakenkreuz vor allem deshalb so große Bedeutung zu, da zahlreiche gesellschaftliche Organisationen, institutionalisierte Formen politischer Kultur, und soziale Trägergruppen politischer Teilkulturen aufgelöst, „gleichgeschaltet", zumindest aber dem kontrollierenden Zugriff eines dem Anspruch nach totalitären Machtapparates unterworfen wurden; die Alltagsgeschichte des Dritten Reiches als individuelle und kollektive Lebenswirklichkeit unter veränderten politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eröffnet „eine Perspektive, die die verschiedenen Bereiche der Lebensweisen und sozialen Wirklichkeiten unter dem Blickwinkel eben der Erfahrung angeht. Sie befaßt sich also mit den'Wahrnehmungsweisen und Verhaltensformen von einzelnen oder Gruppen, ihrem Betroffensein durch Auswirkungen des allgemeinen sozialen und politischen Systems“
Der Wiederaufbau nach 1945 hat zumindest an eine ungebrochene Leistungs-und Konsum-orientierung anknüpfen können: „Made in Germany" statt „Tausendjähriges Reich". Die Verdrängung der Vergangenheit, Wiederaufbau und wirtschaftlicher Wiederaufstieg, Wiederbewaffnung und Integration in westliche Bündnissysteme sind die Stationen einer entideologisierten, weitgehend als unpolitisch verstandenen Ära. Der Kontinuität des Amerikanismus entsprach die durch die Existenz der DDR verstärkte Kontinuität des Antikommunismus. Beide hatten und haben ihr stabiles Fundament in einer vorzugsweise auf materiellen Werten gegründeten Leistungsund Konsumgesellschaft Dies alles war vorzüglich geeignet, den mit dem Zusammenbruch erlittenen Identitätsverlust zu kompensieren oder zu kaschieren, jedenfalls für die Generation der etwa zwischen 1900 und 1920 Geborenen. Kaum verwunderlich, daß die Identifikation dieser Trümmer-und Wiederaufbaugeneration mit dem politischen System der Bundesrepublik mehr indirekter, passiver Art war. Ihr Verhältnis zur Demokratie, ja zur Politik überhaupt, mit der sie ja noch keine oder nur schlechte Erfahrungen gemacht hatten, blieb eher formal und distanziert. . Wirtschaftswunder’, . Kalter Krieg’ und Antikommunismus haben unter der damaligen Bevölkerung zwar einen breiten Konsens über die Vorzüge einer wohlfahrtsstaatlichen und wachstumsorientierten Konkurrenz-und Leistungsgesellschaft entstehen lassen. Daß damit ein parlamentsdemokratisches, parteienstaatliches System verbunden war, nahm man — im Gegensatz zu Weimar und in einer veränderten materiellen Situation — eher in Kauf oder auch gar nicht erst zu Kenntnis. Die Stabilisierung dieses Konsenses wurde noch dadurch begünstigt, daß der Generationenkonflikt, der ab Mitte der sechziger Jahre unerwartet heftig hervorbrach, noch ausstand, während die reichsdeutschen, wilhelminischen oder Weimarer Konfliktkonstellationen durch den Faschismus, durch die Teilung Deutschlands und durch die hohen Wachstums-und Verteilungsraten entweder ganz aufgelöst oder zumindest abgeschwächt und stillgelegt worden waren
VI. Statt einer Zusammenfassung
Wo stehen wir heute in der Bundesrepublik? Im Zeichen des vollzogenen Wandels oder in den verschlungenen Kontinuitätslinien und Nachwirkungen einer historisch vorbelasteten politischen Kultur? Die Befunde sind zwiespältig, ihre Bewertung kontrovers. Ansätze gesellschaftlicher Demokratisierung sind unverkennbar, aber die Demokratie hat ihre Bewährung wahrscheinlich noch vor sich. Liberalität und Konfliktfähigkeit der Westdeutschen haben bisher noch nicht auf einem Prüfstand gestanden, der diesen Namen im historischen Vergleich auch verdiente. Die Gefahr für Staat und Gesellschaft wird traditionell eher dort gesehen, wo sie nicht besteht, aber nicht dort, wo sie besteht. Einerseits geht es den Deutschen nach ihrem eigenen Bekunden heute so gut wie nie. Andererseits nehmen Ratlosigkeit und Zukunftsangst zu. Das Abwenden von der Politik, ja von Staat und Gesellschaft überhaupt, ist ein Symptom; das Anwachsen des (auch jugendlichen) Rechtsradikalismus ein anderes. Der Zulauf zu den Grünen und Alternativen hält an. Doch hat der durch den Koalitionsausstieg der FDP erzwungene Machtwechsel in Bonn das Gravitationszentrum der Politik einstweilen wiederum nach rechts verschoben, ohne daß der Wähler bisher sprechen konnte. Neue Konflikte zeichnen sich ab. Die Zukunft unserer politischen Kultur ist so ungewiß wie diese selbst. Die genauere Bestimmung von politischen Teilkulturen und ihrer Entwicklung erscheint daher ebenso schwierig wie notwendig.