Die Außenpolitik der Volksrepublik China ist in ihrer heutigen Gestalt im wesentlichen bereits nach der sogenannten Kulturrevolution 1969/70 formuliert worden. Sie geht also noch auf die Zeit des aktiven Wirkens der beiden einflußreichsten politischen Führer Chinas, Mao Zedong und Zhou Enlai, zurück. Jene tief-greifenden innen-und wirtschaftspolitischen Veränderungen, die der Tod Maos im Herbst 1976 und die Ausschaltung seiner radikalen Parteigänger zur Folge hatten, hat die Außenpolitik nicht erfahren. Die Erben Maos, Deng Xiaoping und seine Anhänger, haben an dem an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren formulierten außenpolitischen Kurs festgehalten, als dessen Hauptziel die Zurückweisung des regionalen und globalen Machtanspruchs der Sowjetunion erkennbar geworden ist. Zwar hat es im Verlaufe der vergangenen anderthalb Jahrzehnte in den taktischen Bemühungen um dieses Ziel Akzentverlagerungen gegeben, eine grundsätzliche Richtungsänderung ist jedoch nicht erfolgt.
Im folgenden sollen die Motive für die Neuformulierung der chinesischen Außenpolitik am Beginn der siebziger Jahre, ihre theoretische Begründung aus chinesischer Sicht und die Strategie ihrer Vertreter im Rahmen der langfristigen Zielsetzungen Pekings behandelt werden.
I. Die Motive
Schon in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, so heißt es, habe der damalige Außenminister Chen Yi das Wohlwollen Maos gewonnen, als er ihm vorschlug: „Stabilisiere den Westen und verbünde dich mit anderen Ländern gegen Sowjetrußland, andernfalls werden wir den Feinden vor uns und in unserem Rücken ausgesetzt sein und in die Berge des Himalaya fliehen müssen.“
Selbst wenn man Chen Yis Bemerkung noch nicht als Anstoß für den sich Ende der sechziger Jahre vorbereitenden Abbau der Konfrontation mit den USA interpretieren will, so geht doch daraus hervor, daß bereits vor Beginn der „Kulturrevolution" innerhalb der Führung Überlegungen angestellt und — wie man weiß — diplomatische Schritte unternommen wurden, die gleichzeitige Gegnerschaft zu beiden Supermächten durch eine Annäherung an den Westen auszugleichen. Außer Frankreich, das 1964 die VR China anerkannte, wagte jedoch keiner der amerikanischen Bündnispartner in Westeuropa und Asien, die Beziehungen zu Peking zu formalisieren.
Die internationale Entwicklung sollte Chen Yis Warnung bestätigen und die chinesische Führung zu einer Änderung ihrer Politik sogar gegenüber ihrem damaligen Hauptfeind, den Vereinigten Staaten, veranlassen: Die sowjetische Intervention in der CSSR 1968 machte China, das ebenfalls des Verrats am Sozialismus bezichtigt wurde, zumindest in der Einschätzung seiner Führer zu einem Anwendungsfall für die Breschnew-Doktrin. Die Folge war, daß Peking der amerikanischen Seite überraschend seine Bereitschaft signalisierte, das nächste Treffen der Botschafter beider Länder in Warschau im Februar 1969 abzuhalten. In Verbindung mit diesem Vorschlag gab China der amerikanischen Seite die Schuld, daß man in den vergangenen 13 Jahren, das heißt seit Beginn der Botschafter-Gespräche, nicht zu einem Übereinkommen über die Räumung Taiwans und über die Fünf Prinzipien der Friedlichen Koexistenz gelangt sei Damit hatte Peking der neuen amerikanischen Administration — Nixon war soeben zum Präsidenten gewählt worden — auf subtile Weise zu verstehen gegeben, daß es an einem Abkommen interessiert sei, in dem man sich u. a.
über die Prinzipien der Friedlichen Koexistenz, also auch über den Grundsatz des Nicht-angriffs, einigen könne.
Dieses Signal erfolgte drei Monate nach dem sowjetischen Einmarsch in Prag und nur zwei Wochen, nachdem Breschnew diesen Schritt in einer Rede in Posen mit der Behauptung zu rechtfertigen versucht hatte, der Schutz der sozialistischen Ordnung eines Landes mit militärischen Mitteln rangiere vor der Beachtung der Souveränität dieses Landes.
Da der chinesischen Führung von Moskau wiederholt Chauvinismus und Untergrabung der Einheit der sozialistischen Weltgemeinschaft vorgeworfen worden war — so z. B. von Breschnew in seiner Rede zum Jahrestag der Oktoberrevolution am 4. November 1967 —, mußte sie die folgende Feststellung des sowjetischen Parteichefs als Warnung empfinden: ..... wenn also eine ernste November 1967 —, mußte sie die folgende Feststellung des sowjetischen Parteichefs als Warnung empfinden: ..... wenn also eine ernste Gefahr für die Sache des Sozialismus in diesem Lande, eine Gefahr für die Sicherheit der ganzen sozialistischen Gemeinschaft entsteht — dann wird dies nicht nur zu einem Problem für das Volk dieses Landes, sondern auch zu einem gemeinsamen Problem, zu einem Gegenstand der Sorge aller sozialistischen Länder." 3)
Den Führern in Peking hat die Reaktion der Sowjetunion auf die Vorgänge in der ÖSSR verdeutlicht, wie prekär die Sicherheit ihres Landes werden könnte, wenn man an dem bisherigen Kurs, d. h.der gleichzeitigen Konfrontationspolitik gegenüber beiden Supermächten, festhält.
Ein weiterer Anstoß, diese Politik zu revidieren, dürfte von politischen Initiativen der Sowjetunion und der USA ausgegangen sein, die die Lage in Asien betrafen.
Ende Mai 1969 veröffentlichte die sowjetische Regierungszeitung einen Kommentar mit dem Vorschlag, in Asien ein System kollektiver Sicherheit zu errichten. Wenige Tage später wiederholte Breschnew diesen Vorschlag auf der Internationalen Beratung der Kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau und machte ihn so zu einem Bestandteil sowjetischer Asienpolitik 4).
Die Art und Weise der Präsentation dieses Vorschlags und seine weitere Behandlung ir der sowjetischen Presse ließ keinen Zweifel daran, daß die Sowjetunion darauf abzielte, ih ren Einfluß in einem Raum zu verstärken, aus dem England sich militärisch zurückzuzieher im Begriffe stand und in dem die Vereinigter Staaten sich in einen ausweglosen Konflikt verwickelt hatten.
Im Juli 1969, nur einen Monat nach der Veröf. fentlichung der sowjetischen Initiative, deutete Präsident Nixon auf einer Pressekonferenz in Guam an, die Länder Asiens sollten die Verantwortung für ihre Verteidigung in wachsendem Maße selbst übernehmen. Mit anderen Worten: Der amerikanische Präsident kündigte den Abbau des militärischen Über-engagements der USA in diesem Raum an Die Äußerungen der verantwortlichen Führer der beiden Supermächte ließen erkennen, daß die eine Macht ihr wachsendes Interesse an der asiatisch-pazifischen Region anmeldete, während die andere dabei war, ihren militärischen Rückzug aus diesem Raum einzuleiten und zu rechtfertigen.
In Peking verstand man die strategische Bedeutung dieser gegenläufigen Bewegungen. Man sah, daß die Bedrohung durch die USA ihren Höhepunkt überschritten hatte. In den Augen der chinesischen Führer war die Sowjetunion zur gefährlicheren der beiden Supermächte geworden. Gegen sie mußte man sich schützen.
Diese Überzeugung war durch andere sowjetische Aktivitäten in Ostasien gestützt worden: 1966 hatte die Sowjetunion mit der Mongolei einen „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand" mit zwanzigjähriger Laufzeit abgeschlossen, der ihr die Stationierung von Streitkräften und die Unterhaltung von Stützpunkten gestattete. Ferner hatte sie die Zahl ihrer Divisionen entlang der chinesischen Grenze von 18 im Jahre 1964 auf 33 im Jahre 1970 erhöht Auch die zum Teil schweren bewaffneten Zusammenstöße zwischen sowjetischen und chinesischen Streitkräften von März bis August 1969 am Ussuri und im Nordwesten Chinas belegten die dramatische Verschlechterung der Beziehungen zwischen den beiden kommunistischen Großmächten. Für die Vereinigten Staaten, deren Präsident wiederholt den Wunsch nach einer Verbesserung der Beziehungen zu China angedeutet hatte, bot sich durch die skizzierte Entwicklung und die sich vorsichtig abzeichnende Bereitschaft der Chinesen, die langjährige Konfrontation mit den USA ebenfalls abzubauen, eine selten günstige Konstellation. Beide Seiten waren entschlossen, erste Schritte in Richtung auf eine Entspannung zu unternehmen; sie taten dies mit bemerkenswerter Zielstrebigkeit. Bereits im Juli 1971 konnte der Sicherheitsberater Präsident Nixons, Henry Kissinger, während eines geheimen Aufenthalts in Peking die Möglichkeit eines Besuchs des amerikanischen Präsidenten in China erörtern. Dieser Besuch fand im Februar 1972 statt und schuf die Grundlage für eine strategische Partnerschaft von weitreichender Bedeutung für Asien und die Welt
Damit haben als externe Motive für die Neuorientierung der chinesischen Außenpolitik nach der „Kulturrevolution" zu gelten: die in Peking als Bedrohung verstandene verstärkte Hinwendung der Sowjetunion nach Asien, der forcierte Ausbau ihrer militärischen Präsenz unmittelbar an Chinas Grenze und eine jederzeit mit der Breschnew-Doktrin zu rechtfertigende Interventionspolitik gegenüber „sozialistischen Bruderländern". Dazu kontrastierte positiv eine amerikanische Politik, die auf eine wesentliche Reduzierung der militärischen Präsenz der USA in Asien abzielte. Ob auch innenpolitische oder wirtschaftliche Gründe für Chinas Entscheidung eine Rolle gespielt haben, ist zweifelhaft. Die zwangsläufige Abschwächung und schließlich Einstellung der zwei Jahrzehnte lang betriebenen anti-amerikanischen Propaganda war innenpolitisch eher ein Risiko.
III. Der Anti-Hegemonismus
Die Entspannung der Beziehungen zu Amerika hat sich für China gelohnt. Es erreichte damit bei minimalem Mitteleinsatz optimale Ergebnisse:
— Die Bündnispartner der Vereinigten Staaten, die zwanzig Jahre lang die Eindämmungsund Isolierungspolitik gegenüber China unterstützt hatten, gaben diese Politik auf und stellten volle diplomatische Beziehungen zur VR China her. Sie anerkannten dabei die Regierung in Peking als die einzig rechtmäßige chinesische Regierung und trugen so zur diplomatischen Isolierung Taiwans bei. Die Übernahme des chinesischen Sitzes in den Vereinten Nationen im Herbst 1971 durch die Vertreter aus Peking war die unmittelbare Folge dieser Entwicklung.
— Japan, der engste Bündnispartner der USA im pazifischen Raum, geriet unter starken innenpolitischen Druck, seinerseits die Beziehungen zu China zu normalisieren. Es mußte dafür die Bedingungen Pekings ohne Abstriche akzeptieren.
— Die Entspannung des Verhältnisses zu den USA verschaffte China Zugang zu fortgeschrittener Technologie und westlichen Managementmethoden. — Der Eintritt Chinas in das System der internationalen Beziehungen, insbesondere aber seine Annäherung an die USA, erhöhte seine Sicherheit gegenüber der Sowjetunion. Die Bemühung um mehr Sicherheit gegenüber der sowjetischen Bedrohung durchzieht die gesamte chinesische Außenpolitik. Es ist ihr zentrales Element. Gerade hier liegt der entscheidende sicherheitspolitische Gewinn der neuen chinesischen „West-Politik" seit Beginn der siebziger Jahre.
Dabei kommt Peking das Interesse der USA an einem „unabhängigen und starken China" (Brzezinski 1979) entgegen. Dieses Interesse führte auf amerikanischer Seite zu Äußerungen, die von einer Sicherheitsgarantie nicht mehr weit entfernt sind, so zum Beispiel Vizepräsident Mondales Feststellung, „jede Nation, die China in der Weltpolitik zu schwächen oder zu isolieren trachtet, nimmt eine amerikanischen Interessen zuwiderlaufende Haltung ein", oder 1980 die Erklärung des Assistant Secretary of State für Ostasien und den Pazifik, Richard Holbrooke: „Die berühmte Dreiecks-Diplomatie der 1970er Jahre ist nicht mehr der angemessene konzeptionelle Rahmen, in dem wir unsere Beziehungen mit China sehen." Dies bedeutete die Beendigung der Politik der „evenhandedness”, der gleichgewichtigen Beziehungen der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion und zu China. Die Verschlechterung des amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses hat in Washington die Tendenz gefördert, China als Instrument amerikanischer Politik gegenüber der Sowjetunion zu sehen und nicht als Bestandteil einer umfassenderen Asien-Politik zu begreifen. China wehrt sich gegen diesen instrumentalen Charakter seiner Stellung in der amerikanischen Außenpolitik. Es läßt sich weder als „Karte" im Spiel der Supermächte gegeneinander benutzen, noch durch Waffenangebote in seiner Politik gegenüber Taiwan beeinflussen.
Washington hat jüngst nach langen Verhandlungen der Forderung Pekings nach Reduzierung und schließlich Einstellung der Lieferung von Rüstungsgütern an Taiwan nachgegeben, ohne von chinesischer Seite eine politische Konzession zu erhalten.
Aber blicken wir noch einmal zurück zum Ausgangspunkt des chinesisch-amerikanischen Normalisierungsprozesses. Am Ende des Besuchs von Präsident Nixon in China und damit am Beginn der Wiederannäherung zwischen beiden Mächten steht mit dem Kommuniqufe von Shanghai ein Dokument, dessen politische Bedeutung über die chinesisch-amerikanischen Beziehungen hinausreicht. Dieses Dokument enthält eine Formel, die zur Leitlinie chinesischer Außenpolitik werden sollte. Sie besagt, daß „keine von beiden Seiten eine Hegemonie im asiatisch-pazifischen Bereich anstreben sollte und daß jede von ihnen Bemühungen irgendeines anderen Landes oder irgendeiner Gruppe von Ländern zur Errichtung einer solchen Hegemonie ablehnt“
Diese sogenannte Antihegemonie-Klausel enthält also sowohl den Verzicht der USA und Chinas auf Streben nach eigener Vorherrschaft im asiatisch-pazifischen Raum als auch die Ablehnung des Hegemoniestrebens dritter Staaten oder Staatengruppen in diesem Raum.
Nach Lage der Dinge kamen und kommen als potentielle Hegemonialmächte in Asien nur noch die Sowjetunion und Japan in Betracht. Da Japan wegen seiner beträchtlichen Außen-abhängigkeit die geographisch-politischen Voraussetzungen für die Erreichung und Sicherung einer hegemonialen Stellung fehlen, bleibt realistisch gesehen nur die Sowjetunion, die nach Hegemonie streben könnte. Gegen sie richtet sich auch — wie ihre empfindlichen Reaktionen bewiesen haben — der zweite Teil der Antihegemonie-Klausel. Wie wichtig China diese Klausel ist, haben seine intensiven Bemühungen gezeigt, sie auch in anderen Dokumenten internationalen Charakters zu verankern. So gelang es Peking, daß die Klausel auch in die Gemeinsame Erklärung über die Normalisierung der Beziehungen mit Japan im September 1972 und — in unwesentlich veränderter Form — in den Friedens-und Freundschaftsvertrag mit Japan vom August 1978 aufgenommen wurde. Ferner findet sich die Klausel im Kommunique über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen China und den USA vom Dezember 1978 wieder. Dort sprechen sich beide Seiten gegen Hegemonie nicht nur in der asiatisch-pazifischen Region, sondern auch „in irgendeiner anderen Region der Welt" aus Auch in seinen Verhandlungen mit Vietnam hat China diese Klausel als Grundlage für eine Beilegung des Konflikts vorgeschlagen
Schließlich findet sich die Ablehnung des Hegemoniestrebens dritter Staaten in Regierungs-und Pressekommuniquös Chinas mit Australien, den Philippinen, Malaysia, Thailand und Burma. Außerhalb der pazifischen Region haben sich nur Mexico und Frankreich (beide 1973) mit dieser Formel identifiziert. Das unablässige Drängen Chinas auf Anerkennung seiner Zurückweisung jeglicher Vorherrschaft irgendeines Staates beweist den globalen Charakter seines Anti-Hegemonismus. Selbst in die Präambeln seiner verschiedenen Verfassungen hat China die Zurückweisung des „Hegemonismus" aufgenommen. In der zur Zeit gültigen Verfassung von 1978 setzt China sich sogar das Ziel, „eine internationale Einheitsfront gegen den Hegemonismus der Supermächte" zu bilden, und auch in dem jüngst veröffentlichten Entwurf der demnäch'st zu verabschiedenden neuen Verfassung sagt China dem „Hegemonismus" den Kampf an
Grundsätzlich wird der „Hegemonismus" beider Supermächte angesprochen; da aber die Sowjetunion seit Anfang der siebziger Jahre ausdrücklich als die gefährlichere der beiden Mächte angesehen wird, ist die Interpretation zulässig, daß China unter „Hegemonismus" im allgemeinen — wenigstens bis zum Ende der Carter-Administration — das Streben der Sowjetunion nach Vorherrschaft und ihre allenthalben praktizierte Form der Machtausübung verstand. Ihrer unterschiedlichen Einschät-zung der beiden Supermächte gaben die Chinesen mit der drastischen Feststellung Ausdruck: „Darüber hinaus ist die Sowjetunion die noch bösartigere, abenteuerlichere und raffiniertere der beiden imperialistischen Supermächte und die gefährlichste Quelle eines Weltkriegs."
III. Dreiteilung der Welt und Einheitsfronttaktik
Kennzeichnend für Chinas Analyse der internationalen Beziehungen und damit auch für seine außenpolitischen Entscheidungen ist ihr globaler Ansatz. So ist es nicht überraschend, daß die chinesichen Führer ihre Opposition gegen den „Hegemonismus der Supermächte" in ein umfassendes Konzept einordneten: die Drei-Welten-Theorie. Sie wird Mao Zedong zugeschrieben und ist bis heute das offiziell gültige Erklärungsschema Pekings für die politischen Kräfte und Machtgruppierungen dieser Welt.
Nach dieser 1974 veröffentlichten Theorie gehören die industrialisierten Länder Europas sowie Japan, Australien, Kanada usw. zur so-genannten Zweiten Welt. Diese sei zwar dem Druck und der Kontrolle der beiden Supermächte USA und Sowjetunion, die die Erste Welt bilden, ausgesetzt, versuche aber ihrerseits, die Länder der Dritten Welt, d. h. die unterentwickelten, aber rohstoffreichen Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, auszubeuten. Die Zweite Welt steht also zwischen der Ersten und der Dritten, und es ist nach Mao „nicht nur notwendig, sondern auch möglich, sich im gemeinsamen Kampf gegen die beiden Hegemonialmächte mit der Zweiten Welt unter bestimmten Bedingungen zu vereinigen"
China selbst bezeichnet sich als ein sozialistisches Land der Dritten Welt; daran werde sich auch nach erfolgreicher Modernisierung nichts ändern. Es werde auch nie nach Hegemonie streben Die Geschichte lehrt, daß gegenüber den Absichtserklärungen von Großmächten stets Skepsis angebracht ist.
Mit dem Aufruf zum Zusammenschluß der Zweiten und der Dritten Welt zum gemeinsamen Kampf gegen die beiden Hegemonialmächte greift die chinesische Führung auf die Taktik der Einheitsfront zurück, die schon in den dreißiger und vierziger Jahren im Kampf gegen Japan angewendet wurde. Damals arbeiteten die Kommunisten mit der Kuomintang Chiang Kai-sheks zusammen, um den gemeinsamen Feind Japan zu bekämpfen. Nach dessen Niederlage 1945 zerbrach die Einheitsfront. Der Hauptfeind der Kommunisten hieß nun Chiang Kai-shek und seine Kuomintang. Gegen diese konzentrierte man alle Kräfte.
Heute heißt der Hauptfeind aus der Sicht der Führer in Peking „Hegemonismus". Um ihn zu bekämpfen, ruft China die Länder der Zweiten und Dritten Welt zur Bildung einer Einheitsfront auf. Dabei nimmt man in Kauf, daß die Länder der Zweiten Welt überwiegend parlamentarische Demokratien sind oder jedenfalls ihre Wirtschafts-und Gesellschaftssysteme keinen sozialistischen Charakter haben; denn die Bekämpfung des Hauptfeindes ist das wichtigste Problem, hinter dem geringere Differenzen zurücktreten. „In großen Fragen die Einheit suchen, und in weniger wichtigen Fragen Unterschiede weiter bestehen lassen", so lautet die taktische Devise.
Dies ist in groben Zügen der konzeptionelle Rahmen, in den China seine Außenpolitik einpaßt — jedenfalls auf der deklaratorischen Ebene. Mit Marxismus-Leninismus hat das nichts mehr zu tun; denn die Welt wird nicht gemäß den politischen Systemen oder vom Standpunkt des „Proletarischen Internationalismus" aus interpretiert, sondern nach Kategorien der wirtschaftlichen und militärischen Entwicklung. Kennzeichnend für dieses Vorgehen ist auch, daß die Existenz eines sozialistischen Lagers ausdrücklich verneint wird.
Natürlich erlaubt eine so grobschlächtige Analyse der Kräfte dieser Welt ein hohes Maß an außenpolitischer Flexibilität. Nahezu jede Koalition scheint im Kampf gegen den Haupt-feind „Hegemonismus" erlaubt Hinter diesem Begriff verbirgt sich, wie wir sahen, in erster Linie die Sowjetunion und ihre Machtentfaltung. Die Beispiele für ihren Hegemonismus reichen von den Interventionen in der Tschechoslowakei und in Afghanistan über die Unterstützung des vietnamesischen Einmarsches in Kambodscha bis zur Besetzung der von Japan beanspruchten Inseln am Südende der Kurilen.
Aber auch den USA wird in der Gestaltung ihrer Außenbeziehungen „Hegemonismus" vorgeworfen. Dabei werden vor allem ihre Unterstützung für Südafrika, Israel und die Regimes in Mittelamerika und in der Karibik, die andauernde Stationierung amerikanischer Streitkräfte in Südkorea (nicht jedoch in Europa oder Japan!) und die Belieferung Taiwans mit Waffen als „hegemonistische Handlungen“ gebrandmarkt'
Dennoch hat es eine kurze Phase gegeben — etwa von 1977 bis 1980 —, in der sogar die USA fast nur noch als Element in der Einheitsfront gegen den (Sowjet-) Hegemonismus dargestellt wurden. Mitte 1977 sagte der chinesische Außenminister Huang Hua in einer internen Rede: „Wir sind bestrebt, die USA auf unsere Seite zu ziehen, um die Kräfte zunächst gegen den Hauptfeind, den Sozialimperialismus der sowjetischen Revisionisten, zu konzentrieren."
In der Parlamentarischen Versammlung des Europarates warnte er im Herbst 1980 vor der Expansionspolitik des „Hegemonisten“, d. h. allein der Sowjetunion, und unterstützte die Bemühungen Westeuropas um „eine gleiche Partnerschaft mit den USA"
Inzwischen ist China zu einer Doppelstrategie übergegangen: Es kritisiert die USA einerseits als hegemonistisch, vor allem in ihrem Verhältnis zu den Ländern der Dritten Welt, unterstützt sie aber andererseits als stärkste westliche Militärmacht zur Eindämmung sowjetischen Expansionsstrebens. Unter dem zweiten Gesichtspunkt befürwortet Peking die Nachrüstung der NATO, ermuntert das Bündnis zur Geschlossenheit und begrüßt den amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrag.
Neben die unverändert antisowjetische Grundlinie seiner Außenpolitik stellt China seit einiger Zeit verstärkt seine Solidarität mit der Dritten Welt. Seine Teilnahme am Treffen in Cancun im Oktober 1981 mit einer deutlich amerika-kritischen Position in den Nord-Süd-Fragen war Ausdruck dieser neuen Akzentsetzung. Auch in der allgemeinen Beurteilung der Weltlage werden wieder die Sowjetunion unddie USA (in dieser Reihenfolge) für die angespannte und turbulente Situation verantwortlich gemacht.
China hat allerdings seine konkrete Hilfe für die Dritte Welt eingeschränkt. Anfang 1981 erklärte der Stellvertretende Außenminister Zhang Wenjin dazu: „Die Zeit umfangreicher Wirtschaftshilfe für afrikanische Länder ist vorüber. Mit der Entwicklung der chinesischen Volkswirtschaft könnte es in Zukunft möglich werden, mehr Hilfe zur Verfügung zu stellen." Trotzdem möchte China die Länder der Dritten Welt nicht dem politischen Einfluß der Sowjetunion überlassen. Es wirft der Sowjetunion vor, in der Dritten Welt im Namen des Sozialismus ihrer Expansion nachzugehen, sich als „natürlicher Verbündeter" der Länder der Dritten Welt zu empfehlen-und hinter einer angeblichen Unterstützung des Kampfes der Völker dieser Länder eigene Ziele zu verfolgen
Diese Vorwürfe zeigen, daß China die Sowjetunion in der Dritten Welt als Rivalen ansieht Damit wird der Kern des chinesisch-sowjetischen Antagonismus sichtbar: Rivalität. Im Laufe der Zeit haben zwar ihre Objekte gewechselt, aber sie ist unverändert das Wesen des Konflikts geblieben. Dies erklärt, warum er zwar zu begrenzen, in absehbarer Zeit aber kaum beizulegen ist.
Wenn China die Länder der Dritten Welt zur Zusammenarbeit gegen den „Hegemonismus“ aufruft, dann nimmt es aus dieser Zusammenarbeit Kuba und Vietnam aus, da beide Länder zu „Werkzeugen der sowjetischen Hegemonisten“ geworden sind. Besonders die Bindung Vietnams an die Sowjetunion hat Tatsachen geschaffen, die eine chinesisch-sowjetische Aussöhnung zusätzlich erschweren. Auch hier bildet die Rivalität die Grundlage der Konfrontation — Rivalität um Einfluß in Indochina und im weiteren Sinne in ganz Südostasien. Pekings Ziel in dieser Region ist es, die Stellung Vietnams, des „kleinen Hegemonisten“, so zu schwächen, daß Hanoi sich schließlich zu einer Kompromißlösung in der Kambodscha-Frage gezwungen sieht und somit sowjetischer Einfluß wenn schon nicht zurückgedrängt, so wenigstens begrenzt werden kann. China sieht Südostasien als sein Einflußgebiet. Ob die Chinesen dieses Ziel letztlich erreichen werden, ist nicht vorauszusehen; sie gehen jedenfalls von sehr langen Fristen aus.
IV. Chinas Politik gegenüber Japan
Während die Sowjetunion seit 1978 in Indochina ihre Position ausbauen konnte — ihre Flugzeuge und Schiffe benutze die ehemals amerikanischen Stützpunkte Da Nang und Cam Ranh —, sind vergleichbare Anstrengungen in Ostasien erfolglos geblieben. Dort ist es ihr nicht gelungen, Japan mit sibirischen Rohstoffen auf ihre Seite zu ziehen oder durch diplomatischen Druck die Entwicklung eines chinesisch-japanischen Sonderverhältnisses zu verhindern. Vielmehr vermochte eine geschickte chinesische Diplomatie, Japan zur Aufgabe seiner Politik des gleichen Abstands gegenüber Moskau und Peking zu bewegen und seine Unterschrift unter einen Friedens-und Freundschaftsvertrag mit der gegen die Sowjetunion gerichteten Antihegemonie-Klausel zu erhalten. Die durch einen Territorialstreit ohnehin gespannten sowjetisch-japanischen Beziehungen sind dadurch zusätzlich belastet worden und stagnieren.
Für die Modernisierung der chinesischen Wirtschaft fällt Japan eine wichtige, vielleicht sogar die entscheidende Rolle zu. China wikkelt heute fast ein Viertel seines gesamten Außenhandels mit Japan ab. Das Volumen des chinesisch-japanischen Handels hat sich seit der Normalisierung der Beziehungen 1972 verzehnfacht und 1981 erstmals den Wert von 10 Mrd. US Dollar überschritten.
Trotz der intensiven und engen Beziehungen zwischen China und Japan sind die Probleme nicht zu übersehen, die als Erbe der jüngsten Vergangenheit zwischen beiden stehen. Japans rücksichtsloses Vorgehen in den dreißiger und vierziger Jahren auf dem asiatischen Kontinent ist in China nicht vergessen. Erst kurze Zeit, bevor Premier Tanaka im September 1972 nach Peking reiste, stellte China seine zwei Jahrzehnte lang wiederholten Warnungen vor einem Wiedererstehen des japanischen Militarismus und seine Kritik an Japans »neokolonialistischer Ausbeutung in Südostasien" ein. Allmählich ging Peking sogar dazu über, den japanischen Nachbarn zu ermutigen, mehr für seine Verteidigung zu tun; und der Vorwurf des Neokolonialismus in Südostasien wurde in chinesischen Kommentaren abgelöst von der lobenden Anerkennung der Rolle Japans in seiner Zusammenarbeit mit den ASE-AN-Staaten. Chinas Beurteilung der Politik Japans dürfte sich aber kaum tatsächlich so grundlegend geändert haben. Vielmehr ist inzwischen die Eindämmung der sowjetischen Expansion im asiatisch-pazifischen Raum zu Chinas „großer Frage“ geworden. So sucht es entsprechend der bereits zitierten Devise „in großen Fragen die Einheit" mit Japan, ohne dabei „die Unterschiede in weniger wichtigen Fragen“ zu vergessen. Der törichte Versuch des japanischen Kultusministeriums, in Geschichtslehrbüchern die militaristische Vergangenheit Japans und seinen Imperialismus in Asien zu retuschieren, hat plötzlich eine „weniger wichtige Frage“ wieder in den Vordergrund des chinesischen Interesses treten lassen: Zum ersten Mal seit zehn Jahren hat Peking wieder vor der Gefahr eines Wiederauflebens des japanischen Militarismus gewarnt
China ist seit 1964 Atommacht. Trotz seiner technologischen Fähigkeiten wird Japan seine Rüstung nicht durch eine nukleare Komponente ergänzen. Die innen-und außenpolitischen Hindernisse, die hier nicht erörtert werden können, sind nahezu unüberwindlich. China wird bei allem Interesse an einem verteidigungsfähigen Japan gewissenhaft darauf achten, daß die bestehende militärische Statusdifferenz erhalten bleibt. Die langfristigen Ziele chinesischer Politik gegenüber Japan sind die Nutzung des industriellen Potentials und technologischen know-hows und die Gewißheit, daß Japan niemals wieder zu einer Gefahr für China wird.
Im Unterschied zu Südostasien ist es China in Ostasien gelungen, der sowjetischen Expansion mit diplomatischen Mitteln Einhalt zu gebieten. Entscheidend dafür ist, daß China, die Vereinigten Staaten und Japan darin grund-sätzlich übereinstimmen, einer Ausweitung sowjetischen Einflusses in diesem Raum entgegenzuwirken. Die gemeinsame Grundorientierung dieser drei Mächte ist für diese Region historisch einmalig. Obwohl ein formelles Bündnis äußerst unwahrscheinlich ist, schmälert das nicht die strategische Bedeutung dieser Gruppierung.
Es ist zu erwarten, daß die Sowjetunion den Ausbau ihrer Pazifikflotte unvermindert fort-setzt und daß diese Entwicklung mit entsprechenden Reaktionen auf amerikanischer und japanischer Seite beantwortet wird — politisch flankiert von China. Als Folge konzentriert sich somit in einer noch relativ stabilen Zone der Welt ein militärisches Potential, das die bei geringfügigen Machtverschiebungen entstehenden Spannungen — etwa auf der koreanischen Halbinsel — gefährlich erhöhen könnte.
V. Die Stellung Westeuropas
Neben dem asiatisch-pazifischen Raum ist Europa ein vergleichsweise unwichtiges Aktionsfeld chinesischer Außenpolitik. In den strategischen Überlegungen der Chinesen nimmt es jedoch einen hohen Rang ein. „Wir müssen solche Länder wie Großbritannien, Frankreich und Westdeutschland für uns gewinnen", soll Mao Zedong im Oktober 1970 gesprächsweise gesagt haben
Wie wir wissen, ist die Schaffung einer weltweiten anti-sowjetischen Einheitsfront ein erklärtes Ziel Chinas. Westeuropa ist aus chinesischer Sicht ein wichtiger Abschnitt in dieser Front. Kein westeuropäischer Politiker hat in den vergangenen zwölf Jahren Peking verlassen, ohne von seinen Gastgebern eindringlich vor der Bedrohung durch die Sowjetunion gewarnt worden zu sein.
Zhou Enlais Rechenschaftsbericht vor dem IV. Volkskongreß im Januar 1975 enthielt eine Charakterisierung des Verhältnisses zwischen den beiden Supermächten und dessen Auswirkung auf Europa, die Chinas Position in der Welt umreißen und seine Strategie sichtbar machen sollte: Der sowjetische Sozialimperialismus, sagte Zhou Enlai, führe im Osten ein Scheingefecht, während er im Westen angreife. Der Brennpunkt der Rivalität der beiden Supermächte liege in Europa
Trotz des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan hat Peking an seiner Auffassung über Europa festgehalten. In einer Darstellung aus jüngster Zeit heißt es: „Der Streit der Sowjetunion und der USA um die Beherrschung der Welt hat seinen Brennpunkt in Europa. Im Augenblick jedoch konzentriert sich die Sowjetunion hauptsächlich darauf, ihre Präsenz in einigen Schlüsselregionen der Dritten Welt auszuweiten. Die Sowjetunion möchte Westeuropa einnehmen, was sie gegenwärtig nicht schafft, wie sie erkennt. Darum täuscht sie um so gründlicher und stößt in die weicheren Gebiete vor, indem sie nach Süden ausholt, um Europa von der Flanke her zu umfassen." Hinter der These von der Konzentration sowjetischer Bedrohung auf Europa scheinen folgende taktische Überlegungen zu stehen: 1. Indem China Europa in seine Auseinandersetzung mit der Sowjetunion einbezieht, weitet es den Konflikt über seine bilaterale Begrenztheit hinaus aus und gibt ihm größeres politisches Gewicht.
2. Da die Tatsache, daß der Brennpunkt des Ost-West-Gegensatzes in Europa liegt, nicht zu leugnen ist, der chinesischen These also ein gewisser Realitätsgehalt 'zukommt, kann China in Europa mit Sympathisanten seiner Auffassung rechnen, was ebenfalls seiner Position zugute kommt.
3. Die Einbeziehung Europas in den chinesisch-sowjetischen Gegensatz beeinträchtigt die Entspannung des Ost-West-Verhältnisses, die in Peking stets mit unverhohlenem Mißtrauen betrachtet worden ist. Die Zunahme von Spannung in Europa kann unter Umständen in Peking als Entlastung empfunden werden.
Für China bedeutet das — und hier liegt das Motiv dieser Strategie —, sich durch Einbeziehung des Westens in den eigenen Konflikt Entlastung von sowjetischer Bedrohung zu verschaffen und somit die eigene Sicherheit zu erhöhen, ohne die eigenen Verteidigungsanstrengungen zu vergrößern. Die Reduzierung des chinesischen Verteidigungsetats in den letzten beiden Jahren wirkt nahezu zynisch, wenn man sie vor dem Hintergrund der chinesischen Ermutigungen zu größeren Verteidigungsanstrengungen in Japan und den NATO-Ländern sieht. Der Bedrohung Europas und anderer Regionen, namentlich der Golf-Region, Südostasiens und Japans, stellt China gelegentlich das eigene Sicherheitsbewußtsein gegenüber, das auf traditionellem Autarkie-Denken beruht: China werde von der sowjetischen Bedrohung der Seewege zwischen dem Indischen und Pazifischen Ozean unbeeinträchtigt bleiben, erklärte Deng Xiaoping, über Jahrhunderte sei es gewohnt, unabhängig von der Außenwelt zu existieren Mit dieser Über-zeugung stellt sich China außerhalb der wechselseitigen Abhängigkeiten im internationalen System. Diese Auffassung, mit der es sich eine Sonderposition zumißt, hat bisher noch keinem Test standhalten müssen. Für das hochgesteckte Modernisierungsprogramm, das eine intensive Kooperation mit den industrialisierten Ländern der Zweiten Welt erfordert, dürfte der Ernstfall das Ende bedeuten. Gewiß ist die Bedrohung anderer Länder oder Regionen nicht notwendigerweise auch eine Bedrohung für China. Aber in dem Maße, in dem China Teil des Geflechts internationaler Wirtschaftsbeziehungen wird, erhöht sich seine Abhängigkeit und damit auch seine Verletzbarkeit. In seiner Außenpolitik zeigt China in der Tat gelegentlich Tendenzen, die darauf hindeuten, daß es sich einen möglichst breiten Entscheidungsspielraum erhalten möchte. Es vermeidet darum offenkundig, Bündnisverpflichtungen einzugehen Seiner Außenpolitik gibt das eine größere Flexibilität, als sie die Sowjetunion hat, die stets gewisse Rücksichten auf ihre Satelliten nehmen muß.
Noch in einem anderen Bereich läßt sich der Politik Chinas gegenüber Westeuropa Typisches für seine Außenpolitik entnehmen. Seinen Beziehungen zu einigen westeuropäischen Staaten versuchte China ab Mitte der siebziger Jahre durch Interesse am Import von Rüstungsgütern einen militärischen Akzent zu geben. Im Jahre 1977 sprach die britische Presse bereits von der Bereitschaft Chinas, mindestens 48, vielleicht sogar bis zu 300 Senkrechtstarter des Typs „Harrier" in England zu bestellen. Nachdem die USA 1978 erklärt hatten, sie würden sich künftig bei Waffenverkäufen ihrer Verbündeten an China neutral verhalten, und nachdem durch die Ablösung der Labour-Regierung schließlich auch inner-britische Widerstände weggefallen waren, stand dem Geschäft nichts mehr im Wege. Es ist bis heute nicht zustande gekommen.
Dies gilt bisher für die meisten beabsichtigten Rüstungskäufe Chinas. Nur bei fünf von insgesamt 19 Lieferprojekten mit westeuropäischen Firmen ist der Kauf — meist eine kleine Zahl von Hubschraubern — auch erfolgt Nach einem ersten demonstrativen Interesse und vielversprechenden Absichtserklärungen blieben dann meistens konkrete Schritte aus. Zahlungsschwierigkeiten und Probleme der technischen Absorptionsfähigkeit erklären nur zum Teil die chinesische Abstinenz. Vielleicht sind noch folgende Überlegungen zu berücksichtigen: — China ist nicht an größeren Stückzahlen eines Waffensystems interessiert, sondern an dessen Technologie mit dem Ziel späterer Eigenproduktion. Geringere Kosten und die Vermeidung einer Abhängigkeit vom Lieferland spielen dabei ebenfalls eine Rolle.
— Ein China, das sich mit moderen westlichen Waffen ausrüstet, könnte in Moskau als rasch wachsende Bedrohung angesehen werden und die Sowjetunion zu Gegenmaßnahmen herausfordern. Die Folge wäre verstärkter politischer und militärischer Druck der Sowjetunion. Dies aber wünscht China zu vermeiden. Es ist vielmehr seine Strategie, sowjetischen Druck in andere Regionen abzulenken.
Der zuletzt genannte Gesichtspunkt könnte Peking mit dazu veranlaßt haben, das amerikanische Waffenangebot vom Sommer 1981 bisher dilatorisch zu behandeln. Natürlich hat dabei auch eine Rolle gespielt, daß man den USA nicht dadurch ein Argument für ihre fortgesetzten Waffenlieferungen an Taiwan geben wollte.
Ein dritter Grund für das demonstrative Interesse Chinas an westeuropäischen Rüstungsgütern ist ebenfalls mit dem chinesisch-sowjetischen Gegensatz verknüpft: Moskau reagiert bereits auf das bloße Interesse Chinas an europäischen Waffen empfindlich. Den Kreml zu heftigen Reaktionen gegenüber Westeuropa zu veranlassen, könnte sehr wohl im chinesischen Kalkül liegen. Das heißt: nicht kaufen, sondern durch scheinbares Kaufinteresse irritieren. Die Sowjetunion hat wiederholt davor gewarnt, China mit modernen Waffen auszustatten und erklärte als Konsequenz westeuropäisch-chinesischer Rüstungsgeschäfte: „Wenn China eine Art militärischer Verbündeter des Westens — selbst ein informeller Verbündeter — werden sollte, müßten wir unser Verhältnis zum Westen überdenken. Wenn eine solche Achse auf einer antisowjetischen Basis ruht, gibt es keinen Platz für Entspannung — auch nicht in einem engen Sinne."
Die sowjetische Irritation über eine angebliche enge westeuropäisch-chinesische Zusammenarbeit veranlaßte Ende 1978 Breschnew sogar zu persönlichen Briefen an die Regierungschefs in England, Frankreich und der Bundesrepublik. Die Bekundung des bloßen Interesses an westeuropäischen Rüstungsgütern genügte bereits, um die Sowjetunion in der beschriebenen Weise reagieren zu lassen und damit Westeuropa stärker in den chinesisch-sowjetischen Konflikt hineinzuziehen.
Der hier skizzierte Ausschnitt chinesischer Politik gegenüber Westeuropa zeigt diese Politik im wesentlichen als Funktion der Auseinandersetzung Chinas mit der Sowjetunion. Daneben gibt es einen weiten Bereich der chinesisch-westeuropäischen Beziehungen, der nicht unter diesem Aspekt gesehen werden darf. Dahin gehören die Wirtschaftsbeziehungen, die vielfältige Zusammenarbeit in der Ausbildung von Wissenschaftlern und Technikern, der kulturelle Austausch und — dies gilt insbesondere für die Bundesrepublik — die intensiven Kontakte im Rahmen der 1979 geschaffenen deutsch-chinesischen Kommission für wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit. Bei einem Außenhandelsvolumen von wertmäßig insgesamt 43 Mrd. US-Dollar wickelt China etwa ein Zehntel seiner Ein-und Aus-fuhren mit den zehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft ab. Die Bundesrepublik hat dabei eine herausragende Position. Nach Japan, Hongkong und den USA rangiert sie-an vierter Stelle der Außenhandelspartner Chinas Dazu kommen zahlreiche gemeinsame Projekte in den Bereichen der Forschung und der Lehre, was der Bundesrepublik einen nicht unbedeutenden Platz bei der Modernisierung des Landes zuweist.
Das politische Interesse Chinas an der Bundesrepublik konzentriert sich vor allem auf die Rolle, die das wirtschaftlich stärkste Land Westeuropas in der NATO und der EG spielt. Die Bundesrepublik wird daher in Peking stets im Kontext des Ost-West-Verhältnisses gesehen. Seit 1970 hat sich allerdings auch hier Chinas Einschätzung grundlegend gewandelt. Meinte mn in Peking nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags, die DDR gegen ein Komplott der „sowjetischen Revisionisten" und „westdeutschen Militaristen“ in Schutz nehmen zu müssen, so ging man knapp zwei Jahre später dazu über, NATO und EG positiv zu bewerten.
Heute beobachtet man in Peking mit Sorge die Differenzen zwischen Westeuropa, insbesondere aber der Bundesrepublik, und den Vereinigten Staaten. China wird nicht müde, davor zu warnen, daß die Widersprüche zwischen Westeuropa und den USA das westliche Bündnis beeinträchtigen könnten. Die Erarbeitung einer gemeinsamen Strategie gegenüber der Sowjetunion scheint man in Peking als vordringliche Aufgabe zwischen den USA und Westeuropa anzusehen. In dieser Hinsicht setzte man offenbar Hoffnungen auf den amerikanisch-westeuropäischen Gipfel in Versailles
Einer chinesischen Analyse aus jüngster Zeit war zu entnehmen, daß man eine zunehmende Unabhängigkeit Westeuropas im internationalen System für wahrscheinlich hält -Was dies für Chinas Europapolitik bedeutet, läßt sich noch nicht sagen. Man wird aber nicht fehlgehen in der Annahme, daß sich die Außenpolitik Chinas und damit auch seine Politik gegenüber Westeuropa nicht grundlegend ändert, solange die weltweite Rivalität zwischen China und der Sowjetunion fortbesteht. Diesen Faktor werden wir voraussichtlich noch für längere Zeit als Konstante der internationalen Politik in Überlegungen und Planungen einsetzen dürfen.