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Krise und Chance unserer Parteiendemokratie | APuZ 42/1982 | bpb.de

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APuZ 42/1982 Krise und Chance unserer Parteiendemokratie Politische Kultur. Zur Geschichte eines Problems und zur Popularisierung eines Begriffs „Elite" — Begriff oder Phänomen?

Krise und Chance unserer Parteiendemokratie

Richard von Weizsäcker

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In unserem demokratischen Staat nehmen die Parteien die zentrale Machtposition ein. Sie haben maßgeblichen Einfluß auf Gesetzgebung, Wahl und Kontrolle der Regierung, auf die Besetzung der obersten Gerichte, die Berufungspolitik an den Hochschulen und das Personalwesen im Bereich der öffentlich-rechtlichen Medien. Die Einflußnahme der Parteien auf den Staat haben ihren Ruf begründet, sich den Staat zur Beute zu machen. Das Ansehen der Parteien ist nicht zuletzt deshalb, vor allem in Teilen der jüngeren Generation, erschüttert. Der Ansehensverlust liegt jedoch auch in der Tatsache begründet, daß die politischen Lösungsversuche der Parteien allzu häufig nicht am Problem selbst, sondern am Kampf um die Macht orientiert sind. — Die Leitidee der repräsentativen Demokratie, Regierungsmacht auf Zeit mit der Chance oder Gefahr des Wechsels durch Wahl, besitzt eine automatische Scheuklappenwirkung gegen die Zukunft. Niemand wagt, um einer verantwortlichen Zukunftsvorsorge willen Vorschläge zu machen, die eine Belastung in der Gegenwart mit sich bringen könnten. Die Zukunft wird zugunsten der Gegenwart vernachlässigt. Zwar fehlt es einer großen Zahl von Politikern keineswegs an der Einsicht in das, was zur Zukunftssicherung notwendig ist. Was fehlt, ist vielmehr das Zutrauen, daß es gelingen könnte, dafür die Zustimmung bei einer Mehrzahl von Wählern zu finden. Deshalb ist es unsere Aufgabe, verändernd auf das Bewußtsein einzuwirken. Solange Politiker in der Parteiendemokratie ihre Aufgabe nur so verstehen, die Wünsche der Wähler zu ermitteln, zusätzliche Wünsche zu suggerieren und ihre Erfüllung zu versprechen, so lange wird die Parteiendemokratie auf Dauer keine Überlebenschance haben. Die wichtigste Chance zur Überwindung der Krise liegt darin, den Führungsauftrag tatsächlich wahrzunehmen, zu dem man gewählt ist: Nicht den Strömungen hinterherlaufen, sondern auf ihre Richtung Einfluß nehmen!

I.

In unserem demokratischen Staat nehmen die Parteien die zentrale Machtposition ein. Damit fällt ihnen ein großer Teil der Verantwortung zu. An den Parteien liegt es primär, ob unsere Demokratie den heutigen Herausforderungen gewachsen und gegenüber allen anderen Regierungsformen nachhaltig überlegen bleibt.

Die Wahlen der Nachkriegszeit vermitteln zwar den Eindruck einer relativ stabilen Parteiendemokratie, insbesondere im Vergleich zur Weimarer Republik und zu manchen Nachbarländern heute. In Wahrheit aber ist das Verhältnis der meisten Wähler zu den Par-teien, zumal zu den alteingesessenen, etablierten, zunehmend kühler geworden. Das Ansehen der Parteien ist, in erster Linie bei Teilen der jüngeren Generation, erschüttert. Zwischen der Macht der Parteien im Staat einerseits und ihrer Befähigung zur Lösung der Probleme andererseits hat sich eine breite Kluft aufgetan.

Dieses Problem zu lösen, ist unsere zentrale verfassungspolitische Aufgabe. Sie entscheidet nicht nur über die Zukunft der Parteien, sondern über das Schicksal unserer Demokratie überhaupt.

II.

Die Parteien haben ihren überragenden Platz ursprünglich nicht von den Verfassungen zugewiesen bekommen. Vielmehr haben sie sich allmählich in die Wirklichkeit dieser Verfassungen hineingekämpft. Ihre Entstehung hatte quasi oppositionellen Charakter. Der Staat betrachtete die Zusammenschlüsse parteipolitischer Art zunächst mit Mißtrauen; er erschwerte ihre Bildung und Tätigkeit. Im 19. Jahrhundert gab es Fraktionen in gewählten, repräsentativen Versammlungen, die Informationen und Mitsprachemöglichkeit der einzelnen verstärken sollten. Man nannte sich noch nicht nach einer bestimmten politischen Richtung, sondern, wie zum Beispiel in der Zeit der Frankfurter Nationalversammlung 1848, nach dem Lokal, in dem man sich versammelte. Demgemäß hieß die Rechte „Caf Milani“, die Radikale Linke dagegen „Donnersberg“. Erst allmählich entstanden daraus politische Parteien, vor allem mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Die Weimarer Reichsverfassung war die erste, die die Parteien überhaupt erwähnte — freilich nur negativ, nämlich: Beamte seien Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.

Unsere heutige Verfassung hat der weiter gewachsenen Bedeutung der Parteien Rechnung getragen: „Die Parteien wirken bei der politi-sehen Willensbildung des Volkes mit“ — so lautet der entscheidende Satz im Bonner Grundgesetz. Aber auch damit ist die zögernde Haltung noch nicht aufgegeben. Unser Grundgesetz und das nachfolgende Parteien-gesetz lassen die Machtpositionen der Parteien im Staat offen. Die verfassungsrechtliche Regelung für die Parteien bleibt weit hinter ihrem tatsächlichen Einfluß im Verfassungsleben zurück. Sie ist der klassische Fall eines konstitutionellen Understatements.

Erst das Bundesverfassungsgericht kam mit seiner Rechtsprechung dem tatsächlichen Einfluß der Parteien allmählich näher. Nach der Vorstellung dieses Gerichts sollen die Parteien in den Bereich der staatlichen Institutionen einwirken, ohne jedoch Verfassungsorgane zu sein. Denn nicht sie haben Gesetze zu geben, exekutive Gewalt auszuüben oder Recht zu sprechen.

Der Staat, so sagt das Verfassungsgericht weiter, bedarf nun aber der Legitimation durch das Volk, denn Demokratie ist Herrschaft des Volkes; Staatsgewalt geht vom Volke aus. Diese Legitimation vollzieht sich nicht direkt, sondern wird durch die Parteien vermittelt. Diese sind die notwendigen Instrumente der politischen Willensbildung des Volkes, sie sind die Handlungseinheiten, deren die De-3 mokratie bedarf, um dem Wähler Einfluß auf die staatliche Herrschaft zu eröffnen.

Das ist gewiß zutreffend, obwohl es für das öffentliche Bewußtsein etwas feingesppnnen klingt und folglich auch frühzeitig Kritik erfahren hat, vor allem von der Verfassungsrechtslehre. Das Volk sei vollständig und ausnahmslos durch die politischen Parteien mediatisiert — so meinte Werner Weber. Gerhard Leibholz erklärte, im massendemokratischen Parteienstaat gebe es das Volk überhaupt nicht, Wahlen seien nur Plebiszite für Kandidaten und Programme, welche allein von den Parteien hergestellt seien.

Es ist gewiß zutreffend und auch notwendig, die Parteien nicht den staatlichen Institutionen direkt zuzurechnen. Wahr ist aber auch, daß sich im öffentlichen Bewußtsein die Trennungslinie zwischen dem Staat und den Regierungsparteien immer mehr verwischt. Dies liegt primär daran, daß sich der Einfluß der Parteien quasi „fettfleckartig" über nahezu alle staatlichen Institutionen immer weiter ausgebreitet hat. Die Parteien beherrschen die gesetzgebenden Körperschaften. Denn nur auf dem Weg über Parteinominierung kann man Abgeordneter werden. Formal mag dies anders sein; faktisch aber ist zum letzten Mal vor dreißig oder mehr Jahren ein Abgeordneter gewählt worden, ohne daß ihn eine Partei nominiert hätte.

Im Ergebnis bedeutet dies, daß der maßgebliche Einfluß auf die Wahl und Kontrolle der Regierung, ebenso wie auf die Gesetzgebung selbst, fest in der Hand der Parteien liegt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß in den Parlamenten nicht die Parteien direkt, sondern die Fraktionen maßgebend sind. Denn wenn diese Fraktionen auch nicht immer mit ihren Parteiführungen in allem übereinstimmen — wie wir es zum Beispiel zur Zeit in Berlin in einer Partei erleben —, so betrachtet der Wähler doch Fraktion und Partei letzten Endes mit Recht als ein und dasselbe. über die Exekutive und die Legislative hinaus haben die Parteien aber auch maßgeblichen Einfluß auf die Besetzung der obersten Gerichte, und zwar auf dem Weg über die Wahlausschüsse. Im öffentlichen Dienst handhaben Parteien Ämterpatronage und Parteibuchwirtschaft im allgemeinen mit höchst geringer Scheu. Direkt oder indirekt beeinflussen viele von ihnen in erheblichem Umfang die Berufungspolitik an den Hochschulen ebenso wie die Personalfragen bei den öffentlich-rechtlichen Medien. Mit einem Wort: Tatsächliches Verhalten und Einfluß der Parteien auf den Staat haben ihren Ruf begründet, daß sie sich den Staat zur Beute machen. Die Feststellung des Verfassungsgerichts, daß die Parteien selbst keine Staatsorgane seien, haben den allzu weitgehenden Einfluß der Parteien auf die Staatsorgane nicht einzudämmen vermocht.

III.

Es gibt in der traditionellen deutschen Mentalität, im Gegensatz etwa zum angelsächsischen Denken, eine Ursache dafür, die Grenze zwischen dem Staat und der Regierungspartei verschwimmen zu lassen. Dies wird etwa am Beispiel des Strafprozeßrechts deutlich.

Im angelsächsischen Strafprozeß wird zwischen dem souveränen Richter einerseits und dem Kläger und dem Verteidiger andererseits unterschieden. Ankläger und Verteidiger treten als prinzipielll gleichwertige Parteien auf. Jeder vertritt seine Seite; dies kann durchaus parteiisch geschehen: Es ist jeder Seite erlaubt, die Gegenseite als unglaubwürdig zu behandeln. Darüber sitzt der Richter. Er hört dem Streit zwischen Anklage und Verteidigung schweigend zu. Am Ende fällt er dann ein Urteil darüber, welche der beiden Seiten wohl von der ganzen Wahrheit weniger weit entfernt geblieben ist.

Im deutschen Strafverfahren hingegen vertritt der Verteidiger den Angeklagten. Der Ankläger dagegen heißt Staatsanwalt. Der Idee nach vertritt er, ebenso wie der Richter selbst, die ganze Wahrheit. Er spricht also mit einem ganz anderen Anspruch als der Verteidiger und trägt darüber hinaus auch als äußeres Zeichen dafür — im Gegensatz zum Verteidiger — dieselbe Robe wie der Richter.

Eine Parallele hierzu zeigt die Auffassung über die politischen Parteien im Staat. Zwar weiß man bei uns ebenso gut wie in Großbritannien, daß eine Partei, wie schon ihr lateinischer Wortstamm sagt, nicht das Ganze darstellt, sondern nur einen Teil des Ganzen. Ent-B schieden wird — hier wie dort — im Streit der Parteien durch Mehrheit. Die Mehrheitspartei hat das Mandat zur Regierung auf Zeit. Damit ist sie für das ganze Gemeinwesen verantwortlich, nicht nur für ihre eigenen Anhänger. Aber als Partei bleibt sie doch nur des Teil Ganzen, sie wird nicht identisch mit ihm.

Umgekehrt gilt für die Minderheitspartei, daß sie zwar nicht regieren kann, aber als Opposition ebenso Teil des Ganzen bleibt wie die Mehrheitspartei auch.

Dennoch ist das Verständnis der Briten konsequenter. Die Regierungspartei hat im öffentlichen Bewußtsein in Großbritannien keinen Vorsprung an staatlicher Würde. Einen qualitativen Unterschied zwischen dem Regierungschef und dem Oppositionsführer kann man dort nicht antreffen. Beide rangieren überdies auf den ersten beiden Plätzen im britischen Protokoll. Mehrheitsund Minderheitspartei werden nur zusammen als Repräsentanten des politischen Gemeinwesens gegenüber dem Wähler als dem meist schweigenden Richter gesehen, in dessen Hand die demokratische Entscheidung liegt.

Bei uns hat derjenige einen Vorsprung, der den Staat von Amts wegen vertritt. Deshalb wird es einer Partei, die zum Regieren gewählt ist, etwas zu leicht gemacht, sich mit dem Staat gleichzusetzen. Umgekehrt muß eine Minderheitspartei zuweilen den unterbewußten Verdacht zerstreuen, als wende sich der Opponent gegen den Staat. Manchem Bürger erscheint das Geschäft der Opposition gelegentlich geradezu als unanständig.

Die Trennungslinie zwischen Staat und Regierungspartei ist also im öffentlichen Bewußtsein bei uns nicht so klar, wie sie es gesunder-weise sein sollte. Insoweit wirkt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts harmloser, als es die Realität tatsächlich ist.

Auf der anderen Seite ist aber auch die Sorge der Wissenschaftler unbegründet, daß es aufgrund der Existenz der Parteien, die sich alles angeeignet hätten, das Volk überhaupt nicht mehr gebe. Zur Zeit erleben wir eher, daß die Parteien alle Zeichen eines mangelnden Selbstbewußtseins gegenüber der Bevölkerung an den Tag legen. Große, mitglieder-starke Verbände, Bürgerinitiativen, alternative Bewegungen bis hin zu solchen, die um Parlamentssitze kämpfen, damit sie mit deren Hilfe den außerparlamentarischen Widerstand gegen die Parlamentsparteien stärken können — das alles ist nicht notwendigerweise das Volk, aber es sind gesellschaftliche Kräfte aus dem Volk. Sie nötigen die Parteien mehr und mehr, sich um Rückbindung ihrer Politik an den Wähler zu bemühen. Der Wähler ist, wenn er es nur will, also nicht unbedingt der mit dem Ehrentitel „Souverän" im Artikel 20 des Grundgesetzes begrabene Bürger, der nur einmal alle vier Jahre von dort heraus-winken darf.

IV.

Die Gründe für den wachsenden Ansehensverlust der Parteien liegen aber keineswegs nur in ihrer ungenierten Okkupation der staatlichen Ämter. Wichtiger noch ist die gegen die Parteien gerichtete krisenhafte Stimmungsverschlechterung, die durch eine besondere Strukturschwäche der Parteiendemokratie verurschacht wird: Die politischen Lösungen, die die Parteien sich vornehmen, werden allzu oft weder regional noch zeitlich den Ursachen und Lösungserfordernissen der Probleme gerecht.

Zunächst regional: Viele unserer sozial-und wirtschaftspolitischen, unserer Finanz-und Währungsfragen sind tiefgehend beeinflußt von übernationalen Zusammenhängen. Ich nenne nur die Europäische Gemeinschaft.

Gewählt aber werden Regierungen nicht in Europa, sondern national in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft. Je schwächer nun eine Regierung zu Hause ist — und das gilt zur Zeit für die Mehrzahl der Regierungen in Europa —, desto mehr entfaltet sie die Unart, Ursachen innenpolitischer Probleme im europäischen und internationalen Feld zu suchen. Die massive derzeitige Schwäche der Europäischen Gemeinschaft hängt nicht zuletzt genau damit zusammen. Notwendige europäische Lösungen, und zwar gerade auch solche, die langfristig für die nationale Zukunftssicherung erforderlich sind, scheitern an der Renationalisierung der Haltung der europäischen Mitgliedsländer — und das heißt ihrer Regierungen und nationalen Parteien — und an ihrer Unwilligkeit, sich in Eu-5 ropa auf ein längst fälliges Mehrheitsprinzip bei den Entscheidungen im Ministerrat einzulassen. Entscheidender noch als diese geographische Einengung des Blick-und Aktionsfeldes der Parteien aber ist die Begrenzung ihrer Aktivität auf die Legislaturperiode. Das Zeitmaß der Parteien ist durch den nächsten Wahltermin bestimmt und zugleich begrenzt. Wenn die Probleme selbst diesem Zeitmaß nicht folgen — vielleicht wegen der Natur der Sache gar nicht folgen können —, um so schlimmer für die Probleme! Dies verstärkt in krisenhafter Weise eine spezifische Schwäche des allgemeinen heutigen Denkens und Handels — nämlich eine unaufhörliche Vernachlässigung der Zukunft zugunsten der Gegenwart.

Hierin liegt eine Strukturschwäche der Parteiendemokratie, die sich zu Lasten der Zukunft auswirkt. Die Leitidee der repräsentativen Demokratie, nämlich Regierungsmacht auf Zeit mit der Chance oder Gefahr des Wechsels durch Wahl, besitzt quasi eine automatische Scheuklappenwirkung gegen die Zukunft. Die Regierung ist heute an der Macht Die Opposition will morgen an die Macht. Also hat in den Augen der Regierung die Gegenwart das Übergewicht über die Zukunft. Es gilt geradezu, die Zukunft im Sinne der Opposition zu verhindern. Immer wieder muß eine Regierungspartei oder Koalition, zumal bei knappen Mehrheitsverhältnissen, Kompromisse suchen, um „am Ruder" zu bleiben. Die Verlängerung der Gegenwart wird zum alles beherrschenden Thema. Wer sorgt da noch für die Zukunft? Wer kann es da noch riskieren, um einer verantwortlichen Zukunftsvorsorge willen Vorschläge zu machen, die eine Belastung in der Gegenwart mit sich bringen und Streit im eigenen Lager auslösen könnten?

Die Opposition ist die Regierung von morgen. Also müßte sie an sich besonders zukunftsorientiert sein. Aber regelmäßig bringt die Rolle der Opposition zunächst einmal die Gefahr eines Wirklichkeitsverlustes mit sich. Als Minderheit hat man die demokratische Pflicht, die Regierung zu kontrollieren und zu kritisieren, nicht aber, sie zu stärken. Der ständige Streit in jeder Opposition kreist daher um die Frage, ob man für ungelöste Probleme realisierbare Alternativvorschläge machen soll oder nicht. Dagegen scheint vor allem ein taktisches Argument zu sprechen: Wenn nämlich die alternativen Vorschläge gut sind, dann wird die Regierung sie übernehmen und sich selbst dafür belohnen lassen. Deshalb ziehen es manche routinierte Politiker auf den Oppositionsbänken vor, auf Alternativvorschläge lieber überhaupt zu verzichten. Die Folge ist dann oft die, daß die Opposition nicht das ist, was sie sein sollte, nämlich ein „Trainingslager für die Zukunft".

So wirken sich eingebaute Rollenzwänge sowohl bei der Regierung wie bei der Opposition zunächst einmal zu Lasten der Zukunft aus.

V.

Der Wettbewerb der Parteien um die Mehrheit der Stimmen hat ebenfalls durchaus ambivalente Wirkung. Er macht es einer Parteiführung recht schwer, sich für politische Lösungen auszusprechen, die geeignet sind, Wähler-gruppen in der Gegenwart zu belasten, um deren Zustimmung man gerade jetzt kämpfen muß, wenn man die Mehrheit erobern bzw. erhalten will.

Deshalb schildern die Parteien die Dinge allzu oft bequemer als sie sind. Man vermeidet, etwas zu sagen, was den Adressaten belasten könnte. Dafür gibt es dann aber auch einen Ausgleich, nämlich den, die Vorwürfe, Angriffe und Gegenangriffe zwischen den Parteien häufig über das Ziel hinausschießen zu lassen. Wirkliche Fragen, die die Diskussion lohnen, werden dadurch aber nicht selten eher verdunkelt als erhellt.

In anderen Bereichen wirkt die Konfrontation in der Sache selbst dafür oft künstlich. Da sind in Wahrheit dann die Standpunkte der streitenden Parteien einander näher, als sie behaupten. Auch ergibt der bestehende objektive Handlungsspielraum manchmal weniger Raum zu einer Veränderung, als eine Opposition für den Fall eines Regierungswechsels ankündigt. Die Konfrontateure wirken dann wie austauschbare Profis, die auf allen Seiten mit denselben „Fouls" arbeiten und mit einer konsumbestimmten, also harmonisch-optimistischen Linie ohne allzuviel Inhalt werben.

Das eigentliche, natürliche Feld der Konfrontation ist demnach nur zu häufig nicht das politische Problem selbst, sondern der Kampf um die Macht. Das haben alle Parteipolitiker gelernt; man muß leider sagen, manche haben nur das gelernt. Je ernster das jeweilige Pro-B blem ist, desto gefährlicher wird es, wenn Parteien nicht die Probleme angreifen, sondern mit den Problemen als Munition nur auf den Gegner schießen.

Die Weimarer Republik kann in diesem Zusammenhang als Lehre gar nicht ernst genug genommen werden. Sie ist nicht etwa daran zugrunde gegangen, daß es vor 1933 schon zu viele Nazis gegeben hätte. Vielmehr gab es zu wenig Demokraten, die erkannten, daß der gemeinsame Kampf gegen die Gefahren für alle wichtiger gewesen wäre als die dauernden Auseinandersetzungen zwischen den Demokraten. Die Schwächen der Parteienstruktur und die Schwächen der Zeit und ihres Geistes üben eine Wechselwirkung aufeinander aus. Wir versuchen, uns eine bequeme Gegenwart zu Lasten der Zukunft zu machen. Wir belasten die Umwelt und verbrauchen natürliche Ressourcen, die später fehlen. Wir machen heute rechtlich verbindliche Zusagen für später, ohne zu wissen, wer ihre Kosten eines Tages erwirtschaften kann. Wir finanzieren die steigende Flut selbst ausgelöster oder nicht verantwortlich abgewehrter Gegenwartswünsche durch Schulden, die in der Zukunft fällig werden.

Auch in der Wirtschaft gibt es das Problem. Dort wird ständig darum gekämpft, wie der erarbeitete Ertrag auf die Gegenwart, also Kon-sum, und die Zukunft, also Investition, zu verteilen sei. Auch hier hat die Vorsorge für die Zukunft den bei weitem schwereren Stand.

Der einzelne Bürger lebt bei uns in einem großartigen, im internationalen Vergleich einzig dastehenden System der sozialen Sicherung. Das wollen wir erhalten. Aber die Folge einer gesetzlich und gemeinschaftlich geregelten Vorsorge nahezu aller Lebenssachverhalte ist auch die, daß der einzelne wenig Veranlassung erhält, selbst verantwortlich an die Zukunft zu denken.

Seinen deutlichsten Ausdruck findet das Mißverhältnis von Gegenwart und Zukunft vielleicht im Geburtenrückgang der letzten fünfzehn Jahre. Offenbar wollte man in unserer Gesellschaft in dieser Zeit keine Kinder mehr haben. Die Ursache dafür mag zum Teil durchaus in der Sorge um eine ungewisse Zukunft dieser Kinder liegen, aber wesentliches Motiv ist doch die Konzentration der Erwachsenen auf ihre materiellen Gegenwartswünsche, welche durch Kinder behindert werden könnten — und die Organisation einer Gesellschaft, in der materiell belohnt wird, wer keine Kinder hat.

Die Parteien haben diesen Zustand gewiß nicht allein geschaffen, aber sie haben ihn verstärkt und verschlimmert.

VI.

Es ist also ein eigentümliches und negatives Zusammenwirken von strukturellen Schwächen im Verhalten der Parteien mit einer Mentalität unserer Zeit, das unaufhörlich die Tendenz produziert, die Lösung der Probleme in die Zukunft zu verschieben und genau dadurch die Lösung zu erschweren. Es fehlt ja nicht an der Einsicht, daß wir vorkonsumiert haben und nun nacharbeiten müssen. Auch ist es gerade die Verschiebung der Problemlösungen auf später, die eine sehr eigentümliche und sehr intime Beziehung zur Zukunft nach sich zieht, nämlich eine mehr oder weniger dumpfe Angst vor der Zukunft. Ihre wesentlichen Merkmale, vor allem bei jüngeren Leuten, sind: die Sorge vor der Knappheit und Undurchsichtigkeit der eigenen künftigen Berufschancen, das Mißtrauen gegenüber dem technischen Fortschritt — man befürchtet, daß unsere naturwissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten schneller wachsen als un-sere Kraft, sie ethisch, sozial und politisch zu beherrschen — und schließlich die Angst vor den Folgen einer ständig wachsenden atomaren Rüstungsspirale.

Wir leben nun heute nicht mehr in der Phase der späten sechziger Jahre, zu einer Zeit also, in der die Anführer der Studentenrevolte durch theoretisches Wissen, ideologischen Streit und vor allem durch revolutionäres Wollen gekennzeichnet waren. Heute gibt es keine solche Revolte, sondern es gibt die „Bewegung", wie sie sich selbst vorsätzlich unklar nennt und versteht. Sie äußert kein konkretes politisches Ziel. Man versteht sich nicht als Revolution, man will keinen ideologischen Streit um Rechtgläubigkeit. Man weiß, wogegen man ist; unklar bleibt, wofür. Man ist „alternativ", was immer das bedeuten mag. Und auf die Frage, wie man die Zukunft sieht, heißt es in einem sehr lesenswerten Buchbeitrag aus der Hausbesetzerszene wie folgt: „Zukunft? Wir sind nicht gewohnt, viel weiter als eine Woche im voraus zu planen. Unsere Zukunft heißt Widerstand. Unsere Power ist, daß wir wenig zu verlieren haben. Unsere Power kann man spüren, wenn man Hemmschwellen durchbricht, der Bruch mit dem Vertrauten, dem Elternhaus, der Schule, der faden Clique, der Bruch mit dem öffentlichen Konsens, mit den ewig defensiven linken Gewißheiten, mit dem Machbaren. Es herrscht Aufbruchstimmung bei uns. Das Gefühl von Sicherheit in einer völlig unsicheren Situation. Es ist die Sicherheit, etwas durcheinanderzubringen, bestätigt durch die Schlagzeilen der ängstlichen Zeitungen, die fahlen Gesichter der Politiker, das Polizeiaufgebot. Unsere Power ist die Gewißheit, moralisch im Recht zu sein, die Erfahrung, daß Erfolg Sympathie schafft. In dieser Sympathie steckt die Identifikation mit dem frechen David, der gegen Goliath antritt.

Die Lektüre solcher Texte vermittelt kein Zukunftsprogramm. Aber, so merkwürdig dies vielleicht für manche klingt: solche Aussagen Sind doch alles in allem eher erfrischend als entmutigend. Der Instinkt leitet gerade die aktiven Kräfte jeder Generation. Er begegnet uns bei Jüngeren oft als Skepsis. Da sagt ein Vater zu seinem Sohn: „Setz'dich hin und lerne etwas, denke an deine Zukunft!" Dann antwortet der Sohn: „Zukunft? Was ist das?" Ist dies eine Absage des Sohnes an die Zukunft? Wohl kaum. Viel eher eine Absage an den Vater. Das ist als Durchgangsstadium überdies weit besser, auch für den Vater. Der Sohn findet nicht den richtigen Weg. Aber das, was er wirklich sucht, das ist doch genau die Zukunft.

Zunächst zeigen solche Texte und Dialoge, daß die vitale Kraft des Menschen sich auch durch Jahrzehnte einer Tendenz zum zentralistischen, bürokratisierten Fernsteuerungs-und Beglückungsstaat nicht hat abstumpfen lassen. Im Gegenteil! Das, was von jungen Leuten — und nicht nur in Berlin — trotz aller militanten und wenig einladenden Formen angestrebt wird, enthält im Kern die Suche nach dem, was ohnehin unser politisches Programm sein muß, nämlich nach dem Übergang zur Selbstverantwortung und Mitverantwortung. Was die Parteien selbst anbetrifft, so hilft klagen für sich allein nicht weiter. Parteien sind eben keine Goliaths, sie sind weder so groß und so stark, noch im allgemeinen so dumm. Zwar ist es richtig, daß ihr Zeitmaß die Legislaturperiode und die nächste Wahl ist. Aber sie allein dafür zu kritisieren, ist sinnlos. Die parlamentarische Demokratie funktioniert nur wenn die Parteien um die Mehrheit kämpfen. Das ist ausdrücklich ihr Auftrag. Es würde der Zukunft überhaupt nicht dienen, wollte man von einer Partei erwarten, sie solle im nächsten Wahlkampf nur an die Zukunft denken, dafür aber auf den Wettbewerb um die Mehrheit überhaupt verzichten, überdies fehlt es auch einer hinreichend großen Zahl von Politikern keineswegs an der Einsicht in das, was zur Zukunftssicherung notwendig ist. Was ihnen fehlt, ist vielmehr das Zutrauen, daß es ihnen gelingen könnte, dafür Zustimmung bei einer Mehrheit der Wähler zu finden.

Die Aufgabe besteht also in der Fähigkeit, das Notwendige mehrheitsfähig zu machen. Dies kann nur gelingen — und das war vermutlich zu allen Zeiten so —, wenn wir verändernd auf das Verhalten und Bewußtsein einwirken, bei uns selbst lind beim Wähler. Solange wir als Politiker in der Parteiendemokratie unsere Aufgabe nur so verstehen, die Wünsche der Wähler zu ermitteln, zusätzliche Wünsche zu suggerieren und ihre Erfüllung im Maß der Möglichkeiten zu versprechen, solange wird die Parteiendemokratie auf die Dauer überhaupt keine Überlebenschance haben. Bleiben wir hingegen lernfähig und verstehen wir das politische Mandat der Parteien als Aufgabe, für unsere ja vorhandenen, erreichbaren Erkenntnisse öffentlich einzutreten — vielleicht sogar einmal gegen eine Wahlkampfaussage von uns selber —, dann bleibt unsere Ordnung jedem anderen System überlegen.

Allen Mängeln zum Trotz können wir an diese Lernfähigkeit durch Wettbewerb, auch im Wettbewerb der Parteien, durchaus glauben. Das klassische Beispiel in der Parteiengeschichte bleibt der Wettbewerb zwischen dem Konservativen Disraeli und dem progressiven Liberalen Gladstone im ausgehenden 19. Jahrhundert in Großbritannien. Im Kampf um die Macht schlug Gladstone fällige Reformen vor. Disraeli machte sich den Löwenanteil der Gedanken seines Gegners zu eigen und setzte sie im Regierungsmandat durch. Ein typisches, auch heute wirksames Prinzip kam dabei zur Geltung: Fortschritt gelingt nur mit Hilfe der Konservativen. Man muß sie für fortschrittliche Ideen gewinnen, nicht sie damit bekämpfen. Wer den Fortschritt gegen die Konservativen durchsetzen möchte, der wird am Ende scheitern, und dann wird er zum Ideologen. Wahre Konservative hingegen müssen offen für den Fortschritt sein. Wer sich dem Fortschritt verschließt, wird zum Reaktionär.

VII.

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen ist es auch angebracht und wichtig, auf den Erziehungsbereich einzugehen. Die Frage lautet: Wie haben sich Erziehung und Bildung der letzten Jahrzehnte auf das Zusammenleben der Menschen, insbesondere auf das soziale und politische Zusammenleben, ausgewirkt? Welche Folgen zeigen diese Entwicklungen für die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie?

Das politische Bewußtsein ist in unserer Bevölkerung ohne jeden Zweifel wesentlich wacher als früher. Die Erkenntnis der eigenen Interessen, die Fähigkeit, sie zu organisieren und zu vertreten, die Rechte der Meinungsäußerung und Mitbestimmung zu kennen und wahrzunehmen, Initiativen zu ergreifen, die zahlreichen Rechtswege zu benutzen — diese ganze Seite demokratischer Partizipation ist gewaltig gewachsen. Im Vergleich zu einer teilnahmslosen „Ohne-mich" -Einstellung sehe ich darin einen großen Fortschritt. Dazu hat Erziehung zum kritischen Denkvermögen ohne Zweifel positiv beigetragen. Es ist gut, wenn junge Menschen frühzeitig lernen, sich durch die Werbung von Politik oder Wirtschaft nicht verführen zu lassen, sondern selbst urteilen zu können.

Aber auch etwas anderes ist offensichtlich: Die Pädagogik der letzten Jahre hat den jungen Leuten nicht nur Kritikfähigkeit vermittelt sondern auch die Gegnerschaft gegen andere. Das geht bis in die Vermittlung des Grundwerteverständnisses. Solidarität wird dabei verstanden als der Kampf der Gleichen mit den Gleichen gegen die Ungleichen. Solidarität ist Kampf gegen Feinde. Gerechtigkeit, so wird gelehrt, herrscht dort, wo ich Recht bekomme. Die anderen, so lernt man dabei, sind die kurzsichtigen Egoisten. Wir üben also die Gegnerschaft ein.

Eine nicht zu unterschätzende Gefahr besteht zusätzlich darin, Freiheit mißzuverstehen. Zunächst ging es mit Recht um die Befreiung von Not, von Unrecht und von menschenunwürdiger Abhängigkeit. Das ist der entscheidende, der positive, der notwendige Kern der Befreiung. Dann aber geht diese „Befreiungsbewegung” weiter. Sie schlägt um in Kampf gegen Bindungen und Pflichten schlechthin. Sie verkennt die alte Einsicht, daß es Abhängigkeiten gibt, die den Menschen entwürdigen, aber daß es auch Bindungen gibt, in denen er überhaupt erst zum Menschen wird. Wenn wir das nicht begreifen, wenn wir Freiheit mißverstehen als Bindungslosigkeit, dann führt gerade dies am Ende zu einem solchen Hunger nach Bindung, daß die jungen Menschen in Gruppen hineindrängen, in denen das Feindbild selbst zum Bindungsmittel wird.

Es gibt Beispiele der Erziehung zur Gegnerschaft, die zeigen, wohin ideologische Irrwege der Pädagogik führen können. Ich behaupte nicht, daß sie überall verbreitet sind. Aber wichtig genug sind sie leider doch. Da gibt es eine Gewerkschaft in Berlin, die sich selbst „Erziehung und Wissenschaft” nennt. Sie proklamiert, sie werde die Schulen zu „Foren der Anklage” gegen eine Politik machen, die diese Gewerkschaft für falsch hält. Was ist die Folge? Bei einer Schuldiskussion tritt mir ein zwölfjähriger Schüler mit dem Bekenntnis entgegen: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht." — Eine kurze Nachfrage, was er damit meint, ergibt unter allseitig befreiendem Gelächter, daß er überhaupt keine Ahnung hat, was der Satz bedeutet. Der Lehrer hatte es ihm beigebracht. Die Rede war von einem Urteil eines Oberverwaltungsgerichts zu einer Frage des Straßenbaus.

Ein weiteres Beispiel: Es kommen Erzieher mit zwei-bis vierjährigen Kindern in den Senat für Jugendfragen. Es geht um den Protest gegen die Abschaffung des Nulltarifs für die Kindertagesstätten. Da rufen die Zwei-bis Vierjährigen im Chor: „Wir wollen unsern Nulltarif. Keinen Sechser für Raketen, unsern Kindern die Moneten!"

Kindern politische Sprüche einzuhämmern, die sie nicht verstehen, hat aber weder etwas mit Erziehung noch mit Wissenschaft zu tun, sondern ist ein ziemlich böses Verbrechen.

Ich will damit sagen: Wir müssen mit scharfer Klarheit unterscheiden zwischen der Befreiungsaufgabe, die notwendig ist, und der Bindungslosigkeit, die dem Menschen das Leben zerstört, zwischen der Kritikfähigkeit, die ein Gewinn ist, und ihrem Gegenteil, nämlich dem Eintrichtern und Nachplappern ideologischer Sprüche, dem Gipfel der menschenverachtenden Aufopferung kleiner Kinder zugunsten eigener Ideologie.

Was hat das mit Parteien zu tun? Es ist unsere Aufgabe, zu demjenigen Maß an politischer Verbindlichkeit vorzustoßen, das wir um der Menschen und um der freien Gesellschaft willen brauchen. Wie wichtig das ist, wird auch an einem weiteren Beispiel deutlich: Das Landesarbeitsgericht Hannover entschied Anfang Februar 1982, daß die Teilnahme an einem Kurs für Yoga und autogenes Training Bildungsurlaub im Sinne des entsprechenden Gesetzes sei. Die Begründung: Das Gesetz begünstige die politische, berufliche und die allgemeine Weiterbildung. Diese allgemeine Bildung sei umfassend, also schrankenlos zu verstehen; denn: „eine nähere inhaltliche Bestimmung ist wegen des in einer pluralistischen Gesellschaft fehlenden Konsenses über Bildungsinhalte nicht möglich.“

Ist also gar kein Konsens möglich? Kann jeder den Kindern alles beibringen? Darf man also auch behaupten, derjenige würde autoritär mißhandelt, der dazu genötigt wird, als Baby im Ställchen zu stehen? Vielleicht. Aber deswegen braucht doch noch keiner sich als Reaktionär zu fühlen, wenn er meint, es sei gut zu lernen, Vater und Mutter zu ehren.

Der einzelne bestimmt hier, wohlgemerkt auf Staatskosten, was er für seine allgemeine Bildung braucht. Demnächst wird vielleicht der Konfirmandenunterricht oder die Hausbesetzung oder das Skatspielen unter das Weiter-bildungsgesetz fallen. Das ist die Folge, wenn Erziehungsziele und Bildungsinhalte zu gerichtlich bestätigten, reinen Leerformeln werden. Dann strömen die Ideologen und die Idealisten herbei, und am Ende betreiben sie ihr altes Geschäft: Sie wollen den Himmel auf Erden schaffen, aber sie produzieren, wie Karl Popper sagt, die Hölle.

Politisches Bewußtsein, Erkenntnis, Organisation und Vertretung von Interessen — das alles ist stark angewachsen. Insoweit sind wir dem notwendigen demokratischen Ziel der Partizipation näher als früher. Aber das ist nur die eine Hälfte dessen, was lebendige und freiheitliche Demokratie ausmacht. Die andere Hälfte heißt: Neben dem Mitbestimmen auch die Mitverantwortung; neben dem Kampf um die eigenen Rechte auch die Bereitschaft zu Ausgleich und Kompromiß; neben dem Kampf um die Macht auch die Annahme der Mehrheitsentscheidung; neben dem Pochen auf das Mehrheitsrecht auch die Toleranz für Minderheiten und Randgruppen. Der Rechtsstaat darf nicht über den Weg des Rechtswegestaates in die Rechthabereigesellschaft ausarten.

Wer Frieden nach außen fordert, der muß auch in der Lage und bereit sein, Frieden nach innen zu geben. Zum Schutz der persönlichen freiheitlichen Ziele gehört der Schutz der Freiheit des Mitbürgers. Zur Hilfe, die man selbst im Notfall braucht, gehört die Hilfe, die man dem in Not befindlichen Nachbarn auch selber gewährt. Es ist gut, Rechte zum Mitreden zu haben und dort, wo man unterliegt, die Gerichte anrufen zu können bis zur höchsten Instanz. Aber am Ende braucht die Demokratie Entscheidungsfähigkeit. Demokratie kann nicht darin bestehen, jeder Minderheit ein Vetorecht gegen jede Entscheidung zu geben.

Mit einem Wort: Das wichtigste soziale Ziel der Erziehung, und zwar im persönlichen wie im politischen Sinn, ist es, nicht Gegnerschaft zu lernen, sondern miteinander auszukommen, zusammenzuleben. Die ganze Kulturgeschichte der Menschheit ist durchzogen vom Aufbau und von der Weitergabe der mühsam angesammelten Erfahrung, wie man zusammenlebt. Mitten in Frieden und Freiheit sind wir aber hier „ins Schleudern" geraten, weil wir aus dem Auge verloren haben, daß Interessenvertretung und Rechtewahrnehmung nur funktionieren, wenn sie auf dem Boden der Einsicht in den „common interest" wachsen.

Gemeinwohl, Gemeinsinn und Bürgersinn, das sind keine aufgepfropften moralischen Forderungen, sondern sie beruhen auf der Einsicht, daß nur mit ihnen der demokratische Bürger seine eigenen freiheitlichen Interessen auf die Dauer erhalten und vererben kann.

Ob die Krise der Parteiendemokratie auch mit der Frage zu tun hat, inwieweit die politische Führung überhaupt befugt ist, Werte und Überzeugungen zu vermitteln und von daher auf Bildungsinhalte einzuwirken, darüber gibt es viel Streit. Im Grunde habe ich diesen Streit nie ganz verstanden. Klar ist doch auf der einen Seite, daß wir in einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft nicht dazu da sind, das Wahre, Gute und Schöne zu dekretieren; das machen Diktaturen. Die Weltanschauung, die Frage des Glaubens gehört nicht zur politischen Zuständigkeit.

Aber auf der anderen Seite weist die Demokratie der Politik verantwortliche Führungsaufgaben zu. Diese Demokratie ist eine tief sozialethisch begründete Form des Zusammenlebens. Sie ist kein bloßer Verkehrszirkus. Jede Abstinenz der politischen Führung, die Wertbasis der eigenen Politik erkennbar zu machen und die Einhaltung der sozialethischen Grundlagen des Gemeinwesens einzufordern, bringt über kurz oder lang die ganze freiheitliche Demokratie zum Einsturz.

VIII.

Freilich kann die Politik allein diese Grundlage nicht sicherstellen. Vielmehr werden sich Krise und Chance der Parteiendemokratie nicht zuletzt danach entscheiden, in welchem Verhältnis politische Macht und Geist zueinander stehen. Ein altes, zumeist leidvolles deutsches Thema. Geist, Kunst, Wissenschaft und alles, was sich unter dem etwas unklaren Namen der Intellektuellen vereinigt, haben in traditioneller Weise eine kritische Distanz zur politischen Macht. Das war so in der Kaiserzeit, es war so im Dritten Reich — wenngleich nicht immer spürbar genug —, aber daraus hat sich nun nicht selten eine Haltung entwickelt und verfestigt, die Nein sagt zu allem, was Macht und Ordnung und Staat und Status quo heißt.

Man spielt die Rolle des Anklägers und moralischen Richters gegen die, welche die Macht verwalten. Man ironisiert sie. Je mehr man in früheren Zeiten des Obrigkeitsstaates hätte protestieren sollen, desto mehr wird es heute, wo es so ungeheuer leicht ist, nachgeholt. Wir haben heute aber ein anderes Gemeinwesen, eine demokratische Republik. Seine freiheitlichen Elemente: Opposition, Kritik, Dissens, Minderheitenschutz — sie sind lebensnotwendig. Aber diese Elemente, die sich gegen Pläne und Maßnahmen der gewählten Parlamentsmehrheit und Regierung richten können, bedürfen der Basis einer elementaren Zustimmung und Zuneigung zum demokratischen Staat.

Es ist Aufgabe der Parteien, die Intellektuellen zu diesem Grundkonsens einzuladen und ihn ihnen zu erleichtern. Es gilt einer Gefahr immer wieder entgegenzuarbeiten, die darin besteht, daß kritische Geister sich der Neigung hingeben, über das Unvollkommene auf der Welt zu verzweifeln, sich dann über die eigene politische Abstinenz zu ärgern, danach irgendwo hineinzuspringen, dort ideale Verhältnisse zu fordern, die Verhinderer dieser Idealität zu verteufeln und sich schließlich nach den ersten, unweigerlich fälligen Mißerfolgen wieder zurückzuziehen, nicht ohne die Schuld dafür bei anderen zu suchen und zu finden, aber ohne selbst für nenneswerte Konsequenzen dieses Ausflugs in die Politik die Folgen tragen zu müssen.

Ich teile nicht die Abneigung vieler gegen ein Eingreifen von Intellektuellen in Wahlkämpfe zugunsten einer bestimmten Partei. Ich finde es besser, sie zu integrieren, und sei es auch nur in Wahlkämpfen. Dann kommen sie doch immerhin der Verantwortung, um die es in der Politik geht, ein Stück näher, anstatt immer nur mit freischwebendem Geist moralisch vorzusingen, ohne dort, wo die Dinge sich hart im Raume stoßen, auch den Beweis für die eigene Ethik antreten zu müssen.

Nur einmal hat es in der Nachkriegszeit eine planmäßige und erfolgreiche Bemühung einer Parteiführung um den Geist im Land gegeben. Ich meine Willy Brandt in den sechziger Jahren. Parteipolitisch gesprochen hat das meiner Richtung geschadet. Staatspolitisch, so meine ich, war es etwas strukturell Richtiges.

Ohne Zustimmung und Zuneigung zum demokratischen Staat geht es nicht. Die geistig führende Schicht hat eine elementare Verantwortung, diese herbeizuführen. Wenn Geist und Macht gemeinsam die lebenserhaltende Kraft der Demokratie, nämlich den Gemeinsinn vertreten, dann wird die Krise zu bewältigen sein, in die wir heute tief verstrickt sind.

IX.

Die Nachkriegsgeschichte unserer Demokratie war von sehr unterschiedlichen Phasen gekennzeichnet. In der ersten Phase waren die Werte und Ziele der handelnden Parteien und Politiker recht eindeutig. Zwar gab es auch Streit, aber zumeist doch Klarheit in bezug auf die politischen Entscheidungen. Die bestimmende Gestalt dieser Zeit, Konrad Adenauer, hatte als handelnder Politiker großes staatsmännisches Format. Aber für eine zentrale Aufgabe setzte er seine Kraft und Autorität zu wenig ein: nämlich die junge, insoweit ungeübte Generation in die Demokratie einzuüben, sie ihr auch menschlich, sozusagen mit Herz-blut, nahezubringen. Natürlich war er selber ein tief überzeugter Demokrat. Er warb für politische Konzepte und Entscheidungen. Aber für die Demokratie in diesem Gesamtzusammenhang von Argumenten und Gefühlen bei den jungen Leuten war es zu wenig. Die Jungen blieben überwiegend passiv. In der nächsten Phase wachten sie auf. Sie brachten sich allmählich die Möglichkeiten demokratischer Partizipation selbst bei. Die politische Führungsschicht nahezu aller Parteien wehrte sich zunächst, um dann oft nur allzu rasch nachzugeben, ja hinterherzulaufen, anstatt Konflikte auch durchzustehen, was ebenfalls zum politischen Geschäft gehört.

Dies ist gewiß sehr pauschal gezeichnet und wird vielen einzelnen Persönlichkeiten nicht gerecht. Dennoch können wir daraus eine Lehre ziehen: Die wichtigste Chance zur Über-windung der Krise liegt darin, den Führungsauftrag auch wahrzunehmen, zu dem man gewählt ist. Das heißt: nicht dem französischen Spruch zu folgen „Je suis leur chef, il faut que je les suive", sondern voranzugehen: Nicht den Strömungen hinterherlaufen, sondern auf ihre Richtung Einfluß nehmen!

Wir brauchen Führung. Wir brauchen vielleicht in der Demokratie noch mehr Führung, als viele Leute meinen, daß es der Name Demokratie vertrage. Führen heißt doch nicht, so zu tun, als wisse man alles, nur deshalb, weil man gewählt sei. Es gibt vieles, vielleicht die Mehrzahl der Dinge, die die gewählte politische Führung überhaupt erst im Amt lernt. Im übrigen gibt es Aporien, die gar nicht auflösbar sind. Ein Beispiel: Was ist die Wahl: Ohne Waffen dazustehen und sich der Unterwerfungsgefahr auszusetzen, oder sich mit Waffen und der damit verbundenen Rüstungsspirale zu schützen — und wie lange funktioniert dann die Abschreckung noch? Die Wahrheit ist, daß der Friede prekär ist und keine sichere Sache. Das muß man auch sagen! Wenn man es sagt, dann ist es auch möglich, verständlich zu machen, daß man in der politischen Führung die Verantwortung dafür fühlt, die Freiheit zu schützen, sie zu verteidigen, obwohl die Mittel der Verteidigung gefährlicher Natur sind.

Ein weiteres Beispiel: Unser soziales Sicherungssystem ist eine große Errungenschaft. Aber erwirtschaften wir auch das, was wir brauchen, um zu finanzieren, was wir versprochen haben?

Oder der technologische Fortschritt: Wir wissen, daß die Rationalisierung schneller wächst als das Brutto-Inlandsprodukt. Die Folge ist: Das Angebot an Arbeit bleibt hinter der Nachfrage nach Arbeit nachhaltig — strukturell_ zurück. Deshalb ist es nötig, die Begriffe, die Verhandlungsgegenstände unter Tarifpartnern neu zu durchdenken. Wir brauchen neue Einkommensbegriffe, es genügt nicht mehr, sich allein über Lohn und Gehalt zu einigen. Die Arbeitszeit und die Vermögensbeteiligung z. B. gehören mit in den Einkommens-begriff, wenn tiefgehende strukturelle Probleme auf dem Arbeitsmarkt auch in derjenigen Tiefe angepackt werden sollen, in der sie entstehen. Mit anderen Worten: Nicht behaupten, daß man alles gleich wisse, die Aporien beim Namen nennen und nicht vertuschen, und die Dinge, von denen man weiß, daß die Zukunft durch sie bedroht ist, offen ansprechen, anstatt sie im Parteienwettbewerb konspirativ zu verschweigen — das alles ist möglich und nötig.

X.

Ich will keine Prognose wagen. Ich weiß nur, daß die Krise tief ist, in der wir uns befinden. Es sei erlaubt, aus meiner eigenen Erfahrung in den letzten Jahren zu berichten: Ich hatte gerade den Auftrag angenommen, einen Beitrag in einem Verfassungshandbuch über die Parteien zu schreiben. Ich habe den Herausgebern gesagt: „Wenn ich diesen Artikel schreiben soll, dann werde ich einen sehr skeptischen Artikel schreiben. Mir fehlt zur Zeit der Glaube an die Überlebensfähigkeit der Parteiendemokratie." Kurz darauf begab es sich, daß ich mich in Berlin, vor eine neue Aufgabe gestellt, wiederfand. Für Buchmanuskripte ist keine Zeit mehr. Jetzt bin ich gewissermaßen genötigt, in der Praxis zu widerlegen, was ich theoretisch befürchtet hatte.

Ein offenes, ein freies System, und nur dieses, besitzt Lernfähigkeit. Gern lernt die Menschheit nicht. Manchmal bedarf es zur rechtzeitigen Hilfe kleinerer Katastrophen, damit über die Unwilligkeit zum Lernen hinweggeholfen wird, bevor die großen Katastrophen kommen — die es unter allen Umständen zu vermeiden gilt.

Krisen sind Zeiten der Entscheidung und der Unterscheidung. Andere werden uns nicht helfen. Wir werden uns nur selbst helfen. Aber wir können vielleicht von anderen lernen, zum Beispiel von den Chinesen. Denn es heißt, die Chinesen hätten ein und dasselbe Schriftzeichen für die Krise und für die Chance.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Benny Härlin, Von Haus zu Haus, in: Kursbuch 65, 1981, S. 25.

Weitere Inhalte

Richard von Weizsäcker, Dr. jur., geb. 1920; 1969— 1981 Mitglied des Deutschen Bundestages; seit 11. Juni 1981 Regierender Bürgermeister von Berlin; Mitglied der Synode und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.